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Levitation

von

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Akte 1/ Prelude eines neuen Morgens

Soooo, endlich!!! ^.^ Es hat ewig gedauert, bis ich dieses Kapitel hochladen konnte... obwohl ich's schon lange geschrieben hatte... aber mir fehlte der Name für das Etwas, das jetzt Maze heißt. Vielen, vielen Dank für den Namen, Marron! Und danke dir, Chris, dass du dir nur für meine Story den Kopf zerbrochen hast! *knuddl* Naja... in diesem Kapitel passiert noch nicht sooo viel, aber das wird sich sehr bald ändern... was erwartet man, wenn Yu-kun eine Sci-Fi-Mistery-Story schreibt? ^_^ Diese Story liegt mir wirklich sehr am Herzen, also bin ich jedem dankbar, der's liest... ich liebe die Charas (auch die, die erst noch kommen...) und den Planeten und einfach alles! *smile* Na dann... wie immer Grüße an meinen Chris und natürlich Marron, Tía und Picco!!! Und an alle, die das lesen...
 

Es war vollbracht.

Ihre Hände zitterten vor Aufregung, ihre Augen waren von einem Glanz erfüllt, als ob sich der ganze Sternenhimmel in ihnen reflektieren würde. Beinahe ehrfürchtig strichen ihre Finger über das kalte Metall, das in dem grellen Neonlicht stahlblau glänzte. Wie der Nachthimmel, dachte sie, nur noch viel blauer. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, so liebevoll wie das Lächeln einer Mutter, die ihr neugeborenes Kind betrachtete. Ihr Baby, oh ja, und wie wunderschön es war! Sie strich sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel und lief in die andere Ecke der Lagerhalle. Der Weg war weit und führte durch einen Wald aus alten Kisten, deren dunkles Holz mit zerrissenen, verbleichten Firmenlogos beklebt war, aus rostigen Metallrohren, Öfen, Maschinenteilen und Schatten. Doch jeder einzelne Schritt wurde belohnt von dem schönsten Anblick, den ihr tristes junges Leben ihr jemals geboten hatte.

Sie konnte es sehen, ihr Werk. In voller Pracht, in voller Größe stand es in der Ecke, so klein und zierlich, beinahe zerbrechlich. Tödlich. Ihre Augen streiften den stählernen Körper, ähnlich dem eines Menschen, aber ungleich vollendeter, perfekter. Noch hielt es seinen Kopf gesenkt, starrte aus zwei schwarzen Löchern auf den staubigen Boden, ausdruckslos, leer. Aber sie wusste, es würde laufen, gehen, rennen, springen, es würde kämpfen, es würde töten, es würde Leben retten... es war perfekt! Es war Alles, ihr Baby... ihr Lebenswerk.

Jetzt musste sie nur noch lernen, es zu kontrollieren.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall hinter ihr. Die Türe, die große Metalltüre war ins Schloss gefallen. Ein eiskalter Hauch huschte in die große Lagerhalle hinein, ließ die Stille und das Neonlicht gefrieren. Schritte ertönten. Eine Gestalt schlurfte in den staubigen Raum hinein, von dessen Decke ein Baldachin, gewoben aus schneeweißen Spinnweben hinabhing. Die Kälte wich nicht wieder. Vor dem Mund des Eindringlings wurde der Atem zu einer nebligen Wolke.

"Aya, wo bist du?" Zwei kleine, tief in den Höhlen liegende Augen suchten den Raum ab wie der Zielsensor einer Selbstschussanlage. "Ich weiß, dass du hier bist, also versteck dich nicht!"

"Ich verstecke mich nicht!" Sie trat aus dem Schuttwald hervor, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Neonlicht spiegelte sich auf ihren Brillengläsern, sodass man ihre Augen nicht sehen konnte. "Ich arbeite! Schau, was ich gebaut habe, Daddy!"

Der Mann hob den Kopf, ein Kopf, dem man noch ganz weit entfernt den gebildeten Wissenschaftler vergangener Tage ansehen konnte. Allerdings standen die Haare nun wild nach allen Seiten ab, anstatt zu einer typischen, nahezu klischeehaften Intellektuellenfrisur bis in die Spitzen gestylt das kluge Gesicht einzurahmen. Von der Professorenmiene früherer Zeiten war ein aufgedunsenes, gerötetes Rund übriggeblieben, das eher an einen deformierten Tierschädel als an ein menschliches Antlitz erinnerte.

"Du hast... oh gütiger Gott..." von einer Sekunde auf die andere erstarrte der Schlurfende in seiner trägen Bewegung. Sein Blick fixierte den blitzenden Körper des stählernen Wesens, das immer noch ausdruckslos zu Boden starrte.

"Schau nur, was ich gebaut habe, Daddy!!!" Das Mädchen lachte und hüpfte auf ihr eben vollendetes Werk zu. Liebevoll legte sie dem Schlafenden einen Arm um die metallenen Schultern. "Ist er nicht toll? Noch ein paar letzte Schliffe in der Programmierung, dann wird mein Kleiner hier laufen. Und warte nur, bis du seine Kampffähigkeiten siehst! Sein Ausweichsystem arbeitet absolut präzise, und die Zielschussvorrichtung erst, oooh, und die Hochgeschwindigkeitsbeschleunigung, aber vor allem..."

Weiter kam sie nicht, denn im nächsten Augenblick hatte der schlurfende Mann sie gepackt und von ihrem Baby weggerissen. Seine Faust hatte sich fest wie Schraubstock um den Kragen ihres Hemdes geschlossen und nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen. Er hob seinen Arm ein wenig an und sie spürte, wie ihre Füße den Kontakt mit dem Boden verloren.

"Was hast du getan? Was hast du nur getan?!?"

"Aber Daddy, ich dachte, du freust dich! Weißt du es denn nicht? Es sind deine Forschungen, die ich als Grundlagen für meine Pläne benutzt habe! Es ist dein Werk, ich habe es nur vollendet! Jetzt wirst du berühmt, jetzt wirst du wieder berühmt, Daddy!!!" Sie lachte, und das Geräusch wurde wie ein geisterhaft verzerrtes Echo von den nackten Wänden zurückgeworfen.

"Wie konntest du das nur tun, du kleines Miststück?" Er holte mit der rechten Hand weit aus und schlug seiner Tochter ins Gesicht. Ihr Kopf wurde zur Seite geworden, mit einem erschrockenen Klappern fiel ihre Brille auf den kahlen Steinboden. "Begreifst du eigentlich, was du da angerichtet hast? Weißt du denn nicht, warum ich die Forschungen abgebrochen habe?!?" Seine Faust verirrte sich ein weiteres Mal höchst unsanft in das Gesicht des Mädchens. Sie schluchzte leise.

"Warum bist du denn so wütend?" Ihre großen Augen waren eine einzige Frage. "Ich wollte doch nur, dass du stolz auf mich bist! Ich weiß, deine Aufzeichnungen hatten Fehler, aber die habe ich korrigiert und jetzt ist alles viel besser! Glaub mir, unsere Erfindung ist perfekt! Wirklich, Daddy!!!"

"Unsere Erfindung? Es... es ist meine Erfindung!!!" Er keuchte und eine Wolke alkoholisch riechenden Atems raubte dem Mädchen für einen Augenblick die Luft.

"Aber du... du hast nie geschafft, dass..."

"Ich weiß es, verdammt noch mal!!!" Der Mann brüllte nun, sein Haar fiel ihm wirr in die schweißnasse Stirn. Er schlug ein paar Mal auf seine Tochter ein, dann beugte er sich japsend nach vorne. "Wie konntest du nur, wie... wie konntest du nur..."

Er warf den zitternden, kraftlosen Körper in seiner Hand achtlos auf den kalten, staubigen Boden. Seine Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert, er ging nicht mehr, er torkelte. Seine großen roten Pranken griffen nach einem der Metallrohre, die in der alten Lagerhalle verstreut lagen. Für einen Augenblick schien es, als könne er ihn nicht aufheben, als würde er unter dem Gewicht zusammenbrechen, vornüber kippen, aber dann fing er sich wieder und hob ruckartig den Kopf. Seine schmalen Lippen hatten sich zu einem manischen, irrsinnigen Grinsen verzogen, seine Augen waren starr auf den metallischen Körper in der Ecke gerichtet, der von den Neonleuchten angestrahlt wurde wie ein kostbares Ausstellungsstück in einem Museum.

"Na warte, du Teufel..." stieß der rotgesichtige Mann hervor. Die Adern an seinem Kopf waren hervorgetreten, Schweißperlen hinterließen feuchte Spuren auf seiner Haut.

"Daddy, bitte, nein..." schluchzte das Mädchen. "Alles, nur das nicht..."

"Halt dein Maul!!!" schrie ihr Vater und taumelte auf die nahezu beängstigend menschenähnliche Maschine zu. Das Eisenrohr ließ er bei jedem Schritt drohend in seine Handfläche niedersausen.

"Bitte..." Ihre Stimme ging in einem verzweifelten Weinkrampf unter. Der keuchende, torkelnde Mann ließ sich davon nicht beeindrucken und näherte sich stattdessen weiter dem hilflosen schlafenden Roboter in der Lagerhallenecke. Das Mädchen auf dem Boden blickte auf und nahm hinter einem Schleier von Tränen ihren Vater wahr, der bedrohlich wie ein gieriges Raubtier auf ihr Baby zuschlich.

Ihr Mutterinstinkt erwachte.

Die großen dunklen Augen des Mädchens fixierten einen kleinen schwarzen Gegenstand, der einige Meter von ihr entfernt im Staub des Betonbodens lag. Sie biss die Zähne zusammen und kroch näher auf das unscheinbare Ding zu, ihre letzte, ihre einzige Rettung. Sie durfte jetzt kein Geräusch von sich geben, auch wenn ihr Körper wie verrückt schmerzte und ihr Kopf sich so anfühlte, als wäre er auf das doppelte Volumen angeschwollen, wie ein riesengroßer roter Luftballon. Noch dazu konnte sie ihre ganze Umgebung nur verschwommen erkennen, aber ihre Brille lag in unerreichbarer Ferne.

Sie hatte nur eine Chance.

Mit angehaltenem Atem streckte sie ihre Finger nach der Fernbedienung aus, die nahezu lächerlich nah, und trotzdem unendlich weit entfernt zu liegen schien. Augenblicklich fuhr ein heftiger Schmerz in ihre Seite, aber sie ignorierte ihn tapfer und robbte sich Zentimeter um Zentimeter weiter nach vorne. Ihre Fingerspitzen berührten schon das harte Plastik, bald würde sie es geschafft haben!

Da drehte sich plötzlich ihr Vater zu ihr herum.

Das Mädchen hätte am liebsten vor Enttäuschung laut aufgeschrieen, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, noch einen Ton über ihre Lippen zu bringen. Der Mann grinste, ein verrücktes, ein geisteskrankes Grinsen, während die Wut in seinen Augen flackerte. Mit seinen schlurfenden Bewegungen wirkte er selber wie eine defekte Maschine, als er langsam, behäbig auf seine Tochter zukam. Warum sollte er sich auch beeilen? Das Mädchen war hilflos und das wusste er. Er trat die Fernbedienung einige Meter von ihr weg und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren, was ihn jedoch nicht davon abhielt, ein zweites Mal zuzutreten - dieses mal jedoch in die Rippen des Mädchens. Sie wimmerte leise. Er lächelte zufrieden, hob wieder sein Eisenrohr und ging dann erneut auf die glänzende blaue Maschinengestalt zu, um sein zerstörerisches Werk zu vollenden.

Das Mädchen wusste, dass es verloren hatte. All die Arbeit war umsonst gewesen, ihr Baby würde sterben, bevor es zum allerersten Mal das Licht der Großstadt erblickt hatte, bevor es einmal seine stählernen Gelenke bewegen, seine leeren Augen gen Himmel richten konnte. Und sie würde den Tod ihres einzigen geliebten Kindes nicht verhindern können.

Oder vielleicht doch?

Was dann geschah, konnte sie später nicht mehr genau sagen. Sie handelte, ohne zu denken. Sie fühlte nicht einmal mehr, wie sie ihren geschundenen Körper straffte, ihre zitternden Arme auf den Boden abstützte und mit der Kraft der Verzweiflung die Meter bis zu der kleinen schwarzen Fernbedienung zurücklegte. Dort verebbte ihr Schwung, ihre Beine gaben ihr nach und sie stürzte zu Boden. Sie nahm keinen Schmerz mehr wahr, ihre Finger krallten sich wie mechanisch um den rettenden Gegenstand und ohne weiter zu überlegen, drückte sie auf den größten der Knöpfe, der in einem viel zu grellen Rot leuchtete.

Der Roboter hob seinen Kopf.

Seine leeren, schwarzen Augenhöhlen wurden mit einem Mal von einem intensiven Neongelb erhellt. Ein Zittern lief durch den stählernen Körper, ein erschreckend menschlich wirkendes Beben, beinahe wie das Zucken von Muskeln. Zögerlich, nahezu unbeholfen setzte die zum Leben erwachte Maschine eines ihrer blau glänzenden Beine nach vorne. Ein surrendes Geräusch ertönte, als der Roboter seine Umgebung nach Lebewesen absuchte.

Eines dieser Lebenszeichen war gerade noch mit schlurfenden Bewegungen auf ihn zugetorkelt - und schien jetzt von einer Sekunde auf die andere erstarrt zu sein. Das Gesicht des Mannes war verzerrt, jede Kontur zu einer tiefen, bebenden Furche geworden. Bäche von Schweiß liefen ihm die rote Stirn hinab und hatten ihre liebe Mühe, sich ihren Weg durch die Krater der Falten zu kämpfen. Jedes einzelne Haar seines Dreitagebartes schien wie der Schnurrbart einer Katze zu zittern. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass die glibberig weiße, von roten Äderchen durchzogene Masse um die Iris herum zu sehen war. Sein Atem ging keuchend.

Kalte, nackte Panik hatte seinen Körper befallen.

"Na... na warte, du... du..." Langsam näherte er sich dem Roboter, aber seine Bewegungen wirkten dabei, als würde er zurückweichen. Das Stahlrohr in seinen Händen hielt er drohend gegen den übermächtigen Gegner erhoben. Wie in Zeitlupe setzte er einen Fuß vor den anderen, umkreiste den blau glänzenden Körper wie ein lauerndes Raubtier. Die Sekunden schienen langsamer abzulaufen, nahezu stillzustehen.

Und dann, ganz plötzlich, machte der Roboter einen Satz nach vorne und schlug dem Schlurfenden mit einer spielerisch anmutenden Bewegung eine seiner stählernen Hände vor die Brust. Der Mann stieß ein ersticktes Keuchen aus, während sein eigentlich recht kräftiger Leib wie ein Ball durch die Luft geschleudert wurde und mit einem lauten Krachen in einem Stapel alter Kartons und Abfallteilen landete. Er gab ein Röcheln von sich und blieb für einige Minuten benommen liegen. Als langsam wieder Atem in seine Brust geströmt war und das Schwindelgefühl nachgelassen hatte, hob er mühevoll seinen Kopf und blickte sich nach seinem stählernen Gegner um.

