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PredElection

von

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Part VII - Apokalypse now

Oh je, es hat mal wieder lange gedauert, aber nun ist's endlich fertig: Das neue PredElection-Kapitel! Hurra! Mein Weihnachtsgeschenk, sozusagen. ^_^ Ich werde mich bemühen, diesmal schneller weiterzuschreiben, immerhin spitzt sich die Handlung jetzt dramatisch zu und das Ende naht. Alles in allem ist das ein sehr emotionales Kapitel mit der einen oder anderen (hoffentlich!) schockierenden Wendung. Ach, die ganzen Charas wachsen mir wirklich immer mehr ans Herz. ^.^ Viel Spaß beim Lesen und seid gespannt, in der nächsten Episode steht eine große Entscheidung bevor...

Und, natürlich: Frohe Weihnachten euch allen!!!
 

Ich gebe zu, dass ich unvorsichtig, dumm und naiv gewesen bin. Aber ich hatte ja auch einen der unglaublichsten Tage meines Lebens hinter mir, und den wollte ich mir um nichts in der Welt kaputtmachen lassen. Der Gedanke an die zurückliegenden Ereignisse tat weh, aber auf eine so wunderschöne Weise, dass ich den ersten Schrecken über das, was ich da auf diesem kleinen Stück Papier las, gar nicht richtig an mich heranließ. Es ist schwer, das jetzt im Nachhinein zu erklären oder zu verstehen. Ich war so aufgekratzt und gleichzeitig so fertig, das lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Ich hab den Zettel einfach in irgendeine Ecke geworfen und dann mich selbst auf mein Bett. Mum hab ich an dem Abend gar nicht mehr gesehen. Binnen kürzester Zeit war ich eingeschlafen.

Die kommenden Tage waren ziemlich verplant und stressig. Trotzdem war ich gut gelaunt, weil ein Termin bevorstand, auf den ich mich wirklich, wirklich freute. Erinnern Sie sich? Geenia. Geenia und ihre unglaubliche neue Nummer. Ich hatte einige von Geenias alten Nummern gesehen und war jedes Mal sprachlos gewesen. Dementsprechend groß war meine Vorfreude, und ich sag’s ihnen, sie wurde mit jedem Tag noch ein bisschen größer. Ich war eigentlich ganz froh darüber, dass ich so viel zu tun hatte und die Zeit entsprechend schnell verging.

Ich traf mich mit Tatsumi am frühen Nachmittag. Nachdem ich ihm ein bisschen von meiner Idee und von Geenias Beinen erzählt hatte, bestand er darauf, mich zu begleiten, und ich war froh über eine Mitfahrgelegenheit. Außerdem war ich genau in der richtigen Stimmung für ein Treffen mit Tatsumi. Meine gute Laune sorgte dafür, dass mich die Arroganz in seinem Grinsen nicht störte, und die kleinen Streitereien und Sparwitze am Rande stimmten mich gleich noch viel ausgelassener. Das Ganze gab mir ein Gefühl der Sorglosigkeit, das zwar verlogen, aber trotzdem verdammt befreiend war.

Geenia erwartete uns schon. Sie sah wie immer unwerfend aus. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie hoch am Hinterkopf zusammengebunden. Ihre Augen waren schwarz umrandet und gaben ihrem Blick etwas Katzenhaftes. Ansonsten trug sie ein sehr hoch geschlitztes chinesisches Kleid in leicht schimmerndem Schwarz, verziert mit zarten goldenen Blüten. Sie war barfuß. Die schlichte, stilvolle Eleganz ihrer Erscheinung war wirklich beeindruckend, und mir entging nicht, dass auch Tatsumis Lippen ein lautloses „Wow!“ formten, als er sie sah.

„Hallo Jessie“, begrüßte mich Geenia und musterte meinen Begleiter mit einem Blick, der nicht weniger angetan wirkte. Ich hatte sie übrigens in meinen ganzen verrückten Plan eingeweiht, weil das Risiko sonst einfach zu groß gewesen wäre. Außerdem wusste ich, dass ich ihr vertrauen konnte, und sie können sich gar nicht vorstellen, wie befreiend mein Gespräch mit ihr gewesen war. Es hatte mir ein bisschen was von der Last abgenommen, die ich trug, und bestätigt hatte es mich auch. In Geenias Worten lag immer so eine Sicherheit, eine Gewissheit, die wenigstens für die Dauer eines Gespräches jeden Zweifel vernichten konnte.

„Hi, Geenie!“, grüßte ich zurück.

„Konnichi wa!“ Tatsumi deutete eine Verneigung an und setzte ein Lächeln auf, das so widerlich gut aussah, dass ich ihm einfach den Ellenbogen in die Seite rammen musste. Geenia sah es und lachte auf ihre wundervoll unaufdringliche Weise.

„Ich wusste doch immer, dass du Geschmack hast, Jessie!“

„Der gehört doch nicht mir“, verbesserte ich ruhig. „Den hab ich dir als Opfergabe mitgebracht, dass du mich in deine hohen Künste einweist.“

„Danke, dass du mir das vorher gesagt hast!“ Tatsumi bleckte die Zähne. Ich grinste zurück.

„Nein, ich habe zu danken!“ Geenia lachte wieder, wenn auch nur ganz kurz. Dann wandte sie sich um, so schwungvoll, dass ihr strenger Pferdeschwanz einen eleganten Halbkreis in der Luft beschrieb, und ging… oder schwebte vielmehr in ein Nebenzimmer. Ihr Allerheiligstes. Der Ort, an dem sie sämtliche Kostüme, ihr Make up, ihre Schuhe, Schmuck und etwa fünfzigtausend weitere faszinierende Dinge aufbewahrte. Spontan schlug mein Herz mir bis zum Hals, und es war mir vollkommen unmöglich, noch länger an meiner trotzigen Empörung über ihren kleinen Flirt mit Tatsumi festzuhalten. Stattdessen grinste ich von einem Ohr bis zum anderen. Das schien auch Geenia nicht zu entgehen, als sie sich noch einmal kurz zu uns umdrehte und uns mit einer einzigen Kopfbewegung unmissverständlich zu verstehen gab, ihr zu folgen. Und, verdammt, ja, wie gern ich dieser Aufforderung doch nachkam!

Geenias Kostümzimmer war ein Märchenland, ein wunderbar bunter Kurztrip durch aller Herren Länder, durch zahllose Epochen und Filme und Geschichten. Ich hätte Stunden damit verbringen können, mich einfach nur umzusehen, und wie viel besser war es, wenn Geenia all die Wunder und Edelsteine auch noch an ihrem makellosen Körper präsentierte! Der Gedanke, dass ich ein kleines Stück von dieser Pracht abbekommen sollte, war ein bisschen so wie Weihnachten oder Geburtstag oder auch wie beides zusammen. Kapitel eins von Jessie im Wunderland. Meine Augen wurden vor lauter Vorfreude größer und größer, während ich einen Schatz nach dem anderen bewunderte.

Inmitten des Raumes stand Geenia, die Fingerspitzen aufeinandergelegt, mit einem Lächeln auf den Lippen, das wirklich alles Gute der Welt verhieß. Ich hatte zwar noch keine Ahnung, was genau ich da nun Tolles von ihr lernen sollte und ob sie wirklich ein passendes Kostüm dazu aussuchen würde, aber ich hätte sie jetzt schon für Beides küssen können. In diesem Moment war mir noch nicht klar, auf was für einen Pakt mit dem Teufel ich mich da eingelassen hatte. Dass ich leiden und verzweifeln und am Boden liegen würde. Aus verschiedensten Gründen. Ich hatte von all dem keine Ahnung, und ehrlich gesagt, ich bin auch verdammt froh darüber, weil ich sonst vermutlich schleunigst davongelaufen wäre.

„Ich habe etwas ganz Besonderes für dich“, verkündete Geenia geheimnisvoll, und meine Erwartungen stiegen spontan durch die Decke bis irgendwo über die Hochhausdächer. Mit einer langsamen Halbdrehung wandte sie sich einem der zahlreichen Regale zu und schaffte es auf eine für mich unbegreifliche Weise, mit einem einzigen sicheren Griff sofort das richtige Kleid hervorzuziehen. Ich war ein bisschen eifersüchtig, weil ich an die Suchorgien im Chaos meines Kleiderschrankes denken musste. Und dann war ich erst einmal ziemlich überrascht. Was Geenia mir unter die Nase hielt, war schwarz und rot und wirkte wie eine Mischung aus Cheerleader- und Gothic Lolita-Kleidchen, mit Schleifen und Spitze und langen transparenten Stoffbahnen. Es sah großartig aus, aber es war nicht unbedingt das, was ich erwartet hatte.

„Geenia, du weißt, zu welchem Anlass ich das hier brauche?“, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach, weil ich mir einfach nicht so ganz vorstellen konnte, zu welcher Art von Performance ich ausgerechnet dieses Kleid anzuziehen sollte. Ohne dass die anständigen älteren Damen und Herren und Jungchristenvorsitzenden der Jury spontan einen Herzschlag erleiden würden, versteht sich.

