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PredElection

von

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Part VI - Per Asperam ad Astra

Nach langer, langer Zeit geht es endlich mit PredElection weiter. Und nachdem ich das hier geschrieben habe, würde ich die Geschichte am liebsten pausenlos bis zum Ende durchschreiben. Ich glaube, ich habe keine andere Story, die sich so schön und flüssig schreibt. Es ist unglaublich, wie viel Spaß das macht. ^^

Ich bin mit dem Ergebnis übrigens sehr zufrieden. Das Kapitel ist teilweise so wunderschön und teilweise viel, viel düsterer und beklemmender als alles Vorherige. Irgendwie hat Jesse hier endlich mal ein paar richtig große Auftritte. Es gibt Szenen, die ich einfach nur liebe. Die zweite und die dritte Szene mit Jesse und Mike. Das Ganze hier ist ein Kapitel, das mich selbst... ja, ziemlich berührt und auch mitgenommen hat. Ich hoffe, es gefällt euch, und dass ihr auch ein bisschen mit unserem Helden (?) fühlt, leidet und... fliegt. ^.^
 

Die Müdigkeit kehrte nicht sofort zurück, aber sie tat es, und dann mit umso brachialerer Gewalt. Ich hatte Tatsumis Haus erst vor wenigen Minuten verlassen, schlenderte gut gelaunt die Straße hinab und war gerade eifrig damit beschäftigt, mich des Lebens zu freuen, als das Unglück seinen Lauf nahm. Das Unglück, das man vielleicht auch gar nicht wirklich als solches bezeichnen kann, weil das auf eine Weise so verdammt ungerecht wäre. Ich summte jedenfalls irgendein bescheuertes Liedchen vor mich hin, und die strahlende Sommersonne hüllte mich in eine angenehme Decke aus Wärme.

Da plötzlich merkte ich, dass diese heitere Sonnenscheinwelt um mich herum zu verschwimmen begann. Ich blinzelte, wie ich in den Minuten davor bestimmt schon dreihundertfünfundzwanzig mal geblinzelt hatte, aber das Bild vor meinen Augen verdunkelte sich nicht nur für diesen einen Wimpernschlag, sondern flimmerte und wackelte und wurde so unscharf wie ein Foto, das man in tiefer Dunkelheit mit einer Digitalkamera geschossen hatte. Durch meine Knie lief ein heftiges Zittern, und dann wurde mir schwindlig.

So ganz habe ich es selber nicht verstanden. Ich meine, ich finde es schon lächerlich, überhaupt noch schreiben zu müssen, dass dies ganz bestimmt nicht die erste durchwachte Nacht meines Lebens war. Vielleicht lag es am akuten Adrenalinabfall in meinem Körper und den Anstrengungen der vergangenen Wochen und ganz besonders der vergangenen Stunden. Wie auch immer, ich strauchelte also, so sehr, dass ich fürchtete, zu fallen, doch ich hatte letztlich Glück im Unglück.

Glück, weil ich mein Gleichgewicht wiederfand, obwohl ich an sich schon Mühe hatte, all meine Tüten voller Kleidung und Schminke zu tragen, und deshalb nicht mal hätte nach Halt suchen können, wenn es denn einen gegeben hätte. Und Unglück, weil mich mein kleiner Schwächeanfall leider just in dem Augenblick ereilte, als ich gerade dabei war, eine Straße zu überqueren. Nein, ich bin nicht von einem Lastwagen überrollt worden. Überflüssige Bemerkung, ich weiß. Aber irgendwie wurde ich doch überfahren, und zwar auf eine nicht unbedingt sehr viel weniger tödliche Weise.

Ich stand da also auf der Straße, blinzelnd, um meine Bodenhaftung ringend, als ich plötzlich ein Klingeln hörte. Mir blieb kaum noch Zeit, um aufzusehen. Ich handelte auch mehr instinktiv, und zwar instinktiv falsch. Mit einem kläglichen Satz wich ich zurück, aber nicht in Richtung Gehweg, sondern einfach irgendwie nach hinten, und dann kam ich wieder ins Straucheln. Ich griff nach irgendetwas, ließ dabei meine erste Tüte fallen – und wurde von meinem Schwung und dem plötzlichen einseitigen Übergewicht nun doch noch zu Boden gerissen. Ich schlug mit der Schulter hart auf dem Asphalt auf, während sich um mich herum bunte Hemdchen und Lidschattendöschen und ein paar Kajalstifte und Eyeliner auf der Straße verteilten. Und das Fahrrad kam weiter auf mich zu.

Mit Sicherheit hätte ich noch aufspringen und wenigstens mein eigenes Leben retten können. Unter anderen Umständen. Ohne diesen starren Schockzustand, in dem ich mich befand. Und ohne diese übermüdete Resignation, die mich selbst jetzt noch in ihren dumpfen Klauen hielt. So aber blieb ich einfach liegen, schützte mein Gesicht überflüssigerweise mit den Armen, wahrscheinlich auch wieder nur ganz instinktiv, und presste meine Augenlieder fest aufeinander. Hörte ein erschrockenes Rufen. Ein schrilles Quietschen. Hupen. Noch mehr Rufe. Aber der einzige Schmerz in meinem Körper war und blieb der in meiner Schulter… und in meinem rechten Handrücken, was aber auch nicht weiter schlimm war.

Ich zitterte, als ich es langsam wieder wagte, meine Augen zu öffnen. Dabei war der Anblick, der sich mir bot, überhaupt nicht spektakulär. Da waren zwei grau-schwarz-weiße Turnschuhe, knapp anderthalb Meter von mir entfernt. Dahinter lag ein Fahrrad auf dem Boden. Und weiter dahinter waren Autoreifen zu erkennen. Immerhin, stellte ich in Gedanken fest, war ich nicht zu Tode gefahren worden. Sehen Sie, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es im Himmel ausgebeulte Turnschuhe, abgewetzte Fahrradrahmen und stinkende Autoreifen gab. Und für die Hölle war’s auch nicht spannend genug. So kam ich also zu dem Schluss, dass ich noch lebte, und kurz darauf bestätigte eine Stimme diese hoffnungsvolle Ahnung, indem sie zu mir sagte:

„Hey, Jessica! Also ich hab ja gar nicht gewusst, dass ich so umwerfend bin, aber jetzt liegst du mir schon wieder zu Füßen. Ich fühle mich geschmeichelt.“

Im ersten Moment jagte ein eisiger Schreck durch meinen Körper, als ich meinen Namen hörte. Dann aber bemerkte selbst ich, dass wer auch immer entschieden zu wenig arrogant geklungen hatte, um Tatsumi sein zu können. Dass sich Tatsumi wahrscheinlich niemals in seinem ganzen Leben auf ein Fahrrad setzen würde. Und dass mir diese Stimme doch auch irgendwie bekannt vorkam. Als ich ein bisschen träge, wie benommen meinen Blick hob, sah ich über mir ganz furchtbar wirres schwarzes Haar, das in ein lächelndes, aber doch besorgt wirkendes Gesicht fiel.

Ja, ich weiß, dass es lächerlich ist, aber ich habe Mike tatsächlich nicht sofort erkannt. Halten Sie mich ruhig für blöd. Ich war in diesem Augenblick einfach so dermaßen am Arsch, dass ich mich wahrscheinlich selber nicht mehr im Spiegel erkannt hätte. Aber dann wurde es mir auch langsam klar, wer da vor, beziehungsweise über mir stand, und ich rang mir ein vorsichtiges Lächeln ab und ergriff die Hand, die er mir helfend entgegenstreckte.

„Langsam!“, sagte er, während er mich wenig sanft in die Höhe zerrte. „Ich weiß schließlich nicht, ob du verletzt bist. Doch, ich weiß es. Deine Schulter… die hängt ja in Fetzen herunter!“

Sein Lächeln wurde etwas verlegen, als er sah, dass ich tatsächlich zusammenzuckte.

„Das ist nur ein Kratzer!“, erklärte ich, und klang dabei leider nur halb so cool, wie ich das gerne gehabt hätte, als ich den Teppich aus Kleidung und Schminke sah, der sich da um mich herum auf dem Boden ausbreitete. „Na toll. Toll, toll, toll. Vielen Dank! Ich hoffe, du hast dir wenigstens auch ein bisschen dabei weh getan!”

Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, mit welchem Recht ich mich da entblödete, den armen Mike auch noch dumm von der Seite anzumachen, wo er mir doch gerade durch sein geistesgegenwärtiges Handeln die Haut gerettet hatte. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Und nachdem ich mich dämlicherweise mitten auf der Straße selbst flachgelegt hatte. Das fiel mir übrigens auch recht bald auf, und so strich ich mir hastig mein Röckchen zurecht, ging in die Knie und suchte fahrig meine Döschen und Tops zusammen.

„Du bist süß, wenn du wütend wirst, weißt du das?“, grinste mir da schon wieder ein Mike ins Ohr, der mir ganz ruhig und zielsicher die weithin verteilten Pinselchen und Stiftchen vor den Fingern wegsammelte. Die Autos im Hintergrund begannen zu hupen. Ich spürte eine gewisse Hektik in mir aufsteigen, aber Mike wirkte nicht verpeilter oder gestresster, als er das wahrscheinlich immer tat. „Aber nein, bin ich nicht. Also verletzt. Mir hat’s das Rad ganz schön weggezogen, aber ich hab noch abspringen können.“

„Mein Schutzengel, was?“, murmelte ich in die nun wieder gefährlich überfüllten Tüten hinein, die ich mir an die Brust drückte, um auf dem Weg von der Straße zum Bordstein zurück nicht schon wieder etwas zu verlieren. Mike hatte es weniger eilig als ich. Er schenkte dem Fahrer des vordersten Autos, der uns mit merkwürdigen Gesten, aber dennoch wenig missverständlich zu verstehen gab, endlich das Weite zu suchen, ein garantiert nicht entschuldigendes Grinsen. Dann machte er sich in aller Seelenruhe daran, sein Fahrrad wieder von dem Asphalt abzukratzen… na ja, hochzuheben. Und er summte dabei sogar ein leises, fröhliches Liedchen. Gegen meinen Willen musste ich lachen.

„Na, aber sicher bin ich das! Aber sag mal, hab ich dich denn eigentlich gut beschützt? Verheult siehst du jedenfalls nicht aus. Hast du deinen Wettbewerb gewonnen?“

„Nein. Oder doch. Nicht gewonnen… es ging noch nicht ums Gewinnen. Aber ich bin im Finale, ja.“

„Wow!“, strahlte Mike und stellte sein Fahrrad am Straßenrand ab. Die Autos fuhren wieder von dannen und ich lehnte mich gegen die nächstbeste Hauswand, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Meine Schulter pochte, mein Herz schlug immer noch deutlich beschleunigt, aber ganz wach war ich trotzdem nicht. Ich war froh über ein bisschen sicheren Halt. „Aber hey, ich hab’s mir doch gedacht. Man merkt’s zwar, dass du die Nacht durchgemacht hast… durchgefeiert, denk ich mal, aber du siehst immer noch toll aus. Und ich wollt dich zwar nicht gleich niederfahren, aber ich find’s trotzdem schön, dich wiederzusehen.“

„Ging ja schneller als erwartet, was?“ Ich streckte mich ein wenig, und dann fiel mir wieder auf, wie glücklich ich war. Die Sonne schien mir auf die Schultern, auch auf die aufgeschürfte, und das war trotz der Schmerzen wunderschön. Diese Wärme. Und dann passend zum Sonnenlicht Mikes Lächeln. Außerdem hatte ich gewonnen, gewonnen und nochmals gewonnen. Der Himmel war blau. Ich war gerade eben nicht überfahren worden. Und ich hatte gewonnen. Ach, es ist schon lustig, wie extrem plötzlich alle Gefühle sind, wenn man so vollkommen übernächtigt ist. „Aber jetzt wirst du dein Todesfahrrad gleich wieder reparieren dürfen.“

„Hey! Beleidige nicht mein Fahrrad!“

„Ich hasse Fahrräder!“

„Wieso?“ Mike verschränkte die Arme vor der Brust. „Fahrräder sind toll. Und das sage ich nicht nur, weil meine Eltern mich nur einmal in hundert Jahren mit ihrem Auto fahren lassen!“

„Fährräder sind furchtbar! Wenn sie dich nicht gerade überfahren, dann werfen sie dich ab. Ich hatte zwar noch nie ein Fahrrad, aber ich verstehe einfach nicht, wieso Menschen auf einem Ding fahren, das umkippt, wenn man es nicht festhält. Das ist doch unlogisch.“

„Frauen!“, grinste mein Schutzengel auf seine unnachahmlich verpeilte Weise, und selbst dieser Kommentar klang bei ihm nicht so richtig dämlich und schon gar nicht machohaft. „Dabei kannst du das überhaupt nicht beurteilen, wenn noch nie ein Fahrrad hattest. Ich wette mit dir, du würdest es lieben.“

„Mit mir sollte man lieber nicht wetten. Ich gewinne immer!“

„Immer?“ Er neigte seinen Kopf zur Seite, und seine blauen Augen blitzten auf eine Weise, wie man es sonst nur in der Werbung sah. „Na, dann reizt mich das ja umso mehr. Ich verliere sonst nämlich meistens. Aber wenn du willst, kann ich dir zeigen, dass dein Schutzengel wirklich fliegen kann. Und dann wirst du Fahrradfahren lieben!“

Ich sah Mike einige Sekunden lang zweifelnd an – diesen Menschen, den ich eigentlich überhaupt nicht kannte und der nun schon zum zweiten Mal so unvermutet in mein Leben geflattert war, um mich auf irgendeine Weise zu retten. Aber, sehen Sie… es fühlte sich einfach nicht so an, als ob ich ihn nicht gekannt hätte. Dieses zweite Zusammentreffen kam mir auch gar nicht mehr so unwirklich, so… unmöglich vor wie das erste, obwohl es ja ein genauso großer Zufall war. Nur war die Nacht vorbei und wir lehnten nebeneinander an irgendeiner Hauswand, während über uns die Sonne mit dem blauen Himmel um die Wette strahlte, und es war so, als ob wir das schon tausendmal gemacht hätten. Als ob es etwas ganz Selbstverständliches wäre, unser Hobby, ein Treffen unter vielen. Vielleicht war ich deshalb so entspannt, dass sich meine Zweifel ganz schnell wieder verflüchtigten. Ich lächelte und streckte ihm die Hand entgegen.

„Die Wette gilt!“

„Okay“, strahlte Mike. „Wann treffen wir uns?“

„Nächsten Samstag?“

„Gut. Wann genau?“

„Halb zwei?“

„Passt.“

„Wo?“

„Kennst du das Dolce Vita?“, fragte er.