Der Roboter hatte sich zwischen ihn und den am Boden liegenden Körper seiner Tochter gestellt. Er bewegte sich keinen Millimeter, er machte keine Anstalten zu einem erneuten Angriff. Wie ein unbezwingbarer Leibwächter hatte er sich vor das Mädchen gestellt, nicht um zu töten, sondern allein, um sie vor jeglichem Feind zu beschützen.

Der Mann rappelte sich mühsam auf. Seine Knie fühlten sich weich an wie Gummi, er war nun tatsächlich noch schwankender auf den Beinen als zuvor. In seinen Augen lag Hass, aber er sah nicht mehr den Roboter an, er blickte geradewegs in das Gesicht seiner Tochter. Er wusste, dass sie ihn genau sehen konnte, obwohl sie ihre Brille verloren hatte, und als er merkte, dass sie seinem Blick standhielt, kroch rasende Wut in seinem Körper hinauf und raubte ihm für einige Augenblicke beinahe den Verstand. Oh, wie sehr er dieses Mädchen doch verabscheute! Er wollte sie schlagen, treten, solange, bis sie sich nicht mehr bewegte, bis sie leblos und tot in seinen Händen lag und ihn nie, nie wieder so anblicken würde.

Er konnte es nicht.

Verdammt, er konnte sich ihr wahrscheinlich nicht einmal mehr nähern! Der blau glänzende Roboter stand wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen. Seine leeren, neonleuchtenden Augen schienen jeder einzelnen seiner Bewegung zu folgen, bereit, ihn jederzeit auszuschalten und seine Erschafferin, seine Mutter vor jeglichem Unheil zu beschützen.

"Du weißt nicht, was du getan hast!" stieß er hervor, und jedes Wort rammte ihm einen spitzen Dolch in seine Brust. "Du hast ein Monster geschaffen, Aya..."

Ein hysterisches Lachen entfuhr seiner Kehle. Er taumelte kraftlos, schwankend auf die Türe der Lagerhalle zu und riss sie auf. Kalter Nachtwind fuhr in den staubigen Raum hinein. Der Mann schloss den Ausgang nicht wieder, er stolperte nur kichernd in die Dunkelheit hinaus, bis seine Gestalt irgendwann in das Meer aus Neonlichtern und flackernden Straßenlaternen eintauchte und verschwand.

Das Mädchen starrte ihm noch lange nach. Sie weinte nicht mehr, ihr Blick war ebenso leer wie der ihres Roboters. Es dauerte immer noch etliche Minuten, bis sie sich langsam wieder auf die Füße quälte. Ihr Körper zitterte immer noch, aber sie wusste nicht, ob es nicht auch an dem kühlen, schneidenden Wind liegen konnte. Sie machte einige unsichere Schritte nach vorne, und sofort trat ihr metallenes Baby auf sie zu, um sie zu stützen.

Sie lächelte dankbar.

Als die beiden langsam in die Nacht hinausschlenderten, wusste sie genau, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.
 

Ein leises, enervierendes Piepsen ertönte, das nicht mehr aufhörte und zu allem Überfluss auch noch zunehmend lauter und durchdringender wurde.

Sie verzog das Gesicht.

Mit einer kraftlosen Bewegung schlug sie nach ihrem Funkwecker. Nach einigen vergeblichen Versuchen traf sie die elektronische Nervensäge und Ruhe kehrte in das Halbdunkel des Appartements ein. Sie seufzte leise und widerstand nur mit Mühe der Versuchung, sich einfach ein Kissen über den Kopf zu ziehen und in das süße Reich der Träume zurückzukehren. Die Vernunft brachte sie dazu, letztendlich doch aufzustehen. Immerhin war heute ein überaus wichtiger Tag - es war ihr erster Arbeitstag bei INFERIA.

Sie war erst vor kurzem in die Stadt namens Litonia gekommen. Litonia lag auf einem Planeten namens Attraya, dessen gesamte Oberfläche mit genau zwei Städten bedeckt war. Die andere Stadt trug den Namen Illythia, und genau dort war das Hauptgebäude von INFERIA, ein gigantischer Hochhauskomplex aus drei gläsernen Türmen, die mit unzähligen freischwebenden Gängen untereinander verbunden waren. Schon der Anblick dieser architektonischen Meisterleistung war überwältigend - ganz zu schweigen von den zahllosen wichtigen Instanzen, die sich in dem riesigen Gebäude befanden. Statistisch gesehen war jeder zweite Einwohner in ihrem Quadranten - dem Sigma-Quadranten - bei INFERIA beschäftigt: Politiker, Forscher, Wissenschaftler, Ärzte, Anwälte, gewöhnliche Fabrikarbeiter, ja sogar Fernsehstars und Musiker. Trotzdem erschien es ihr als eine unglaublich große Ehre, in den Konzern aufgenommen zu werden - vor allem natürlich deshalb, weil sie eine gar nicht unwichtige Position einnehmen sollte. Die Leitung von INFERIA hatte ihre Pläne für gut befunden und ihr ein eigenes Labor zur Verfügung gestellt. Und trotz ihrer Müdigkeit brannte sie darauf, genau dieses Labor heute kennen zu lernen.

Sie stand auf, schlüpfte in einen weißen, sehr kurzen Rock und eines jener typischen, ebenfalls weißen Oberteile, wie fast alle weiblichen Wissenschaftler sie trugen. Pfeifend lief sie vor ihren großen Spiegel, flocht sich ihr dunkelbraunes Haar zu zwei Zöpfen und setzte sich ihre Brille auf die Nase. Sie lächelte zufrieden.

"Du siehst ja richtig wichtig aus, Aya!" Sie schüttelte lachend den Kopf und ließ ihren Blick an ihren endlos langen, schlanken Beinen hinabwandern.

Fehlten nur noch die passenden Schuhe.

Hastig streifte sich ein paar weißer Stöckelschuhe über und lief dann aus ihrem kleinen Appartement hinaus, die Stufen des Hochhauses hinab - irgendjemand schien den Aufzug gerade in einem der oberen Stockwerke zu blockieren - und dann hinaus auf die Straße. Trotz der frühen Uhrzeit herrschte schon reger Verkehr in Litonias Straßenschluchten, endlose Gleiterkolonnen zogen an den Hochhausbauten vorbei. Aya seufzte und schwang sich ebenfalls in ihren Gleiter. Sie durfte jetzt nicht in einen Stau geraten, wollte sie nicht an ihrem ersten Arbeitstag zu spät kommen. Morgen, dachte sie missmutig, würde sie noch ein wenig früher aufstehen müssen, um es rechtzeitig bis nach Illythia zu schaffen.

Als sie dann jedoch die Stufen zu dem Haupteingang des INFERIA-Gebäudes hinaufstieg, war ihr Ärger beinahe schon wieder vergessen, derart großartig war der Anblick der drei gläsernen Türme. Ayas Herz schlug heftig vor Aufregung, als sie die große Vorhalle durchquerte, vorbei an Unmengen von Pflanzen, Empfangsschaltern, Sekretärinnen und Angestellten, und in einen der drei großen Aufzüge stieg. Sie atmete tief durch und drückte auf den Knopf für das dritte Untergeschoss.

Nach einigen Sekunden öffneten sich die chromblitzenden Türen wieder und gaben den Blick auf einen langen Gang frei. Der Boden war mit grauem Linoleumfußboden ausgelegt, die Wände weiß gestrichen, die Türen metallisch. Alles wirkte vollkommen steril und kalt. Die Begeisterung auf Ayas Gesicht verschwand ein wenig. Seufzend verließ sie den Aufzug. Sofort schlossen sich die Türen wieder hinter ihr. Die Dunkelhaarige atmete tief durch und ging dann langsam den Gang hinab, bog um eine Ecke und warf einem grimmig dreinblickenden Mann in einem weißen Laborkittel einen schüchternen Gruß zu.

Langsam kamen ihr Zweifel, ob sie ihre eigenen Mitarbeiter überhaupt kennen lernen wollte.

Vor einer der Metalltüren am Ende des Korridors blieb sie stehen. In einem ebenfalls silbernen Schild waren die Zahlen 3 - 17 eingraviert. Sie wusste, dies war ihr Labor. Ihr zukünftiger Arbeitsplatz, vielleicht der Ort, an dem sie in Zukunft die meiste Zeit ihres Lebens verbringen würde. Irgendetwas an dem Gedanken missfiel ihr. Sie zog ihre ID-Karte aus der Tasche und ließ sie durch den Kartenleser gleiten. Ein leiser Piepston erklang, dann fuhr die Türe zur Seite und gab den Zutritt in einen kleinen Vorraum frei. Aya trat ein und hielt ihren Daumen auf ein kleines schwarzes Feld. Erneut ertönte ein Piepsen, dann wanderte das rötliche Licht einer winzigen Kamera über ihr Auge. Einen Augenblick später öffnete sich eine weitere Türe.

Der Weg zu ihrem Labor stand offen.

Zögerlich trat Aya ein und sah sich mit großen Augen um. Von dem Gang, in dem sie jetzt stand, zweigten wiederum einige Türen ab. Die meisten waren geschlossen und wurden von Schildern als Untersuchungsraum, Computerzimmer und etliche andere, speziellere Zimmer ausgewiesen. Die Türe direkt ihr gegenüber stand jedoch weit offen. In gedämpftem Licht konnte man einen großen Aufbau, anscheinend ein Schaltpult, und etliche Computer erkennen, außerdem eine große Glasscheibe, in der sich das Licht der Elektrogeräte widerspiegelte.

Langsam ging Aya auf die Türe zu, holte tief Luft und trat dann ein.

Im nächsten Augenblick ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Aya stieß einen erschrockenen Aufschrei aus und sprang gleich wieder einen halben Meter zurück. Mit gehetzten Kopfbewegungen sah sie sich in dem Raum um - und blickte gradewegs in das grinsende Gesicht eines jungen Mannes, der ein Knallbonbon in seinen Händen hielt, aus dem ein bunter Regen aus Konfetti und feinem Glitzerstaub zu Boden segelte.

"Willkommen in ihrem Königreich, Dr., öhm..." Er beugte sich ein wenig nach vorne, um das Namensschild an Ayas Oberteil lesen zu können. "... Dr. Mitsuyuki!!!" Sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter.

"Ähm... einfach Aya, OK?" lächelte die ein wenig verlegen und musterte ihr Gegenüber erst einmal gründlich. Er konnte höchstens Mitte zwanzig sein, hatte kurz geschnittenes, pechschwarzes Haar und blitzende dunkle Augen. Sein Gesicht war recht hübsch, wenn auch nicht sonderlich auffallend, dafür aber durch und durch fröhlich und sympathisch. Dieser Eindruck kam vor allem von seinem entwaffnenden, offenen Lächeln, das Aya ihre anfängliche Scheu vor ihrem Arbeitsplatz schlagartig nahm. "Na, und mit wem habe ich die Ehre?"

"Ich? Ich bin D!"

"Ähm... Dee? Hey, so wie dieser Popstar? Ist ja cool!"

"Nee, einfach nur D. So wie der Buchstabe. D eben."

"Häh?" Aya blinzelte ihr Gegenüber reichlich verwirrt an. "Ist das jetzt ein Künstlername oder so?"

"Nein, ich heiße so." Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. "Kann man nicht ändern!"

"Hmm... ausgefallen... aber egal..." Sie schüttelte lächelnd den Kopf. "Du arbeitest schon länger hier, oder? Dann kannst du mich ja vielleicht ein wenig herumführen."

"Alles klar!" Der Schwarzhaarige grinste, zwinkerte Aya noch einmal zu und trottete dann gemächlich auf die Türe des Raumes gleich neben dem Computerzimmer zu. "Das hier ist der Raum, den man durch die Glasscheibe beobachten kann. Es ist sozusagen das... Herz dieses Labors. Hier ist deine großartige Erfindung aufgebaut, oh, ich habe schon unheimlich viel davon gehört! Du musst mir aber trotzdem unbedingt mehr davon erzählen! Nach unserer Führung, versteht sich von selbst. Komm mit."

Er ging auf eine weitere, unbeschriftete Türe zu und öffnete sie mit einer vorsichtigen, nahezu liebevoll anmutenden Bewegung. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Stolz. Im ersten Augenblick konnte Aya in dem bläulichen Halbdunkel des Raumes noch nichts erkennen, dann jedoch drückte D auf einen hellblau leuchtenden Knopf, und im nächsten Augenblick flackerten zwei Reihen von Halogenlampen an der niedrigen Decke auf und tauchten eine merkwürdige Röhrenkonstruktion in helles Licht. Das Ding vor ihnen hatte eine etwa menschengroße Öffnung und war mit Unmengen von Kabeln und Drähten verbunden, die wiederum zu einer Vielzahl von Monitoren und medizinisch anmutenden Gerätschaften führten. Aya riss ihre Augen weit auf.

"Wahnsinn!" stieß sie mit einem Ausdruck der Verzückung hervor. "Ihr seid mit dem Maze verbunden?!? Wow!"

"Yo, natürlich!" D lachte. "Es gibt nichts Praktischeres! Wir wickeln so Geschäfte ab und kümmern uns auch sonst um alles Mögliche. Ohne Maze läuft doch heutzutage gar nichts mehr..."

Aya musterte nachdenklich die silbern glänzende Röhre. Sie hatte schon viel vom Maze gehört, mehr aber auch nicht. Die meisten Firmen schreckten davor zurück, dieses Medium einzusetzen, da eine Vielzahl von Risiken damit verbunden war und man haufenweise schreckliche Geschichten über tödliche Unfälle und schlimmere Dinge mit dem Namen verband. Eigentlich hatte D Recht - das Maze war fantastisch. Es ähnelte dem Internet, allerdings bewegte man sich mit seinem Geist darin fort. Eine Art holografisches Abbild seiner Selbst bewegte sich auf zahllosen Lichtbahnen, die einen zu unzähligen Türen brachten. Dahinter konnte sich alles verbergen - eine Art virtueller Konferenzraum, eine gigantische Shopping Mall, ein Vergnügungspark, der Himmel, aber auch die Hölle. Es bedurfte einer langen, schwierigen Ausbildung, bevor man sich im Maze zurechtfand, danach jedoch waren die Möglichkeiten in der Tat unbegrenzt. Die Risiken aber auch, denn trotz aller Erfahrung gab es immer wieder Fälle von Menschen, die sich in dem wundersamen Dschungel verirrt hatten und nie mehr zurückgekehrt waren, deren Körper nur noch als leere Hüllen in der realen Welt weiterexistierten, während der Geist für alle Ewigkeit ruhelos über den riesigen Rummelplatz der Lichtbahnen irrte.

Aya erschauderte.

"Das ist doch gefährlich! Habt ihr hier überhaupt jemanden, der sich im Maze zurechtfindet?"