„Natürlich weiß ich das!“ Geenias Stimme sollte wohl entrüstet klingen, doch der amüsierte Unterton in ihren Worten war nicht zu überhören. „Aber um eines mal klarzustellen: Wenn du einen Folklore-Tanz oder ein Geigensolo oder ein religiöses Gedicht oder etwas ähnlich… spießig Gewöhnliches vortragen willst, darfst du nicht zu mir kommen. Was erwartest du denn? Meine Zuschauer wollen Unterhaltung. Wenn deine Zuschauer das anders sehen, kann ich dir nicht helfen. Dann könnte ich dir den Gospel-Chor der kleinen Kirche hier um die Ecke empfehlen, der ist wirklich toll. Die Chorleiterin muss man erlebt haben. Was für eine Frau!“

„Jetzt hör schon auf!“, grummelte ich und streckte Geenia die Zunge heraus, aber mit dem Grinsen konnte ich trotzdem nicht aufhören. „Das… Ding da sieht toll aus. Würd ich auch auf der Straße anziehen. Ich frag mich nur…“

„Ich weiß schon, was du dich fragst. Was für eine… wie nennt ihr das? Performance. Was für eine Performance dazu wohl passen könnte. Das werde ich dir gleich zeigen. Es würde Jahrzehnte brauchen, wenn ich das jetzt im Detail beschreiben wollte.“

„Ja… das hat meine Mutter auch schon gesagt. Nicht, dass ihr mich irgendwie neugierig machen wolltet oder so, nein!“

„Nein, wirklich nicht!“ Geenia hob kurz beide Hände und lächelte auf eine Weise, die ich absolut nicht deuten konnte. „Das, was du jetzt sehen wirst, ist… einfach so unsinnig, dass es schon wieder genial ist. Und ich habe ewig gebraucht, um es mir auszudenken. Um es bis ins Detail zu perfektionieren. Ich warne dich gleich: Du wirst Tag und Nacht dafür üben müssen. Aber wenn du es kannst, wirst du jeden damit umhauen. Und jetzt komm endlich, ich möchte dich mit deinem Werkzeug bekannt machen.“

„Mit meinem… bitte was hast du vor?!“

Geenia bleckte kurz ihre perfekt weißen Zähne, und jetzt war ich doch ein bisschen beunruhigt. Ich konnte mir ja noch vorstellen, mit diesem niedlich-makabren Fummel vor die Jury zu treten und, na, beispielsweise zu tanzen. Aber wie ich in dem Ganzen auch noch Werkzeuge unterbringen sollte, überstieg sogar die Grenzen meiner Vorstellungskraft. Und das wollte schon etwas heißen.

Vielleicht waren meine Erwartungen ja dementsprechend etwas übersteigert, aber als Geenia mir dann endlich ihr mysteriöses und ach so geniales Etwas unter die Nase hielt, mein Werkzeug, so besonders, dass man es nicht mehr in Worte fassen konnte, da war ich schlicht und ergreifend verdammt enttäuscht. Ich glaube, das hat man mir auch angesehen. Meine Mundwinkel zogen sich binnen weniger Sekunden immer tiefer und tiefer nach unten, obwohl ich tapfer versuchte, dagegen anzukämpfen. Auch mit Geenias Gesicht ging eine Veränderung vor sich. Wenn sie zuvor gelächelt hatte, dann grinste sie jetzt, und zwar ziemlich breit. Trotzdem sah sie nach wie vor umwerfend aus. Geenia war und blieb mir ein Rätsel.

„Geenia“, stellte ich so kritisch wie nur irgendwie möglich fest, „das ist kein Werkzeug. Das ist ein Barhocker!“

„Ja“, strahlte Geenia, „ich muss zugeben, so sieht es aus.“

„Und was ist es in Wirklichkeit? Ein Elefant?!“

„Etwas, das du lieben wirst.“ Sie verließ ihr Allerheiligstes und stellte draußen ihren Barhocker ab, der kein Barhocker sein sollte, aber seltsamerweise wie ein Barhocker aussah – mit einem sogar relativ plumpen schwarzen Fuß, aus dem eine schwarze Stange aufragte, die eine unbequem dünn wirkende, mit schwarzem Leder bezogene Sitzfläche trug. „Und außerdem ist das hier ja noch längst nicht alles. Am Anfang ist jeder enttäuscht, aber wart ab, bis zu den Tanz siehst, der dazugehört.“

„Ein Tanz mit Stuhl?“ Auf wundersame Weise wurde meine Stimme sogar noch ein bisschen kritischer. „Ich weiß nicht. Findest du das nicht irgendwie… Porno?!“

„Ein wenig vielleicht. Na und?“ Geenia hob die Schultern, und dann deutete sie mit einer gebieterischen Handbewegung in den Raum hinein. „So, und jetzt geht dort in die Ecke und seid schön. Und kuck nicht so, Jessie. Schau es dir erst mal in Ruhe vom Anfang bis zum Ende an, bevor du darüber urteilst. Wenn du dann noch sprechen kannst, werde ich mir deine Kritik gerne gefallen lassen.“

Nach einem kurzen Moment trotzigen Zweifelns nahm ich schließlich doch in besagter Ecke Platz. Tatsumi setzte sich neben mich. Er war in den vergangenen Minuten so ungewohnt still gewesen, dass ich seine Anwesenheit beinahe vergessen hatte. Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu, den er aber gar nicht zu bemerken schien. Irgendwie wirkte er urplötzlich so in Gedanken versunken, aber dann spürte er endlich meinen Blick und lächelte wieder gewohnt arrogant, also schenkte ich meine Aufmerksamkeit lieber wichtigeren Dingen. Geenia begann nämlich, zu tanzen.

Dann vergaß ich sowieso alles andere um mich herum. Wie kam es eigentlich, dass Geenia am Ende immer Recht behalten musste? Ich war tatsächlich sprachlos.

Und ich fragte mich, wie um alles in der Welt ich das bis zum Schönheitswettbewerb noch lernen sollte.
 

In noch einem Punkt sollte Geenia Recht behalten: Ich musste Tag und Nacht üben. Gott, und wie anstrengend das war! Erinnern Sie sich noch an diesen Cheerleadertanz, den wir bei der Vorentscheidung aufgeführt haben? Der half mir ein bisschen, aber er war ein Witz gegen das, was ich jetzt plötzlich können sollte. Ich lernte Muskeln kennen, von denen ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie im Körper trug. Es verging keine Sekunde mehr, in der ich nicht vor Schmerzen hätte schreien können. Irgendwann kam es mir so vor, als ob mir selbst das Blinzeln wehtun würde. Und ich konnte mich ja nicht ausruhen, ich musste weiter und weiter üben, weil mir die Zeit mit riesigen Schritten davonlief.

Ehrlich gesagt, ich war an diesen Tagen nicht so gut drauf. Nicht unbedingt schlecht gelaunt oder deprimiert, aber… frustriert, das trifft es eher. Ich plagte mich pausenlos ab und es wurde einfach nicht besser. Ich wurde nur immer müder. Mir war klar, dass ich dringend ein bisschen Ruhe und Abstand gebraucht hätte, um überhaupt noch einmal Fortschritte machen zu können. Aber sobald ich mich mal fünf Minuten hinsetzte, quälte mich sofort ein schlechtes Gewissen, das noch schmerzhafter war als mein Muskelkater.

Ich kam immer erst sehr spät am Abend aus Geenias kleinem Trainingsraum nach Hause, und dann fiel ich meistens sofort ins Bett, ohne noch was zu essen. Die Nächte schlief ich tief und traumlos, was ich sonst überhaupt nicht von mir kannte. Was für eine Gnade das war, begriff ich aber erst, als ich eines Tages wie gehabt lange nach Sonnenuntergang mein Zimmer betrat, mich wie immer zu Tode erschöpft auf meine unbequeme Matratze fallen ließ – und dann etwa drei Stunden später noch genauso dalag, die Augen starr an die Decke gerichtet, in meinem Kopf tausend Gedanken und in meiner Brust so ein latenter Druck, die unangenehme Last der Panik.

Irgendwann stand ich auf und holte mir ein Thunfischsandwich aus dem Kühlschrank. Legte mich wieder hin. Wartete eine halbe Stunde. Und holte mir dann was zu Trinken. Nach einer weiteren halben Stunde musste ich aufs Klo. Tja, und dann lag ich wieder da und betrachtete die Decke. Mit jeder Minute schien es in meinem Zimmer ein bisschen stickiger und wärmer zu werden, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, gar nicht mehr richtig atmen zu können. Dann sah ich auf die Uhr und es war gerade mal halb Zwei. Ich hätte heulen können. Davon wurde ich aber leider auch nicht schläfriger.

Ja, und irgendwie kam es dann, dass ich einen Telefonhörer in der Hand hielt. Fragen Sie mich bitte nicht nach einer detaillierteren Erklärung. Ich habe das bestimmt nicht gewollt! Ganz ehrlich, ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, dass ich eine Nummer gewählt habe. Muss ich aber wohl oder übel, denn am Ende hat jemand abgenommen. Und zwar erstaunlich schnell, wenn man bedenkt, dass es ja schon bald zwei Uhr nachts war!