„Du meinst dieses Eiscafé?“

„Japp!“

„Aber die sind doch total überteuert! Und besonders gut ist das Eis jetzt auch nicht.“

„Weiß ich.“

„Außerdem ist das irgendwo in der Pampa! In der Innenstadt gibt’s viel bessere Eiscafés!“

„Weiß ich.“

„Und wieso willst du dann ins Dolce Vita?“

„Wer sagt, dass ich da rein will?“ Mike grinste, so breit, wie ich es selbst bei ihm noch nie gesehen hatte. „Ich sage nur, dass wir uns da treffen sollen, nicht mehr.“

„Aber warum ausgerechnet da, wenn du kein Eis willst?“

„Das wirst du ja dann sehen!“ Begleitet von einem Zwinkern schwang sich Mike wieder in den Sattel, fuhr probeweise einen wackligen Meter nach vorne und schenkte mir dann ein zufriedenes Nicken. „Alles bestens. Und unser Treffen steht damit?“

„Verlass dich drauf!“, nickte ich, und ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören, zu lächeln. „See ya!“

„Bis nächsten Samstag… falls ich dich nicht vorher noch einmal retten muss.“ Er lachte, dann wandte er sich ab und fuhr von dannen. Ich hatte es hingegen überhaupt nicht eilig, mich von der Wand in meinem Rücken zu lösen. Sie war warm und ich fand sie einfach großartig. Ich hatte gewonnen. Ich hatte ein Date. Ich hatte einen Schutzengel. Ich, Jessica Maguire, begriff in dieser Sekunde, dass ich alles, alles, alles erreichen konnte.
 

Noch in derselben Woche stand mein erster Besuch im Lucky Karma Arcadium an. Ich hatte noch nie zuvor von der Existenz dieses Gebäudes gehört, aber eine so beliebte und stylishe Marke wie Lucky Karma hatte es anscheinend nötig, eine angemessene Location für solch bahnbrechend wichtige Events wie unseren kleinen Schönheitswettbewerb bereitzuhalten. Das Gebäude war riesig und von außen verspiegelt, alles sehr auf cool gemacht. Die Böden waren schwarz und weiß gefliest, so wie ein Schachbrett, und in der Mitte der recht breiten Gänge lag immer noch tiefroter Teppich aus. Die Türen waren schwarz und glänzten, und zum großen Festsaal führte sogar eine Doppeltür, die an sich schon breiter war als mein Zimmer.

Dahinter war so etwas wie ein überdimensionaler Kinosaal, mit pechschwarzen Wänden, in die überall kleine runde, von blitzendem Silber umrahmte Lampen eingesetzt waren, wie ein Sternenhimmel. Die Sitze für die Zuschauer waren mit rotem Samt bezogen und sahen ganz furchtbar gemütlich aus. Der Catwalk war verspiegelt, ebenso die Bühne, und darüber waren so viele Scheinwerfer, dass ich mich schon bei ihrem Anblick, obwohl sie gar nicht angeschaltet waren, geblendet fühlte. Vorne bei der Bühne stand eine gläserne Tafel, auf der sich wahre Berge von In-Food türmten. Alles, wirklich alles in diesem Raum war so dermaßen darauf angelegt, protzig und groß und beeindruckend zu wirken.

Und ja, verdammt, ich war so beeindruckt, dass es mir glatt die Sprache verschlug. Tatsumi hatte mich begleitet – um mir den Weg zu zeigen, wie er meinte, aber ich bin mir sehr sicher, dass es ihm da eigentlich um andere Dinge ging – und als ich zu ihm aufblickte, grinste er so breit wie selten zuvor.

„Wenn dir die Augen aus dem Kopf fallen, liebste Jessie, wirst du bei dem Wettbewerb aber keine großen Chancen mehr haben.“

„Du bist so ein Arschloch, Tatsumi“, fand ich dann doch relativ schnell meine Worte wieder. „ Außerdem hast du hier gar nichts zu melden. Du bist nur mein Sklave, schon vergessen?“

„Dein edler Ritter“, verbesserte mich Tatsumi und stieg die Stufen in Richtung Catwalk hinab, die ebenfalls mit zahlreichen winzigen Lampen besetzt waren. Diese Lampen leuchteten aber nicht die ganze Zeit, sondern blitzten nur dann und wann auf, was so einen wunderbar kitschigen Funkeleffekt verursachte. Irgendwie stimmte mich das gleich wieder versöhnlich und ich hüpfte Tatsumi hinterher, ohne auf die Kürze meines Rockes zu achten. Ein paar der bilderbuchhaften Schönheiten, die ich dabei überholte, warfen mir dafür zwar strafende Blicke zu, aber das störte mich auch nicht weiter.

„Du und ein Ritter!“, verkündete ich dann auch noch extra laut und undezent. „Du würdest doch im Kampf an nichts anderes denken, als dass ja nicht dein makelloses Gesicht verletzt wird!“

„Dafür“, grinste Tatsumi zurück, wobei er betont die Zähne bleckte, „gibt es Helme, meine liebe Lady Jessica.“

„Cool. Dann müsste ich endlich dein schmieriges Grinsen nicht mehr ertragen.“

Ich streckte Tatsumi die Zunge heraus, lockerte meine Schultern, dass mein Top noch ein bisschen mehr nach oben rutschte, und platzierte mich dann strategisch günstig direkt neben dem Buffet. Dort bediente ich mich erst einmal bei der großen Auswahl an Sushi-Röllchen, bevor ich meinen Begleiter überhaupt wieder eines Blickes würdigte. Mir entging nicht, dass die übrigen Mädchen sich von den Essensmengen eher fernhielten, und so griff ich nur noch beherzter zu. Provokation konnte ja so einen Spaß machen!

„Darf ich mich da eigentlich auch bedienen?“, flötete mir Tatsumi von hinten über die Schulter in mein Ohr.

„Nein“, entgegnete ich, während ich genüsslich in einen Saté-Spieß biss. „Das ist nur für die Teilnehmerinnen. Da steht’s, auf einem Schild zwischen Kaviar und Garnelenspießen. Riesengarnelenspießen, wollt ich sagen. Ah, und übrigens: Völlerei.“

„Neid!“, erwiderte Tatsumi und verzog das Gesicht. „Und was soll ich essen?“

„Da drüben ist so ein toller Wasserspender, für die Gäste“, strahlte ich, nur um dann besonders genüsslich eine der wirklich riesigen Garnelen zu zerkauen.

„Wow! Toll! Da muss ich mir gleich was von holen!“ Auf irgendeine wundersame Weise schaffte es Tatsumi, tatsächlich noch so zu klingen, als ob das sein voller Ernst wäre. Er drückte mir ein flüchtiges Küsschen auf die Wange, bevor er sich in Richtung des Plastikbehälters verabschiedete. Die anderen Mädchen kuckten wieder. Wahrscheinlich fragten sie sich gerade, wie so ein Flittchen meines Kalibers es geschafft hatte, sich einen so offensichtlichen reichen Typen zu angeln. Na, wobei sie sich das wie wahrscheinlich schon ganz gut vorstellen konnten. Nur nicht, womit ich das verdient hatte. Bei diesem Gedanken strahlte ich gleich noch ein bisschen mehr.

Ja, und während ich noch so dastand und dümmlich triumphierend vor mich hinlächelte, da kam der Angriff, ganz unvermutet und hinterrücks, dass ich mich gar nicht dagegen wehren konnte.

„Netter Gürtel“, flötete es plötzlich von schräg links hinten. Als ich mich umdrehte, blickte ich geradewegs in zwei blitzend blaue Augen, die in einem etwas rundlichen Gesicht lagen und… ja, knapp zwei Drittel davon einnahmen. Das restliche Drittel war für einen knallpinkfarbenen Mund reserviert, wobei die Lipglossschicht darauf beinahe noch mal so dick war wie die Lippen selbst. Und drumherum türmten sich wasserstoffblonde Locken, die sich bis weit über ihre Schulterchen hinabschlängelten.

Oh mein Gott, schoss es mir durch den Kopf, Barbie war von den Toten auferstanden. Ich spürte, wie es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Meine Augen suchten nach Tatsumi und fanden ihn beim Wasserspender, aber er hatte mir den Rücken zugewandt und hörte meine stummen Hilferufe nicht. Toller Ritter! Ich steckte mir hastig noch ein Tekka-Maki in den Mund und begrüßte die furchteinflößende Unbekannte mit einem süßlichen Lächeln.

„Nur schade“, fügte sie dann aber hinzu, als ich gerade ihren tussigen Zynismus ignorieren und mich ganz blöd bedanken wollte, „dass du deinen Rock vergessen hast.“

„Tja“, erwiderte ich ganz ungerührt und… tatsumihaft, während es in mir spontan zu kochen begann, „wer braucht schon einen Rock, wenn er diese Beine hat?“

„Auch noch arrogant, was?“ Barbie zog ihre ausgerissenen und dann wieder aufgemalten Augenbrauen in die Höhe. „Solche Bitches wie dich kann ich ja so dermaßen ab! Für welchen Juror hast du denn die Beine breit gemacht, um’s so weit zu schaffen.“

„Nein“, verbesserte ich sie äußerlich weiterhin geduldig, obwohl meine Fäuste jetzt schon juckten, „du verstehst da etwas falsch. Dies hier ist der Schönheitswettbewerb. Die Mädchen, die hier sind – wie ich zum Beispiel – sind weitergekommen, weil sie so gut aussehen. Das Porno-Casting ist nebenan. Da musst du dich in der Tür geirrt haben, aber das kann ja mal vorkommen.“

Barbie schnappte nach Luft., dabei hatte ich mich doch eigentlich sehr zurückgehalten. Sie wollte irgendetwas sagen, aber in diesem Augenblick wurde ein fröhlicher Jingle eingespielt und alle Augen wandten sich der Bühne zu. Ich wandte mich mit, ganz automatisch, und ich war auch froh darüber, das in enges Weiß gekleidete Püppchen nicht mehr länger von oben herab betrachten zu müssen. Dafür wurde ich jetzt von oben herab betrachtet, und zwar von einer Frau, die weit über mir auf die Bühne stolziert war. Sie trug eine gigantische Fönfrisur in schimmerndem Dunkelbraun, ein samtenes blaues Kleid und blutrote Lippen. Sie war auf eine seltsam übertriebene Weise hübsch, auch wenn ihre Zähne etwas weit nach vorne standen, und aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, meinen Blick wieder von ihr abzuwenden. Was nicht nur an der allgemeinen Neugierde und Spannung lag, sondern daran, dass sie… einfach irgendetwas an sich hatte, keine Ahnung, ich kann es nicht beschreiben.

„Hallo, meine Schönsten der Schönen“, verkündete sie, und auch ihre Stimme hatte so was Großartiges und Wichtiges im Tonfall. Spätestens jetzt ruhte jedes Bisschen Aufmerksamkeit im ganzen Saal auf ihr. „Ich bin Melinda Farley von Lucky Karma Cosmetics! Zunächst einmal muss ich euch allen gratulieren. Ihr seid die Top Three eurer Schulen. Aber jetzt wollt ihr alle die Nummer Eins der ganzen Stadt werden, und in dreieinhalb Wochen wird es ernst für euch. Hier könnt ihr euch schon mal an die Location gewöhnen, die für diese einmaligen Tage zu eurer zweiten Heimat werden wird.“

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich Barbie verstohlen ein Sashimi in den Mund schob. Sie hatte dabei diesen Blick drauf, den Frauen immer in den TV-Pornos auflegen, während sie… na, sie können es sich schon denken, wenn es hier gerade ums In-den-Mund-Schieben geht. Ich grinste und widmete mich dann wieder mit meiner ganzen Aufmerksamkeit dieser eindrucksvollen Person auf der Bühne.

„Und ich möchte euch jetzt verkünden, was ihr für den Lucky Karma-Contest so alles können müsst. Es wird diesmal großen Wert auf die Einzelperformances gelegt, immerhin wollen wir ja eine von euch, wir wollen dich, und das Publikum soll von Anfang an ein Gesicht mit jedem Namen verbinden. Zuerst werdet ihr aufgerufen, in Abendkleidern, und stellt euch der Reihe nach auf der Bühne auf. Kleider werden euch übrigens bereitgestellt, wenn ihr selber keine angemessene Garderobe habt, keine Sorge. Danach kommt ein kurzer Lauf für jeden in der Bikini-Runde. Da zeigt ihr in kurzer Zeit eure Walking Skills. Und danach, meine Schönheiten, kommt es ganz auf euch an.“

Sie machte eine künstlerische Pause, die ich dazu nutzte, nach gleich zwei California-Maki zu greifen. Man musste ja vorsorgen, für die längeren Redezeiten. Barbie sah mich dabei an, als ob sie mir an liebsten die Augen auskratzen würde. Ich lächelte nur und aß meine Sushi-Röllchen nur umso genüsslicher.

„Zuerst müsst ihr danach in einer Disziplin antreten, die wir Freestyle-Walk nennen. Ihr sucht euch ein Outfit aus, aber ein besonderes. Überrascht uns. Bezaubert uns. Seid kreativ! Aber bewahrt euch noch eure besten Ideen für unsere Königsdisziplin. Eure Performance. Jede von euch muss etwas vorführen – ein Lied singen, tanzen, turnen, was immer ihr wollt. Ihr habt zwei Minuten, um uns umzuhauen, nicht mehr und nicht weniger. Danach wird die Entscheidung getroffen. Und darauf werdet ihr in den kommenden Wochen hinarbeiten, auf dies und nichts Anderes.“

Ich kann durch Buchstaben auf Papier überhaupt nicht wiedergeben, wie endgültig diese Worte klangen. Es fror mich, ganz ehrlich. Und das lag absolut nicht an meinem ultimativ knappen Outfit. Ich sag’s ja, diese Frau war eine Führerpersönlichkeit, sie war jemand, ich kann’s nicht anders ausdrücken. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Handflächen waren schweißnass. Freestyle-Walk. Performance. Diese Worte rasten durch meinen Kopf, bis mir ganz schwindlig wurde. Ich glaube, erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass zwischen mir und dem Preisgeld noch verdammt viel mehr stand, als nur ein nett anzusehendes Lieblingsoutfit auszusuchen und ein bisschen dabei zu lächeln.

Irgendwann applaudierten die Mädchen um mich herum, und ich stellte fest, dass ich irgendetwas verpasst hatte, was da noch auf der Bühne besprochen worden war. Dass sich die Braunhaarige mittlerweile verabschiedet haben musste und sich jetzt sogar schon zum Gehen wandte. Und was ich vor allem feststellte, war, dass ich nicht auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, mit was ich hier bitteschön antreten beziehungsweise auftreten sollte. Ein umwerfendes Kostüm? Eine noch umwerfendere Perfomance? Aber ich konnte doch nichts! Na gut, zeichnen, ja. Aber es gab sicher spannenderes, als da zwei Minuten lang vor versammelter Mannschaft auf eine Leinwand einzupinseln. Um zu gewinnen, brauchte man eine wirklich, wirklich herausragende Idee und Vorstellung, so viel war klar. Und der Sieg war meine einzige Option. Ich brauchte dieses Geld, aber das wissen Sie ja bereits. Ich brauchte, brauchte, brauchte es. Ich musste gewinnen.

Das Atmen fiel mir plötzlich schwer, als ich feststellte, dass ich keine Ahnung hatte, wie um alles in der Welt ich das anstellen sollte.