"Aber sicher doch!" lachte D und deutete mit dem Daumen auf sich selbst. "Weißt du, ich habe schon als kleines Kind davon geträumt, diese Kunst zu erlernen. Eigentlich ist es gar nicht soooo schwer, wie man immer denkt. Wie bei allen Dingen - es kommt einfach nur auf die Übung an."

"Ach ja, du hast natürlich Recht!" Aya winkte ab. "Vollkommen ungefährlich! Ich meine, was macht's denn, wenn man sich in diesem Psycho-Netz verirrt und nie wieder herausfindet? Oder, noch besser, wenn man durch einen Schock oder ein unvermutetes Geräusch zu schnell daraus auftaucht und der Körper das nicht verkraftet, die Inneren Organe versagen, man einen qualvollen Tod..."

"Hey, ist ja gut!" unterbrach D sie lachend und fuhr sich durch sein kurzes schwarzes Haar. "Hast du schon mal die statistischen Risiken einer interplanetaren Reise durchgelesen? Eben! Sterben kann man immer und überall, und wenn man vorsichtig ist, dann passiert einem auch im Maze nichts. Viele Leute nehmen sogar Drogen und anderes abgefahrenes Zeug, um leichter eintauchen und nicht so schnell wieder aufwachen zu können. Es ist eben wie bei einem Taucher - wenn er zu tief in den endlosen Ozean ein- und zu schnell wieder auftaucht, dann stirbt er. No Risk, no Fun. Und statistisch gesehen sterben die meisten Menschen ja sowieso im Bett!"

"Dich kann wohl nichts erschüttern, oder?" Aya stieß D mit dem Ellenbogen in die Seite. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, den jungen Mann schon seit einer halben Ewigkeit zu kennen. Aya kam eigentlich mit den meisten Menschen gut aus, aber der Schwarzhaarige war ihr ganz besonders sympathisch und sie wusste schon jetzt, dass sie mit ihm bestimmt keine Probleme haben würde. Wenn alle ihre zukünftigen Mitarbeiter genauso nett sein würden, dann liebte sie ihren neuen Job schon jetzt!

"Erschüttern? Mich? Nö!" D legte ein breites Grinsen auf und zwinkerte Aya verschwörerisch zu. "Aber offen gesagt, als Angestellter von INFERIA Technologies muss man auch hart im Nehmen sein... nicht, dass ihr dir jetzt irgendwie Angst machen will oder so etwas... Hey, kuck nicht so! Eigentlich ist es ganz OK hier! Na komm, du willst doch bestimmt noch den Rest deines Königreiches bewundern, oder?"

Und ob Aya das wollte! Mit unverhohlener Neugierde ließ sie sich von dem jungen Schwarzhaarigen durch ihr erstes eigenes Labor führen - und was sie sah, übertraf all ihre Erwartungen. Jedes kleinste technische Gerät entsprach dem allerneusten Standart, ebenso die Medikamente in der medizinischen Abteilung. Es war einfach alles ein wenig teurer und exklusiver als sie es in den bisherigen Laboren gesehen hatte, und abgesehen davon gab es hier unten wirklich alles, was man für ihre Arbeit eben brauchte. Aya war überwältigt. Mit jedem neuen Raum, den D ihr zeigte, konnte sie ihren ersten richtigen Werktag weniger erwarten.

Die ausgiebige Führung endete vor einem kleinen Zimmer mit weiß gepolsterten Wänden, von denen eine durch eine mannshohe, verspiegelte Glasscheibe durchbrochen war. D legte seinen Daumen auf das Sicherheitsschloss an der Türe, ließ dann geduldig sein Auge scannen und zog zuletzt noch seine ID-Karte durch den dafür vorgesehen Schlitz. Ein hoher Piepston erklang und im nächsten Augenblick schob sich die massive Stahltüre mit einem tiefen Surren zur Seite.

"Wow! Das nenne ich Sicherheitsmaßnahmen!" raunte Aya und trat einen Schritt in den leeren Raum hinein. "Wofür ist das hier gut? Ich meine... mal abgesehn davon, dass man noch mal diese ganzen identitätsfeststellenden Maßnahmen runterleiern muss und es Innen keine Möglichkeit gibt, die sicherlich atomstrahlungssichere Türe zu öffnen... das sieht ja aus wie in einer Klapse!!!"

"Gut beobachtet, Chefin!" grinste D. "Das ist heutzutage Pflicht, in jedem Labor einen vollkommen abgesicherten Raum - nenn es von mir aus ruhig Gummizelle - zu haben, denn... nun ja, manche unserer Methoden und Versuche, die auch die menschliche Psyche beeinflussen, können natürlich auch schief gehen. Oft passiert das nicht, eigentlich fast nie, aber wenn... dann mit fatalen Folgen. Anscheinend sind da in der Vergangenheit schon einige unschöne Dinge passiert und deshalb will die oberste Leitung kein Risiko mehr eingehen. Aber mach dir mal keine Sorgen, wir werden das Ding wahrscheinlich eh nie im Leben brauchen, also verlassen wir diesen unheiligen Ort am besten gleich wieder."

"Gerne!" Aya hatte es mit einem Mal sehr eilig, aus der Zelle wieder herauszukommen. Das kalte Neonlicht warf harte Schatten an die blendend weißen Wände. Der Dunkelhaarigen liefen bei dem Anblick des kleinen Raumes kalte Schauer über den Rücken. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass man in dieser bloßen Sicherheitsmaßnahme eine mittelschwere atomare Rakete zünden konnte, ohne dass die feinen Herren in den oberen Etagen auch nur ein winziges Beben auf der Oberfläche ihres Morgenkaffees bemerken würde. Irgendetwas gefiel ihr nicht an diesem Gedanken.

"Hey, stimmt irgendetwas nicht?" fragte D und blinzelte die junge Wissenschaftlerin mit seinen dunklen Augen fragend an.

"Nein, wieso?" fragte diese und zuckte mit den Schultern. "Mir gefällt die Zelle nicht, das ist alles. Ich möchte darin nicht eingesperrt sein..."

"Warum solltest du?" lachte der Schwarzhaarige. "Wenn du nicht dazu neigst, ab und an durchzudrehen und deine Mitarbeiter zu erschießen, hast du zumindest von meiner Seite nichts zu befürchten! Aber... jetzt musst du mich noch einmal entschuldigen, so leid es dir wahrscheinlich tun wird... ich hab noch ein paar Dinge zu erledigen. Am besten siehst du dir noch einmal alles in Ruhe an."

"Ist OK, das werde ich sogar richtig gerne tun!" nickte Aya dem jungen Mann lächelnd zu. "Ich will dich ja nicht aufhalten! Wir sehen uns dann... und wehe dir, du kommst morgen nicht pünktlich zur Arbeit! Dann drehe ich nämlich wirklich durch und du wirst sehen, keine Hochsicherheitsgummizelle der Welt kann mich in so einem Fall noch bremsen!!!"

"Alles klar!!!" D hob zum Abschied die Hand und lief dann mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht aus dem kleinen Labor hinaus.
 

Aya schlenderte mit großen Augen durch ihr unterirdisches Reich und erkundete neugierig jedes kleinste Detail ihrer neuen, wunderbaren Umgebung. Sie fühlte sich wie in ihre Kindheit zurückversetzt. Es war dieselbe übermütige Begeisterung, die sie damals beim Anblick ihrer ersten funktionstüchtigen Erfindungen gespürt hatte. Sie war durch und durch zufrieden. Ihr Job war einfach großartig!

Gerade war sie dabei, den Körperscanner im medizinischen Raum zu untersuchen, als sie plötzlich etwas Kaltes, Münzgroßes in ihrem Nacken spürte.

Erst einen Augenblick später begriff sie, dass es der Lauf einer Schusswaffe sein musste.

"Drehen sie sich langsam um! Keine Dummheiten, sonst erschieße ich sie auf der Stelle, haben sie das verstanden?"

Aya lief ein eisiges Zittern über den Rücken. Dies war die kälteste, emotionsloseste Stimme, die sie jemals in ihrem Leben gehört hatte. Allein ihr Tonfall ließ nicht den mindesten Zweifel daran, dass der Fremde hinter ihr tatsächlich ohne mit der Wimper zu zucken abdrücken und ihr eine Kugel durch das Genick jagen würde. Im Geiste hörte sie schon den gedämpften Knall und das Splittern von Knochen, während sie sich im Zeitlupentempo auf der Stelle drehte.

"Dies... dies muss ein Missverständnis sein!" entgegnete sie schüchtern. "Ich bin Dr. Aya Mitsuyuki, mir... mir gehört dieses..."

Sie verstummte unweigerlich, als sie in das Gesicht des jungen Mannes blickte, der mit gezückter Waffe vor ihr stand. Der Blick seiner eiskalten, hellblauen Augen raubte ihr für einen Moment die Stimme. Sie konnte nicht einmal den Hauch irgendeiner Emotion darin erkennen, und etwas in ihnen machte ihr unmissverständlich klar, dass ihr Gegenüber kein Problem damit hatte, zu töten.

"Dr. Aya Mitsuyuki, ja?" Der Fremde wiederholte es langsam und eindringlich. Wahrscheinlich, dachte Aya, um sie nervös zu machen und zu einer eventuellen Kurzschlusshandlung zu verleiten. Sie fühlte sich mit einem Mal wie eine Gefangene in einem Kreuzverhör und dieser Gedanke erfüllte sie mit einem Gefühl von Wut. Sie hatte jegliche Berechtigung, sich hier aufzuhalten - was also wollte dieser seltsame Typ von ihr?

"Ja, genau!" entgegnete sie, jetzt schon viel selbstsicherer. "Mir gehört dieses Labor. Dies ist mein erster Arbeitstag und ich muss sagen, ich wurde selten so herzlich empfangen!"

Der Fremde blinzelte die Wissenschaftlerin für einige Augenblicke verwirrt an, so als würde er den tieferen Sinn ihrer letzten Worte nicht ganz verstehen. Dann steckte er langsam seine Waffe wieder ein. Seine Augen fixierten dabei unentwegt Ayas Gesicht.

"Ich habe hier unten seltsame Geräusche gehört, das war alles. Ich wusste nicht, dass sie es sind, Dr. Mitsuyuki."

"Aha", machte Aya und runzelte die Stirn. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie von der ganzen Situation zu halten hatte, geschweige denn was sie zu ihrem höchst unfreundlichen Gegenüber noch sagen sollte, also schwieg sie und nutzte die Zeit, den Fremden ein wenig näher zu mustern. Er trug die schwarz-graue Uniform der Soldaten INFERIAS, war recht groß, aber verhältnismäßig schlank und zierlich. Beim Blick in seine Augen erschauderte sie unweigerlich erneut, und auch sonst besaß alles an ihm in etwa die Wärme eines riesigen Eisblockes in einer noch viel größeren Kühlkammer. Besonders auffällig war die Farbe seiner Haare, schneeweiß, mit einem blassen türkisblauen Schimmer. Es hing ihm lang und zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden über die Schulter fast bis zu den Hüften hinab. Sein Gesicht war mit einem Wort beschrieben perfekt. Irgendwie schien es so, als hätte man jeden einzelnen Teil davon, die Augen, die Nase, den Mund, von den schönsten Menschen des gesamten Planeten genommen und zu einem schier atemberaubenden Gesamtkunstwerk zusammengefügt. Jede einzelne Kontur war vollkommen gleichmäßig, die Haut so bleich und rein wie frisch gefallener Schnee, ohne irgendeinen Makel, irgendeine Unregelmäßigkeit.

Beinahe schon zu perfekt, schoss es Aya unweigerlich durch den Kopf. Sie fragte sich, wie alt der Fremde wohl war. Er wirkte noch sehr jung, kaum älter als zwanzig, aber gleichzeitig passte der Ausdruck in seinen eisblauen Augen, seine ganze Mimik absolut nicht zu einem gerade erst erwachsen gewordenen Menschen. Vielleicht, dachte die Dunkelhaarige, lag das ganz einfach daran, dass er schlichtweg so gut wie keine Mimik besaß.

"Ach so..." Der Weißhaarige streckte der Wissenschaftlerin eine Hand hin. "Mein Name ist übrigens Ravin, Ravin Lancis. Ich habe den Auftrag bekommen, in diesem Labor zu arbeiten. Ich bin ausgebildeter Soldat und CCI."

"Wie... wie bitte?" Aya blinzelte ihr weitaus größeres Gegenüber verwirrt an. "Dann... dann... arbeitest du... sie also... bei mir?" Sie hoffte inständig, dass ihre Stimme nicht allzu entsetzt klang und atmete erst einmal tief durch. Erst einige Augenblick später bemerkte sie, dass Ravin ihr immer noch die Hand hinstreckte. Hastig und mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen ergriff die Dunkelhaarige sie und hätte noch in derselben Sekunde beinahe laut aufgeschrieen. Der Händedruck des jungen Soldaten fühlte sich in etwa so an, als hätte ein Schwerlastengleiter exakt auf ihren Fingern geparkt. Sie zwang sich ein schiefes Grinsen auf die Lippen. "Freut... freut mich... ähm... ihre Bekanntschaft zu machen!"

"Hm", nickte Ravin und zog dann seine Hand, die in einem schwarzen Handschuh steckte, ruckartig wieder zurück. Aya seufzte leise. Jetzt hatte sie an ihrem ersten Arbeitstag schon ganze zwei Mitarbeiter kennen gelernt, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten und irgendwie war ihre Lust, noch mehr davon begrüßen zu dürfen, doch ein wenig gedämpft worden. Aus irgendeinem Grund konnte sie getrost darauf verzichten, sich länger mit dem Weißhaarigen im selben Raum, eigentlich sogar im selben Gebäude aufzuhalten, aber dieser schien nicht im Traum daran zu denken, sich wieder zu entfernen, sondern stand nur mit seiner ausdruckslosen Miene da und sah sie wie in stummer Erwartung an.

"Sag mal, Ravin - ist es OK, wenn ich du sage?" Aya war nicht sonderlich überrascht davon, dass der junge Soldat nicht antwortete und interpretierte seinen gleichbleibend unfreundlichen Gesichtsausdruck kurzerhand als Zustimmung. "Was ich fragen wollte, was ist denn eigentlich ein CCI?"

"CCI ist eine Abkürzung und steht für Connection and Communication Intermediary. Das bedeutet, dass man mit Computersystemen und anderen elektronischen Geräten über ihre Kabel Kontakt aufnehmen und zur Übertragung von Daten oder zu anderen Zwecken nutzen kann."

"Aha, das... das ist ja interessant!" Die Dunkelhaarige zwang sich erneut zu einem Lächeln, das - zu ihrer größten Überraschung - nicht einmal ansatzweise erwidert wurde. Sie begann, nervös mit den Fingern zu spielen. "Arbeitest du denn schon immer hier in diesem Labor?"

"Schon länger. Ich habe für den vorhergegangenen Wissenschaftler auch schon gearbeitet. Aber diese Abteilung hier gibt es natürlich noch länger."