„Häh?“, meldete sich eine verschlafene Stimme, und spontan fühlte ich mich grottenschlecht. Ich hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt, aber ich wusste ja nicht, ob meine Nummer angezeigt worden war, und das wär dann erst richtig peinlich geworden. Noch peinlicher. Ja, das ging. Aber auch so war ich vor lauter Scham erst einmal wirklich sprachlos.

„Tut mir leid“, murmelte ich dann hastig ins Telefon, und im nächsten Moment hätt ich mich schon wieder dafür schlagen können. Was für eine herzliche Begrüßung! „Ich meine, ich hab dich aufgeweckt, oder?“

„Ehrlich gesagt, ja“, wurde meine vollkommen überflüssige Frage erstaunlich ungenervt beantwortet. „Jessie, bist du das? Ist was passiert?“

„Nein… oder ja, vielleicht. Ich weiß nicht.“ Ich kam mir mit jedem gestammelten Wort noch ein bisschen dümmer vor. Vor allem, weil Mike wirklich kein bisschen vorwurfsvoll, sondern einfach nur ehrlich besorgt klang. Ich hätte mir für so einen Anruf den Kopf abgerissen! „Tut mir echt leid. Ich… ich kann nur einfach nicht schlafen. Ich lieg seit Stunden wach und ich fühl mich so scheiße.“

Einen Moment lang Stille. Dann, deutlich wacher als zuvor:

„Soll ich vorbeikommen?“

„Du willst…“ Ich musste ehrlich nach Luft schnappen. Dass Mike so etwas nur dachte, haute mich schon um… oder hätt’s halt getan, wenn ich nicht sowieso gelegen wäre. Dass er es dann auch noch ohne zu zögern und mit vollkommen aufrichtiger Stimme tatsächlich vorschlug, war in der Situation irgendwie zuviel für mich. „Du bist so krank, weißt du das eigentlich?!“

„Klar! Und?“ Ich hörte, dass Mike grinste – ja, so etwas ist möglich. „Hey, so kann ich zu dir ins Bett kommen und mich danach noch als großer Held aufspielen, ist doch perfekt, oder?“

„Mike, das geht nicht!“, widersprach ich etwas zu vehement, und fügte dann beschwichtigend hinzu: „Meine Mum schläft. Ich will sie auf keinen Fall wecken. Die hatte nen langen Tag hinter sich.“

„Du aber auch, oder?“

„M-hm“, nickte ich nach einigem Zögern. „Schon. Was weiß ich, warum ich jetzt nicht schlafen kann.“

„Sollen wir uns irgendwo treffen? Du könntest auch zu mir kommen. Ich hab ein Gästebett, von dem mir jeder schwört, es sei das Beste, in dem er jemals geschlafen hat. Also nicht nur von Gästebetten, sondern allgemein. Aber wir können uns auch einfach so treffen, wenn dir das sonst zu sehr nach zu dir oder zu mir klingt!“

Gegen meinen Willen musste ich lachen.

„Nein… das passt schon, wirklich. Das ist zwar total absurd, aber ich bin eigentlich todmüde. Ich kann nur nicht einschlafen. Ich möcht jetzt nicht in irgendeiner Bar oder so was rumhocken. Wir… können bei dir ja noch ein bisschen Fernsehen oder so. Wenn du Lust drauf hast.“

„Klar, immer!“ Mike holte tief Luft, und ich ahnte, dass auch für ihn gerade alles recht plötzlich kam. Trotzdem klang er genauso wenig nervös, wie ich mich fühlte. Ich hatte gerade die Einladung eines an sich ja noch vollkommen Fremden angenommen, bei ihm zu schlafen, aber es fühlte sich nicht falsch an. Und eigentlich auch überhaupt nicht fremd. „Weißt du was? Ich hol dich ab. Dann musst du nicht allein durch die Stadt laufen. Und du wirst sehen, so weit ist’s gar nicht von dir zu mir.“

„Okay, dann bis gleich.“

Ich hatte schon irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich Mike so unverschämt herzitierte, aber ehrlich gesagt war ich froh, nicht allein durch die nächtlichen Straßen irren zu müssen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Orientierungssinn war nicht der Beste, und ich wollte nicht erst früh morgens bei Mike vor der Tür stehen und ihn aus dem Bett klingeln. Ihn und… wen auch immer. Ich wusste ja nicht mal, wie Mike wohnte. Ich konnte ihn mir gut in einer WG vorstellen, mit mindestens fünf Mitbewohnern in einer uralten Dachwohnung, in der ständig etwas kaputt war. Vielleicht mit einer versteckten Hanfplantage in irgendeinem Kleiderschrank. Und mit ganz vielen Postkarten an der Klotüre.

Ich zog mir schnell was über – einen Rock und ein knappes Top, weil es mir sogar in meinem Schlafshirt noch zu warm war –, schlüpfte in dazu passende Stiefel und schlich mich aus der Wohnung. Dann eilte ich die morsche Treppe hinab ins Freie. Die erhoffte Kühle blieb aus, es war genauso stickig wie in meinem Zimmer. Trotzdem fühlte ich mich ein bisschen wohler als in meinem Bett. Ich lehnte mich gegen die Hauswand, starrte auf die gegenüberliegende Bruchbude und wartete.

Um ehrlich zu sein, ein bisschen habe ich das Ganze schon bereut. Meine Zweifel, das Richtige getan zu haben, wurden mit jeder Sekunde größer – meine Gewissheit, das denkbar Falscheste getan zu haben, strebte gegen Unendlich. Ich kannte Mike doch gar nicht, aber immer, wenn ich ihn sah, endete es irgendwie so, dass ich ihn ausnutzte oder schlecht behandelte. Und er schien es mir kein bisschen übel zu nehmen. Mir war schon klar, was das bedeutete. Mike musste es verdammt ernst sein. Oder er wollte mich unbedingt ins Bett kriegen und war einfach nur ein ziemlich guter Schauspieler. Aber dieser Gedanke kam mir so lächerlich vor, dass ich mich vor mir selbst dafür schämte. Ich wusste einfach, dass Mike nicht so war. Wenn es an einer Sache keinen Zweifel gab, dann daran.

Tatsächlich erreichte Mike mein Haus sogar erstaunlich schnell. Sein dunkles Haar war noch zerwühlter als sonst, aber sein Lächeln strahlte wie eh und je.

„Hey, Jessie“, rief er mir entgegen, ohne sich um die späte… oder eigentlich schon wieder frühe Uhrzeit und eventuell in Kürze erbost zu uns herunterbrüllende Nachbarn zu kümmern. In diesem Augenblick lösten sich all meine Zweifel in Luft auf, einfach so. Ich hatte keine Angst und keine Bedenken mehr. Ich spürte nur noch das unbedingte Bedürfnis, zurückzulächeln, und gab dem auch ohne längeres Zögern nach.

„Abend, Mike!“, erwiderte ich und begrüßte ihn mit einer Umarmung, wie einen alten Freund. Wenn man allerdings bedachte, dass ich zuvor nie wirklich Freunde gehabt hatte, war der Gedanke gar nicht mehr so verkehrt. Es war ganz merkwürdig: Gerade als ich Mike so umarmte, fiel mir auf, wie einsam ich mein Leben lang gewesen war. Ich hatte in einer kleinen Parallelwelt gelebt, in der es nur Platz für Mum und mich gegeben hatte. Seltsamerweise machte mich diese Erkenntnis kein bisschen traurig, ganz im Gegenteil. Da war nur eine tiefe Dankbarkeit. Für viele Dinge, vor allem aber für dieses Mädchen namens Jessica Maguire, die mich so gewaltsam in die Außenwelt gezerrt hatte.

„Ist noch ziemlich heiß heute, hm?“, riss mich Mike aus meinen merkwürdigen Gefühlen und Gedanken. Ich überspielte mein Zusammenzucken mit einem Nicken.

„Ich will gar nicht wissen, wie heiß es morgen am Tag sein wird!“ Ich musste an Geenias kleinen, schlecht belüfteten Übungsraum denken und verzog das Gesicht.

„Ich auch nicht. Und eine schlechte Nachricht hab ich außerdem: Wir werden rennen müssen. Jetzt gleich. Dann schaffen wir’s nämlich noch auf die nächste S-Bahn.“

„Kommt danach keine mehr?“

„Doch, klar. Eine lächerliche Stunde später.“

„Rennen wir“, gab ich mit einem resignierten Schulterzucken zurück. Mike grinste nur, dann nahm er meine Hand und wir liefen los.
 

Wir sprangen durch die Türen der S-Bahn, als sie gerade dabei waren, sich zu schließen. Bis zu Mike war es wirklich nicht allzu weit, und die drei Stationen, die wir fuhren, brauchte ich auch dringend, um wieder zu Atem zu kommen. Ich lächelte die ganze Zeit über. Ein kurzer Moment der Enttäuschung stellte sich dann allerdings doch ein, als ich Mikes Haus sah. Es war nicht annähernd so alt und… bruchbudig, wie ich mir das ganz selbstverständlich ausgemalt hatte. Eigentlich ein schönes Haus, dreistöckig, mit weißer Fassade und grau umrandeten Fenstern. Nichts Besonderes, aber definitiv sehr einladend und irgendwie freundlich. Trotz meiner zerbröckelnden Fantasien fühlte ich mich sofort wohl hier.