„Warum so entsetzt?“, lachte Barbie neben mir auf eine ganz unsagbar höhnische Art und Weise. Ich versuchte, meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen, zu lächeln – überheblich zu lächeln, aber es gelang mir nicht so recht, und dafür hasste ich mich. „Tja, jetzt wird dich dein schönes Gesichtchen auch nicht mehr weiterbringen. Pech gehabt.“

„Ich muss auch nicht weiterkommen“, entgegnete ich erstaunlich schlagfertig. „Ich muss nur gewinnen, und das ist ja kein großes Problem.“

„Eingebildete Tusse“, zischte die Blondine, und dann reckte sie ihr Kinn ein Stück weit in die Höhe und stemmte sich die Hände in die Seiten. „Dich mach ich fertig!“

Und damit wandte sie sich ab und stolzierte auf ihren schneeweißen High Heels davon. Ich sah ihr hinterher und erblickte dann auch Tatsumi, der es jetzt endlich wieder wagte, sich durch die Reihen der schönen Mädchen in meine Richtung zurückzukämpfen. Offensichtlich hatte Madame Melindas Präsenz nicht nur mich eingeschüchtert. Ich hob die Hand und winkte ihm zu, obwohl ich natürlich immer noch da stand, wo ich die ganze Zeit über gestanden hatte, und er auch ganz zielsicher in meine Richtung strebte.

„Na, dir scheint’s ja zu gefallen, mit mir anzugeben“, raunte er mir zu, als er wieder zu mir aufgeschlossen hatte. „So ein reicher Freund macht ganz schön Eindruck, was?“

„Klar“, gab ich ungerührt zu. „Das ist ja auch das Einzige, wofür du gut bist.“

„Na, danke!“ Tatsumi machte ein so betont getroffenes Gesicht, dass ich mir nicht mehr ganz sicher war, ob ich ihn nicht wirklich irgendwie getroffen hatte. Dann aber fuhr er sich mit einer Hand durch sein schulterlanges Haar und grinste wieder. „Aber sag mal, du hast ja schon eine neue Freundin gefunden. Hat sie dir ein paar Adressen von befreundeten Schönheitschirurgen gegeben oder was? Barbie lebt!“

„Genau das hab ich auch gedacht! Du sollst nicht in meinen Gedanken lesen. Hör sofort auf damit!“

„Wenn das dein einziges Problem ist…“ Mein blonder Ritter blickte Barbie ganz vorsichtig hinterher und erschauderte demonstrativ. „Lady Silikon hätte dich ja fast mit Blicken aufgespießt!“

„Ach, ich hab sie fertig gemacht! Und weißt du was? Das verdanke ich dir.“

„Wie das?“

„Ich hab überlegt, wie ich möglichst fies sein kann, und dann ist mir dein arrogantes Gehabe eingefallen. Der Rest war einfach.“

„Jessie, du bist wirklich ein Schatz!“ Tatsumi bleckte die Zähne in meine Richtung.

„Ich weiß“, nickte ich. Dann nahm ich ein Sushi-Röllchen vom Buffet und hielt es ihm entgegen. „Da. Für dich. Ich muss meinem Vorzeigemacker doch auch mal was bieten.“

„Das machst du nur, dass ich dich doch wieder zurück nach Hause fahre, du verfluchtes kleines Miststück.“

„Hey! Noch ein solches Wort und ich schlag dir dein selbstgefälliges Grinsen ein!“

Die Mädchen um mich herum sahen mich schon wieder so entsetzt an, und da konnte ich endlich wieder befreit lachen. Ich hängte mich an Tatsumis Arm und blickte mindestens genauso selbstgefällig in die Runde wie er, und dabei fühlte ich mich ganz unbeschreiblich gut. Der Schrecken der vergangenen Minuten – Freestyle-Walk, Performance, Freestyle-Walk, Performance, Freestyle-Walk und so weiter – saß mir immer noch in den Knochen, aber langsam gelang es mir, wenigstens den schlimmsten Schock zu überwinden. Dreieinhalb Wochen waren keine lange, aber auch keine allzu kurze Zeit. Noch bestand kein Grund zur Panik. Dachte ich wenigstens.

Ich hatte ja keine Ahnung, mit wem ich mich da heute so leichtfertig angelegt hatte.
 

Dass Barbie eigentlich Trish Hedger hieß, und wie ernst es ihr mit ihrer Drohung tatsächlich gewesen war, sollte ich erst – na, zwar nicht viel, aber doch deutlich später erfahren. Davor hatte ich erst einmal ein vollkommen anderes Problem, das eigentlich gar kein Problem war, weil ich mich nicht einfach nur darauf freute, sondern mich wirklich aus tiefstem Herzen danach sehnte. Das Problem hatte ich nur in den wenigen Stunden davor, in denen ich in der Wohnung auf- und abging. In denen ich hundertmal Mums Kleiderschrank durchwühlte, bis ich mich schließlich für ein leichtes, hellblaues Sommerkleid entschied. In denen ich meine Haare noch sehr viel öfter hochband und dann wieder öffnete, bis ich irgendwann gar nicht mehr wusste, wie ich nun möglichst vorteilhaft aussah und überhaupt.

Um es kurz zu machen: Am Ende ließ ich sie offen. Ich hatte irgendwann einfach nicht mehr die Zeit, mir noch länger darüber den Kopf zu brechen. Sie ahnen, worauf ich hinauswill? Genau. Ich hatte ein Date. Und da war eine S-Bahn, die sicher nicht auf mich warten würde, ganz egal, wie bezaubernd ich auch aussehen mochte. So lief ich also im flatternden Kleidchen und mit dezentem Make up aus der Wohnung, bevor ich mich doch noch einmal umentscheiden konnte, und in diesem Augenblick war das Eis gebrochen. Oder geschmolzen, und zwar im warmen Sonnenlicht, das mich dort empfing.

Ich hatte ein Date, aber ich war nicht aufgeregt. Alles kam mir so selbstverständlich vor, es war ganz seltsam, und der Himmel war wolkenlos blau. Ein Sommernachmittag, wie man ihn sonst nur aus Filmen kannte. Die Wärme vertrieb einfach jeden Gedanken aus meinem Kopf, und ganz kurz begriff ich noch, dass es gerade diese gedankenlose Leichtigkeit war, die ich so dringend wieder gebraucht hatte. Dann verblasste auch diese Erkenntnis, weil einfach alles außer diesem perfekten Sommerhimmel bedeutungslos war. Meine Schritten wurden ganz leicht und ich brauchte gar keinen Grund mehr, um die ganze Zeit über zu lächeln.

Mike wartete schon auf mich, als ich das Dolce Vita erreichte. Ich war ein bisschen spät dran, das gebe ich zu, aber es brauchte nun einmal seine Zeit, um von einer abgelegenen Gegend der Stadt in eine andere abgelegene Gegend der Stadt zu gelangen. Trotzdem möchte ich wetten, dass Mike schon sehr viel früher dagewesen war, weil er mich einfach um jeden Preis hatte erwarten wollen. Und es passte, es passte so unsagbar perfekt, wie er vor diesen bunten Sonnenschirmen und den weißen Tischen stand, auf sein Fahrrad gestützt, den Wind in den sowieso wieder einmal vollkommen zerzausten Haaren. Er strahlte über das ganze Gesicht. Ich glaube, ich hatte nie zuvor und habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so strahlen kann wie Mike. Dazu dieses italienische Eiscafé, die breiten Straßen der noblen Siedlung, die Bäume am Straßenrand und das Blau des Himmels. Ich konnte gar nicht anders, als zurückzustrahlen.

„Hey, Engel!“, rief ich ihm so laut zu, dass sich zwei, drei der eisessenden Gäste umdrehten und mich strafend anfunkelten. Ich war zufrieden und begrüßte Mike und überhaupt alle mit einem fröhlichen Winken. „Du bist ja noch pünktlicher als ich.“

„Ich steh hier schon seit zwanzig Minuten“, grinste er zurück. Der Wind strich ihm wieder durch sein Haar und zerzauste es noch ein bisschen mehr. Ich beschleunigte meinen Schritt ein wenig und trat vor ihn hin.

„Wir sind aber erst für jetzt verabredet.“

„Klar“, bestätigte er meine bereits erwähnte Ahnung, „aber ich wollte dir einfach unbedingt einen hollywoodmäßigen Empfang bereiten, verstehst du?“

„Wow. Wie romantisch“, antwortete ich gelangweilt und stützte mich mit dem Ellbogen auf dem Sattel ab. Im Rücken spürte ich die erwartungsvollen Blicke eines Kellners, ließ mich aber durch sein demonstratives Tischeabräumen und Stühlezurechtrücken nicht aus der Ruhe bringen. Man konnte mich ja zu Vielem nötigen, aber ganz bestimmt nicht zum Verzehr eines völlig überteuerten Fertigeisbechers.

„Ja, find ich halt auch. Aber pass auf, das war noch gar nichts. Das wird noch viel besser. Der Tag soll perfekt für dich sein, Jessie, weißt du? Immerhin möchte ich meine Wette ja gewinnen.“

„Schön zu wissen, worum es dir heute geht“, grummelte ich und funkelte ihn an, aber meine Lippen wollten einfach nicht aufhören, zu lächeln.

„Gehen ist das falsche Wort. Wir wollen fahren, Jessie. Fahren. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.“

„Toll. Fahren also. Ich kann’s kaum mehr erwarten.“ Ich löste mich demonstrativ wieder von dem Rad, trat einen Schritt zurück und verschränkte meine Arme vor der Brust, während ich mich im Geiste für dieses Flatterkleidchen verprügelte. Hatte mir Mike nicht ganz ausdrücklich gesagt, dass er mich von den Freuden des Radfahrens überzeugen wollte? Doch, er hatte. Und ich Vollidiot kreuzte hier mit diesem Fetzen Nichts auf. Ich presste meine Oberschenkel gegeneinander und starrte das Metallgestell feindselig an. „Dann gib das Ding her und lass mich fahren. Wobei ich’s sogar immer noch toller fände, nebenherzulaufen.“

„Nein, nein, Jessie. Du läufst garantiert nicht nebenher. Keiner von uns läuft nebenher. Ich sagte es doch schon, wir fahren. Beide.“

„Beide?!“

„Beide!“ Mike grinste so breit, dass seine Mundwinkel fast die Ohren berührten. Ich hätte im Schaufenster des Eiscafés nachsehen können, wie blöd ich gerade eben dreinblickte, aber ich wollte es eigentlich gar nicht wissen und bemühte mich stattdessen um einen umso böseren Gesichtsausdruck.

„Ich setz mich garantiert nicht auf diesen klapprigen Gepäckträger. Den reißt’s doch unter mir weg, und dann werd ich vom Hinterrad zerfetzt.“

„Du wirst nicht vom Hinterrad zerfetzt. Und auf dem Gepäckträger wirst du auch nicht sitzen müssen. Du setzt dich auf den Sattel.“

„Und was ist mit dir?!“

„Ich trete in die Pedale!“, verkündete er freudestrahlend, und fuhr dann auf meinen zweifelnden Blick hin fort: „Ich stehe. Du hältst dich an mir fest. Das ist gar kein Problem, so hab ich schon hundertmal Kumpel von mir heimgebracht. Da sind auch nur ganz Wenige bei gestorben.“

„Haha. Wirklich sehr komisch!“

„Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?“

„Ja. Tust du. Und außerdem hast du spätestens jetzt verloren. Ich werde das hier nicht lieben. Ich hasse es. Ich hasse es jetzt schon.“

„Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest“, lachte Mike. Dann setzte er sich in Bewegung, wendete sein Rad und machte mir Platz zum Aufsitzen. Ich zögerte noch einmal demonstrativ, bis er mich allzu auffordernd ansah, dann kletterte ich möglichst vorsichtig auf den Sattel. Das warme Plastik klebte sofort an der Innenseite meiner Oberschenkel. Ich konnte mein Röckchen gerade noch so zurechtziehen, dass nicht alle Welt meine Unterhose sehen konnte (wenigstens der Teil der Welt, der es nicht bei der Vorrunde zum Lucky Karma Modelcontest ohnehin schon getan hatte), aber sonderlich sicher war mein Sitz nicht. Ich hatte weder übertrieben noch gelogen. Ich saß auf einem Rad und ich hasste es.

„Kann ich jetzt wieder absteigen?“, murmelte ich missmutig, aber Mike grinste mich nur an. Dann stellte er sich mit dem rechten Fuß auf die eine Pedale, schwang sein Bein über die mittlere Stange, platzierte den linken Fuß auf der anderen Pedale und fuhr los.

Im ersten Moment war ich mir sicher, dass wir umkippen würden. Ich konnte den Boden zwar noch berühren, aber das Fahrrad machte so einen komischen Schlenker, und da war ja auch einiges an Gewicht drauf – das Rad selber, dazu noch wir beide, ich merkte sofort, dass ich uns nicht stützen konnte. Zu meinem größten Ärger stieß ich einen leisen Schrei aus, was Mike wiederum zum Lachen brachte.

„Nehm die Beine vom Boden weg!“, rief er.

„Ich kann nicht! Wir fallen!“

„Wir fallen nicht. Nicht, wenn du die Beine wegnimmst. Jetzt mach schon! Lauf nicht so komisch mit, wie das aussieht. Ich hab schon das Gleichgewicht. Und pass auf, dass du nicht mit dem Fuß in die Speichen kommst!“

„Ich hasse, hasse, hasse das!“, jammerte ich. Ich hatte beide Arme um Mikes Oberkörper gelegt, und meine Finger schlossen sich ganz fest um den Stoff seines T-Shirts. Ich spürte, wie meine Handflächen ganz nass wurden. Und meine Oberschenkel sowieso. Ich hatte das Gefühl, einfach vom Plastik des Sattels wegzurutschen. Das Rad wurde schneller, genauso wie mein Herzschlag, und ich gehorchte Mike, weil ich zu allem anderen einfach zuviel Angst hatte.

Und dann fuhren wir. Wir kippten tatsächlich nicht um, wenigstens nicht sofort. Das Rad schlingerte noch ein wenig, als ob wir beide betrunken wären, wofür uns die Gäste des Eiscafés wahrscheinlich auch hielten. Aber immerhin, wir fuhren. Und nach kurzer Zeit kehrte in diese Fahrt auch eine gewisse Ruhe ein, eine Gleichmäßigkeit, die mich ebenfalls beruhigte. Wir fuhren geradeaus. Der Fahrtwind war sogar ganz angenehm. Der Sattel klebte zwar, war aber recht breit, sodass ich mehr oder weniger sicher saß. Und Mike schien sich auf seinen Pedalen auch ganz wohl zu fühlen, was mir zusätzlich die Angst nahm. So schlimm, versuchte ich mir einzureden, war das hier doch überhaupt nicht.

Dann sah ich den Abgrund.

Er tat sich direkt vor uns auf, so nah, dass es mir im ersten Augenblick den Atem nahm. Und ich übertreibe nicht, wenn ich Abgrund sage. Wissen Sie, die Straße vor uns war nicht einfach nur abschüssig, das war… eine Schlucht. Gut, vielleicht kam sie mir von meinem Platz auf dem Fahrrad aus auch nur einfach noch ein bisschen steiler vor, als sie sowieso schon war, aber denken Sie nicht, dass ich übertreibe. Und außerdem war die Schlucht verdammt tief, sprich, die Straße verdammt lang. Die Panik überwältigte mich vollkommen.