"Ah... das ist aber... schön, dass du noch hier geblieben bist, nachdem dieser andere Forscher gekündigt hat..."

"Gekündigt?" Der Weißhaarige zuckte mit den Schultern. "Scheinbar hat man es ihnen nicht erzählt, aber er hat nicht gekündigt. Er ist gestorben."

Oh!" Aya zog die Augenbrauen hoch. "Gestorben? Wow, muss der aber alt gewesen sein! Oder er hat sich überarbeitet, soll bei uns Wissenschaftlern ja öfters vorkommen, wir arbeiten einfach zuviel!" Sie gab ein reichlich hilfloses Lachen von sich.

"Nein, er wurde ermordet. Nicht von einer bestimmten Person. Er ist bei einem der Einsätze umgekommen. Diese Abteilung bekommt meistens die gefährlicheren Aufträge. Während meiner Zeit hier waren zwei Wissenschaftler in dem Labor. Die Wissenschaftler blieben meistens länger. Von den Laborhelfern habe ich etliche kommen und gehen sehn."

"Hm..." Aya legte den Kopf schief. Scheinbar musste der Weißhaarige mit den kalten Augen doch weitaus älter sein, als sie gedacht hatte. Sie selbst hatte schon in einigen Labors ausgeholfen und wusste genau, wie schwer solche Stellen zu bekommen waren, selbst für die talentiertesten jungen Nachwuchswissenschaftler. Wenn man erst einmal einen Platz gefunden hatte, behielt man diesen für gewöhnlich so lange, wie es nur irgendwie möglich war. "Sag mal, Ravin... wie lange arbeitest du schon hier, sagtest du?"

"Ich glaube, ich habe es noch nicht erwähnt..." Er überlegte kurz. "Ich bin jetzt 21. Dann müssten es in etwa drei Jahre sein."

"Wie bitte?!?" Aya keuchte.

"Drei Jahre", wiederholte er in ungerührtem Tonfall. Erst im nächsten Augenblick schien ihm das Entsetzen in Ayas Gesichtszügen aufzufallen. "Stimmt etwas nicht damit?"

"Ich... ich meine ja nur... zwei Wissenschaftler sterben in einem Zeitraum von... von drei Jahren?!?"

"Ja!" Ravin nickte. "Und?"

"Und?" Die Dunkelhaarige spürte, wie ihr langsam aber sicher die Kinnlade herunterklappte. "Ähm, ich meine ja nur! Dies ist mein erster Arbeitstag, und ich bekomme langsam das Gefühl, dass ich mit diesem Job sogar doppelt Geld sparen kann! Einmal verdiene ich nicht schlecht - ich frage jetzt lieber nicht, warum - und außerdem, hey, ich kann mir ab jetzt endlich meine Rentenversicherung sparen!!!"

Ravin schien den Witz nicht zu verstehen, jedenfalls warf er Aya nur einen sehr zweifelnden Blick zu und ging dann nicht weiter auf das Thema ein. Die junge Forscherin seufzte leise. Das Gespräch mit den schönen Soldaten bereitete ihr zunehmend Kopfschmerzen. Aus irgendeinem Grund hatte sie langsam aber sicher das Gefühl, mit ihrem eigenen Anrufbeantworter schon lebhaftere Diskussionen geführt zu haben.

"Echt nett, sich mit dir zu unterhalten", grinste sie und war in diesem Augenblick beinahe froh, dass Ravin so etwas wie Ironie schlicht und einfach nicht zu kennen schien. Allerdings bezweifelte sie ohnehin, dass ihre Worte den Weißhaarigen in irgendeiner Weise interessierten. Sehnsüchtig schielte sie zur Türe hin. "Ach ja, eine Sache noch... du bist aber nicht zufällig derjenige, der... na, ich meine, der die große Ehre besitzt, meine Erfindung zu steuern?"

Für einen Augenblick blinzelte Ravin sie wortlos an. Dann legte er seinen Kopf leicht schief.

"Ich bin Soldat und CCI."

"Ja, ich weiß, aber du könntest doch trotzdem..."

"Ich sagte es doch bereits. Ich bin..."

"Ist ja gut!" seufzte Aya. "Ich glaub's dir ja!"

"Warum sollte ich lügen?"

"Nein! So war das nicht gemeint!" Sie schüttelte den Kopf und hatte mit einem Mal das Gefühl, jede Sekunde in Tränen ausbrechen zu müssen. "Ich dachte doch nur, dass irgendjemand hier vielleicht... damit umgehen kann! Irgendeiner von meinen Mitarbeitern! Und weil D es anscheinend nicht kann, dachte ich, dass vielleicht du..." Sie sah, wie Ravin zu einer Antwort ansetzen wollte, und fügte hastig hinzu: "Na ja, dafür hat man ja auch mehrere Mitarbeiter! Der eine kann sich im Maze bewegen, der andere... ist eben Soldat und CCI und irgendwer wird schon für meine dumme, minderwertige Erfindung zuständig sein!" Aya fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind, dem man seinen Lieblingsteddy weggenommen hatte.

"Ähm..." Ravin strich sich eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sie mit seinen eiskalten Augen an. "D und ich sind deine einzigen Mitarbeiter!"

Das war zuviel. Ayas Lächeln verschwand von einer Sekunde auf die andere und machte einem Ausdruck tiefer Verzweiflung Platz. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

"Das kann doch nicht wahr sein! Warum hasst ihr da oben mich so sehr? Warum?" Der jungen Wissenschaftlerin war es in diesem Augenblick vollkommen egal, ob ihr Gesprächspartner einen Sinn für ihre gelegentlich leicht pathetische Ader hatte oder nicht. An Ravins Blick konnte sie zwar unmissverständlich erkennen, dass er wieder einmal überhaupt nichts begriff und sie wohl am liebsten postwendend in ihre hauseigene Hochsicherheitszelle verwiesen hätte, aber darum wollte sie sich jetzt beim besten Willen nicht auch noch kümmern.

"Wenn... wenn die Menschen in der Chefetage sie hassen würden, dann hätten sie nicht diesen Posten bekommen!" stellte er mit emotionsloser Stimme fest. Aya schüttelte den Kopf. Er hatte ganz offensichtlich wirklich nichts verstanden.

"Oh mein Gott! Sie haben mich in ein Labor gesteckt, das eine direkte und sehr bequeme Verkehrsanbindung zum Friedhof besitzt. Und sie haben mir einen Mitarbeiter gegeben, der... der... ach ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll! Das ist einfach zuviel!"

"Es stimmt schon, dass D nervt... ich meine, mit seinem Dauergrinsen. Aber man gewöhnt sich daran." Ravin zuckte mit den Schultern. "Ich muss jetzt gehen. Ich habe Dienstschluss für heute."

"Was für ein Glück!" Aya blickte kopfschüttelnd auf und konnte sich ein Lächeln jetzt nicht mehr verkneifen. "Dann sehn wir uns ja morgen. Bis... bis dann!!!"

"Hm", machte Ravin, hob zum Abschied die Hand und verschwand dann wortlos aus der grauweißen Türe des Medizinraumes. Wieder drängte sich der jungen Wissenschaftlerin der Gedanke auf, dass sie noch nie zuvor einen so schönen Menschen gesehen hatte. Und trotzdem überkam sie ein seltsames Gefühl, wenn sie sein blasses Gesicht betrachtete. Es war der absurde Eindruck, dass trotz aller Perfektion irgendetwas fehlte.

"D!!!!" Als der junge Schwarzhaarige am nächsten Morgen das bereits hell erleuchtete Labor betrat, machte sich augenblicklich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit. Dies lag zum einen an Ayas Tonfall, mit dem sie seinen Namen rief, und zum anderen an ihrem Gesichtsausdruck. Alles in allem hätte es wohl keinen großen Unterschied gemacht, wenn sich die dunkelhaarige Wissenschaftlerin mit großen roten Buchstaben ,Mordlust' auf die Stirn geschrieben hätte.

"Morgen Aya!" D lächelte gequält. "Soll ich mir gleich selbst den Hals umdrehen oder würde ich dir damit den ganzen Spaß verderben?"

Aya musste gegen ihren Willen grinsen.

"Warum hast du mir nicht gesagt, dass der Tod persönlich in meinem Labor arbeitet? Dann hätte ich mir wenigstens ein Kreuz und eine Knoblauchzehe mitnehmen können, zum Schutz..."

"Aya, du verwechselt da was, und zwar mit Vampiren..." D zuckte mit den Schultern. "Ah, ich sehe schon, du hast Ravin kennen gelernt."

"Hm." Aya machte ein emotionsloses Gesicht. "Ganz recht. Und wehe, du bringst mich zum Lachen, dann erschieße ich dich."

"Hey!" kicherte D. "So schlimm ist er nun auch wieder nicht!"

"Ach, nein?" Die Dunkelhaarige verschränkte die Arme vor der Brust. "Aber du hast natürlich Recht. Was bitte ist auch schlimm daran, seine arme, ohnehin schon zur Risikogruppe für Herzinfarktspatienten zählende Vorgesetzte mit einer Waffe im Genick zu begrüßen?!?"

"Wie bitte?" Der Schwarzhaarige blinzelte sie für einige Augenblicke leicht verwirrt an, dann stahl sich wieder ein breites Grinsen auf seine Lippen. "Bestimmt hat er dich einfach nur nicht gleich erkannt", winkte er ab. "Keine Angst, der tut dir schon nix. Der will nur spielen."

"Ja, das merke ich!" Aya schüttelte den Kopf. "Mein Gott, in was für ein Irrenhaus bin ich hier eigentlich geraten? Und was war das für eine Story von all den toten Wissenschaftlern und der Massenflucht an Laborhelfern? Warum hat man mir beim Vorstellungsgespräch nichts davon gesagt, häh?"

"Hast du das etwa von Ravin?" D schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und rollte mit seinen dunklen Augen. "Gott hab ihn selig. Ich meine, das ist ja auch mal wieder typisch, dass unser wandelnder Eisberg drauflos plappert, ohne auch nur ein einziges Mal sein hübsches Köpfchen davor einzusetzen..."

"Hey! Red dich nicht raus!" Die Dunkelhaarige stemmte die Arme in die Hüften. "Ich habe ein Recht darauf, so etwas zu erfahren. Kündigen... kann ich ja eh nicht mehr. Oh Gott." Sie ließ den Kopf nach vorne sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus.

"Warum denn kündigen?" Der junge Schwarzhaarige lachte. "Ganz so schlimm ist es hier nun auch wieder nicht! Hätte ich es etwa sonst die ganze Zeit ausgehalten?" D überhörte Ayas wenig überzeugtes Gemurmel, das verdächtig nach "Unkraut vergeht nicht" klang, und fuhr stattdessen mit einem beinahe euphorischen Blitzen in den Augen fort. "Im Gegenteil! Wir sind hier die coolste Abteilung des gesamten Konzerns! Wir kriegen, nun ja, sagen wir es... die schwierigeren Fälle zugewiesen..."

"Schwierigere Fälle?"

"Ja! Wenn es irgendwo nicht ganz mit rechten Dingen zugeht, sind wir sofort zur Stelle! Deshalb kriegen wir hier unten auch immer die, sagen wir, innovativeren Wissenschaftler zugewiesen."

"Kanonenfutter..." grummelte Aya, konnte sich einen gewissen Stolz jedoch nicht ganz verkneifen. Wenn INFERIA sie für einen derart verantwortungsvollen Posten ausgewählt hatte, musste es ihr ja mittlerweile wirklich schon gelungen sein, sich einen Namen in der großen bunten Welt der Wissenschaft zu erkämpfen. Aya Mitsuyuki, das ultimative Mastermind der neuen Forschergeneration, deren Ideen das gesamte Universum völlig auf den Kopf stellten! Etwas an der Idee gefiel ihr. Selbst INFERIA setzte sie für die gefährlichste aller Abteilungen ein - sie und niemand anderen. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Scheinbar hatte sie es jetzt wohl endlich geschafft! Ihre Arbeit wurde gewürdigt, so wie sie es verdient hatte. All die Mühen der vergangenen Jahre schienen mit einem Mal wundervolle, aber mehr als verdiente Früchte zu tragen.

"Siehst du?" fragte D, dem Ayas verzückter Gesichtsausdruck keineswegs entgangen war. "Einen besseren Posten kann man als Wissenschaftler überhaupt nicht bekommen!!!"

"Vielleicht... hast du ja recht..." seufzte die Braunhaarige und strich sich den Rock zurecht. Vielleicht lag ihr hauseigener Berufsoptimist ja gar nicht so falsch. Sie konnte sich nun wirklich nicht über ihre gegenwärtige Lage beschweren. Man hatte ihr nicht nur ein eigenes Labor zur Verfügung gestellt, sondern brachte ihr ganz offensichtlich auch eine ganze Menge Vertrauen entgegen. Genau genommen hatte sie sogar allen Grund, stolz auf sich zu sein. Ihre dunklen Augen streiften gerade liebevoll die kahlen Wände ihres kleinen Reiches, da plötzlich stockte sie. "Moment mal! Wenn das hier wirklich der Ort für die innovativsten Wissenschaftler und der beste Posten überhaupt ist, warum habe ich dann gerade mal zwei lächerliche Mitarbeiter?"

"Lächerlich?!?" D verzog beleidigt den Mund. "Was soll das jetzt heißen?"

"Kannst du dir das nicht denken? Scheinbar möchte kein Mensch hier arbeiten! Und ich glaube nicht..." Sie schielte zur Eingangstüre hin, die sich mit einem surrenden Geräusch öffnete, als Ravin mit finsterer Miene in das Labor trat. "... dass es nur an den freundlichen Kollegen hier liegt!"

"Nicht jeder ist eben dieser großen Aufgabe gewachsen!" warf D hastig ein. Dann trat jedoch ein leicht besorgter Ausdruck auf sein Gesicht. "Na ja, ich gebe zu, in letzter Zeit hat es auch vermehrt Vorfälle gegeben, die wir uns nicht ganz erklären können... aber dafür haben wir ja unsere reizende neue Chefin mit ihrer wahrhaft bahnbrechenden Erfindung!"

"Ich brech dir gleich Bahn!" Aya ließ mutlos die Schultern sinken. "Nur leider musst du dich dafür noch etwas gedulden, denn scheinbar gibt es hier im Umkreis von zehn Meilen keinen Menschen, der sich dafür eignen würde, sie zu steuern!"

"Gehe ich recht in der Annahme, dass du jetzt von Ravin und meiner Wenigkeit hier sprichst?" Auf das Gesicht des Schwarzhaarigen trat ein geheimnisvoller Ausdruck. "Nun, liebe Aya, das weiß ich natürlich auch. Aber keine Sorge, was das anbetrifft kann dir sehr schnell geholfen werden! Oder denkst du etwa, ich gehe vollkommen unvorbereitet an so ein Problem heran?"