Mike schloss die Tür auf, trat in einen sogar recht aufgeräumten Eingangsflur und stieg über die Treppen nach oben. Ganz nach oben. Wenigstens in einem Punkt schien ich Recht zu behalten. Allerdings war das Haus nicht sonderlich groß und die Dachwohnung musste logischerweise noch etwas enger sein als die unteren Stockwerke. Noch eine Gewissheit, die sich verflüchtigte.

„Hier passen aber keine sechs Personen rein“, murmelte ich und sah noch im nächsten Moment, dass auf dem Schild an der Klingel nur ein einziger Name stand, nämlich der von Mike. Ich muss ihn daraufhin wirklich angestarrt haben, denn er hob eine Augenbraue und fasste sich ganz unbewusst prüfend ins Gesicht.

„Stimmt irgendwas nicht?“, fragte er, während er flüchtig seine Wangen abtastete. „Und welche sechs Personen eigentlich?!“

„Nichts… vergiss es“, antwortete ich etwas verlegen, fügte dann aber doch erklärenderweise hinzu: „Ich war mir sicher, du würdest in so einer Chaos-WG hausen. Wohnen. Wie auch immer.“

„Wieso?“, fragte Mike und fuhr sich ausgerechnet bei diesen Worten durch die Unordnung auf seinem Kopf, die es sich anmaßte, als Frisur bezeichnet werden zu wollen. Dann schloss er endlich auf. „Das klingt zwar jetzt total spießig, aber die Wohnung gehört meinen Eltern. Die wohnen übrigens ein Stockwerk unter uns. Früher haben meine Großeltern hier oben gelebt, aber dann haben die ganz spontan beschlossen, an die Küste zu ziehen. Ich wollte eh immer so früh wie möglich ausziehen, und hier hab ich beides, meine Familie, auch mal Hilfe beim Kochen und so, aber trotzdem eine eigene Wohnung. An sich ziemlich cool.“

„Das find ich allerdings auch! Und warum spießig? Die meisten wohnen in unserem Alter noch bei den Eltern mit in der Wohnung oder im Haus oder so. Ich wohn ja auch mit meiner Mum zusammen.“

Wer von uns beiden da erwachsener war, Mum oder ich, ließ ich einfach mal gedanklich dahingestellt. Mikes Wohnsituation fand ich aber wirklich sehr cool. Es war eine gute Mischung aus Distanz und Nähe. Man konnte sich sehen, aber man war nicht dazu verpflichtet. Jeder hatte Freiräume, ein eigenes Leben, aber wenn man darauf mal keine Lust mehr hatte, musste man nur eine einzige Treppe überwinden, auf die Klingel drücken und hoffen, dass jemand zuhause war. Man war selbstständig, aber im Notfall nicht auf sich allein gestellt. Eigentlich perfekt.

Der Anblick von Mikes Wohnung besänftigte mich dann noch ein bisschen mehr. Die Einrichtung sah aus, als ob man sie von diversen Möbelhäusern und Flohmärkten wild zusammengekauft hätte, dunkle Regale neben hellen Schränken, ein etwas abgewetztes Großmuttersofa, ein eleganter schwarzer Tisch. An den Wänden hingen etwas wahllos positionierte Poster von allem Möglichen, von Frauen und Stränden und diversen Musikgruppen. Hier und dort dienten Ecken und Stuhllehnen als zusätzlicher Kleiderschrank. Es war chaotisch, ohne schmutzig zu wirken. Ich nickte zufrieden und trat ein.

„Klein, aber mein“, fasste es Mike treffend zusammen und betrachtete sein Reich mit liebevollem Stolz in den blauen Augen.

„Sieht gemütlich aus“, fügte ich hinzu und ließ mich auf dem herrlich altmodischen Sofa nieder. Einfach so, ohne zu fragen. Ich hatte nicht das Gefühl, um Erlaubnis bitten zu müssen. Die Wohnung schien mich förmlich dazu einzuladen, mich ganz wie zuhause zu fühlen und mich auch entsprechend zu verhalten. „Und fühlt sich auch so an.“

„Danke!“ Mike strahlte spontan noch ein bisschen mehr. „Aufgeräumt ist was anderes, aber ich finde, es geht. Man kann hier jedenfalls ganz gut leben. Es… geht doch, oder?“

„Klar!“ Ich lehnte mich entspannt zurück und musterte die gegenüberliegende Wand. Durch ein Fenster mit Spitzengardine fiel warmes Straßenlaternenlicht zu uns herein. Die Tapete war ein bisschen rau und nicht ganz weiß, sondern eher so bräunlich beige. Auch eine Oma-Tapete. Die Wohnung wuchs mir immer mehr ans Herz, schon jetzt. Trotzdem bemerkte ich sofort, dass etwas fehlte. „Hey, wo ist der Fernseher?!“, fragte ich etwas beunruhigt.

„In meinem Zimmer. Da kann ich ihn besser brauchen als hier.“

„Und? Darf ich da auch hin oder muss jeder sterben, der diese verbotene Kammer betritt?“

„Klar!“ Mike bleckte die Zähne, was bei ihm aber kein bisschen bedrohlich, sondern schon wieder nur wie ein Grinsen aussah. „Aber wenn dir das nichts ausmacht, kannst du’s gerne sehen.“

„Okay.“ Ich zuckte mit den Schultern und stand auf. „Hauptsache Fernsehen.“

Neugierig folgte ich Mike und spähte an seinem Rücken vorbei in sein Zimmer hinein, kaum dass er dessen Tür geöffnet hatte. Und ich muss sagen, wieder wurden meine Erwartungen aufs Sympathischste erfüllt. Das Bett sah aus wie selbstgebaut. Die Wände waren auch hier kreuz und quer mit Postern zugepflastert. Der Schreibtisch passte nicht zum Schrank, der Schrank nicht zum Regal, das Regal nicht zum Fernsehtisch, der Fernsehtisch nicht zum Schreibtisch. Es war gar nicht mal so unaufgeräumt, aber der Raum kam mir trotzdem unglaublich chaotisch vor. Ich beschloss spontan, dass es sich hier gut aushalten ließ. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ ich mich auf das Bett fallen, das sogar erstaunlich gemütlich war.

„Fernsehen!“, befahl ich. Mike streckte mir die Zunge heraus. Er kramte die Fernbedienung zielsicher unter einem Haufen eng beschriebener Blätter, vermutlich Schulsachen, hervor und warf sie neben mich aufs Bett und dann sich selbst beinahe auf sie drauf. Ich sah ihn strafend an, aber Mike kümmerte sich nicht weiter darum.

„Was kommt eigentlich um diese Uhrzeit?“, fragte er.

„Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wie spät es ist. Ich glaub, es kommt grad die Wiederholung von irgendeiner Nachmittagstalkshow.“

„Cool. Wo?“

„Such doch einfach!“

Mike stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite, tat dann aber brav, wie ich ihm geheißen hatte. Tatsächlich lief besagte Talkshow, noch dazu mit einem großartigen Thema. ‚Ich kann jeden haben’, etwas in der Art. Aus irgendeinem Grund musste ich sofort an Tatsumi denken, und kurz hatte ich so ein komisches Gefühl in der Brust, das aber schnell wieder verschwand. Ich warf Mike einen verstohlenen Blick von der Seite her zu. Er betrachtete den Bildschirm ganz konzentriert, was angesichts der vollkommen hirnrissigen Unterhaltungssendung zwar absurd, aber auch irgendwie verdammt… niedlich war. Ich kann’s nicht anders nennen. Wenn ich eine Talkshow ansehe, muss ich mich andauernd lautstark aufregen oder mich über die Gäste lustig machen oder dem Fernseher meine eigene Meinung zu dem geballten geistigen Müll entgegenrufen. Mike sah aus, als ob er einem höchst anspruchsvollen wissenschaftlichen Vortrag lauschen würde.

Ich wollte ihn nicht stören, also konzentrierte ich mich eben auch auf den Fernseher. Nach kurzer Zeit überkam mich die Müdigkeit. Fernsehen machte mich sowieso immer ein bisschen müde, und ich ertappte mich dabei, wie mir immer öfter die Augen zufielen. Irgendwann reichte es mir und ich ließ mich einfach seitlich auf die Matratze sinken. Die Beine streckte ich hinter Mikes Rücken aus, bevor ich mich wieder den großen Ausschnitten und solariumbraunen Hungerhaken auf dem Bildschirm zuwandte. Ich weiß, dass sich irgendwann zwei Frauen die Oberteile vom Leib gerissen und sich aufeinander gestürzt haben.

Dann schlug ich die Augen auf, und es war wieder hell.

Es war schon ein bisschen beängstigend. Ich lag in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, und ich war allein. Der Fernseher schwieg. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Zeit vergangen war, aber an den Rändern der zugezogenen Vorhänge drang Tageslicht in Mikes kleine Chaosbehausung. Außerdem fühlte ich mich erstaunlich wach. Und ich war zugedeckt. Nach einigen Momenten bemerkte ich auch, dass Kaffeegeruch in der Luft lag. Ich richtete mich auf, strich mit den Fingern durch meine Haare und schlich ganz vorsichtig zur Tür. Es konnte nicht mehr früh am Morgen sein, aber ich fühlte mich irgendwie trotzdem dazu verpflichtet, leise zu sein.