Ich begann zu schreien.

„Halt an, Mike!“, brüllte ich gegen seinen Rücken. „Halt an, bitte, halt an! Da geht es runter!!“

„Ich weiß“, schrie er zurück, aber ohne eine Spur von Angst in der Stimme. „Genau deshalb sind wir hier!“

„Halt an! Halt an, halt an, halt an! Ich will hier runter!“

„Super! Ich will nämlich auch da runter!“

„Nein!“, kreischte ich und klammerte mich noch ein bisschen fester an ihn. Wie er trotzdem die Balance halten konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. „Hier runter! Vom Rad! Nicht da! Bitte, Mike, bitte. Bitte! Dreh um! Ich hab Angst!“

„Du musst keine Angst haben“, sagte er ganz sanft, „ich bin doch dein Schutzengel. Dir wird nichts passieren. Du wirst es liebe, Jessie. Und jetzt halt dich gut fest. Es geht los!“

„Nein!!!“

Ich schluchzte fast. Und ich hielt mich nicht einfach nur gut fest, ich zerquetschte dem armen Mike fast seinen Brustkorb. Wobei er es natürlich nicht anders verdient hatte. Mittlerweile zitterte ich wirklich schon am ganzen Körper. Ich traute mich aber auch nicht, mit den Füßen wieder auf den Boden zu gehen oder mich sonst irgendwie zu wehren, aus Angst, dann erst recht zu fallen. Ich trug ja nur dieses Kleidchen, ich hatte überhaupt keinen Schutz am Körper. Mein Herz zerschlug mir mittlerweile fast die Rippen. Ich presste meine Augenlider fest aufeinander.

Und dann ging es wirklich los.

Es war ein bisschen so wie bei einer Achterbahn. Am Anfang, beim Überqueren des höchsten Punktes, wurden wir sogar wieder ein wenig langsamer, aber vielleicht machte Mike das ja auch mit Absicht. Dann kam die Beschleunigung. Und wie die kam! Binnen weniger Sekunden wurden wir schon so schnell, dass es mir wie verrückt im Bauch kribbelte. Der Fahrwind kühlte mir den verschwitzten Körper, riss an meinen Haaren, hüllte mich ganz und gar ein. Als ich es wagte, ein Auge ganz vorsichtig wieder zu öffnen, sah ich neben mir die Bäume vorbeirasen, die den Abhang säumten, und dahinter einen wilden Farbenrausch. Es war tatsächlich wie in einer Achterbahn, nur ohne Schienen, ohne Bügel, ohne jede Sicherung.

Wieder begann ich zu schreien. Aber diesmal nicht aus Angst. Sondern vor Vergnügen.

Auf eine Weise fürchtete ich mich immer noch, aber es war diese Furcht, wie man sie bei einem Klingelstreich empfand, so eine aufregende, herrliche Nervosität. Mein ganzer Körper kribbelte. Bei jeder Bodenwelle, über die wir fuhren, machte das Rad einen kleinen Satz, und die Schmetterlinge in meinem Bauch überschlugen sich. Die Vorstadtstraße raste in einem atemberaubendem Tempo an uns vorbei und unter uns hindurch, und der Wind riss jedes Geräusch mit sich fort. Ich wusste plötzlich, dass wir nicht stürzen würden. Wir konnten überhaupt nicht stürzen, weil wir tatsächlich flogen.

Ich jauchzte vor lauter Euphorie und schrie gleich noch einmal, weil ich gar nicht mehr wusste, wohin mit meiner Freude. Dann löste ich mich mit einem Arm von Mikes Oberkörper. Ich hatte dabei keine Angst, weil ich einfach wusste, dass ich es konnte. Ich streckte diesen Arm zur Seite weg, spreizte die Finger, dass der Fahrtwind zwischen ihnen hindurchgleiten konnte, dass er sie streifte wie einen Flügel. Dann legte ich meinen Kopf in den Nacken. Über mir zog ein perfekter Sommerhimmel hinweg, und wir beide, Mike und ich, flogen ihm entgegen. Eine weitere, größere Bodenwelle ließ das Rad von der Erde abheben. Einen Moment lang schwebten wir tatsächlich in der Luft, und ich erschauderte, so wunderschön war dieses Gefühl. Dann setzten wir wieder auf, recht hart sogar, und schlingerten ein bisschen hin und her, aber ich lachte nur ganz leise vor mich hin. Ich hatte den Himmel berührt, und jetzt noch war ich ihm so nah, dass ich ganz leicht meine Finger danach ausstrecken konnte.

Es war einer dieser sehr seltenen Augenblicke, in denen ich einfach wunschlos glücklich war. Es gab nur noch das hier und jetzt, und mehr brauchte ich nicht. Der Wind spielte mit meinen Haaren, mit meinem Kleid, und er trug mich immer höher und höher und höher hinauf, während Mike und ich auf einem einzigen rostigen Fahrrad eine vorstädtische abschüssige Straße hinunterfuhren. Für diese kurze, kostbare Zeit war das Leben perfekt, so perfekt, dass ich nicht einmal mehr enttäuscht sein konnte, als wir schließlich wieder langsamer wurden.

Keiner von uns sprach ein Wort. Das war auch nicht nötig. Ich legte meinen Arm wieder um Mike und lehnte meinen Kopf gegen seinen Rücken. Er fuhr ganz ruhig weiter, während ich stumm vor mich hinstrahlte. Mein ganzes Leben hatte sich in diesem unendlich blauen Sommerhimmel aufgelöst. Es gab keine Walking Skills, keine Performance-Runde, keine Drogen, keine Verpflichtungen und Hoffnungen und Ängste mehr. Es gab diese von Bäumen gesäumte Straße, den Geruch des warmen Asphalts, es gab den Wind, die Sonne und Mikes T-Shirt. Es war Sommer und ich war glücklich. Mehr interessierte mich nicht.

Irgendwann lenkte Mike das Rad einfach zur Seite. Da war immer noch diese Grünanlage, die auch schon den Abhang zu unserer Rechten gesäumt hatte. Wir holperten einen kleinen Hügel hinunter, dann hielten wir an. Mike ließ sich einfach von den Pedalen auf den Boden gleiten, und auch ich sprang mit einem so behänden Satz vom Sattel, als ob ich mich mein ganzes Leben lang nicht auf zwei Beinen, sondern auf zwei Rädern fortbewegt hätte. Meine Knie waren ein bisschen zittrig. Mein Mund war trocken vom Schreien. Meine Augen hatten im Fahrtwind getränt und mir war irgendwie schwindlig. Ich strahlte. Ein herrlicher Tag!

„Das müssen wir noch mal machen!“, lachte ich so übermütig, wie ich es von mir sonst gar nicht kannte, dann ließ ich mich einfach in das warme Gras fallen. Die Halme kitzelten mich ein wenig, aber auch das war wunderbar. Ich hatte Durst. Trotzdem dachte ich gar nicht daran, überhaupt jemals wieder aufzustehen und diesen Ort zu verlassen. Es war ein Moment, in dem das Leben hätte enden können, weil es schöner eigentlich gar nicht mehr werden konnte. Ich war vollkommen zufrieden mit mir und mit der Welt. Alles war so, wie es sein sollte. Über mir war wieder dieses wunderschöne Blau. Ich hörte, wie sich Mike neben mich hinsetzte und schielte ein bisschen zur Seite, um sein Gesicht im Himmel sehen zu können. Meinen Engel. Jetzt war er genau dort, wo er hingehörte.

„Bei Regen ist es auch lustig“, meinte er, „aber dieses Wetter ist natürlich perfekt dafür. Und man rutscht auch nicht so leicht weg.“

„Was hättest du gemacht, wenn uns was entgegengekommen wäre?“, fragte ich, aber nicht einmal dieser Gedanke beunruhigte mich. Mike zuckte nur mit den Schultern und winkte ab.

„Da kommt einem nie was entgegen.“

Ich fragte nicht weiter nach. Es interessierte mich nicht. Ich betrachtete wieder den Himmel, dann Mike, dann Beides im Gesamten.

„Mike?“, sagte ich dann ganz leise.

„Hm?“, machte er und sah mich von der Seite her mit seinen blauen Augen an. Ich sah weg. Meine Handflächen wurden wieder ein bisschen schwitzig.

„Danke.“

Mike lächelte wieder. Das sah ich aus den Augenwinkeln. Ich wusste, dass ich gar nichts mehr zu unserer Fahrt sagen musste, weil es einfach offensichtlich war, dass ich es geliebt hatte. Diese Sache mit der Wette sprach Mike trotzdem nie wieder an. Er saß einfach nur weiter neben mir im Gras, während sich über uns beiden der schönste Sommerhimmel aller Zeiten ausbreitete.
 

Die folgenden drei Tage regnete es in Strömen. Der Wetterwechsel kam ganz plötzlich, buchstäblich über Nacht. Ich ging an diesem unbeschreiblich schönen Sommertag ins Bett, draußen funkelten so viele Sterne, dass es einem ganz schwindelig davon werden konnte, und ich lächelte, bis ich schließlich einschlief. In meinem Bauch war immer noch so ein leises Kribbeln. Ich summte eine fröhliche Melodie nach der anderen vor mich hin. Was ich geträumt habe, weiß ich nicht mehr, aber es war auf jeden Fall ein schöner Traum, denn als ich erwachte, war ich ausgeruht und zufrieden.

Kurz nachdem ich das Haus verlassen hatte, fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Zehn Minuten später war ein Platzregen über die Stadt hereingebrochen, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt hatte. Es war beängstigend. Der Sommer war einfach davongelaufen, von einer Minute auf die nächste, und es war zwar immer noch warm, aber auf so eine ganz widerlich feuchte Weise. Die Regentropfen waren kalt. Ich hatte keinen Schirm dabei und war durchnässt, als ich die Tankstelle erreicht hatte, von der ich mir eigentlich nur eine Fertigpizza für den Abend hatte holen wollen.

Von da an konnte ich nicht mehr schlafen. Sobald es dunkel wurde, verfiel ich in ein quälendes Grübeln. Ich dachte an Freestyle-Walk und Performance, immer nur an das. Ich sagte mir, dass ich früher daran hätte denken müssen, dass mich so etwas noch erwarten würde. Es war doch so klar gewesen. Freestyle-Walk. Performance. Drei Wochen. Ich hatte gottverdammte drei Wochen, um mir einen so tollen, so einzigartigen Auftritt auszudenken und einzustudieren, dass ich die Jury und diese ganzen widerlichen Püppchen einfach wegblasen würde. Drei Wochen, und keinen Tag mehr. Performance. Freestyle-Walk. Die Hitze in meinem Zimmer erdrückte mich fast. Ich wollte schreien, aber damit hätte ich nur Mum aufgeweckt. Aber was hätte das gebracht? In diesem grauenhaften Nächten war ich mir sicher, dass kein Mensch auf der ganzen Welt mich jetzt noch retten konnte.

Um es kurz zu machen: Ich wurde gerettet. Nachdem ich vor lauter Schlafmangel schon Augenringe knapp bis zum Kinn hatte, endete das Prasseln der Regentropfen an meinem Fenster und der Himmel hüllte sich in ein schmutziges, aber wenigstens trockenes Weiß. Ich war von dem höchsten Hoch aller Zeiten in ein furchtbar tiefes Tal gestürzt, aber mit dem etwas besseren Wetter kamen Menschen, die mir halfen, und dafür bin ich heute noch unglaublich dankbar.

Die erste helfende Hand kam von meiner Mum. Ich saß gerade wieder mal an dem hässlichen Klapptisch in unserer engen, wie immer ziemlich unaufgeräumten Küche und schlürfte apathisch einen Kaffee. Ich hatte ihn selbst gemacht, also schmeckte er scheußlich. Mir war, auf Deutsch gesagt, kotzübel, und diese widerliche Brühe machte es nicht besser, aber irgendwie musste ich mich ja wach halten, auch wenn mein Körper lautstark nach Schlaf schrie. Jetzt plötzlich. Die paar Stündchen, die ich nachtsüber doch mal weggedämmert war, konnten mich langsam auch nicht mehr auf den Beinen halten.

„Hey, Jesse“, begrüßte sie mich mit ihrer rauchigen Stimme. Ich bemerkte sie erst, als sie mich ansprach. Müde hob ich meinen Blick und musterte sie. Erst jetzt fiel mir auf, wie wenig Zeit ich in den letzten aufregenden Tagen und Wochen mit ihr verbracht hatte. Scheiße, ging es mir durch den Kopf, war diese Frau dünn geworden. Noch viel, viel dürrer als sonst. Sie öffnete einen Topf, der neben einem Berg von Schüsseln auf dem Herd stand, und ein durchdringender Gestank von irgendwas längst Verdorbenem drängte sich mir in die Nase. Jetzt musste ich wirklich würgen. Ich schlug mir eine Hand vor den Mund und presste die Augenlider fest aufeinander.

Das ist deine Realität, dachte ich. Diese halbtote Nutte ist deine Mutter. Dieses verrottete Loch ist dein Zuhause. Du bist kein süßes, vielleicht ein bisschen zickiges Mädchen, und vor allem kannst du nicht fliegen. Das ist Jessicas Leben, nicht deines. Du sitzt hier und fühlst dich wie ein Stück Dreck und alles um dich herum zerfällt in tausend Stücke und das wirst du auch nicht ändern können. Gottverdammte Scheiße.

Ich hasste mich für diese Gedanken. Ich hasse mich noch heute dafür. Aber ich war völlig runter mit den Nerven, ich hätte eigentlich nur noch heulen können. Ich wollte aber nicht. Meine Fingernägel krallten sich in meine Handflächen, ganz automatisch. Plötzlich wünschte ich mir fast, dass von irgendwoher einer von Mums Gorillas auftauchen und mich zusammenschlagen würde, weil diese Art von Schmerz immer noch erträglicher war. Ich wusste einfach, dass ich es nicht schaffen konnte. Drei Wochen. Es war so dermaßen unmöglich, dass es fast schon wieder zum Lachen war.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Hinterkopf. Mums Hand. Sie war dürr und klapprig und ganz zittrig. Ich hatte das Gefühl, mit meinen Fingernägeln jeden Augenblick die Handinnenflächen zu durchstoßen. Aber natürlich fehlte mir die Kraft dazu. Stattdessen blickte ich wieder auf und zwang mich zu einem Lächeln. Es missglückte vollkommen, aber Mum lächelte zurück. Sie sah aus wie eine verfluchte Leiche. Ich wünschte mir, dass sie mich alleine lassen würde, aber sie setzte sich neben mich.

„Du siehst nich so gut aus, Jesse“, sagte sie. Ausgerechnet sie! Ich lächelte ein bisschen bitterer, und ich glaube, das bemerkte sie auch. Ganz kurz wurden ihre müden Augen traurig. „Krieg ich nen Schluck?“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf meinen Kaffee.

„Klar, Mum“, nickte ich. Meine Stimme klang heiser. Sie hob die Tasse hoch, und im ersten Moment befürchtete ich, sie würde sie gleich wieder fallen lassen, so fahrig waren ihren Bewegungen. Ich schluckte schwer. Mein Hals tat weh dabei.