"D, wovon sprichst du?" Irgendetwas an dem Funkeln in den dunkelbraunen Augen ihres Mitarbeiters gefiel ihr ganz und gar nicht. "Du weißt doch irgendetwas, was ich nicht weiß!"

"Tja..." D räusperte sich und setzte zur Antwort an, wurde dann jedoch von Ravin unterbrochen. Der Weißhaarige war beinahe lautlos hinter ihn getreten und tippte ihm nun reichlich unsanft auf die Schulter. D verzog leicht gequält das Gesicht und drehte sich dann erwartungsvoll zu seinem jungen Kollegen um. "Na, Ravin, was gibt es?"

"Ich habe nur das getan, was du mir angeordnet hast", entgegnete der Langhaarige und musterte den vergnügt grinsenden D mit ausdrucksloser Miene. "Ich habe sie hereingelassen. Ihr könnt sofort damit anfangen. Soll ich den Ersten gleich holen?"

"Schau mich dabei nicht an!" Aya verschaffte ihrer Ratlosigkeit mit einem tiefen Seufzer Ausdruck. "Ich weiß ja überhaupt nicht wovon ihr redet! Aber warum auch? Ich bin ja hier nur eure Vorgesetzte, also wieso sollte mich irgendjemand über seine grandiosen Pläne in Kenntnis setzen?"

"Hey, beruhig dich, Aya! Es sollte eine Überraschung für dich sein!" D strahlte über das ganze Gesicht. "Pass auf: draußen im Gang stehen etwa fünfzig Bewerber, die dir alle als persönlicher Sklave an deiner allerliebsten Erfindung dienen wollen. Und wir können sofort mit dem ultimativen Vorstellungsgespräch beginnen... na, was sagst du jetzt?"
 

Ende des ersten Kapitels

Akte 2/ Der einsame Wanderer

Endlich isses fertig! ^^; Ich hoffe, der eine oder andere freut sich darüber... Dieses Kapitel war... nunja... anstrengend. Zumindest der Anfang. Im Nachhinein ist es aber doch besser geworden, als ich beim Schreiben befürchtet habe. *drop* Allerdings bin ich sehr froh, dass unser Chaos-Team jetzt komplett ist und die eigentliche Story beginnen kann! Juhu! Ab jetzt gibt es Action!!! *irres Grinsen aufsetz* Dieses Chapter widme mich mal wieder meinem FF-Autor Son-Goku Daimao! Nur für dich!!! ^____^ Trotzdem... bitte, bitte, bitte schreibt mir Comments!!!!!! Achso, und natürlich viel Spaß beim Lesen... ^_~
 

Aya war schon immer ein sehr geduldiger Mensch gewesen. Und das beschränkte sich nicht etwa nur auf schier unlösbare Aufgaben, von denen sie generell nicht wieder abließ, bevor sie nicht wenigstens ein annähernd zufriedenstellendes Ergebnis in den Händen hielt. Und was für sie annähernd zufrieden stellen war, konnten andere Menschen mit gutem Gewissen als perfekt bezeichnen. Aber auch sonst, im Umgang mit Menschen, ließ sich Aya durch nichts so schnell aus der Ruhe bringen.

Doch selbst ihre Geduld hatte Grenzen.

Einen halben Tag war sie nun schon in ihrem Labor gesessen und hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich für einen Haufen unfähiger Menschen diplomatische Absagen auszudenken. Was die junge Wissenschaftlerin aber auch nach all den endlos langen Stunden noch nicht wusste, war einerseits, wie D es geschafft hatte, so viele psychisch vollkommen unbegabte Idioten auf einem Haufen zu versammeln, vor allem jedoch, was diese dazu bewogen hatte, sich für einen derart verantwortungsvollen Posten zu bewerben.

Ihr schwarzhaariger Mitarbeiter saß selbst nach all den qualvollen Stunden immer noch mit einem stolzen, zufriedenen und eindeutig amüsierten Lächeln auf den Lippen neben ihn und schien einen Heidenspaß an der durch und durch frustrierenden Aufgabe zu haben. Aya warf ihm einen flüchtigen Blick zu und holte tief Luft.

Er hat es nur gut gemeint, sagte sie sich etwa zum tausendsten Mal und ballte ihre Hände zu Fäusten. Du wirst ihn nicht ermorden, Aya. Er ist dein Mitarbeiter, du brauchst ihn noch. Er hat es nur gemeint. Er hat...

Erneut wurde die Türe zum Labor geöffnet und ein junger, kräftiger Mann mit kurzen, verstrubbelten, blond gefärbten Haaren und großen hellblauen Augen trat ein. Er sah sich um, erblickte Aya, stapfte auf sie zu und packte ihre Hand.

"Dr. Mitsuyuki? Ich bin Dave. Dave Traverson, Soldat. Ich hab ein Jahr im Krieg gedient, Kampfpilot, und bin schon mindestens durch die halbe Galaxis und zurück geflogen!" Er zwinkerte der dunkelhaarigen Forscherin zu, wie um seine scheinbar unglaublich beeindruckend klingenden Worte zu unterstreichen. Aya rieb sich ihre halb zerdrückte Hand und schleppte sich mit einem leisen Seufzer auf das Behandlungszimmer zu.

"Kommen sie!" Die junge Wissenschaftlerin wusste selber nicht, wie es ihr in dieser Situation gelang, noch einmal ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. "Ich werde jetzt einige Tests mit ihnen durchführen, um zu kontrollieren, ob sie überhaupt körperlich dazu in der Lage sind, diesen Job auszuüben."

"Ähm... wie bitte?" Der gut und gern zwei Meter große Hüne blinzelte Aya so verdutzt an, als hätte er einen Gleiter vor sich stehen, der von einer Sekunde auf die andere angefangen hatte zu sprechen.

"Ich muss sie untersuchen! Reine Routine natürlich."

"Aber... ich sagte es doch schon. Ich bin Kampfpilot. Wenn es in den unendlichen Weiten des Alls einen Menschen gibt, für den das Wort Fitness erfunden wurde, dann bin das definitiv ich!"

"Sehr gut, dann dürfte es ja keine Probleme für sie geben, die Tests zu bestehen!" Aya rang sich ein mit Nachdruck erneut ein bezauberndes Lachen ab, während in ihr ein heftiger Kampf tobte. Genauer gesagt stritten in ihrem Kopf mit aller Gewalt zwei Mächte darum, wen sie denn nun zuerst in den Tod schicken sollte. Partei eins plädierte für jenen ignoranten, eingebildeten, dümmlich lächelnden Pseudo-Soldaten, während ihre mindestens ebenbürtigen Gegner nach ihrem geschätzten Mitarbeiter schrieen, der ihr aus dem Computerzimmer heraus entgegengrinste.

Die Dunkelhaarige öffnete mit einer einladenden Geste die Türe des Behandlungszimmers.

"Ey man, das ist doch Zeitverschwendung! Setzen sie mich endlich hinter das Steuer von dem Baby, sie haben ihren Mann gefunden, los, greifen sie zu!"

"Das würde ich ja wirklich gerne tun, aber dummerweise gibt es da ein ziemlich strenges Regelwerk, das besagt, dass jeder potentielle Mitarbeiter erst einmal gründlich durchgecheckt werden muss, da er sonst nämlich erst gar keine Chance auf den Job hat!"

"Muss das sein?" Daves Tonfall klang genervt. Er sah ein bisschen so aus wie ein kleiner Junge, der es kaum noch erwarten konnte, sein neuestes Kriegsspielzeug auszuprobieren.

"Ja, das muss sein, " flötete Aya, während die Schlacht in ihrem Inneren durch einen kurzen, aber heftigen Angriff von der Partei Dave entschieden wurde. Sie beschloss kurzerhand, zuerst den blonden Supersoldaten mit einem raschen, schmerzlosen Genickbruch von seiner Selbstüberschätzung zu kurieren, um sich für D dann richtig Zeit lassen zu können und die Tat in vollen Zügen zu genießen.

"Na von mir aus!" grummelte Dave, bückte sich unter der Türe des Behandlungsraumes hindurch und blieb unschlüssig in dessen Mitte stehen. "Was soll ich jetzt machen?"

"Stellen sie sich erst einmal in den Ganzkörperscanner!" Aya deutete auf eine deckenhohe Röhre aus bläulich schimmerndem Glas. Auf einen Knopfdruck hin schob sich eine in das unzerstörbare Glas eingelassene Türe geräuschlos zur Seite.

"Ähm... is das Ding auch wirklich sicher? Ich meine, das ist doch nicht schädlich, oder?" Der blonde Mann verzog unwillig das Gesicht und warf Aya einen beinahe flehenden Blick zu. Die junge Wissenschaftlerin hätte am liebsten geschrieen. Was wollten diese Menschen eigentlich alle von ihr? Sie konnte auf den ersten Blick sagen, dass sich dieser hirnlose Kraftprotz gar nicht für ihre Erfindung eignen konnte. Ihm stand förmlich auf der Stirn geschrieben, dass er nicht mehr erwartete als einen Kampfjet, den er durch das bloße Betätigen einiger Hebel und Knöpfe nach seinem Willen lenken konnte. Warum musste sie sich überhaupt die Mühe machen, die immer gleiche Prozedur der ausführlichen Untersuchung ein weiteres überflüssiges Mal durchzuführen?

"Natürlich ist es nicht schädlich! Sie kennen als Kampfpilot ja bestimmt die deutlich kleinere Variante der Handscanner. Das hier ist im Grunde genommen das gleiche Prinzip, allerdings wird hier ihr ganzer Körper durchleuchtet und so eine erste, allerdings noch nicht sehr gründliche Übersicht über ihren allgemeinen Gesundheitszustand gewährt."

"Aha." Dave sah nicht im Mindesten überzeugt aus und warf einen sorgenvollen Blick zu seinen Hüften hinab, stieg dann aber doch ganz langsam und zögerlich in die durchsichtige Röhre hinein. In dem beruhigenden Wissen, dass er sie nun garantiert nicht mehr hören konnte, stieß Aya einen tiefen, verzweifelten Seufzer aus und ging mit hängenden Schultern zu der Schalttafel hin, von der aus sie den Ganzkörperscanner bedienen konnte.

Auf einen Knopfdruck hin liefen zwei gegeneinander drehende, verschieden große Ringe um die Rohre herum und projizierten ein transparentes Abbild des muskulösen Körpers auf Ayas kleinen Bildschirm. Nachdem die Untersuchung dreimal von neuem wiederholt werden musste, weil der blonde Kampfpilot sich jedes Mal ganz offensichtlich nervös bewegte und so die empfindlichen Sensoren störte, konnte endlich ein vollständiges, einigermaßen brauchbares 3D-Körpermodell errechnet werden, und Aya musste entnervt feststellen, dass Dave zumindest in einem Punkt nicht gelogen hatte: er war in der Tat topfit.

Die Wissenschaftlerin strich sich mit leicht zitternden Fingern die Haare aus dem Gesicht und bereute mit einem Mal jenen schicksalhaften Tag vor zwei Jahren, an dem sie beschlossen hatte, das Rauchen endgültig aufzugeben. Ihre Nerven lagen blank. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie diese Routine-Untersuchung heute schon durchgeführt hatte, und natürlich waren die meisten Bewerber zumindest körperlich gesund. Damit hörte es dann allerdings auch schon auf.

Aya öffnete seufzend die Türe des Ganzkörperscanners. Sie wusste, was sie jetzt erwartete, und ihr graute unsäglich davor. Sie würde den grinsenden Kampfpiloten auf den zweiten Teil der Untersuchung vorbereiten müssen - den weitaus gründlicheren Check mit dem Handscanner. Und irgendeine düstere Vorahnung sagte der jungen Wissenschaftlerin, dass ihr Patient dieser Prozedur alles andere als abgeneigt war.

Warum tat sie sich diese Folter überhaupt an? Aya wusste, dass Dave trotz all seiner unbestrittenen körperlichen Fähigkeiten niemals die psychischen Vorraussetzungen mitbringen würde, ihre Erfindung zu kontrollieren. Wieso hatte er sich überhaupt beworben? Und - wieso verstieß es gegen irgendwelche gewerblichen Vorschriften, so einen offensichtlich ungeeigneten Bewerber schlicht und einfach nach ihrem Augenmaß zu begutachten und dann wieder vor die Türe zu setzen?

Sie warf D in Gedanken einen vernichtenden Killerblick zu, wie ihn kein Ravin besser hätte hinbekommen können, und musste ihre unausgesprochenen Worte noch im selben Moment korrigieren. Wer würde schon denken, dass dieser schwarzhaarige, ewig gut gelaunte Volltrottel scheinbar ein brillanter Hacker war und noch dazu die seltene Fähigkeit besaß, sich im Maze zurechtzufinden? Aya wischte sich über die Stirn und griff entschlossen zu ihrem Handscanner. So mühevoll diese Prozedur auch sein mochte, es war die einzige Möglichkeit, einen geeigneten Mitarbeiter zu finden.

Manchmal, das wusste sie aus eigener Erfahrung, steckte hinter einem Menschen viel mehr, als man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte.
 

Als Aya wenig später hinter der blauen Scheibe im Computerzimmer saß und mit angehaltenem Atem in den wertvollsten Raum des gesamten Labors starrte, konnte sie noch nicht ahnen, wie oft sie genau dieser Gedanke in der folgenden Zeit noch einholen sollte. Genau genommen hatte die dunkelhaarige Wissenschaftlerin auch alles vergessen, was außer dem transparenten Viereck vor ihren Augen noch existierte.

Der entscheidende Moment war wieder einmal gekommen.

Aya konnte nicht mehr sitzen bleiben. Sie hatte ihre schweißnassen Handflächen auf die Kopfhörer gelegt, die sie mit der Gestalt in dem Zimmer hinter der Glasscheibe verbanden. Über ein Headset konnte sie dem Kampfpiloten Anweisungen geben, mit ihm in Kontakt bleiben. Sie bemühte sich, ihren Atem ruhig zu halten. Sie rückte ihre Brille zurecht und wartete, bis D sämtliche Einstellungen überprüft hatte.

Der Anblick war bizarr. Selbst die massige Gestalt des kriegserfahrenen Dave verschwand förmlich in dem Wald aus Kabeln, die ihn wie das Netz einer Spinne gefangen zu halten schienen. Überall auf seinem Körper waren Sensoren angebracht, sein Kopf steckte in einem Helm, der ihn beinahe selbst wie einen Teil der Maschine erscheinen ließ. Man sah kaum den schwarzen, gigantischen Stuhl, auf dem er in halb liegender Position festgeschnallt war.

"Seine Körperfunktionen sind OK. Alle Sensoren sind mit den Nerven verbunden. Soll ich ihm jetzt das Bild zuschalten?"

D blickte konzentriert auf die zahllosen Knöpfe und Bildschirme, die er auf dem riesenhaften Schaltpult vor sich hatte. Aya nickte. Erst nach einigen Sekunden wurde ihr bewusst, dass ihr Mitarbeiter sie gar nicht angesehen hatte.

"Ja, schalte ihm das Bild rein!"