Nach einem kurzen Zögern und einem ausgiebigen Durchatmen wagte ich es, die Tür zum Nebenzimmer zu öffnen. Dort sah ich allerdings nicht viel mehr als eine halb zu Boden gesunkene Decke, die in der vergangenen Nacht… oder auch am vergangenen Morgen definitiv noch nicht auf dem Sofa gelegen hatte. Außerdem hörte ich leise Musik aus der Richtung einer weiteren Tür, der ich bislang noch keine Beachtung geschenkt hatte. Wohl zu Unrecht, denn dort schien sich die Küche zu befinden. Jedenfalls war der Raum dahinter eindeutig die Quelle des Kaffeeduftes.

Mike öffnete besagte Tür, noch bevor ich es tun konnte. Er wirkte kurz ein bisschen überrascht, als er mich sah, fand aber schnell sein Lächeln wieder.

„Hey, schon wach? Ich hab gedacht, du schläfst noch ne Weile.“

„Wie spät ist es denn?“, fragte ich.

„So zwölf Uhr rum.“

„Hm. Ist ja echt noch gar nicht so spät.“ Ich lockerte kurz meine Schultern, dann verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah Mike herausfordernd an. „Ich hoffe für dich, dass du den Kaffee da für mich gekocht hast!“

„Nein, hab ich nicht“, antwortete er, und fügte dann rasch hinzu, als er sah, wie sich meine Augenbrauen zusammenzogen: „Für uns beide. Hey, ich muss auch wach werden, und ohne Kaffee nach dem Aufstehen funktioniere ich den ganzen Tag lang nicht.“

„Na gut, dann will ich mal nicht so sein“, erklärte ich großmütig, während ich mich auf dem Sofa breit machte.

„Wow, danke. Und darf ich mich auch setzten? Ich meine, ich will dir ja nicht den ganzen Platz wegnehmen oder so.“

„Ach, kein Problem!“ Ich winkte ab und streckte mich noch ein bisschen mehr. Wundersamerweise fand Mike trotzdem noch Platz neben mir. Nach ein paar Sekunden stand er aber sowieso wieder auf, verschwand in der Küche und kam mit zwei großen Tassen wieder zurück, von der eine mit den Worten: „Ich kann nichts dafür, ich bin so“, die andere mit einem großen gelben Smiley mit Kopfschuss bedruckt war. Ich nahm ihm schnell den toten Smiley aus der Hand, bevor er auf dumme Gedanken kommen konnte. „Jetzt einen Fernseher!“, seufzte ich sehnsüchtig.

„Geh doch und hol ihn!“, grummelte Mike und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Ich beschloss, ihm das erst einmal nachzumachen, bevor ich ihn wieder strafend ansah.

„Hey, ich bin hier der Gast!“, protestierte ich dann. „Ich hab immer Recht! Und ich will bedient werden, so. Jetzt weißt du’s.“

„Soll ich dir jetzt die Fußsohlen massieren oder was?“

„Kannst du das denn?“

„Ähm… muss man da was können?“

„Ja!“ Ich zog hastig meine Füße zu mir und richtete mich wieder ein bisschen auf. „Sonst kitzelt es fürchterlich, und glaub mir, dann tret ich wild um mich und ich kann nicht sagen, wo ich dich dann am Ende treffen werde!“

„Ich hab aber schon nen Kumpel von mir massiert, und der fand’s toll!“

„An den Füßen?!“

„Nein, an den Schultern!“

„Du massierst deinen Kumpels die Schultern, soso.“ Ich verzog meine Lippen zu einem sehr zweideutigen Grinsen, aber Mike ließ sich davon nicht provozieren.

„Ja, einem Kumpel, zu dessen voller Zufriedenheit“, wiederholte er gelassen. „Ich kann nicht besonders viel, aber was Schultern massieren angeht, bin ich ein Naturtalent!“

„Ich glaub dir kein Wort.“

„Soll ich’s dir beweisen?“

„Mach doch!“ Ich nahm noch einen tiefen Schluck von meinem Kaffee – ehrlich gesagt, er schmeckte weitaus besser als das Gesöff, das Ma und ich bei uns zuhause immer verbrachen – und wandte ihm dann den Rücken zu. Ehrlich gesagt, ich rechnete nicht wirklich damit, dass Mike seine Drohung (oder sein Versprechen?) wahr machen würde, sonst hätte ich womöglich anders gehandelt. Hätte ich das? Keine Ahnung, aber jedenfalls legte Mike schon nach wenigen Sekunden seine Hände auf meine Schultern.

Ich erschauderte.

Was genau in diesem Augenblick passierte, kann ich nicht beschreiben. Ein leises Zittern lief durch meinen ganzen Körper und mir wurde fast ein bisschen schwindelig. In meinem Bauch kribbelte es, als ob ich Achterbahn fahren würde, und dieses Kribbeln wanderte quälend und wunderbar langsam bis in meine Finger-, Zehen- und Haarspitzen. Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf zurück, Mikes Hand entgegen, die immer noch reglos auf meiner Haut verharrte. Ich spürte, dass seine Finger ganz leicht bebten, als ich sie mit meiner Wange streifte.

Und dann lag ich plötzlich in seinen Armen, ohne so recht zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Ich zitterte immer noch, sogar ein bisschen stärker als zuvor. Mir war, als ob ich fallen würde, und Mike war das Einzige, an dem ich mich noch festhalten konnte. Und das tat ich. Meine Hände schlossen sich um den Stoff seines Oberteils, während er seine Lippen auf meine presste. Ich wich nicht zurück, ganz im Gegenteil, ich stürzte mich Hals über Kopf in diesen ganz und gar nicht zögerlichen, diesen hungrigen, leidenschaftlichen Kuss, als ob es die letzten Sekunden meines Lebens wären. Die Welt um Mike und mich herum verschwand einfach, es gab nur noch seinen Mund und meinen Mund und seine Finger, die mir langsam über den Rücken strichen, meine Hüften umfassten, mich an ihn zogen und festhielten, als ob sie mich nie mehr wieder loslassen würden.

Dafür ließ ich Mikes T-Shirt los, fühlte stattdessen jede Linie seines Rückens, ließ dann meine Hand unter sein Oberteil fahren, weil ich seine Haut berühren wollte, weil mich nichts und niemand von dieser wunderbaren Wärme fernhalten sollte. Ich habe keine Ahnung, wie ich unter all den Küssen überhaupt noch atmen konnte. Irgendwann ließ Mike von meinen Lippen ab, wanderte über mein Kinn zu meinem Hals hinab, und es machte mich ganz wahnsinnig, wie sein Atem meinen Nacken streifte. Seine langen, etwas rauen Finger schoben den Stoff meines Tops nach oben, strichen über meine Seiten, und diese Berührung jagte neuerliche Schauer über meinen Rücken… und über einfach alles, was danach kam.

Bis mir im allerletzten Augenblick einfiel, dass ich eine kleine, aber nicht ganz unwichtige Nebensache vergessen hatte.

Ich war nicht Jessica Maguire. Mike konnte und würde auf seiner Erkundungstour über meinen Körper nicht finden, was er zu finden glaubte. Sondern andere Dinge, von denen Mums Brustimplantate noch das Harmloseste waren. Kalte Panik stieg in mir auf. Ich wollte nicht weg von Mike, ich wollte ihm noch viel, viel näher kommen, aber das war nicht möglich, weil ich nicht mehr als ein gottverdammter Lügner war, der sich in seiner eigenen Traumwelt verlaufen hatte. Ein grauenvoller Schmerz bohrte sich mitten in meine Brust, und ich habe mich selten so gehasst wie in diesem Augenblick, als ich Mikes Hände von meinem Körper riss und aufsprang.

Er starrte mich an – vollkommen verwirrt, fast ängstlich, flehend… fassungslos. Ich habe keine Ahnung, wie ich zurückgestarrt habe, aber Mike sagte kein Wort. Vielleicht wagte er es nicht. Vielleicht dachte er, dass er derjenige gewesen war, der einen Fehler gemacht hatte. Ich wollte es ihm erklären, wollte ihn vom Gegenteil überzeugen, wollte etwas retten, das nicht mehr zu retten war. Und ich begriff, dass ich ihm nie mehr wieder in die Augen sehen konnte.

„Es tut mir leid“, flüsterte ich, und meine Stimme zitterte nicht weniger als ich selbst. „Es tut mir so leid.“

Dann lief ich aus der Wohnung, ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen.
 

Offen gesagt – in den kommenden Tagen fühlte ich mich hundeelend. Nach dem ersten Schock wurde es so richtig übel, mir tat einfach alles weh und ich konnte kaum noch in den Spiegel sehen, weil ich dort das Gesicht des schlechtesten Menschen auf der ganzen weiten Welt ertragen musste. Ein furchtbar schlechtes Gewissen quälte mich… und etwas anderes, das vielleicht noch deutlich schlimmer war. Ich konnte mich nicht bei Mike melden, ich wollte ihn im Leben nie mehr wiedersehen. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite wollte ich einfach nur bei ihm sein. Ich vermisste ihn, obwohl ich ihn kaum kannte, und meine Gedanken kreisten in allen möglichen und unmöglichen Situationen nur um ihn. Ich werde das jetzt nicht im Detail aufschreiben, vergessen sie’s. Das tut nichts zur Sache, und sie würden ja doch nur schlecht über mich denken.