„Schmeckt scheiße“, murmelte sie und verzog das Gesicht.

„Ich weiß“, sagte ich. Als sie mir die Tasse zurückgeben wollte, schüttelte ich den Kopf und hob abwehrend die Hände. Sie sah mich wieder an, und ich merkte, dass sie wirklich besorgt war.

„Jesse, was is los mit dir? Ist dir schlecht?“ Ich nickte. Sie legte eine Hand auf meinen Unterarm. „Zuviel getrunken?“

„Ich hab überhaupt nichts getrunken, Mum. Ich hab nich schlafen können, das ist alles.“

„Nicht schlafen können?“

„Ja. Seit ein paar Tagen. Seitdem es so pisst, weißt du? Ich bin auch mal nass geworden, keine Ahnung, vielleicht werd ich krank.“

„Ach, Jesse.“ Ihr Griff um meinen Arm verstärkte sich ein bisschen. „Das tut mir so leid. Du siehst nicht gut aus.“

Das hatte sie schon einmal gesagt. Ich unterließ es aber, sie darauf hinzuweisen. Ich hatte auch keine Ahnung, wofür sie sich entschuldigte, aber in dem Moment fand ich’s trotzdem angebracht. Irgendwie machte ich sie plötzlich dafür verantwortlich, dass ich mich schlecht fühlte, weil ich ihr nicht helfen konnte. Ich glaube nicht, dass ich das Recht dazu hatte, das zu tun. Ich fühlte mich auch gleich noch viel schlechter, als ich ihr in die Augen sah. Ich beschloss, heute lieber gar nichts mehr zu denken.

„Ich hab ein Problem, Mum“, erklärte ich dann schließlich doch. „Erinnerst du dich an dieses Theaterstück bei uns an der Schule? Ich soll da was vormachen. Irgendwas. Einen Auftritt halt. Aber mir fällt ums Verrecken nichts ein. Jetzt… hab ich Angst, dass ich die ganze Sache kaputt mache. Für alle. Drum denk ich die ganze Zeit drüber nach.“

Mum sah mich an, und zwar anders als zuvor. In ihrem Blick war etwas ganz Seltsames, vielleicht eine Ahnung, dass da irgendetwas Größeres um sie herum vorging, vielleicht aber auch etwas ganz Anderes. Und dann blitzte es in ihren Augen auf. Ich war irritiert. Wissen Sie, es ist verdammt lange her, dass es in ihren Augen das letzte Mal geblitzt hatte. Ich konnte ihren Gesichtausdruck auch immer noch nicht so ganz einordnen, aber jedenfalls lächelte sie.

„Einen Auftritt?“, wiederholte sie, langsam und bedeutungsvoll. „Irgendeinen Auftritt. Wirklich irgendeinen?“

„Es sollte halt kein allzu großer Scheiß sein.“

„Also irgendein guter Auftritt.“ Sie nickte. „Ich verstehe. Und damit bringst du dich um den Schlaf? Ach, Jesse. Wofür hast du denn deine alte Mum?“

„Sag bloß, du hast ne Idee?“ Ich zog eine Augenbraue hoch und hoffte, dabei trotzdem nicht allzu kritisch auszusehen. Ich wusste ja, dass sie es nur gut meinte, trotzdem erwartete ich nicht allzu viel. Mum lächelte weiter. Es war nicht zu übersehen, dass meine Skepsis sie nur noch mehr erheiterte.

„Würd ich sonst so reden?“ Sie hob ganz lässig ihre abgemagerten Schultern, zögerte dann kurz und kramte in der Tasche ihres abgewetzten Morgenmantels. Zückte eine Schachtel Zigaretten, nahm sich eine und hielt dann mir die Schachtel hin. Ich reagierte nur mit einer kurzen, wegwerfenden Bewegung meiner Finger. Sie würde niemals lernen, dass ich nicht rauchte.

„Glaub nicht“, fügte ich hinzu, als ich begriff, dass sie eine Antwort erwartete.

„Jessie, ich hab da was für dich. Ich hab was gesehen, weißt du? Als ich das Wort Auftritt gehört habe, musste ich sofort dran denken. Du erinnerst dich an Geenia?“

Ich nickte, und jetzt waren es meine Augen, die blitzten. Natürlich erinnerte ich mich an Geenia! Geenia war kein Mensch, den man vergaß. Sie war unglaublich. Im bürgerlichen Leben, hatte ich mal erfahren, hieß sie Robert Schmidthäuser und war ein hohes Tier bei einem deutschen Verlagshaus. Um es vorsichtig auszudrücken, das sah man ihr nicht an. Sie hatte die schönsten Beine, die ich jemals bei einem Menschen gesehen habe. Jedes Nacktmodell würde daneben vor Neid erblassen, das verspreche ich Ihnen. Überhaupt war Geenia wunderschön. Sie hatte langes dunkles Haar und war stets verrucht, aber niemals übertrieben geschminkt. Gerade das machte sie zu etwas Besonderem. Sie war keine Parodie ihrer selbst, das hatte sie nicht nötig. Die Kleidung, die sie trug… oder vielmehr, die sie nicht trug, ihre Makellosigkeit, ihre ganze Art sorgte sowieso immer dafür, dass sie im Mittelpunkt stand.

„Geenia hat eine neue Nummer“, erklärte Mum. „Ist schwer zu beschreiben. Als sie es mir nur beschrieben hat, war ich enttäuscht. Dann hab ich’s gesehen, und das war selbst für sie der Hammer. Du musst dir das anschauen. Ich weiß nicht, ob’s für dich… geeignet ist, aber schau es dir an. Ich find’s genial.“

„Klar, Mum!“

Plötzlich war der Morgen… oder Mittag überhaupt nicht mehr so schlimm. Eigentlich hatte sich zwar noch nichts geändert, das war mir auch klar, aber ich fühlte mich trotzdem besser. In jeder Hinsicht. Auch wenn es durch den Rauch in der Küche nur noch mehr stank. Irgendwie hatte ich in meiner Sackgasse doch noch ein kleines Schlupfloch entdeckt. Ich wusste noch nicht, ob ich durch dieses Schlupfloch hindurchpassen würde, aber immerhin stand ich nicht mehr mit dem Rücken zur Wand, hilflos und ohne irgendeine Chance, zu entkommen.

Ich umarmte meine Mum, obwohl es mich aus dieser Nähe nur noch mehr erschreckte, wie knochig sie war. In meinem Inneren vermischten sich Erleichterung, Dankbarkeit, ein bisschen Angst und ein ziemlich schlechtes Gewissen zu irgendetwas Undefinierbarem. Aber damit konnte ich umgehen. Ich war gefallen, aber jetzt stand ich wieder. Vielleicht noch so ein bisschen schwankend und verkatert, aber immerhin auf eigenen Füßen. Außerdem konnte ich es kaum mehr erwarten, die große Geenia wiederzusehen.

Natürlich war das Blödsinn, aber für mich regnete es draußen plötzlich noch ein bisschen weniger.
 

Für alle anderen ging der Regen weiter. Ich hatte vor lauter schlechtem Wetter überhaupt keine Lust mehr, aus dem Haus zu gehen, aber wenn ich drinnen saß, fand ich das Prasseln und auch die Vorstellung der feuchten Kälte, die ich mehr oder minder erfolgreich ausgeschlossen hatte, irgendwie ganz gemütlich. Mit Geenia hatte ich mich zum Anfang der kommenden Woche verabredet. Sie freute sich darauf, meinte sie mit so einem Unterton in der rauchigen Stimme. Ich freute mich ebenfalls.

Gerade, als ich das Telefon wieder beiseite legen wollte, rief Mike an.

„Hey, Jessie!“, begrüßte er mich so gut gelaunt, als ob immer noch richtig Sommer wäre. „Lust auf eine zweite Abfahrt?“

Im ersten Moment war ich derart perplex, dass ich fast den Hörer fallen ließ. Dann atmete ich tief durch und sammelte mich wieder. Meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe neben mir warf ich einen strafenden Blick zu. Wirklich ein toller Anfang, ein Gespräch zu beginnen, grummelte ich ihm, also mir, im Geiste zu. Mit entsetztem Schweigen. Einen besseren Eindruck konnte man doch gar nicht mehr machen.

„Bei dem Wetter?!“, empörte ich mich dann mit dezenter Verspätung ins Telefon. Mike lachte nur.

„Wieso nicht?“

„Hallo? Auch schon gemerkt? Es regnet. In Strömen. Seit Tagen. Und es ist widerlich kalt geworden. Da gehe ich nicht Rad fahren.“

„Gut, dann gehst du eben mit mir ins Kino!“

Ich war so überrascht und entsetzt von dieser dreisten Unverschämtheit, dass ich zusagte.

Danach war die Woche ziemlich stressig für mich. Ich übte viel, Laufen und alles. Meine Gedanken kreisten um den Laufsteg, und der Flur unserer Wohnung würde für mich zu einer Art Parallelwelt, in der ich so lange meine Runden drehte, bis mir schwindlig wurde. Dann lehnte ich mich kurz gegen die Wand, trank einen Schluck Wasser und übte weiter. Ich wollte perfekt sein. Alles an mir sollte perfekt sein. Meine Haltung, meine Schritte, meine Mimik und Gestik. Ich übte sprechen und lächeln, immer weiter. Jedes Mal, wenn ich kurz mit mir zufrieden war, erinnerte ich mich selbst daran, dass es immer noch besser werden konnte, und übte weiter. Von der Welt da draußen entfernte ich mich immer mehr.

Bis die Welt da draußen an mein Fenster klopfte, und zwar verflucht laut und nachdrücklich.

Genauer gesagt war es ein Stein, der durch das Glas direkt auf mein Bett flog. Ich sah es nicht, ich hörte es nur, während ich wieder einmal in High Heels und Miniröckchen zu einem kühlen Elektrobeat auf unsere schäbige Eingangstür zustolzierte. Das Klirren war nicht sonderlich laut, aber dann folgte ein ohrenbetäubender Knall, als meine Zimmertür von dem plötzlich hereinfahrenden Windstoß gegen die Wand geschlagen wurde. Vor lauter Schreck wäre ich beinahe hingefallen. Es wurde dann auch ziemlich schnell kalt, und das Prasseln des Regens klang irgendwie anders.

Trotzdem ahnte ich nicht, was geschehen war, bis ich es sah.

Meine Scheibe war zertrümmert. Ein riesengroßes Loch prangte in ihrer Mitte, wie von einer Panzerfaust hineingeschossen. Ich weiß noch, dass das mein erster Gedanke war. Der Boden war übersäht mit Glassplittern. Regen peitschte in das Zimmer hinein, durchnässte meine Vorhänge und die Poster, die nah am Fenster hingen. Und meinen Schreibtisch. Nach dem ersten Schock brachte ich erst mal alle Papiere, Zeichnungen, Mangas und Schulbücher in Sicherheit, die dem Höllenloch zu nahe waren. Einiges davon war nicht mehr zu retten, das sah ich sofort. Der Regen war viel zu stark, und der Wind trieb ihn unbarmherzig in das Innere des Zimmers. Eines meiner Bilder zerriss mir sofort, als ich es anfasste. Ich hätte schreien können.

Dann hörte ich aber, dass da schon jemand anderes schrie, und zwar draußen. Man hörte es kaum, weil das Unwetter so sehr tobte. Ich war eh schon nass, also wagte ich mich zum Fenster vor und sah hinaus. Sofort wehte mir der Regen in die Augen und ich musste blinzeln. Trotzdem erkannte ich draußen eine Gestalt, die unten vor dem Haus auf- und ablief, wie von Sinnen. Eine große Gestalt, ein Mann. Er tobte. Er brüllte.

„Schlampe, blöde Schlampe, ich bring dich um!“

Ich verstand nicht allzu viele seiner Worte, aber es war offensichtlich, dass er zu Mum wollte. Mum war nicht da, aber das konnte er ja nicht wissen. Seine Beleidigungen wollten gar kein Ende mehr nehmen. Außerdem war der Stein auf meinem Bett nicht der einzige, den er bei sich trug. Die anderen waren genauso groß, aber der Mann da unten war kräftig und wütend genug, sie bis zu unserer Wohnung hochzuwerfen. Ich sah, wie ein weiteres Geschoss knapp neben dem Küchenfenster gegen die Hauswand schlug. Der dumpfe Knall ging im Sturm fast vollkommen unter.

Da geriet ich in Panik. Wer der Irre da unten war, wusste ich nicht. Ich erkannte ihn vor lauter Regen kaum, glaubte aber, ihn schon irgendwann einmal gesehen zu haben. Es gab so viele Männer in Mums Leben, da konnte ich mir nicht alle Gesichter merken. Außerdem hingen mir mittlerweile schon die Haare vor den Augen, so nass waren sie. Ein weiterer Stein flog gegen die Hauswand. Scheiße, dachte ich, das Küchenfenster. Er hatte es schon fast an den Rahmen getroffen. Beim nächsten Wurf würden wir noch mehr Scherben in der Wohnung haben.

Obwohl mich die High Heels beinahe zu Fall brachten, rannte ich in die Küche, so schnell ich eben konnte. Dort angekommen fühlte ich mich dann aber so hilflos, dass ich mehrere Sekunden einfach nur mit Herumstehen und Nichtstun verschwendete. Ich sah sofort, dass unser klappriger Rollladen die schweren Steine nicht abhalten konnte. Die Schreie unten klangen dumpf an mein Ohr. Noch. Wenn das Glas erst einmal zerbrochen war, würde sich das ändern.

Einen Moment lang drehte sich alles in meinem Kopf. Ich suchte Halt am Türrahmen, der schon lang keine Tür mehr hatte. Dann stieß ich mich von dem Holz ab, um überhaupt wieder laufen zu können. Taumelte zum Fenster hin. Und öffnete es mit zittrigen Fingern. Der Regen schlug mir entgegen und ließ mich beinahe stürzen. Binnen weniger Sekunden war ich klatschnass. Ich hatte ja nicht viel an, aber diese wenige Kleidung triefte. Ich zitterte. Trotzdem beugte ich mich zum Fenster hinaus und schrie hinunter:

„Hau ab, du Arschloch! Hau ab, oder ich rufe die Polizei!“

Keine Ahnung, ob er mich verstanden hat. Jedenfalls sah er mich, denn der nächste Stein flog ganz gezielt in meine Richtung. Ich konnte gar nicht mehr reagieren. Ich hatte ein scheiß Glück, dass ich nicht am Kopf getroffen wurde. Der Stein streifte meine Schulter nur, aber es tat trotzdem so weh, dass ich geschrien habe. Und ich hab wirklich nicht oft geschrien, auch nicht, wenn ich verprügelt worden bin. Jetzt aber fühlte es sich so an, als ob man mir was aus dem Körper gerissen hätte, Haut und Knochen und Muskeln und alles. Es war wirklich ein verdammt schwerer Stein.