Aus irgendeinem Grund missfiel es der jungen Wissenschaftlerin, das Schicksal ihrer geliebten Erfindung in die Hände dieses Kampfpiloten zu legen. Gleichzeitig konnte sie die Spannung kaum noch ertragen. Die blaue Luft schien zu flirren. Aya wusste, was auf dem Spiel stand. Was nutzte ihr denn schon das Meisterwerk, das sie erschaffen hatte, wenn es nun zu komplex war, als dass irgendjemand es steuern konnte?

Ds Finger rasten mit irrsinniger Geschwindigkeit über das leuchtende Tastenfeld. Seine Augen kontrollierten binnen Sekundenbruchteilen etliche der Bildschirme und Anzeigenfelder, dann warf er Aya einen kurzen Blick zu und nickte.

"Alles klar. Er kann dich jetzt hören!"

"OK!" Die Wissenschaftlerin strich ihren Rock glatt und holte tief Luft. "Dann hol uns jetzt die Bilder von der Augenkamera und den Kameras in der Halle rein!"

"Roger!" Auf Ds Gesicht breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus. Trotz ihrer Mordlust musste sich Aya eingestehen, dass sie ihren jungen Mitarbeiter bewunderte. Wie schaffte es der Schwarzhaarige, nach der zahllosen Wiederholung des immer gleichen Prozesses, trotz allem noch seine nahezu kindliche Begeisterung dafür zu bewahren?

Die Bildschirmwand zur Ayas Rechten erwachte mit einem leisen, monotonen Surren zu flackerndem Leben. Das bläuliche Nichts verwandelte sich binnen Sekunden in gestochen scharfe, unbewegte Bilder. Die dunkelhaarige Wissenschaftlerin schloss für einen Moment die Augen, bevor sie sich den Monitoren zuwandte. Und obwohl sie die Prozedur an diesem Tag schon öfter durchgeführt hatte, als sie überhaupt noch zählen konnte, erfüllte sie der Anblick ihrer wundervollen Erfindung immer noch mit stolz.

Inmitten einer kahlen, riesigen Halle mit kalten blitzenden, stählernen Wänden, stand der metallene Koloss und schlief. Sein Körper war trotz der immensen Größe keineswegs plump, sondern wirkte wie ein in blau, silbern und schwarz blitzendes Metall gegossenes Ebenbild des kräftigen, aber dennoch schlank und elegant gebliebenen Körpers eines perfekt durchtrainierten Kampfsportlers. Wie die unbewegte Rüstung eines futuristischen Samurai ruhte ihr Meisterwerk, schlafend, aber dennoch bereit, jede Sekunde loszustürmen, zu rennen, zu kämpfen, zu töten.

Die unzähligen Bildschirme zeigten den Gigant aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Entfernungen. Jeder noch so kleine Winkel der riesenhaften Halle war von einer Kamera abgedeckt. Auf den ersten Blick glich die Szenerie einem etwas zu groß geratenen Spielplatz, mit einer Vielzahl von Türmchen, Streben, Zielscheiben und sonstigen undefinierbaren Vorrichtungen. Eine der Kameras zeigte den gesamten Raum aus der Vogelperspektive. Aya wusste, dass dieser Bildschirm das Bild aus den Augen ihres Kindes darstellte, das wie in stummer Vorfreude seinen Spielplatz betrachtete.

Sie holte tief Luft und gab D ein Handzeichen. Der Schwarzhaarige ließ erneut seine Finger über die riesige leuchtende Tastatur fliegen, dann hob er seinen Kopf kurz an und nickte Aya zu.

"Alles klar! Seine Nervenbahnen sind mit denen des Roboters synchronisiert. Ich schalte ihm jetzt das Bild der Trainingshalle rein."

"In Ordnung. Er müsste bereit sein." Aya schaltete ihr Headset ein und atmete noch ein letztes Mal tief durch, bevor sie mit dem wartenden Kampfpiloten Kontakt aufnahm. "Hey Dave, hören sie mich?"

"Sie höre ich doch immer! Und zwar gerne." Die junge Wissenschaftlerin war gleichzeitig heilfroh, aber auch ein klein wenig enttäuscht, dass Dave in diesem Augenblick nicht sehen konnte, wie sie leicht angewidert das Gesicht verzog.

"Gut. Die Verbindungen sind stabil. Ihr Nervensystem ist nun mit der Steuerung des Roboters verbunden, das bedeutet, sie können das Baby jetzt steuern, ohne einen einzigen Finger zu rühren, haben sie das verstanden?"

"Jau, klar!" Vor Ayas innerem Auge tauchte Daves mehr oder minder intelligentes, auf alle Fälle aber verdammt schleimiges Grinsen auf, und sie spürte einen Anflug von Übelkeit in ihrem Hals aufsteigen. Sie schluckte, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und konzentrierte sich stattdessen auf die weitaus angenehmeren Bilder, die ihr von der Bildschirmwand entgegenflimmerten.

"OK. Dann versuchen sie jetzt, ihren linken Arm anzuheben."

Wieder spürte die Dunkelhaarige, wie sich der Herzschlag in ihrer Brust selbstständig machte und das Blut auf eine halsbrecherische Achterbahnfahrt durch ihren Körper schickte. Ihre Finger suchten wie mechanisch Halt an dem angenehm kühlen Schaltpult, während ihre Augen unbewegt die starren Kamerabilder fixierten.

Der metallene Riese bewegte sich nicht.

"Haben sie nicht, gehört, Dave? Sie sollen den Arm anheben! Konzentrieren sie sich!"

"Ja... ja klar..."

Durch die bläulich schimmernde Glasscheibe hindurch konnte Aya beobachten, wie sich Daves Lippen aufeinander pressten. Seine Finger krampften sich wie unter starken Schmerzen oder unermesslichen Anstrengungen um die Armlehnen des überdimensionalen Stuhles.

Der Roboter auf dem Bildschirm hob langsam und ruckend seinen linken Arm, stockte dann und ließ ihn wieder fallen, als ob auf einen Schlag sämtliche Kraft aus seinem riesenhaften Körper gewichen wäre. Aya unterbrach die Funkverbindung, um einen erschöpften Seufzer auszustoßen und vergrub das Gesicht in den Händen.

"Er bringt es nicht. Ich wusste, dass er es nicht bringen würde!"

"Jetzt gib doch nicht gleich auf!" D lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück, ohne jedoch seinen Blick von den Geschehnissen in dem bläulich dunklen Raum vor ihm zu nehmen. In regelmäßigen Abständen jagten winzige helle Leuchtpunkte durch das Kabelnetz der mechanischen Spinne, die den Kampfpiloten unbarmherzig gefangen hielt. Aya sah, wie sich Schweißtropfen unter dem Helm hervorschoben und langsam den Hals des Mannes hinabrannen.

"Natürlich D, du hast Recht. Warum sollte ich nach knapp dreißig hirnlosen Vollidioten auch langsam mal die Nerven verlieren? Ich muss überarbeitet sein und sollte in Therapie gehen. Danke, D, dass du mich auf den Pfad der Tugend zurückgeführt hast!"

"Hey, ganz ruhig, Chef!" Der junge Schwarzhaarige hob beschwichtigend die Hände. "Ich sehe ja auch ein, dass ich die Aufgabe vielleicht... ein klein wenig unterschätzt habe..."

"Vielleicht?!?"

"Ja, ja, schon gut! Bevor du mich mit deinen Blicken aufspießt, vergiss bitte nicht, dass dann Ravin dein einziger Mitarbeiter ist. Obwohl... dann könntet ihr euch gegenseitig anschauen und abwarten, wer als erstes einfriert oder schlicht und einfach tot umfällt."

"Du bist ein Idiot, D, hat dir das schon mal jemand gesagt?" Aya schaffte es nicht mehr, ein Lächeln zu unterdrücken. Sie schob ihre Brille zurecht und lehnte sich gegen die Monitorwand.

"Aya, wenn ich jedes Mal dafür zehn Credits bekommen würde... lassen wir das. Du musst dich ja nicht mehr lange aufregen, dass hier war nämlich der letzte Bewerber."

"Was? Der Letzte? Ja aber... was mach ich denn dann?"

"Hm... vielleicht musst du gar nichts mehr machen. Schau mal." D deutete mit einer Kopfbewegung zu Aya hin. Die junge Wissenschaftlerin blinzelte ihren Mitarbeiter leicht verwirrt an und sah dann hastig an sich hinunter.

"Was denn? Stimmt irgendetwas mit mir nicht?!?"

"Ach, ich habe nur gerade gemerkt, dass du keine Unterwäsche trägst."

"Wie bitte? Was... was redest du da für... das... das ist gar nicht wahr! Ich trage heute sehr wohl Unterwäsche!!!"

"Aya."

"Was ist denn jetzt schon... oh..."

Mit einem Mal begriff die Dunkelhaarige, dass D nicht etwa auf sie selbst gedeutet hatte - sondern auf das, was hinter ihrem Rücken vor sich ging. Das Bild der Kameras wirkte keineswegs mehr starr und unbewegt. Der stählerne Krieger bewegte ein ums andere Mal seinen Arm auf und ab, wie ein verletzter Vogel, der mit verzweifeltem Flügelschlag ein letztes Mal den Himmel zu erreichen versuchte.

Hastig schaltete Aya die Sprachverbindung wieder ein und wischte sich ihre feuchten Handflächen an dem leicht rauen Stoff ihres Rockes ab.

"Sehr gut, Dave!" Sie merkte, wie ihre Stimme vor Aufregung zitterte und schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, oder besser gesagt, zum Kommunikationsgerät, dass die Übertragung schlecht genug war, um den Kampfpiloten nichts von ihrer wachsenden Euphorie spüren zu lassen.

"Dachte schon, sie hätten mich vergessen!" Wieder wurde das Bild des grinsenden Daves in Ayas Gedanken beschworen und versetzte ihrem atemlosen Glücksgefühl einen kleinen, aber außerordentlich wohltuenden Dämpfer.

"Nein, natürlich nicht! Sie machen das gut. Versuchen sie es jetzt bitte mit dem rechten Arm."

Der Roboter unterbrach seine monotonen Bewegungen und stand für einige Augenblicke wieder vollkommen still. Erneut lief ein Zucken durch den linken Arm, brach dann aber ab und machte einem fahrigen Kopfschütteln Platz, das bei der gigantischen Kampfmaschine einer gewissen erheiternden Wirkung durchaus nicht entbehrte. Aya hörte ein leises Kichern hinter sich, aber sie war viel zu fasziniert von den Vorgängen auf ihrem übergroßen Spielplatz, als dass sie ihren Blick auch nur für eine einzige Sekunde davon hätte nehmen können.

"Rechts, Dave! Los! Konzentrieren sie sich wieder!"

Ayas Worte klangen in der flimmernden Dunkelheit wie eine düstere Beschwörungsformel, während ihre Hände wie zum stummen Gebet gefaltet waren. Die Knöchel der jungen Wissenschaftlerin traten weiß hervor, und langsam schob sich ein brennender Schmerz durch ihre Finger. Sie verstärkte den Griff noch ein wenig. Das schmerzhafte Ziehen hielt sie wenigstens davon ab, vor lauter Anspannung den Verstand zu verlieren und ihren nächsten Urlaub in der hauseigenen Gummizelle verbringen zu dürfen.

Die Bewegungen des Roboters verstummten. Er stand still, aber Aya meinte fast zu sehen, wie er seine Augen schloss und sich zur Ruhe zwang. Jede Sekunde verstrich ein wenig langsamer als die vorangegangene, verlief zu einer zähen, klebrigen Masse, um schließlich ganz im Sirup der Zeit zu versinken. Langsam rutschten die Fingerkuppen der Wissenschaftlerin nach oben, bis sich die Spitzen ihrer Nägel in ihre Haut eingruben.

Durch den rechten Arm des Roboters lief ein schwaches Zucken.

"Ja!!!" Ayas Herz machte einen Satz, und es war ihr mit einem Mal vollkommen egal, ob Dave von ihrem erleichternden Ausruf nun das Trommelfell geplatzt war oder nicht. Sie atmete tief durch, schloss für einen Moment die vom fixierenden Starren schmerzenden Augen und erwiderte Ds Lächeln, das er mit einem Zwinkern zu ihr hinaufschickte. "Das ist gut! Sie haben die richtigen Nervenbahnen gefunden. Jetzt machen sie es einfach so, wie bei dem anderen Arm."

"Roger!" Auch wenn es Aya erschreckte, die Stimme des Kampfpiloten schien sie mit einem Mal weniger zu stören als zuvor. Gut, er mochte ein kompletter Idiot sein, ein Weiberheld, ein Macho, was auch immer... eigentlich hätte es die junge Wissenschaftlerin nicht einmal gestört, wenn in diesem Augenblick ein kannibalischer Serienmörder hinter der einseitiger verspiegelten Scheibe im Netz der Kabelspinne gesessen wäre. Dieser Mensch besaß einen Zugang zu ihrem Baby, wie ihn bislang erst ein verschwindend geringer Anteil der unzähligen Bewerber gefunden hatte.

Ein zweites Ruckeln lief durch den Arm des Giganten. Er hob sich ein Stück an, sank zurück, fing sich jedoch in der letzten Sekunde noch ab, bevor er gegen die metallene Seite des Roboters prallen konnte. Wieder folgten zunächst nur ruckelnde, abgehackte Bewegungen, doch nach und nach verbanden sich die motorischen Bruchstücke zu einem Puzzle, wurden flüssiger, stimmiger, bis das größenfremde Bild irgendwann tatsächlich vorgaukelte, dass der riesenhafte Roboter eigentlich doch nur die glänzende Rüstung eines ganz normalen Menschen sei, der nun immer wieder eine mehr oder weniger sinnvolle Bewegung vollführte.

"Sehr gut!" lobte Aya abermals, während sich ein zärtliches Lächeln auf ihre Lippen stahl. Sie fühlte sich wie ein Mutter, deren Kind die ersten Gehversuche hinter sich gebracht hatte, das zum ersten Mal sinnvolle kleine Türmchen aus seinen bunten Klötzchen aufrichten konnte, ohne sie augenblicklich wieder lautstark krächzend zu Fall zu bringen. Eigentlich, schoss es ihr durch den Kopf, ohne dass sie sich des Gedankens auch nur im Geringsten schämte, fehlte es nur noch, dass ihr metallener Krieger seinen Kopf der Kamera zuwandte, seine leeren Augen aufblitzen ließ und mit zufriedener Stimme ein "Mama" von sich gab.

Die junge Wissenschaftlerin vertrieb - nun doch leicht beschämt - ihre mütterlichen Fantasien und konzentrierte sich wieder auf das ganz und gar nicht mütterliche Wesen, dass für den reibungslosen Ablauf dieses Wunders verantwortlich sein sollte.