Außerdem hatte ich keine Wahl – die Show musste weitergehen. Ich stürzte mich mit ganz neuer Energie ins Training, weil es mich mit seinen körperlichen Schmerzen so wunderbar von jedem anderen Schmerz ablenkte. Es forderte meine ganze Konzentration und Aufmerksamkeit, es bescherte mir Stunden der Einsamkeit, in denen ich mir selbst nicht feindselig gegenübertreten konnte, weil ich mich ja schließlich brauchte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaube ich, dass ich es ohne diesen morgendlichen Sturzflug mit Mike niemals geschafft hätte, die ganze mörderische Choreographie zu lernen. Es war Untergang und Rettung im selben Augenblick, und ich kämpfte mit einer Leidenschaft, die ich gar nicht von mir kannte.

Tatsumi war ein bisschen merkwürdig in der folgenden Zeit. Er war und blieb Tatsumi, er grinste mich immer noch so arrogant und nervig an, wie er es eben meistens tat, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir aus dem Weg ging. Und weniger redete als sonst, was bei ihm ja schon auffiel. Ich dachte nicht groß darüber nach, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war, aber ich konnte es auch nicht ganz ignorieren. Außerdem gab es immer wieder Momente, in denen mir die Einsamkeit einfach zuviel wurde. In denen ich die belanglosen Unterhaltungen mit Tatsumi als Erlösung empfand. Mir fiel nicht auf, dass er niemals ein Wort über sich selbst verlor. Ich war froh, wenn er mich nach meinem Training fragte und ein paar dämliche Witze riss und mich, wie die Übungsstunden, von meinem Weltschmerz ablenkte.

Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet an diesem einen Abend beschloss, nach dem Tanzen noch bei ihm vorbeizuschauen. Eigentlich war ich todmüde, mir tat wieder mal (oder eher immer noch) alles weh und ich hatte einen Mordshunger. Aber ich wollte einfach nicht nach Hause. Ich wollte nicht allein auf meinem Zimmer rumhängen und mir selbst leid tun. Ich stieg einfach in die S-Bahn, ohne groß nachzudenken. Vielleicht war es für mich in den zurückliegenden Tagen selbstverständlich geworden, dass ich Tatsumi in jeder Lebenslage auf die Nerven gehen konnte, wenn wir mir gerade danach war. Er ging mir ja auch auf die Nerven, also wo war das Problem?

Vermutlich hätte ich umkehren sollen, als ich die Stimmen hörte. Laute, sogar ziemlich laute Stimmen. Sie zerrissen die Stille in dem großen, schönen Garten, aber nur solange, bis ich die Türschwelle erreicht hatte. Noch ein lauter Schlag irgendwo im Inneren der Prachtvilla, dann kehrte wieder nächtliche Ruhe ein. Etwas unschlüssig blieb ich vor der Tür stehen, aber ans Gehen dachte ich merkwürdigerweise nicht. Es war ein Gefühl, als ob mich die Vorgänge innerhalb dieses Prunkhauses gar nichts angehen, mich einfach nicht berühren würden, solange ich noch vor seinen Pforten stand. Was da geschah, hatte nichts mit mir zu tun, war für mich gar nicht wirklich real.

Ich zückte mein Handy und ließ dreimal bei Tatsumi anklingeln. Das war unser Signal, dass ich da war, weil er nach wie vor nicht wollte, dass ich an der Tür klingelte. Mich beleidigte das ein bisschen – so peinlich und asozial war ich nun auch wieder nicht, oder wenigstens sah man mir das nicht auf den ersten Blick an –, aber dann dachte ich, dass Tatsumi schon seine Gründe haben würde, und ich hatte ja auch keine Lust auf peinliche Begegnungen mit diesen unbekannten Eigentümern eines so unfassbar großen Hauses. Ja, lachen Sie nur darüber. Das ist auch nicht böse gemeint, Sie müssen einfach bedenken, wo ich herkomme, dann verstehen Sie diese Gefühle vielleicht besser.

Wie auch immer, Tatsumi ließ mich in dieser Nacht ganz schön lange warten. Ich rechnete fast nicht mehr damit, dass er mir überhaupt noch öffnen würde, und ich wollte schon beinahe wieder beleidigt abziehen, als ich endlich doch ein Geräusch hinter der Tür wahrnahm. Von innen drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und dann öffnete sich das Tor zum Palast des Prinzen und selbiger begrüßte mich mit einem Nicken.

Ich muss gestehen, dass ich doch ein bisschen erschrocken bin. Tatsumi lächelte zwar, aber das hätte er sich auch sparen können, weil es einfach nur offensichtlich falsch war. Er legte sich einen Finger auf die Lippen, als er mich hereinwinkte, aber ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich sagen sollte. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Innere des Hauses. Es war so still wie meist, aber auf eine ganz andere Art – ein bedrückendes Schweigen, die Ruhe nach dem Sturm. Ich schluckte schwer und wäre am liebsten sofort wieder gegangen, wagte es aber nicht. Nicht, nachdem ich gerade erst im unpassendsten Moment hereingeplatzt war.

Schweigend folgte ich Tatsumi auf sein Zimmer und setzte mich auf die äußerste Kante seines Betts. Irgendwie war es mir unangenehm, jetzt etwas zu berühren oder durcheinander zu bringen. Mir war es ja schon unangenehm, überhaupt hier zu sein. Ich starrte auf meine Hände. Wartete darauf, dass Tatsumi irgendeine dämliche Bemerkung machen und damit das Eis brechen würde, aber er sagte nichts und mir wurde immer kälter. Nervös scharrte ich mit einem Fuß über den Boden, aber schon dieses Geräusch erschien mir viel zu laut, unverschämt laut. Ein Fremdkörper in all der Stille. Ich hätte mich am liebsten irgendwo vergraben, aber das wär vermutlich auch nicht viel unauffälliger gewesen.

„Was is denn passiert?“, brachte ich irgendwann – endlich! – über mich, zu fragen. Diese seltsame Anspannung in meiner Brust wuchs mehr und mehr. Gott, warum antwortete Tatsumi nicht endlich? Ich sah ihn verstohlen von der Seite an. Hinter den hellblonden Haarsträhnen, die ihm vors Gesicht fielen, konnte ich sehen, dass er irgendwo durch den Boden hindurchstarrte. Ich wollte ihn gerade unauffällig berühren, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen, da blickte er von selbst wieder auf, wenn auch nur ein bisschen und nicht in meine Richtung.

„Stress“, murmelte er wenig aussagekräftig vor sich hin. „Mal wieder.“

„Und wieso?“, hakte ich schon etwas selbstbewusster nach. Tatsumi zog die Augenbrauen zusammen und dann die Schultern hoch. Er zog die Schultern hoch! Was um alles in der Welt war passiert?!

„Wie immer halt“, murmelte Tatsumi weiter, und fügte auf einen kritischen Blick meinerseits ganz unvermittelt und deutlich lauter hinzu: „Das ist doch jedes verdammte Mal dasselbe! Die kommen mir wieder mit ihrem BWL-Hirnfick, und darauf hab ich einfach keinen Bock und werd auch niemals Bock drauf haben! Nur, weil die mich aus der Scheiße geholt haben, brauchen die mich nicht bei irgendeiner gottverdammten Elite-Uni oder was auch immer anmelden, ohne mich vorher zu fragen!!! Die sollen ihr scheiß verzocktes Spießerleben doch an einem anderen auslassen!!“

Ich war, vorsichtig ausgedrückt, überrascht. Tatsumi starrte mich an, als ob er mir gleich den Kopf von den Schultern reißen wollte, und, ich meine, ich hatte Tatsumi immerhin schon so ein bisschen kennen gelernt, und er war und blieb ja schließlich Tatsumi, und dann fluchte er da plötzlich vor sich hin und zwar nicht gerade leise und... ja. Können Sie sich das vorstellen? Na gut... vermutlich können sie das. Aber ich, hey, ich war wirklich sprachlos, und das kommt weiß Gott nicht oft vor.