„Hau ab!“, schrie ich noch einmal, aber dann brachte ich mich in Sicherheit. Ich stürzte aus dem Zimmer. Mir war unglaublich kalt. Ich lief in das Zimmer meiner Mum, zog mir ganz schnell ein paar ihrer Sachen an, und wickelte mich in eine ihrer Decken ein. Die Haare trocknete ich mir nur kurz mit ihrem Bademantel ab. Dann drängte ich mich ganz nah an die Heizung und wartete darauf, dass es endlich vorbei war. Ich glaubte, noch einige Male zu hören, wie Steine gegen die Wand prallten. Einmal flog auch einer in die Küche und irgendetwas ging zu Bruch. Als ich das hörte, fing ich an zu weinen. Mir war immer noch kalt und ich hatte immer noch Angst und ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Die Polizei habe ich nicht gerufen, weil ich befürchtete, dass Mum noch irgendwo Stoff in der Wohnung hatte.

Ich saß da, bis es dunkel wurde. Dann hörte ich, wie Mum nach Hause kam. Es musste schon spät sein. Als ich von der Heizung aufstand und auf den Flur hinaustrat, war es eiskalt. Kein Wunder, es hatte mehrere Stunden lang von meinem Zimmer in die Küche gezogen und reingeregnet. Als ich einen kurzen Blick in die Küche war, sah ich, dass es fast alles durcheinandergeweht hatte. Der ganze Boden war voll mit Salz und Gewürzdosen und dem ganzen Zeug, was da eben immer so rumlag. Also mit verdammt viel. Der Tisch und der Boden waren eine einzige Pfütze. Ein paar Gläser waren zu Bruch gegangen, also lagen doch wieder Scherben herum. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld.

Mum sah müde aus, als sie in die Wohnung trat. Verflucht müde. Sie hatte ein blaues Auge. Keine Ahnung, ob sie unseren Psychopathen noch vor der Haustür angetroffen hatte. Hätte so ziemlich jeder gewesen sein können. Sie sah mich, glaube ich, gar nicht richtig an. Ob sie bemerkte, dass es kalt war, weiß ich nicht. Sie kam ja von draußen und war auch so noch ganz nass.

„Jesse, ich brauch ne Schmerztablette“, begrüßte sie mich. „So ein Arschloch. So ein verdammtes Arschloch.“

„Wer?“, fragte ich. Mein ganzer Körper zitterte. Mir war kalt.

„Braucht dich nicht zu interessieren. Ein verdammtes Arschloch. Dein Vater war sicher auch so ein verdammtes Arschloch. Jetzt geh und hol mir meine verdammte Tablette.“

Ich nickte, schluckte schwer und tat dann, wie sie befohlen hatte. Ich trug immer noch High Heels – Stiefel, aus glänzendem Leder, da drang das Wasser auf dem Boden nicht durch. Ich rutschte nur ein bisschen darauf aus. Die Tabletten waren in einer Schublade, also nicht vom Wind in der Küche verteilt worden. Darin war es aber auch nicht weniger chaotisch. Ich fand trotzdem schnell, was ich gesucht hatte. Füllte ein Glas mit Wasser. Dachte erst jetzt daran, das Fenster auch mal wieder zu schließen. Und ging dann zu Mum in ihr Zimmer, wo sie sich mittlerweile auf ihr Bett hatte fallen lassen.

„Da“, sagte ich und hielt es ihr das ganze Zeug hin. Sie nahm die Tablette, trank einen einzigen Schluck Wasser hinterher und blieb dann mit geschlossenen Augen liegen.

„Jesse, dreh die Heizung auf“, murmelte sie dann nach einigen Sekunden.

„Ist schon an, Mum“, antwortete ich. Sie hob ihre Augenlider ein bisschen und sah mich zweifelnd, müde und ungeduldig an. „Ist echt so. Mum… Mum, da ist jemand hier gewesen. Also unten. Der hat Steine auf unser Haus geworfen. Keine Ahnung, was der wollte.“

„Steine?“ Jetzt sah Mum genervt aus. Genervt auf eine ziemlich erschöpfte Art und Weise, aber auf jeden Fall genervt. „Was redest du da für einen Blödsinn, Jesse?“

„Ich red keinen Blödsinn, Mann!“ Ich hatte die Arme vor dem Körper verschränkt, weil mir kalt war, und jetzt grub ich meine Fingernägel in die Haut an meinen Oberarmen. „Schau halt selbst nach. Das Fenster in meinem Zimmer ist kaputt. In der Küche hab ich’s noch aufgemacht, aber da hat er reingeworfen. Alles ist kaputt. Mum, was mach ich denn jetzt?“

„Was… was willst du denn machen?“ Sie verzog das Gesicht. Ich schien ihr wirklich ziemlich auf den Geist zu gehen. Ich starrte sie an, und langsam war es nicht mehr die Kälte, die mich zittern ließ.

„Verdammt noch mal, mein Fenster ist kaputt! Da hat’s reingeregnet. Es regnet immer noch rein. Der Teppich ist ein See. Außerdem ist es eiskalt. Das kann ich doch nicht so lassen. Da drin kann ich nicht schlafen! Da drin kann ich nicht leben!“

„Und was soll ich da machen?!“ Ich war lauter geworden, und sie tat es mir gleich. „Warum kannst du mich damit jetzt nicht einfach in Ruhe lassen? Glaubst du, ich hab hier ein neues Fenster unterm Kissen? Das klingt wie kompletter Blödsinn. Wenn es nass ist, putz es weg. Lass mich jetzt einfach damit in Ruhe, Jesse. Ich bin müde, ich will jetzt schlafen. Und mach die Tür zu, es ist kalt.“

Das war zuviel. Ich stürmte aus dem Zimmer und, ja, ich machte die Tür zu, aber mit einem verflucht lauten Knall. Ich musste mich beherrschen, mich nicht mit einer Beleidigung zu verabschieden. Natürlich kann ich sie verstehen, jetzt, im Nachhinein. Wenigstens ein bisschen. Aber damals, an diesem verregneten Abend, der gerade dabei war, zur Nacht zu werden, konnte ich das nicht. Ich hatte kein Verständnis für überhaupt niemanden mehr übrig. Ich wollte in mein Zimmer laufen und mich dort verkriechen, aber als ich eintrat, war es eiskalt. Meine schäbigen Vorhänge hingen nass und traurig hinunter. Der Schreibtisch stand unter Wasser. Auf dem Teppich waren riesige dunkle Flecken. Draußen regnete es immer noch. Ich hätte schon wieder heulen können.

Stattdessen schlug ich zwei- oder dreimal gegen die Wand, bis mir jeder einzelne Finger wehtat. Und meine Schulter sowieso. Die pochte und stach und schmerzte eben auf so ziemlich jede nur erdenkliche Weise. Aber genau das war es, was ich gewollt hatte. Ich konnte mich ganz auf den Schmerz konzentrieren, und das brachte mich ein bisschen zur Ruhe. Zuerst ließ ich meinen Rollladen ganz runter, dass es nicht mehr reinregnen konnte. Dann kramte ich ein paar Reißnägel hervor, und nahm die Japanflagge von der Wand über dem Bett. Stattdessen hängte ich sie notdürftig vor die zerbrochene Scheibe. Das sah zwar nicht besonders toll aus, aber wenigstens zog es so nicht mehr.

Danach sammelte ich vorsichtig die Scherben vom Boden auf. Den Schreibtisch wischte ich mit einem von Mums Tops ab, das sowieso gewaschen werden musste, weil ich irgendein Getränk darauf getropft hatte. Auf den Teppich legte ich ein Handtuch. Dann drehte ich die Heizung auf die höchste Stufe auf. Das alles machte ich ganz ruhig, automatisch, ohne überhaupt irgendetwas dabei zu denken oder zu fühlen. Dann verließ ich das Zimmer. Schloss die Tür hinter mir. Legte einen Zettel vor Mums Tür, auf dem stand, dass ich bei einem Freund übernachten würde. Zog rasch den erstbesten Mantel über und lief dann aus der Wohnung.

Einen Regenschirm hatte ich nicht. Und eine Ahnung, wohin ich gehen sollte, erst recht nicht. Erst dachte ich an Mike. Dann fiel mir auf, dass ich seine Adresse gar nicht kannte. Dann dachte ich an Tatsumi, aber zu dem wollte ich nicht. Dann dachte ich an Geenia, aber die ging gerade sicher einer ihrer Arbeiten nach. Und dann fing ich wieder von vorne an. Mike. Tatsumi. Geenia. Wie kam es eigentlich, dass ich in dieser großen, großen Stadt kaum einen Menschen kannte? Es war schon deprimierend.

Ich stieg in die S-Bahn und fuhr einfach irgendwohin. Dann stieg ich wieder aus und lief ziellos weiter. In dem kurzen Rock fror ich ganz furchtbar, und die Stiefel waren zwar recht hoch, fast bis zu den Knien, aber auch nicht warm und schon gar nicht bequem. Mein Mantel sah zwar schön aus, er war schwarz und elegant geschnitten, aber er hielt den Regen nicht richtig ab. Meine Kleidung fühlte sich nach kurzer Zeit ganz feucht an und meine Haare trieften eh schon.

In diesen Momenten war ich wieder ganz allein. Ich wusste nicht einmal mehr genau, wer ich überhaupt war, als ich da in meinen schönen und nassen Frauenkleidern durch die nächtlichen Straßen irrte, auf deren nassem Asphalt sich die Lichter der Stadt spiegelten.
 

Am Ende landete ich in einer Wohngegend, in die ich nicht passte, vor einem Palast, zu dem ich nicht wollte, in einem Garten, der mir so allein bei Regen irgendwie unheimlich war. Ich stand vor der prunkvoll goldgezierten Eingangstür und ich traute mich nicht, zu klingeln. Der Regen prasselte auf meine Stirn, während ich die gläsernen Einsätze der Tür anstarrte. Ich bewegte mich um keinen Millimeter, weil ich fürchtete, man könnte mich bemerken. Es war verrückt. Ich stand einfach nur da und wünschte mich ganz weit weg, was natürlich nicht erhört wurde.

Ich glaube, ich wäre noch die ganze Nacht so dagestanden, wenn mir nicht letzten Endes der Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Nach… sicher über einer Viertelstunde ging nämlich in der Küche das Licht an. Das Küchenfenster war direkt neben dem Eingang, darum habe ich es gleich gesehen. Plötzlich fiel ein heller Lichtschein auf mich. Mein Herz schlug mir ganz spontan bis zum Hals. Am liebsten wäre ich davongelaufen, aber selbst das traute ich mich irgendwie nicht. Also änderte ich meinen Wunsch dahingehend, dass man mich doch bitte, bitte, bitte nicht bemerken würde.

Dieser Wunsch wäre mir erfüllt worden, das weiß ich. Tatsumi sah zwar aus dem Fenster, aber nicht an meinen finsteren Platz vor der Tür, sondern in den Garten hinaus und zu dem kleinen Ausschnitt der funkelnden Stadt, das man dahinter erkennen konnte. Wenn man sie denn überhaupt sah, bei diesem Regen. Es war ganz merkwürdig, ihn zu sehen, während er sich unbeobachtet glaubte. Er lächelte nicht. In seinem Gesicht war so etwas ganz Ernstes, das aber nur auf den ersten Blick nicht dorthin passte. Seine schwarzen Augen wirkten merkwürdig… leer, und um seine Lippen spielte ein bitterer Zug, den ich von ihm nun wirklich überhaupt nicht kannte. Ich ahnte plötzlich, dass dieser Tag nicht nur für mich nicht besonders gut gelaufen war.

Dann merkte ich, dass ich keine Angst mehr hatte. Oder vielmehr, dass es jetzt eine andere Art von Angst war. Die Angst, dass Tatsumi einfach wieder gehen und das Licht hinter sich löschen würde. Dass ich wieder allein im Dunkeln stehen würde, vermutlich noch die ganze Nacht lang, denn Klingeln wollte ich auf gar keinen Fall. Das ging einfach nicht. Also atmete ich tief durch, straffte meinen Körper und streckte mich dann, um an die Scheibe des Küchenfensters zu klopfen.

Tatsumi fuhr merklich zusammen, dann wandte er sofort den Blick in meine Richtung. Es war schon fast wieder unheimlich. Hier draußen war es so düster, aber Tatsumi sah mir ganz genau in die Augen. Und dann sah er einen Moment lang furchtbar entsetzt aus. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich musste grauenhaft aussehen. Wahrscheinlich wäre ich bei meinem eigenen Anblick zu Tode erschrocken. Wie gut, dass ich mich nicht sehen konnte. Ich hob eine Hand, ganz verlegen, und winkte ihm zu.

Es vergingen kaum zwanzig Sekunden, bis Tatsumi mir die Tür geöffnet hatte. Seine Brust hob und senkte sich rasch. Ich versuchte, ihn anzulächeln, aber ich sah in seinen Augen sofort, dass es mir nicht gelangt.

„Frag bitte nicht“, murmelte ich, und meine Stimme zitterte. Sogar meine Zähne klapperten ein bisschen. Ich hatte keinen trockenen Flecken Haut mehr am Körper.

Okay, Jessie“, nickte Tatsumi, nachdem er mich noch ein bisschen angestarrt hatte. „Was ist passiert?“

„Hey!“

„Nicht aufregen“, beschwichtigte er mich und rang sich endlich wieder ein Lächeln ab. „War nicht ernst gemeint. Und jetzt komm lieber rein. Scheiße, bist du nass. Es wundert mich, dass du noch nicht erfroren bist.“

„Sehr witzig“, grummelte ich und trat in den Flur. Ich hinterließ sofort eine Pfütze auf den Fließen.

„Nicht witzig“, verbesserte mich Tatsumi. „Das war ernst gemeint. Aber jetzt gehen wir erst mal nach oben. Du weißt ja, wo das Bad ist. Wo die Dusche ist. Wo das warme Wasser ist. Wo Handtücher sind. Ich such dir was zum Anziehen raus.“

„Heißt das, ich kann bleiben?“

„Nein. Das heißt, dass ich dich sofort wieder vor die Tür setzte, Jessie. Und jetzt komm mit.“

Ich wollte ihm nachgehen, stolperte aber sofort. Keine Ahnung warum. Ich war den ganzen Tag lang auf diesen dämlichen Schuhen gelaufen, aber jetzt ging es irgendwie nicht mehr. Tatsumi fuhr förmlich herum, als er das Klappern der Absätze und mein erschrockenes Keuchen hörte. Er legte einen Finger auf seine Lippen, und sein Lächeln wirkte plötzlich nervös.

„Zieh die lieber aus“, sagte er, wobei mir erst jetzt so richtig auffiel, dass er die ganze Zeit über geflüstert hatte. „Und sei dann auch weiterhin leise, ja? Ich will nicht, dass jemand aufwacht. Wenn ich meine Alten heute noch mal sehen muss, dann dreh ich durch.“

„Wieso?“, fragte ich betont beiläufig, während ich mich ziemlich unsicher aus meinen tödlichen Stiefeln quälte. Übrigens waren selbst sie mittlerweile durchnässt. Meine Haut und meine Strümpfe quietschten, als ich die Schuhe auszog.

„Keine Fragen. Belassen wir es dabei.“

Ich nickte, und dann folgte ich Tatsumi endlich doch noch nach oben.