"Folgen sie nun bitte meinen Anweisungen. Beugen sie ihre Arme... gut. Bewegen sie sie gleichzeitig... jetzt verkehrt zueinander... abwechselnd. Sehr gut. Jetzt drehen sie den Kopf. Sehen sie sich in der Halle um." Aya beobachtete nicht ohne eine gewisse Verzückung, wie ihr Kind zum ersten Mal seine doch recht trostlose Umgebung, seinen etwas zu groß und zu kahl geratenen Spielplatz betrachtete. Sie rieb zufrieden ihre Handflächen aneinander, spürte jedoch trotz aller Zufriedenheit plötzlich einen leisen Anflug von Zweifel in sich aufsteigen. Oder war es Angst? Bei all ihrem Stolz auf die Fortschritte ihres Kindes hatte sie vor lauter Zufriedenheit nämlich ein kleines, aber durchaus wichtiges Detail vollkommen vergessen.

Noch hatte der Roboter seine ersten Gehversuche nicht hinter sich gebracht.

Ayas Finger zitterten leicht, als sie wiederum die Verbindung zu Dave Traverson aufnahm.

"OK, Dave, soweit war alles wirklich gut, aber..." Sie atmete tief durch. "Jetzt musst du den Kleinen in Bewegung bringen. Genauer gesagt, du sollst erst einmal nur laufen. Und um sogar noch ein bisschen genauer zu werden - du setzt jetzt erst einmal einen Fuß nach vorne und gibst dir Mühe, nicht dabei umzukippen!"

Der Roboter auf dem Bildschirm nickte. Aya konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, dennoch schlug ihr das Herz bis zum Hals und darüber hinaus, als sie sah, wie der Gigant sich wiederum sammelte, ein Bein leicht rührte, schwankte - und wiederum inne hielt. Die Wissenschaftlerin hielt die Luft an, während der Roboter sein Bein im Zeitlupentempo wieder zurückzog. Er wartete erneut einige Sekunden lang, dann hob er seinen Fuß leicht an, vollführte eine nahezu grotesk anmutende Schlenkerbewegung zur Seite, strauchelte leicht und setzte das Bein dann mit einem Ruck wieder auf den Boden auf.

Aya stieß geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen hervor. So weit, so gut. Ihr Baby hatte seinen ersten, wenngleich auch noch reichlich unbeholfenen Schritt hinter sich gebracht, und noch stand es.

"Versuchen sie es nun mit dem anderen Bein!"

Auf Daves Gesicht - oder besser gesagt auf dem unteren Drittel, dass man davon noch sehen konnte - breitete sich ein angestrengtes Grinsen aus. Sein Hals und sein Kinn glänzten mittlerweile vor Schweiß. Seine Lippen verkrampften sich, seine Finger krallten sich einmal mehr um die Armlehnen des Stuhles, während der Roboter das zweite Bein anhob, diesmal allerdings schon ein wenig schneller und geradliniger. Die Bewegung sah tatsächlich schon annähernd menschlich aus, natürlich noch ein wenig steif, humpelnd, aber doch nicht mehr ganz wie das motorische Stakkato einer leblosen Maschine.

Dieser kurze Schein von Menschlichkeit war es, der Aya die Katastrophe erst einen Augenblick zu spät begreifen ließ. So erfreulich der Fortschritt einer geraden, nach vorne gerichteten Fußbewegung auch sein mochte, ihm stand dennoch ein gewaltiges Hindernis im Weg. Dieses Hindernis war nichts anderes als das zweite Bein des Roboters, das doch etwas zu weit nach innen gedreht auf dem Boden gelandet war. Die junge Forscherin konnte nur hilflos dabei zusehen, wie der zweite Fuß des Giganten gegen eben dieses Bein prallte, abrutschte und sich verhakte.

"Dave, passen sie auf! Ziehen sie den Fuß zurück!"

Die Dunkelhaarige wusste noch im selben Moment, in dem sie ihre Warnung aussprach, dass sie zu spät kommen würde. Durch Daves Körper lief ein Ruck, als er in einem letzten, verzweifelten Rettungsversuch das rechte Bein nach hinten ausstreckte. Gleichzeitig rutschte jedoch auch das Standbein ein Stück weit zurück und der Roboter kippte haltlos nach vorne.

"Verdammt noch mal, fangen sie sich ab!"

Daves Gesicht verzerrte sich zu einer angestrengten Maske. Der Roboter riss die Arme gleichzeitig hoch, wurde durch den Schwung jedoch nur noch weiter nach vorne gerissen und prallte schließlich, alle Viere weit von sich gestreckt, auf den kahlen Boden auf, wo er reglos liegen blieb.

Aya spürte einen Stich in ihrem Herzen, und für einen Augenblick flammte Hass in ihr auf, Hass und Wut auf diesen ungeschickten Menschen, der ihrem kleinen Baby so sehr Weh getan hatte. Dann jedoch sah sie, dass auch der Kampfpilot schwer atmete und noch mehr in dem überdimensionalen Stuhl versank als zuvor.

"Dave, sind sie OK?"

"J-ja... schon..."

"Sie müssen versuchen, aufzustehen, hören sie mich?"

"Gut... ich... ich versuch's..." Jegliche Selbstsicherheit war aus der Stimme des jungen Mannes gewichen. Dennoch sah man dem sichtbaren Rest seines Gesichtes an, dass er sich sammelte, konzentrierte, und schließlich wieder zu einem neuen Anlauf zusammenriss.

"Los! Stehen sie auf!" Aya hatte die Fäuste fest um ihre Daumen geschlossen. War ihr Atem vorher rasend schnell durch ihre Lungen gefahren, schien er sich jetzt auf ein Minimum verlangsamt zu haben. Mit starrem Blick beobachtete sie, wie der Roboter seine Arme bewegte, abgehackt, ungelenk, aber dennoch mit durchaus erkennbarem Ziel.

"So schaffen sie's nicht, Dave! Nehmen sie die Beine zur Hilfe!"

Langsam kehrte nun auch das Leben in die Beine des metallenen Kolosses zurück - doch noch im nächsten Moment bereute Aya, den Kampfpiloten auf diese Hilfsmaßname hingewiesen zu haben. Die Gliedmaßen des Roboters bewegten sich in einem vollkommen asynchronen, sinnlosen Rhythmus, bis er schließlich wild mit Armen und Beinen rudernd zur Seite kippte. Die Bewegungen hörten jedoch damit nicht auf, sondern wurden noch panischer, unkontrollierter, wie ein von tödlichen Krämpfen geschüttelter Körper.

"Hören sie auf, Dave!"

Der Kampfpilot antwortete nicht. Sein Mund war wiederum zu einem Grinsen verzogen, diesmal glich es jedoch einer verkrampften Fratze. Durch seine Arme und Beine lief ein heftiges Zittern. Der Roboter warf sich wieder auf den Bauch, versuchte erneut, sich hochzustemmen, kam auf die Füße - und kippte im nächsten Augenblick nach hinten um. Entsetzt beobachtete Aya, wie ihr Kind auf den Rücken fiel und dort immer langsamer und verzweifelter mit seinen Gliedmaßen ruderte, wie ein sterbender Käfer unter den von einer Lupe gebündelten Strahlen des Sonnenlichtes.

"Dave, hören sie auf! Sie müssen sofort aufhören, verdammt noch mal!!!"

Tatsächlich wurde der Körper des Giganten ruhiger, blieb aber keineswegs unbewegt, sondern wurde unentwegt von einem krampfartigen Zucken durchlaufen. Unter Daves Helm lief ein dünner roter Blutfaden hervor.

"Hören sie auf!!! Hören sie endlich... D, bitte, tu irgendwas!" Ayas Stimme überschlug sich. Sie fand nicht mehr länger die Kraft, ihren Blick dem Mitleid erregenden Bildnis der Bildschirmwand oder dem mehr und mehr zitternden Kampfpiloten zuzuwenden. Auch auf Ds Gesicht las die junge Wissenschaftlerin zum ersten Mal einen Ausdruck von Entsetzen. Die dunklen Augen des jungen Mannes flackerten, um seine Mundwinkel spielte ein nervöses Zucken. Dennoch reagierte er ohne eine Sekunde lang zu zögern auf Ayas Befehl.

"Soll ich die Verbindung trennen?"

"Ja aber... das ist gefährlich!"

"Ich weiß!" Ds Stimme klang erstaunlich gefasst. Als er seinen Blick hob, lag darin ein Ausdruck von Ruhe, der bitteren, endgültigen Ruhe einer ausweglosen Situation. Aya musste schlucken.

"Gut. Dann trenn die Verbindung jetzt."

D nickte. Sein Blick war starr auf den zuckenden Körper des Kampfpiloten gerichtet, während seine Finger wie selbstständige Wesen über das leuchtende Schaltpult rasten. Er drückte schließlich einen an und für sich recht unscheinbaren, kreisrunden hellblauen Knopf, zog dann langsam seine Hand zurück und strich sich durch sein von Schweiß verklebtes schwarzes Haar.

"Das war's." Noch bevor er ausgesprochen hatte, schien ein unsichtbarer Blitz in Daves Körper einzuschlagen. Er wurde wie von einem heftigen Schlag durchzuckt, verkrampfte sich, nur um im nächsten Moment vollkommen kraftlos in sich zusammenzusinken. Das blaue Licht erlosch und für einen Augenblick legte sich schwarze Finsternis über den Raum hinter der Glasscheibe. Dann schaltete sich die normale Neonbeleuchtung ein und tauchte die grässliche Szenerie in sterile Kälte.

Mit dem Verschwinden der bläulichen Unwirklichkeit fiel auch der lähmende Schock von Ayas Körper ab. Sie stürzte aus dem Kontrollraum hinaus, entriegelte mit zitternden Fingern die Türe des Nebenzimmers und eilte dann zu dem leblos dasitzenden Kampfpiloten hin. Sie zwang sich zur Ruhe und atmete einige Male tief durch, bevor sie die Befestigungen löste, die den durchtrainierten Körper an den Stuhl fesselten. Als sie ihm nun auch noch den Helm abnahm, kippte ihr der Mann beinahe entgegen.

Oh mein Gott, schoss es ihr durch den Kopf. Was mache ich, wenn er tot ist? Wenn mein Baby ihn umgebracht hat? Sie sah schon im Geiste, wie ihr kleines Labor knapp drei Tage nach seiner Eröffnung schon wieder für alle Ewigkeiten die Pforten schließen musste, wie sie selbst auf der Straße landen und von nun an ihr Essen und ihr Dach über dem Kopf aus Mülltonnen zusammensuchen würde. Dr. Aya Mitsuyuki, die große Wissenschaftlerin, die für ihre Doktorarbeit über die Verbindung von künstlicher Intelligenz mit menschlichen Emotionen einige der interplanetar begehrtesten Preise bekommen hatte, war nun arbeitslos, nein, sie war eine Verbrecherin und würde vielleicht den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen.

Aya schwebte gerade ein Bild vor, wie sie in Ketten gelegt vor einen nach ihren eigenen Plänen gebauten Scharfrichterroboter mit schwarzer Kutte, roten Augen und einem nostalgisch wertvollen Stahlbeil in der Hand geführt wurde, als mit einem Mal der Geistesblitz in ihr Gehirn einschlug, dass sie ja eventuell auch noch den Puls des Patienten fühlen konnte, bevor sie ihn für tot erklärte und ehrevoll begraben ließ.

Der jungen Wissenschaftlerin fiel ein Stein vom Herzen, als sie am Handgelenk des Kampfpiloten einen nicht einmal wirklich schwachen Puls erfühlen konnte. Mit Ds Hilfe schaffte sie den Bewusstlosen ins Krankenzimmer, wo sie überaus erleichtert feststellte, dass sein Körper sich lediglich in einem Zustand vollkommener Erschöpfung befand. Sie verarztete die Hautstellen, die unter den viel zu heiß gewordenen Elektroden zu bluten angefangen hatten, injizierte ihm ein kräftigendes Mittel und ließ sich dann mit einem erschöpften Seufzer auf ihren schwarzen Drehstuhl fallen.

Aya saß noch immer mit geschlossenen Augen und zurückgelehntem Kopf da, als langsam das Leben in den an und für sich sehr kräftigen Körper des Kampfpiloten zurückkehrte. Erst als sie ein leises Geräusch von der Krankenliege her hörte, hob sie ihren Blick und zwang sich zu einem müden Lächeln.

"Wie fühlen sie sich jetzt?"

Für einen Moment lag vollkommene Verwirrung in Daves kindlich blauen Augen. Dann, ganz langsam, verzogen sich seine Gesichtszüge, und er legte sich eine Hand an die Stirn. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen.

"Mein Kopf... oh Gott... was hat das Ding mit mir gemacht?"

"Das Ding hat gar nichts gemacht!" Ayas Stimme klang unwirscher, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. Sie war wütend, enttäuscht und erschöpft, und sie hatte an und für sich keine Mühe, auf die völlig überzogene Leidensmasche eines erwachsenen Mannes einzugehen. Aber immerhin war dieser Mann der erste gewesen, der einen wirklichen Zugang zu ihrer großartigen Schöpfung gefunden hatte, und so atmete sie tief durch und fuhr in versöhnlichem Tonfall fort. "Wissen sie, es war ihr erster Versuch, und da kann so etwas schon einmal passieren. Ihre mentalen Fähigkeiten... waren eben doch noch nicht weit genug, dieser Belastung standzuhalten, aber... das... das gibt sich mit der Zeit, und..."

"Mit der Zeit?"

"Ja!" Die junge Wissenschaftlerin verzog ihre Lippen zu einem hilflosen Grinsen. "Es tut mir wirklich leid, was passiert ist. Sie haben einfach geistig zuviel von sich abverlangt, ich meine, Arme, Beine, Kopf, Körper und das alles so parallel zu bewegen und dann auch noch sinnvoll... das... das ist natürlich nicht einfach... und natürlich kann es nicht von Anfang an..."

"Das tat verdammt weh!" Dave fuhr sich demonstrativ mit dem Handrücken über die Stirn, um die mittlerweile ein weißer Verband geschlungen war.

"Wie gesagt... das tut mir leid. Aber sie müssen es einmal so sehen: Kein Anderer war so gut wie sie! Ja, sie haben etwas wirklich Großes geschafft! Sie brauchen nur noch ein wenig Übung..."

"Aber wissen sie was?" In die hellblauen Augen des Kampfpiloten trat mit einem Mal ein düsterer Ausdruck. Aya ließ ihren Drehstuhl unweigerlich einige Zentimeter nach hinten rollen. "Das Schlimmste waren nicht die Schmerzen. Dieses Ding... das nimmt einen total ein. Es ergreift irgendwie so von einem Besitz... das ist echt verdammt noch mal unheimlich! Können sie sich vorstellen, wie das ist, wenn ihre Gedanken voll und ganz von einer düsteren Macht aufgesogen werden?"

"Na ja... ein bisschen schon..." Aya stieß ein verlegenes Lachen aus und drückte sich ein wenig fester in das Kunstleder ihres Stuhles. Aus irgendeinem Grund konnte sie die Worte des Kampfpiloten in ihrer momentanen Situation nicht einmal mehr lächerlich finden. Sie biss sich unauffällig auf die Lippe und blinzelte den plötzlich wieder erstaunlich groß wirkenden Mannes mit unschuldigen braunen Augen an.