„Was denn?!“, fragte Tatsumi, immer noch ziemlich wütend, als er meinen erstaunten und, ja, hilflosen Blick bemerkte. Ich schluckte schwer und fragte dann, wieder deutlich vorsichtiger:

„Und... was machst du jetzt?“

„Den Rest meines Lebens mit diesem kotzlangweiligen Müll verschwenden, nur weil die mich für ein Stück Dreck halten, das die großen Helden unter dem Gürtel seines Vaters weggerissen haben? Ja, klar!“ Er schnaubte wütend, und dann fuhr er herum und schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich rutschte auf dem Bett von ihm weg und schnappte nach Luft. Tatsumi fixierte die weiße Tapete wie ein Raubtier seine Beute, und ich sah, dass sein ganzer Körper zitterte. Ich saß daneben, wie gelähmt und vollkommen überfordert, und ich begriff nur ganz langsam, dass da vor meinen Augen etwas geschah und vermutlich schon lange und oft geschehen war, von dem ich noch nicht mal ansatzweise geahnt hatte. Ich wollte gerade etwas sagen, da ließ Tatsumi seinen Arm wieder sinken und murmelte so laut, dass ich es gerade noch hören konnte: „Ich hau ab.“

„Was?!“ Meine Reaktion kam so laut und so plötzlich, auch für mich, dass ich mir unwillkürlich eine Hand vor den Mund schlug. Tatsumi schien es jedoch nicht im gleichen Maße zu stören, wie es das normalerweise getan hätte, denn er sah sich nicht einmal um. Er schloss nur die Augen, atmete zwei-, dreimal tief durch und fuhr dann, immer noch mit gesenktem Blick, fort:

„Ach komm, jetzt tu doch nicht so.“ Er presste kurz die Lippen aufeinander, wirkte ansonsten aber schon deutlich gefasster. „Und fang bitte nicht wieder mit deinen Moralpredigten an von wegen tolle Villa und andere wären froh über mein Leben und der ganze Blödsinn. Dafür hab ich jetzt wirklich keinen Nerv mehr!“

„Tatsumi, du kannst nicht einfach abhauen!“, antwortete ich und ignorierte den letzten Teil seiner Worte einfach. Ich wusste ja, dass ich bei unserem ersten Krisengespräch nicht gerade sensibel gewesen war, dass er frustriert war und... ach, keine Ahnung. Es traf mich nicht, was er sagte, es interessierte mich nicht mal, ich war einfach noch viel zu schockiert und hatte momentan weiß Gott andere Sorgen. „Überhaupt nicht und erst recht nicht vor dem Wettbewerb!“

„Und wieso nicht?“

„Weil... weil wir Verbündete sind!“ Ich schrie fast und ich kam mir so lächerlich dabei vor, erst recht, als ich in Tatsumis Gesicht sah.

„Ja, klar, und darum bleib ich hier, um dich bei Laune zu halten.“ Er verzog die Lippen wieder zu einem Lächeln, aber wirklich erleichternd war der Anblick nicht, weil es so unglaublich... bitter war. „Als ob’s dich interessieren würde. Als ob du dir nicht einen anderen Idioten suchen könntest, den du genauso wenig leiden kannst wie mich!“

„Hör auf!“ Mit einem Satz war ich auf den Beinen, aber ich wagte es nicht, mich Tatsumi zu nähern, weil er mich schon wieder so todbringend anstarrte. Ich hätte vermutlich enttäuscht und gekränkt sein müssten, aber aus irgendeinem Grund fühlte ich mich eher so, als ob ich ihn im Stich lassen würde und nicht umgekehrt. Und dieses Gefühl, Sie können es sich vielleicht schon denken, machte mich ganz unglaublich wütend. „Hör auf, so einen Scheiß zu reden! Nur, weil deine Eltern so abgehen, musst du’s an mir nicht auslassen!“

„Es sind nicht meine verdammten Eltern!“

„Sei doch froh!“

„Oh, glaub mir, das bin ich!!“ Er schnaubte und strich sich... fast schon aggressiv die Haare aus der Stirn. „Und drum juckt’s mich auch noch viel weniger, was sie von mir wollen. Ein Grund mehr, endlich von hier wegzukommen.“

„Und was ist mit mir?!“ Jetzt machte ich doch einen Schritt auf ihn zu, und schrie dafür gleich noch ein bisschen lauter, um... ihn einzuschüchtern, um selbst auch ein bisschen bedrohlich zu wirken, was auch immer. „Warum bin ich denn hier, wenn ich dich nicht leiden kann? Verrat mir das doch bitte mal!“

„Weil ich nützlich bin?! Weil ich dich überall hinkutschieren, dir Zeug kaufen und ab und zu deinen privaten Entertainer spielen kann? Reicht das?!“

„Sag mal“, erwiderte ich, und jetzt schrie ich wirklich, „warum wunderst du dich eigentlich, dass dich kein Mensch leiden kann, wenn du andauernd raushängen lassen musst, was für ein gottverdammtes Arschloch du doch bist?!“

Das hatte gesessen! Tatsumi riss die Augen auf, und dann brüllte er zurück:

„Dann geh doch! Nimm deine ganzen billigen Klamotten aus meinem Schrank und aus meinem Zimmer und aus meinem Haus und hau...“

„Ruhe, verdammt noch mal!!“

Eine tiefe Männerstimme ertönte – die Stimme aus dem Off, sozusagen – und dann ein dumpfes Pochen, als ob jemand irgendwo im Haus gegen die Wand oder gegen die Decke schlagen würde. In diesem Augenblick erstarrten wir beide, Tatsumi und ich. Wir standen uns gegenüber, quasi immer noch in unseren Kampfesposen, fixierten uns, aber nicht mehr wie Feinde, sondern... wie ertappt, irgendwie. Ganz, ganz langsam, fast ein bisschen beschämt, ließ ich meine zu Fäusten geballten Hände sinken. Dann sahen wir uns weiter schweigend an, bis es mir irgendwann zu peinlich und zu beklemmend wurde und ich meinen Blick sinken ließ.

„Tut mir leid“, flüsterte ich nach einer halben Ewigkeit, und, glauben Sie mir, ich meinte es auch so. Ich fühlte mich schon wieder so schlecht, dass mir sogar das Atmen wehtat. „Tut mir wirklich leid. Ich hab’s nicht so gemeint.“

Vorsichtig hob ich den Blick, aber Tatsumi hatte die Augen geschlossen und in seinem Gesicht konnte ich überhaupt nichts lesen. Wieder standen wir einige Zeit schweigend da, ich immer angespannter, Tatsumi undurchschaubar, und dann plötzlich hob er den Kopf und – lächelte.

Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich Tatsumis Lächeln nicht ein kleines bisschen unsympathisch fand.

„Zorn“, sagte er dann, immer noch mit diesem... ja, vorsichtigen Lächeln auf den Lippen.

„Himmelschreiende Dummheit“, murmelte ich zurück und bemühte mich ebenfalls, zu lächeln.

„Das gilt nicht, Jessie“, antwortete Tatsumi und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist überhaupt keine Todsünde.“

„Auch nicht, wenn’s wahr ist?“

„Dann erst recht nicht!“

„Okay“, entgegnete ich mit einem Schulterzucken. „Dann eben auch Zorn. Obwohl’s langweilig ist.“

„Gibt Schlimmeres.“ Jetzt zuckte auch Tatsumi mit den Schultern. Irgendwie war es wie in einem Sketch oder in einer dieser zahllosen skurrilen Prime-Time-Serien, als ob alles nach einem absurden Drehbuch ablaufen würde. Dann ging Tatsumi an mir vorbei und setzte sich auf sein Bett. „Wenn du willst“, fuhr er ganz ruhig fort, immer noch lächelnd, aber wieder viel mehr er selbst, „kannst du jetzt gehen. Ich glaube, das war genug Terror für heute.“

Ich sah ihn noch ein paar Sekunden an, dann setzte ich mich neben ihn und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand.

„Sollen wir fernsehen?“, fragte ich.

Tatsumi nickte und lächelte mich an wie eh und je.
 

In dieser Nacht hab ich nicht geschlafen. Tatsumi und ich saßen bis zum Morgengrauen da und schauten uns irgendwelchen Müll an, keine Ahnung mehr was. Wir stellten den Fernseher ziemlich leise, und manchmal machte Tatsumi den Ton ganz weg und sagte irgendwas Lustiges, das zugegebenermaßen furchtbar gut zu den meisten Szenen passte. Ich war nicht mehr müde, ich hätte vermutlich auch nicht schlafen können. Die Situation... war so vollkommen anders als bei Mike, nicht so entspannt, locker, selbstverständlich. Ich bemühte mich, zu lachen, wenn es angebracht war, aber ich hatte so ein komisches Gefühl, das einfach nicht mehr weggehen wollte.

Als ich ging, war es Viertel nach Sieben. Tatsumi und ich umarmten uns zum Abschied, aber da war immer noch so eine merkwürdige Befangenheit. Vermutlich hätte ich zuhause todmüde ins Bett fallen und mir meine wohlverdiente Ruhe gönnen sollen, aber ich tat es nicht. Ich lag ein paar Stunden vor dem Fernseher – schon wieder – und bin dann zu Geenia zum Trainieren. Sie können sich denken, wie das Training an dem Tag ausgesehen hat. Ich hab überhaupt nix auf die Reihe gekriegt und bin irgendwann frustriert nach Hause gegangen. Und obwohl ich dann außerdem noch erschöpft war, konnte ich trotzdem nicht einschlafen. Absurd, aber leider wahr. Ich lag wach und mir gingen komische Dinge durch den Kopf, die ich teilweise überhaupt nicht verstand.

Ich schreibe das alles, um ihnen begreiflich zu machen, warum ich am nächsten Tag so schlechte Laune hatte. Normalerweise bin ich nicht so, und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich nicht mit einer Grabesmiene durch die Welt gelaufen wäre, die noch zehn Meter gegen den Wind nach Friedhof gestunken hat. Sie kennen ja das Prinzip von Aktion und Reaktion. Lächle, und die Welt lächelt zurück. Lächle nicht, und die Welt tritt dir in den Hintern.