Wir schwiegen. Obwohl es noch nicht so wahnsinnig spät sein konnte, brannte im Haus nirgendwo mehr Licht. Irgendwie war es beklemmend hier. Man spürte ganz deutlich, dass in den vergangenen Stunden etwas Unschönes passiert war, aber jetzt herrschte vollkommene Stille. Die Ruhe nach dem Sturm. Ich war froh, als wir das Bad endlich erreicht hatten und ich mich unter die versprochene warme Dusche flüchten konnte. Wieder prasselte Wasser auf mich hinab, aber diesmal war es so herrlich, so angenehm, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Irgendwie brachte mich erst diese Wärme so richtig ins Leben zurück.

Auf meiner Odyssey durch die nächtliche Stadt war ich tatsächlich wie in Trance gewesen. Ich hatte mich wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt gefühlt, aber damit hatte sich die Sache mit dem Fühlen auch schon erledigt. Jetzt brachte mich jede dieser warmen Berührungen ein bisschen mehr zu mir selbst zurück. Das war übrigens nicht nur schön, aber es half mir. Ich ging in die Hocke, schlang beide Arme um meinen Körper und starrte auf den glänzend weißen Boden der Dusche. In meiner Brust war ein dumpfer Schmerz, und auch das Pochen in meiner Schulter nahm ich wieder viel bewusster wahr. Dort hatte sich übrigens schon jetzt ein hässlicher blauvioletter Fleck gebildet, der auf einer rot umrandeten Schwellung saß. Es war kein schöner Anblick, aber die warme Massage von oben tat auch dieser Verletzung ganz gut.

Irgendwie ging mir in diesen Momenten alles und nichts durch den Kopf. Als ich endlich wieder aus der Dusche stieg, fühlte ich mich wenigstens ein bisschen aufgewärmt. Und irgendwie befreit. Ich nahm ein Handtuch, trocknete mich ab und wickelte mich in ein zweites Handtuch. Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass Tatsumi Kleidung davor gelegt hatte. Ich hatte ihn gar nicht gehört. Plötzlich fragte ich mich, ob ich wohl sehr lange dort unter der Dusche gewesen war. Dass Tatsumi sich um mich gesorgt hatte, konnte ich mir zwar nicht so richtig vorstellen, aber über die Kleider freute ich mich wirklich. Sie sahen warm aus.

Ich schloss die Tür noch einmal und zog mich um. Die Kleidung war tatsächlich wunderbar bequem. Ein grauer Pulli mit einem Rollkragen, nicht zu dick, aber aus einem angenehm weichen Material. Dazu eine schwarze Hose, die mir eigentlich zu lang und zu weit war und die auch nur deshalb an mir hielt, weil sie oben so ein Band zum Zusammenziehen hatte. Außerdem schwarze Stulpen und graue Wollsocken. Zum ersten Mal seit etlichen Stunden fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Und zwar nicht wie ein frierender Mensch. Das war auf jeden Fall ein angenehmes Gefühl.

Tatsumi erwartete mich schon auf seinem Zimmer. Ich glaube, er hatte die Heizung hoch aufgedreht, denn es war unheimlich warm. Er musste sicher schwitzen, aber für mich war die Temperatur einfach herrlich. Außerdem stand auf einem Tablett auf dem Boden eine Teekanne mit zwei Tassen. Die Vorstellung, dass Tatsumi in meiner Abwesenheit für mich Tee gekocht hatte, brachte mich tatsächlich wieder zum Lächeln. Ich nahm neben ihm auf dem nach wie vor wunderbar weichen Bett Platz und lehnte mich gegen die Wand. Jetzt saß ich also schon wieder hier. Irgendwie war das seltsam.

„Nimm dir einfach“, forderte Tatsumi mich mit einer Kopfbewegung in Richtung der Kanne auf. Das machte ich tatsächlich. Mein Hals tat weh, und so ein warmes Getränk kam mir da gerade recht.

„Danke“, murmelte ich in den Dampf hinein, der aus meiner Tasse aufstieg. Der Tee war übrigens tiefrot und schmeckte nach Himbeeren und Vanille.

„Für dich tu ich doch alles, Jessie“, grinste Tatsumi und strich sich durch sein schulterlanges Haar. Jetzt, im Hellen, fiel mir auf, dass er irgendwie müde aussah. Aber ich hatte da ja gut reden. Im Bad hatte ich jeden Blick in den Spiegel tunlichst vermieden, und auch wenn ich mein verlaufenes Make up wohl größtenteils weggeduscht hatte, musste ich ganz bestimmt immer noch gruselig aussehen.

„Auch deine Klappe halten?“

„Sicher.“

„Nackt über den Schulhof laufen?“

„Nichts lieber als das.“

„Dir die Haare abrasieren?“

„Also, jetzt hört’s aber auf!“

„Siehst du?“ Ich bleckte die Zähne. Die allgemeine Wärme entspannte mich ungemein, und Tatsumis belangloses Gerede tat sein Übriges dazu. „Ich hab’s ja gleich gewusst!“

„Jessie, du bist so furchtbar. Aber übrigens, wo wir gerade schon mal irgendwie beim Thema Wetten sind: Zorn.“

„Hey, das wollte ich für heute auch sagen!“

„Dann tu’s doch! Ist meines Wissens nicht gegen die Regeln, wenn wir beide an einem Tag mal dieselbe Todsünde begehen.“

„Gut. Zorn. Jetzt hab ich’s auch gesagt. Der Tee ist übrigens gar nicht so schlecht.“

„Find ich auch“, stimmte Tatsumi mir zu. Er sah mich dabei übrigens nicht mehr an, sondern starrte irgendwie in den Raum hinein. Man merkte sofort, dass er nachdachte. Ich stieß mit dem Fuß gegen seinen Unterschenkel, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.

„Gib’s auf, Tatsumi“, grinste ich ihn an. „Du kannst einfach nicht denken, auch wenn du’s grad versuchst. Geh einfach in die Ecke und sei schön.“

„Jessie, du bist ja so was von entzückend. Aber wahrscheinlich hast du diesmal sogar Recht. Ich habe nämlich gerade über etwas nachgedacht, das mit dir zu tun hat, und das hast du eigentlich gar nicht verdient.“

„Mit mir?“ Ich hob meinen Blick ein bisschen, aber gerade nur so viel, um mir meine Neugierde nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Eigentlich war es ja nichts Besonderes, wenn Tatsumi mal wieder nervigerweise verkündete, dass er mir ein paar seiner kostbaren Gedanken gewidmet hatte, und vor allem war es ganz bestimmt nicht interessant. Aber jetzt hatte er etwas in der Stimme, das… mehr war. So einen besonderen Ausdruck, wie ihn immer diese Fernseh- und Werbeeltern bekommen, wenn sie ihr Kind mit den Worten locken, dass sie da irgendetwas für es haben. Gut, vielleicht auch ein bisschen so wie ein netter alter Onkel, der einem Mädchen seine Hasen und Ponys zeigen möchte. Aber neugierig war ich so oder so, allem Widerwillen zum Trotz.

„Ach, jetzt willst du es also doch wissen? So plötzlich?“

„Ich habe nie gesagt, dass ich… was auch immer nicht wissen möchte. Nur, dass du nicht denken kannst. Das ist ein Unterschied.“

„Wenn ich nicht denken kann, bemerke ich so etwas aber nicht“, schloss Tatsumi triumphierend. Darauf fiel mir leider auch nichts mehr ein, also streckte ich ihm einfach die Zunge heraus. Er lächelte weiter. „Aber das war es überhaupt nicht, was ich sagen wollte. Oder fragen. Sondern: Glaubst… glaubst du an Schicksal, Jessie?“

„Was ist denn das für eine dämliche Frage?“ Ich sah ihn zweifelnd an.

„Jetzt antworte doch einfach!“

„Ist ja gut! Also, nein. Eigentlich nicht. Manchmal hab ich halt Zweifel, wenn Zufälle so besonders groß sind, darum nur eigentlich nicht. Aber im Normalfall… nein.“

„Ja, genau so geht es mir auch.“

„Und wieso fragst du dann?“

„Weil das heute so ein eigentlich war.“

„Aha.“ Mein Blick blieb zweifelnd, wurde zusätzlich aber auch noch ein bisschen fragend. „Tatsumi, ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.“

„Also, alles andere würde mir auch Sorgen machen. Aber andererseits wärst du, wenn du hellsehen könntest, vermutlich nicht so ein riesengroßer Trampel, Jessie, darum hab ich da eher meine Zweifel dran. Na, wie auch immer. Ich hab etwas für dich besorgt, aus… sagen wir, aus aktuellem Anlass. Seitdem hab ich dich nicht mehr gesehen und nichts mehr von dir gehört. Erreichen konnte ich dich auch nicht. Grad heute dachte ich, ich würd dich wahrscheinlich vor dem Schönheitswettbewerb überhaupt nicht mehr sehen. Und dann stehst du plötzlich mitten in der Nacht vor meiner Tür.“

„Du hast etwas für mich?“, fragte ich, wobei ich all seine weiteren Worte einfach ignorierte. Tatsumi betrachtete mich einen Moment lang, dann lachte er.

„Jetzt solltest du mal deine Augen sehen, Jessie. Wie ein Kind vor Weihnachten. Mädchen wollen doch wirklich immer nur Geschenke haben!“

„Halt den Mund und gib’s mir endlich!“

„Ich soll’s dir geben? Gerne!“

„Tatsumi! Du Arschloch!“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und blickte so wütend drein, wie ich eben konnte. Tatsumi lachte immer noch, stand dann aber sicherheitshalber doch auf und ging zu seinem Kleiderschrank. Ich sah ihm kritisch hinterher. „Ist da jetzt ein Liebhaber für mich drin, oder was?“

„Komm her und schau’s dir an. Ich will ihn nicht herausholen, dafür ist er mir zu schwer.“

„Der Liebhaber?“

„Genau der. Dein Liebhaber. Du wirst ihn schon bald überall auf deiner Haut spüren, weißt du? Auf deiner nackten Haut. Und jetzt komm endlich!“

Ich grummelte noch einmal, stand dann auf, wobei ich mir extra Zeit ließ, und schlenderte zum Schrank hin. Ich erwartete nichts Besonderes – na, was denn auch? Auf einen Liebhaber hatte ich gerade keine allzu große Lust, und was hätte sich denn sonst schon groß in einem Kleiderschrank verstecken sollen? Kleider vielleicht? Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diese gewagte These gekommen war, aber sie gefiel mir nicht so recht. Irgendwie sah ich’s ja schon vor mir, so einen hautengen Nuttenfummel aus Lack und Leder, dazu passende Overknees. Oder noch besser, ein Krankenschwesternkostüm. Aus Lack und Leder. Mit Overknees. Und mit einem Ausschnitt bis knapp zehn Zentimeter unter den Bauchnabel.

Gleichermaßen missmutig wie neugierig schielte ich über Tatsumis Schulter in den Schrank – und erstarrte. Da hing kein Nuttenfummel. Da hing das genaue Gegenteil eines Nuttenfummels. Es war ein Kimono, mit ganz langen Ärmeln und leicht glänzendem Stoff in einem intensiven Türkisblau. Darüber flogen weiße Vögel, Kraniche, glaube ich, außerdem zarte Wolkenbänder in Blau und Gold. Er sah einfach unglaublich aus. So etwas Schönes hatte ich davor nur im Fernsehen gesehen. Mir klappte buchstäblich die Kinnlade herunter.

„Nein“, war alles, was ich noch über die Lippen brachte.

„Doch!“, strahlte Tatsumi. „Und du wirst wunderschön darin aussehen! Du bekommst dann noch ein ganz weißes Gesicht, wir schminken dir asiatische Augen hin und malen dir schöne rote Lippen. Was glaubst du, wie du die umhauen wirst?“

„Aber… aber wieso…“

„Der Wettbewerb. Diese Performance… oder das andere. Wie hieß das doch gleich? Irgendwas mit Freestyle. Deshalb. Alles, was aus Japan kommt, ist doch gerade furchtbar in. . Mich eingeschlossen, übrigens. Ich habe diesen Kimono gesehen, und ich wusste, das ist es. Da habe ich ihn dir gekauft.“

„Aber… der muss doch unglaublich teuer gewesen sein!“

„Natürlich.“ Tatsumi nickte, aber er hätte überhaupt nicht antworten müssen. Der Kimono sah so unglaublich kostbar aus, dass ich es kaum wagte, ihn auch nur anzu sehen. „Glaubst du, ich kauf dir irgendeinen verwestlichten Billig-Yukata? Also, wenn schon, denn schon!“

„Nein!“ Ich wich demonstrativ einen Schritt vor dem Kunstwerk aus Stoff zurück. „Tatsumi, ich kann das nicht annehmen. Das Ding hier kostet wahrscheinlich mehr, als ich in meinem Leben jemals an Geld besessen habe!“

„Er hat weniger gekostet, als ich von meinen Eltern in einem Monat nachgeschmissen bekomme.“

„Ich… ich will aber keine… keine… Spenden… Spendendinger von dir!“

„Das ist kein Spendending, Jessie!“ Jetzt verschränkte Tatsumi seine Arme vor der Brust. „Das ist ein Geschenk. Es ist ziemlich unhöflich, ein Geschenk nicht anzunehmen.“

„Aber…“ Ich schüttelte noch einmal meinen Kopf. Langsam. Mit Nachdruck. Sah Tatsumi finster an, mit einer unbeugsamen Härte in den Augen. Stemmte beide Hände in die Seiten. Und merkte währenddessen, wie es um meine Mundwinkel zuckte. Wie sich meine Lippen ganz ohne mein Zutun zu einem Lächeln verzogen. Dann zu einem Strahlen. Und dann stieß ich einen leisen Schrei aus und warf mich Tatsumi um den Hals. „Mein Gott, wie geil! Wie nur geil! Danke! Danke, danke, danke!“

„Bitte! Bitte, bitte, bitte!“, stimmte Tatsumi in mein Lachen ein. „Und was bekomme ich dafür?“

„Hey! Für ein Geschenk kriegt man nichts zurück!“, erwiderte ich empört, aber ich strahlte dabei immer noch. Dann sprang ich zwei-, dreimal in die Luft und drückte Tatsumi anschließend einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er sah mich ein bisschen enttäuscht an, und so küsste ich ihn eben außerdem noch auf die Lippen, wenn auch nicht weniger flüchtig. Er nickte trotzdem einigermaßen zufrieden. Und in diesem Augenblick verstand ich, dass ich meine größten Probleme gelöst hatten. Sagen wir, meine momentan größten Probleme. Freestyle-Walk und Performance. Die Worte kreisten immer noch durch meine Gedanken, aber jetzt ängstigten sie mich nicht mehr so sehr. Ich war bereit, mich dem Feind zu stellen. Der Tag, der hinter mir lag, war die Hölle gewesen. Und die Tage davor wie ein böser Traum. Aber jetzt hatte ich es geschafft.

Ich hatte mich von meinen Fesseln gelöst und konnte es kaum mehr erwarten, in die große Schlacht zu ziehen.
 