Besagter Fußtritt traf mich, als ich mich gezwungenermaßen und furchtbar demotiviert in Geenias Studio schleppte. Ich hatte mir ein Thunfischsandwich vom Bäcker geholt, das ich noch schnell auf dem Weg herunterschlang. Ich schwöre – ich war einfach mit Essen und Hetzen und Genervtsein beschäftigt, ich habe sie nicht freiwillig angerempelt. Ich hab ja nicht mal gleich erkannt, dass mir ausgerechnet Barbies Reinkarnation entgegenkam. Sie war so ziemlich der letzte Mensch, dem ich an diesem Tag begegnen wollte, also warum hätte ich mich mit ihr anlegen und einen Zickenkrieg provozieren sollen?

Vielleicht hat sie es mit Absicht getan, jedenfalls erkannte sie mich, kaum dass unsere Schultern aufeinandergeprallt waren. Sie starrte mich mit ihren riesigen blauen Augen an, presste ihre enormen Lippen wütend aufeinander und warf sich mit einer furchtbar übertriebenen Bewegung das wasserstoffblonde Haar über die Schulter.

„Was soll das?“, fauchte sie, und der Tonfall ihrer Stimme trieb mir einen eisigen Schauder über den Rücken. „Willst du mich auf die Straße stoßen, Bitch?“

„Ja“, erwiderte ich nüchtern, nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte. „Klar will ich das. Aber leider wäre ein Mordprozess so ziemlich das einzige, was mich jetzt noch den Sieg beim Schönheitswettbewerb kosten könnte, also lass ich’s doch lieber bleiben.“

„Ach, ist das so?!“ Barbie zog ihre Augenbrauen hoch, wodurch ihre Augen sogar noch größer wirkten, und verschränkte die Arme vor den Silikonhügeln ihrer Brust.

„Worauf du dich verlassen kannst“, gab ich so arrogant wie nur irgendwie möglich zurück. „Und jetzt geh mir besser aus dem Weg, bevor ich’s mir noch anders überlege!“

„Willst du mir etwa drohen?“, fauchte sie.

„Und wenn es so wäre?“ Ich reckte mein Kinn noch ein kleines bisschen weiter in die Höhe und bemühte mich um mein boshaftestes Lächeln. Wozu war ich auf einer Ghettoschule gewesen? Ich wusste, wie man dreinblicken musste, um dem anderen allein dadurch unmissverständlich klar zu machen, dass man im nächsten Moment seine Faust in seinem Gesicht platzieren würde. Bis hier hin und nicht weiter, sagte mein Blick. Doch wider erwarten reagierte Barbie nicht mit einem taktisch klugen Rückzug, sondern ihrerseits mit einem Frontalangriff.

„Ich glaube nicht, dass du überhaupt jemandem drohen solltest“, säuselte sie, und ihr Gesicht strahlte eine widerwärtige Siegessicherheit aus. Sie streckte mir ihren Zeigefinger entgegen, als ob sie mich damit erstechen wollte, und kam noch einen weiteren Schritt auf mich zu. Offensichtlich machte ich irgendetwas falsch. „Ich hab dich nämlich in der Hand, weißt du?“

„So?“ Ich stemmte mir die Hände in die Seiten und kam ganz und gar nicht ladylike auf das blonde Gift zugestapft. „Aber jetzt hör mir mal gut zu, ich will eigentlich gar nicht wissen, was du schon alles in der Hand hattest, verstanden?“

„Noch ein Wort, und du bist erledigt, Schlampe!“ Barbies süßliches Getue ging von einer Sekunde auf die nächste in ein aggressives Fauchen über. Und dann wurden ihre Augen plötzlich noch viel größer als sonst, und ihr Mund klappte auf, aber ohne einen Ton über die rosa glänzenden Schlauchbootlippen zu bringen. Dabei hatte ich doch gar kein weiteres Wort gesagt.

Ich hatte ihr einfach nur ins Gesicht geschlagen.

Was soll ich sagen? Ja, es war dumm von mir. Ja, ich hätte nicht die Beherrschung verlieren sollen, nicht einmal bei ihr... schon gar nicht bei ihr! Ich hätte wenigstens eine Sekunde lang über ihre Worte nachdenken sollen, nur ganz kurz. Ich weiß nicht, ob ich dann anders gehandelt hätte. Wissen Sie, die Art, wie sie dieses Wort aussprach, Schlampe, da... da brannten alle Sicherungen bei mir durch. Das war etwas, auf das ich generell empfindlich reagierte, und dann auch noch in dieser Stimmung, in diesem Moment, an diesem Tag... ganz ehrlich, das war einfach zuviel. Ich zitterte vor Wut am ganzen Körper, hatte meine Faust immer noch erhoben und ich starrte sie an wie ein Raubtier seine Beute.

„Halt bloß dein Maul, oder du kannst deine Hackfresse von der Straße abkratzen!“, brüllte ich, und, verdammt noch mal, was für ein erleichterndes, berauschendes Gefühl das doch war! Leider hielt mein zerstörerisches Hoch nicht lange an, denn schon in dem Augenblick, als sich Barbies Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzerrten, dämmerte es mir, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Keine Ahnung, warum ich es so schlagartig begriff, nachdem ich vorher vollkommen blind und taub für die drohende Gefahr gewesen war, aber das kalte Grauen überkam mich schon, bevor sie mir mit eisiger Stimme den Todesstoß versetzte.

„Das wirst du bereuen“, zischte sie, und dabei lächelte sie so triumphierend, dass mir schlecht wurde. „Ich weiß, was für ein mieses Spielchen du abziehst. Und ich weiß, dass du was von diesem Typen willst. Ich hab doch gesehen, wie du mit ihm gefahren bist. Ich weiß alles, und glaub mir, bald wird er es auch wissen, du abgefuckter Freak!!“

In diesem Augenblick war ich wie gelähmt. Plötzlich fügten sich Puzzleteile, die ich vergeblich hatte verstecken wollen, zu einem unschönen Bild zusammen. Ich wusste, was sie vorhatte, ich wusste, was sie tun würde und was sie noch tun konnte, und alles brach über mir zusammen. Ich war außer Stande, zu antworten, ich konnte mich nicht mal mehr bewegen. Ich starrte diese Person an, die quasi mein ganzes Schicksal in den Händen hielt und die mit diesen wenigen Worten den vielleicht schönsten Tag meines Lebens mit Füßen getreten hatte.

Ich hab doch gesehen, wie du mit ihm gefahren bist.

Verdammt, wieso traf mich dieser Satz wie ein Messerstich in den Rücken? Natürlich hatte man uns gesehen, Mike und ich waren an diesem Tag ja nicht allein auf der Straße gewesen. Es war nur einfach so, dass es sich so angefühlt hatte, als wären wir allein gewesen. Mir war kein Mensch aufgefallen, aber ich hatte auch nicht darauf geachtet. Ich war in eine andere Welt geflogen, die nur meinem Chaosengel und mir gehörte. Und, verdammt, ich wär am liebsten für immer und ewig dort geblieben. Aber irgendwie hatte Barbie diese Welt mit ihren Worten kaputt gemacht, einfach so. Nicht, dass der Flug mit Mike deshalb weniger schön gewesen wäre, aber in diesem einen Augenblick war etwas für mich zerbrochen, das nicht hätte zerbrechen dürfen.

Und das war noch lang nicht alles. Ich wusste nicht, ob ich mit meiner Feigheit und meiner überstürzten Flucht aus Mikes Wohnung die ganze Sache zwischen uns nicht sowieso schon kaputt gemacht hatte, doch dann dachte ich wieder daran, wie er mich im Regen angestrahlt hatte. Ich hatte ihn versetzt, enttäuscht und außerdem noch abblitzen lassen, und trotzdem hat er mich so angelächelt wie den tollsten Menschen auf der ganzen Welt. Die Erinnerung an dieses Lächeln weckte in mir eine Zuversicht, die ich auf gar keinen Fall von Barbie zerstören lassen wollte. Und sie weckte gleichzeitig auch eine lähmende Panik, weil ich begriff, dass ich nur eine einzige Chance hatte, jetzt noch etwas zu retten, das ich nicht verlieren durfte, bevor ich es überhaupt richtig besessen hatte. Versteht man, was ich meine? Es tut mir leid, wenn ich jetzt in Rätseln spreche, denn im Grunde genommen war die Lösung des gigantischen Problems ja so grauenvoll einfach.

Ich musste Mike die Wahrheit sagen, bevor Barbie es tun konnte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2008-02-11T19:25:01+00:00 11.02.2008 20:25
Wow, hab jetzt erst gesehen, dass im letzten Jahr 2 neue Kapis dazu gekommen sind. Ich freu mich schon drauf sie und die weiteren zu lesen. Großes Danke, dass du nicht abgebrochen hast! *strahl*
Von:  ShapeShifter
2007-12-26T10:26:56+00:00 26.12.2007 11:26
oh~ cool es geht weiter *ö*
*freu*
X3 ich mag die story
freu mich schon aufs nächste kapitel *~*


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