In der folgenden Nacht habe ich wieder nicht geschlafen. Das tat ich aber freiwillig. Oder freiwillig nicht. Tatsumi und ich haben irgendwie beschlossen, uns einen Horrorfilm anzusehen, und dann kam ein Film zum anderen, bis es wieder hell war. Das merkten wir aber gar nicht. Wir hatten den Rollladen runtergelassen und so das Zimmer abgedunkelt, dass es unheimlicher war. Irgendwie haben wir trotzdem die meiste Zeit gelacht. Ich konnte keinen Film mehr ernst nehmen. Jeder Regisseur hätte uns dafür erschlagen, aber ich hatte so viel Spaß wie schon lange nicht mehr.

Wir frühstückten nicht, sondern holten uns alles Mögliche auf das Zimmer. Den Rinderbraten vom Vorabend. Surimi-Stäbchen. Sushi zum Selberauftauen. Müsliriegel. Alle mögliche Schokolade. Tortillachips mit Dip. Eis. Es war ein furchtbares Durcheinander und am Ende war mir ganz schlecht davon, aber Spaß machte es mir trotzdem. Ich aß genüsslich, was mir gerade unter die Finger kam, während auf dem Bildschirm vor uns Menschen gehäutet und zersägt wurden. Ich merkte überhaupt nicht, wie die Zeit verging. Müde wurde ich diesmal nicht, nur ein bisschen schläfrig ab und zu, und dann weckte mich Tatsumi meist recht schnell wieder auf. Indem er mir einen Tropfen Eis in den Ausschnitt laufen ließ, beispielsweise.

Warum ich das alles schreibe? Nicht, um sie zu schockieren. Es war eine wunderschöne Nacht, die gar nicht mehr aufhörte, und auf eine Weise hat mich diese Nacht nach den Ereignissen des vergangenen Tages gerettet. Es war ein kurzer Rückzug aus der Wirklichkeit, aber mit dem Wissen, dass es genau das, ein Rückzug war. Kein Selbstbetrug also, sondern einfach nur gedankenlose Erholung, bevor es dann galt, in den Krieg zu ziehen. Man kann das nicht… na, beispielsweise mit dem Flug auf den Schwingen meines Chaosengels vergleichen. Das Besondere dieses Erlebnisses war gerade seine selbstverständliche Normalität. Es waren einfach ein paar glückliche Stunden, für die ich wirklich dankbar bin.

Ach, um es kurz zu machen: Ich habe völlig die Zeit vergessen. Und das Datum. Und überhaupt alles. Tatsumis Zimmer war an sich zwar furchtbar, aber mit dem überall verteilten Essen, den gestapelten DVDs und der künstlich geschaffenen Dunkelheit war es für mich trotzdem ein wunderbarer Zufluchtsort. Außerdem vergaß ich keine Sekunde lang, dass da hinter mir im Schrank das so ziemlich Schönste hing, was jemals aus Stoff gefertigt worden war. Es war einfach alles in allem ein tolles Gefühl, und ich hatte absolut keine Lust auf mein unterkühltes, zugiges, aufgeweichtes Zimmer mit einer deplaziert wirkenden Japanflagge über dem Fenster. Abgedunkelt war’s dort zwar auch, aber das machte es ganz bestimmt nicht besser.

Als ich dann doch wieder ging, dämmerte es schon. Ich umarmte Tatsumi zum Abschied, wir einigten uns einvernehmlich auf Trägheit und Völlerei – für beide von uns – und ich wagte mich dann, mit einem geliehenen Regenschirm bewaffnet, auf den Weg nach Hause. Ich war ganz entspannt, obwohl ich wieder fror, weil Mums Kleidung in der vergangenen Nacht zwar trocken, aber leider auch nicht dicker und wärmer geworden war. Wobei das Wort frieren seit dem gestrigen Tag für mich sowieso eine vollkommen neue Bedeutung bekommen hatte.

Erst, als ich aus einer kleinen Seitengasse in die Straße vor unserem Haus trat, bemerkte ich meinen Fehler. Dass ich nämlich etwas vergessen hatte, etwas unheimlich Wichtiges sogar. Etwas mit großen blauen Augen und verstrubbelten dunklen Haaren. Das Wetter war immer noch schlecht – ein perfekter Tag für einen Kinobesuch, für unseren Kinobesuch. Es war absurd, dass ich nicht mehr daran gedacht hatte. Stattdessen hatte ich mir mit einem selbstverliebten Aufreißer schlechte Horrorfilme angesehen, einen nach dem anderen, und das auch noch auf einem mickrig kleinen Fernsehbildschirm. Ich kam mir vor wie eine Ehebrecherin.

Was mir zuerst auffiel, war übrigens, dass Mikes Haare nicht mehr so zerzaust waren wie sonst. Sie waren pechschwarz und klebten ihm in welligen, tropfenden Strähnen im Gesicht. Seine Lippen waren schon ein bisschen blau geworden. Er musste verdammt lange da im Regen gestanden und gewartet haben. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mum nicht da war oder ihm einfach nicht geöffnet hatte. Mike ging vor dem Haus auf und ab und rieb sich die Hände, aber offensichtlich wärmte ihn auch das nicht. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Seine Augen suchten mich gerade an einem anderen Ende der großen Straße.

Einen Moment lang hielt ich den Atem an. Dann machte ich meinen Regenschirm wieder zu, duckte mich und machte zwei große, möglichst lautlose Schritte nach vorne. Mike drehte sich um. Ich ging hastig hinter einem parkenden Auto in Deckung. Mein Herz schlug so schnell, als ob es jeden Moment zerplatzen würde. Meine Handinnenflächen waren feucht, und zwar nicht nur vom Regen. Ich drückte mich gegen den dunkelroten Autolack und zog die Schultern hoch. So wurde ich zwar wieder nass, aber das war momentan zweitrangig. Da stand Mike vor meiner Tür, im strömenden Regen, und er wartete auf mich. Dieser Gedanke war mehr, als ich ertragen konnte.

Meine Augen fixierten den Asphalt vor meinen Fußspitzen. Ich wünschte mir, dass er weggeht. Ich wünschte es mir, so fest ich nur konnte. Es war ganz und gar unmöglich, ihm jetzt zu begegnen, ihm in die Augen zu sehen… mit ihm zu sprechen. Fragen zu beantworten. Seinen Blick zu erwidern. Ich wollte mich am liebsten schlagen, aber das hätte möglicherweise Geräusche gemacht, also ließ ich es bleiben. Er durfte mich nicht bemerken. Er sollte gehen, er sollte wütend sein, er sollte sich am liebsten nie mehr wieder bei mir melden. Das hatte ich verdient. Und dann musste ich wenigstens nichts erklären. Eine gerechte Strafe und obendrein die einfachste Lösung. Das war zwar feige, aber ich wünschte es mir trotzdem.

Der Regen hörte nicht auf. Es dauerte knapp eine Viertelstunde, bis ich schon wieder ganz nass war. Ich rieb mir die Hände an den Oberarmen. Dann ging ich auf die Knie, beugte mich ganz weit nach vorne und spähte unter dem Auto hindurch. Ich sah keine Beine mehr vor der Tür, aber mein Sichtfeld war auch ziemlich begrenzt. Also wagte ich es eben und erhob mich wieder, ganz langsam, mit angehaltenem Atem. Mir war, als ob ich mich nur um Zentimeter nach oben bewegen würde. Das Plexiglasfenster des Wagens kam immer näher. Mir fiel ein, dass mein Kopf schon im Fenster zu sehen sein würde, bevor ich selbst in der Position war, um nach Mike Ausschau halten zu können. Falls er denn noch da war. Diese Erkenntnis beunruhigte mich. Obwohl es eigentlich natürlich Blödsinn war. Bei diesem Regen würde vermutlich nicht mal ich etwas von ihm erkennen. Aber Angst hatte ich trotzdem.

Tatsächlich sah ich durch die Scheibe hindurch nur ziemlich verschwommen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich auf unser Haus blickte, hätte ich’s vermutlich überhaupt nicht erkannt. Die Gestalt, die vor diesem Haus auf- und abging, erkannte ich aber trotzdem sofort. Es war irgendwie schon wieder grausam. Ich sagte mir, dass Mike nicht ewig da stehen konnte. Dass er jetzt schon mehrere Stunden lang auf mich wartete, dass er fror, dass er unheimlich wütend sein musste. Das redete ich mir ein, wie eine Beschwörungsformel, während ich mich wieder hinter das Auto duckte. Ich legte meinen Kopf auf die Knie und wartete weiter.

Nach einer Dreiviertelstunde gab ich auf. Die Kälte und die Nässe waren einfach zuviel für mich. Am Anfang hatte ich nur so in etwa alle fünf Minuten nachgesehen, ob Mike endlich verschwunden war. Am Ende hielt ich es kaum mehr als ein paar Sekunden aus, bis ich wieder durch das Autofenster spähte. Dann ergab ich mich. Meinen Schirm fest umklammert, schlich ich wie ein geprügelter Hund… oder wie ein begossener Pudel zur Gasse zurück. Lehnte mich gegen die nasse Hauswand und atmete tief durch. Hoffte auf ein Wunder, dass Mike wenigstens jetzt noch abhauen würde. Und ging dann möglichst wenig panisch auf das Haus zu. Am liebsten wäre ich entweder gestorben oder im Boden versunken. Oder erst das eine, dann das andere. Oder einfach gleich beides auf einmal. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich tun sollte, also ging ich einfach nur langsam weiter. Dann sah mich Mike.

Er strahlte.

Ganz ehrlich, dieses Bild werde ich im Leben nicht mehr vergessen. Er sah mich an, als ob ich der Engel wäre und nicht er. Dann lief er auf mich zu, durch den Regen und die Pfützen hindurch, und umarmte mich. Einfach so. Ohne ein Wort zu sagen. Mein Kopf lag an seiner Brust, die genauso nass war wie ich. Und wie der Regen, der auf uns hinabfiel. Ich verstand ihn auch so, ich verstand einfach alles, ohne dass er einen Ton über die Lippen brachte. Ich hörte, wie sein Herz schlug. In diesem Moment stiegen mir Tränen in die Augen. Ich konnte gar nichts dagegen machen. Der Regen wischte sie sofort wieder weg. Da war einfach überall Wasser.

„Du bist ganz nass“, sagte Mike irgendwann, nach einer Ewigkeit. Er lächelte, während ihm die Tropfen über das Gesicht liefen.

„Du auch“, erwiderte ich genauso leise wie er.

„Ich weiß“, nickte er, während sein Lächeln zu einem Grinsen wurde. „Aber du hast einen Schirm.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also lachte ich einfach nur. Es war ein tödlich verlegenes Lachen, und das musste er auch bemerken, aber er sagte nichts dazu.

„Ähm… ziemlich kalt hier draußen, findest du nicht? Sollen wir… nach oben gehen?“

Ich hätte mich für diese Worte schon wieder schlagen können. Nach oben gehen. Tolle Idee. Ich sah es bildlich vor mir, wie Mike in unsere schäbige kleine Wohnung kam. In die Küche, in der sich das schmutzige Geschirr stapelte, in der vermutlich immer noch Scherben und Gewürze auf dem ganzen Boden verteilt waren. In mein winziges Zimmer, das vom Regen verwüstet war, mit diesem wunderschönen verhangenen Fenster. Am Ende lag noch Mum zugedröhnt auf ihrem Bett. Oder daneben. Oder im Bad. Oder wo auch immer. Die Vorstellung war fast schon wieder komisch.

„Nichts lieber als das“, strahlte Mike. Sah mich an. Und zauberte dann einen ganz hinreißend entschuldigenden Ausdruck auf sein Gesicht. „Aber… ich muss jetzt eigentlich heim. Ich wollte nur kurz bei dir vorbeischauen. Bist du mir böse, wenn ich gleich wieder gehe?“

Darauf konnte ich erst mal nicht mehr antworten. Ich starrte Mike nur an, weil mir einfach die Worte fehlten. Nicht genug damit, dass er offensichtlich meine Gedanken lesen konnte. Da hatte er stundenlang auf mich gewartet, war im Regen gestanden, völlig durchnässt und durchgefroren, und jetzt fragte er nicht einmal nach einem warmen Tee oder ein paar Minuten im Warmen. Ich schaffte es auch nicht, ihm das anzubieten. Ich schaffte es nicht, und das sah er ganz genau. Dabei strahlte er mich an, als ob es so in Ordnung wäre. Er hatte sich den ganzen Tag lang vor meinem Haus nassregnen lassen, für eine Umarmung und ein paar belanglose Worte, und trotzdem strahlte er mich so an, obwohl ich ihn einfach vergessen hatte.

Ich war schon wieder kurz vorm Heulen.

„Dann ist ja gut“, beantwortete sich Mike seine Frage einfach selbst. „Wir sehen uns dann Morgen im Kino. Wir haben uns für die Vorstellung um 14.35 Uhr verabredet, richtig?“

Ich nickte. Mehr brachte ich jetzt nicht mehr zustande.

„Alles klar, Jessie. Dann bis Morgen!“

„Bis Morgen“, flüsterte ich. Mike zwinkerte mir noch einmal zu, dann drehte er sich um und schlenderte davon. Ich sah ihm lange hinterher, obwohl ich dabei noch nasser wurde. Das war mir ganz egal. Was ich da eben erlebt hatte, hatte mich auf eine Weise berührt, die ich davor noch nicht einmal gekannt hatte. Ich stand ein bisschen neben mir, als ich die Tür unten aufschloss. Ich ging in den Treppenflur des Hochhauses, und ich war dabei in einem Zustand, der weder glücklich noch traurig war, sondern irgendwo dazwischen… oder vielleicht beides auf einmal.

Warum ich ausgerechnet jetzt noch in den Briefkasten sah, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich hatte keinen Grund dazu und war absolut nicht in der Stimmung für so eine banale, überflüssige Aktion. Wer schickte mir und Mum denn schon Briefe? Die Stadtwerke vielleicht, na toll. Und wen interessierte das überhaupt, nach diesem Tag… nach diesen Minuten?!

Vielleicht war es eine Art Vorahnung. Jedenfalls fand ich im Briefkasten zwei Dinge: Einen Werbeprospekt von einem großen Supermarkt in der Nähe. Und einen Zettel. Der Prospekt teilte mir mit, dass 250g Hackfleisch diese Woche nur 99 Cent kostete. Und dass es jetzt Waschmittelaktionspackungen mit 25 % mehr Inhalt zum gleichen Preis gab. Der Zettel war mit einer auffallend sauberen Handschrift beschrieben. Darauf standen genau sieben Worte:

„Ich weiß, wer du bist, Jessica Maguire.“
 

Ende des sechsten Teiles



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2007-07-13T19:37:05+00:00 13.07.2007 21:37


NEIIIIIIIIIIIIINNN ich brauch mehr!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! (grad fertig gelesen -schluchz)
bitte schreib weiter
bittebittebitte
Von: abgemeldet
2007-07-13T17:40:14+00:00 13.07.2007 19:40

hab grad erst bemerkt, dass du weitergeschrieben hast ^^"
hatte die hoffnung schon aufgegeben -snief
DANKE!




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