"Ich geh jetzt jedenfalls heim. Scheiße, ich muss mich hinlegen!" Dave stand auf und strich sich mit einer Hand durch sein strubbeliges blondes Haar.

"Das kann ich sehr gut verstehen!" lächelte Aya so zuckersüß sie nur irgendwie konnte zurück. "Ruhen sie sich erst einmal aus. Sie können nächsten Dienstag wieder vorbeikommen, um das nächste Mal zu üben. Vielleicht beginnen wir ja auch mit ein paar einfachen mentalen Übungen, mal sehen. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass es dann schon viel besser klappt."

"Jetzt hör mir mal zu, Süße!" Der Kampfpilot beugte sich um knapp einen Meter hinunter und fixierte die Wissenschaftlerin mit einem Blick, der ihr jeglichen Protest im Hals stecken bleiben ließ. "Es wird kein nächstes Mal geben, OK? Ich habe genug von dem ganzen Psycho-Müll hier. Ich werd wieder zu Armee gehen, da ist es ungefährlicher!"

"Ja aber..." Aya spürte, wie langsam aber sicher die Farbe aus ihrem Gesicht wich. "Sie... sie können nicht einfach gehen! Sie haben Talent!"

"Zum Teufel mit meinem Talent!" grummelte Dave und stapfte auf die Türe des Behandlungszimmers zu. "Mir reicht's."

"Nein! Bitte!" Der jungen Wissenschaftlerin lief ein Schauer der Erniedrigung über den Körper. "Für... für so einen... starken, mutigen Krieger wie sie... da ist so eine Aufgabe doch lächerlich!" Wie sich Aya bei diesen Worten auch noch zu einem Lächeln zwingen konnte, war ihr später unbegreiflich.

"Nee, du. Wenn sie mich toll finden, können sie sich gerne jederzeit mal nach Dienstschluss bei mir melden. Aber rein beruflich sehn sie mich garantiert nie wieder!" Er zwinkerte ihr noch einmal zu, grinste, und öffnete dann die metallene Türe.

"Halt! Nein! Gehen sie nicht!" Aya streckte ihre Hand aus, was in Anbetracht der Entfernung zwischen ihr und dem Kampfpiloten doch eher lächerlicher wirkte, aber der Mann hatte ihr bereits den Rücken zugewandt. Er ließ einen letzten, heftigen Windstoß durch das weiße Zimmer fahren, als er die Türe geräuschvoll hinter sich ins Schloss warf, dann kehrte die surrende Ruhe in des Labor zurück, während Aya, ihren Arm starr ins Leere ausgestreckt, mit offenem Mund auf ihrem schwarzen Drehstuhl saß und durch ihr eigenes Ebenbild auf der silbernen Metalloberfläche hindurchstarrte.
 

"Ich hasse das Leben und das Leben hasst mich..."

Trotz der grellen Neonleuchten lag an diesem warmen Sommerabend ein dunkler Schleier über den Metalltüren und Schaltpulten von Ayas kleinem Königreich. Während draußen der überwältigende Rest der Stadtbevölkerung in den engen Straßenschluchten oder in mit verzweifelten Klimaanlagen gegen die Hitze ankämpfenden Bürogebäuden schwitzte, herrschte auf den wenigen chromblitzenden Quadratmetern unter der Erdoberfläche eisige Finsternis.

"Kopf hoch, Aya!" D hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Beine vollkommen ungeniert auf dem Schaltpult zwischen zwei gefährlich rot leuchtenden Knöpfen platziert. "Du konntest den Typ doch eh nicht leiden! Glaub mir, da findet sich schon noch ein weitaus besserer, hübscherer, sympathischerer und was-weiß-ich-noch-alles-erer Mitarbeiter ein. Nur nicht gleich aufgeben!" Er grinste so breit, dass er seine Augen dabei schließen musste und wedelte mit seinem aufgestellten Daumen neben seinem Kopf herum.

"Und meine Mitarbeiter hasse ich auch."

"Hm", machte Ravin, der bislang mit reichlich unbeteiligter Miene an einer der kahlen Wände gelehnt hatte, bedachte Aya mit einem kurzen, kalten Blick und ließ seine eisblauen Augen dann wieder ins Nichts abschweifen.

"Jetzt hast du seine Gefühle verletzt!" beschwerte sich D und nahm einen leidenden Gesichtsausdruck an.

"D, ich..."

"Nein, nein, nein! Jetzt entschuldigst du dich brav bei Ravin-chan, ja? Sonst darfst du heute nicht mehr in die Spielecke gehen!"

"Wer hat eigentlich dein Gehirn entwendet, D?" Aya vergrub ihr Gesicht in den Händen.

"Keine Ahnung. Bislang hat sich auf meine Suchanzeige noch niemand gemeldet. Oder..." Der Schwarzhaarige lehnte seinen Kopf noch ein Stückchen weiter zurück, sodass sich die vorderen Räder seines Stuhls gefährlich in die Luft hoben. "Moment mal, hat es da nicht gerade geklopft?"

"Wirklich?" Die junge Wissenschaftlerin blickte mit wenig euphorischem Gesichtsausdruck auf. "D, wenn das noch ein Bewerber ist, dann erschieße ich dich!"

"In Ordnung. Mach ihm mal auf, Ravin! Und frag ihn, ob er mein Gehirn gefunden hat."

Der Weißhaarige zog eine Augenbraue nach oben, ordnete die Haarsträhnen in seinem Gesicht und ging mit einem Schulterzucken zu der Metalltüre hin. Mit einem leisen Surren schob sich die silberne Barriere zur Seite. Aya drehte ihren Kopf, um den Neuankömmling zu begutachten - jedoch nur, um festzustellen, dass niemand in der Türe stand.

"Na super, D. Jetzt bekommst du schon Wahnvor..."

"Hast du Ds Gehirn gefunden?" Aya stockte, als sie Ravins emotionslose Stimme durch den Korridor hallen hörte. Ihre dunklen Augen schoben sich um einige Zentimeter zurück, bis sie wieder den jungen Soldaten im Blickfeld hatte. Sie sah seinen Rücken mit der grauschwarzen Uniform, das lange, schneeweiße Haar, dass ihm zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden bis über die Hüften hinab fiel - und jetzt erkannte sie auch, dass der Flur vor ihm keineswegs so leer war, wie sie zunächst angenommen hatte.

Das einzige Problem bestand darin, dass die Gestalt, die nun vor Ravin stand, etwa anderthalb Köpfe kleiner und weitaus zierlicher war. Dennoch sagte ihr irgendetwas an dem betretenen Schweigen, das nun in der Türe zwischen Labor und Korridorlabyrinth herrschte, dass es verdammt gefährlich sein konnte, Ravin einen unüberlegten Befehl zu geben.

Aya tauschte einen viel sagenden Blick mit D aus, dann quälte sie sich aus ihrem Stuhl und lief zu dem jungen Soldaten hin.

"Ähm... ja, guten Tag, hallo, was kann ich für sie tun?" Vergeblich versuchte sie, ihren Kopf an Ravins - zugegebenermaßen durchaus auch entzückender - Rückansicht vorbei zu schieben.

"Ich möchte mich gerne für die Stelle hier bewerben... ähm... zum PSI-Walking... die Anmeldung ist doch heute? Oder ist der Platz schon vergeben?"

"Nein, aber... jetzt geh doch mal einen Schritt zur Seite, Ravin, dass ich unseren Bewerber auch... begrüßen... darf..."

Ravin folgte Ayas Anweisung mit einem erneuten Schulterzucken. Er gab den Weg ins Labor frei, trottete zu seiner Wand zurück - und ließ eine wieder einmal vollkommen sprachlose Wissenschaftlerin zurück. Nach den schockierenden und unvorstellbar ermüdenden Geschehnissen des zu Ende gehenden Tages hatte Aya an und für sich Gedacht, dass nichts, aber auch gar nichts mehr sie noch auch nur im Geringsten erschüttern konnte. Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Nur der letzte, verglühende Funke Höflichkeit, den sie nach knapp neun Stunden Terror noch in sich trug, hielt sie davon ab, die Türe auf der Stelle wieder zuzuschlagen und die hohen weißen Absätze ihrer neuen weißen Stöckelschuhe am Hintern eines gewissen schwarzhaarigen Mitarbeiters auszuprobieren.

Vor ihr stand ein Kind. Es war sogar noch kleiner als sie, trug eine knielange graue Hose, ein ärmelloses Oberteil mit einer Kapuze und Stiefel, die an den Seiten mit Reißverschlüssen bestückt waren. Seine Haut war sehr blass, beinahe farblos, transparent. Schneeweißes Haar fiel ihm bis auf die Schultern hinab. Das Auffälligste an dem Jungen waren jedoch die großen, blutroten Triefaugen, die in dem ansonsten für ein Kind viel zu fein geschnittenen Gesicht irgendwie fehl am Platz wirkten. Ein Lächeln, das sogar noch breiter war als das von D, lag auf seinen bleichen Lippen.

"Hi!" Der Junge legte seinen Kopf schräg und hob seine Hand. "Ich bin Ronin. Ich würde gerne PSI-Walker werden!"

"Ähm... ich bin Aya..." Die junge Wissenschaftlerin schüttelte irritiert den Kopf und strich sich ihren Rock glatt. Dann beugte sie sich leicht zu dem rotäugigen Jungen hinab. "Also, ich will ehrlich sein. Ich glaube nicht, dass du für diese Tätigkeit geeignet bist. Sie ist wirklich sehr anstrengend - und auch gefährlich. Ich weiß nicht, ob... sag mal, wie alt bist du eigentlich?!?"

Der Kleinere schaffte es irgendwie, noch ein bisschen breiter und strahlender zu Grinsen.

"Ich bin 22."

Für einen Augenblick war Aya sprachlos - und das kam bei ihr weiß Gott nicht allzu oft vor. Sie blinzelte den Jungen einige Mal an, während in ihrem Gehirn ganz langsam der Satz verarbeitet wurde, den der Rotäugige ihr gerade eben so unschuldig lächelnd mitgeteilt hatte.

"Du bist also 22", wiederholte sie langsam und fühlte sich mit einem Mal wie eine Kindergärtnerin, der gerade ein kleines Mädchen ganz begeistert mitgeteilt hatte, dass sie ja eigentlich eine verzauberte Prinzessin sei, die über mindestens die Hälfte aller offiziell eingetragenen und erforschten Quadranten regierte.

"Wollen sie meinen Personalausweis sehen?" strahlte der Weißhaarige, kramte in einer seiner Hosentaschen herum und zog ein kleines Kärtchen hervor. Aya musste einige Male schlucken, nachdem sie das Geburtsdatum des scheinbaren Jungens drei- oder viermal prüfend durchgelesen hatte. Sie fühlte einen Anflug von Röte auf ihre Wangen steigen.

"Ähm... nun, also... das tut mir leid, wissen sie, ich..."

"Ach was, das muss ihnen doch nicht leid tun!" Ronin schüttelte lachend den Kopf. "Wissen sie, die meisten Leute schätzen mich aus irgendeinem Grund immer weitaus jünger ein als ich tatsächlich bin, aber das ist OK, wissen sie, ich bin ja nicht groß, gut, ich bin klein, ziemlich klein sogar, und auch sonst sehe ich irgendwie nicht aus wie ein Erwachsener und vielleicht wird sich das auch nie ändern, ich meine, ich sehe mich manchmal als Rentner in einer Bar sitzen und dann fragt mich der Kellner nach dem Ausweis, wissen sie, das kann einem durchaus passieren, gut, dann hab ich ja auch Falten und eine Hüftprothese und ein Gebiss und weiße Haare und... ach nein, die hab ich ja jetzt schon!"

Ronin kicherte leise und spazierte kurzerhand an der dunkelhaarigen Wissenschaftlerin vorbei, die nun schon zum zweiten Mal binnen weniger Minuten vollkommen sprachlos war und noch ein paar Mal in den Gang hinausblinzelte, bevor sie die Türe wieder schloss und dem Rotäugigen kopfschüttelnd in das Labor folgte.

"Also... von mir aus können sie es versuchen, das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Folgen sie mir bitte erst einmal in den Untersuchungsraum."

"Untersuchung? Oh, natürlich. Ich meine, es ist nicht so, dass ich irgendwelche körperliche Probleme hätte, im Gegenteil, ich bin eigentlich überaus selten und krank, wissen sie, andererseits kann man das natürlich nie wirklich wissen und im Grunde genommen kann ich hundertmal sagen, dass es mir gut geht, das Problem ist eben, dass das wirklich jeder tun kann und wahrscheinlich auch tut, lassen sie mich raten, jeder zweite Kandidat heute hat ihnen von seiner großartigen Gesundheit vorgeschwärmt und bla und bla und gerade deshalb finde ich diese Pflichtuntersuchungen sehr wichtig und überaus pflichtbewusst."

"Das... ehrt mich." Aya warf D einen letzten Hilfe suchenden Blick zu, bevor sie mit einem erschöpften Seufzer und einem unguten Gefühl in der Magengegend ihren letzten Bewerber in den Untersuchungsraum führte.

Etliche routinierte Handgriffe und unzählige in Schwindel erregendem Tempo aneinander gereihte Worte später konnte die junge Wissenschaftlerin das weiße Zimmer endlich wieder verlassen - mit einem schweren verbalen Schleudertrauma, aber dafür auch mit dem sicheren Wissen, einen vollkommen gesunden Menschen vor sich zu haben. Als sie nun aber sah, wie verschwindend klein der Weißhaarige in dem schwarzen Netz aus Metall und Kabeln wirkte, spürte sie mit einem Mal eine beklemmende Angst in ihrer Brust aufsteigen. Sie hatte die grässlichen Bilder der vergangenen Stunden nicht vergessen, der große, kräftige Kampfpilot, dessen Körper von der Maschine in einen unkontrollierten Wahn gestürzt worden war.

Wie sollte dieses scheinbare Kind den metallenen Giganten beherrschen können?

Sie verdrängte die düstere Vorahnung mit mäßigem Erfolg und wandte ihren Blick von dem grotesken Bild hinter der Glasscheibe einmal mehr der flimmernden Wand aus Monitoren zu. Der Roboter stand wieder da wie zuvor, schlafend, so als wäre nichts geschehen. Dennoch machte Aya sich Sorgen um ihr Kind. Es war gestürzt, und noch konnte ihr niemand mit Bestimmtheit sagen, ob es sich bei seinem Fall verletzt hatte oder nicht. Natürlich war der Roboter für noch weitaus größere Belastungen konstruiert worden und konnte einen derart lächerlichen Sturz locker wegstecken, doch Ayas Mutterinstinkt nahm auf solche logische Berechnungen keine Rücksicht - selbst dann nicht, wenn sie von ihr selbst aufgestellt worden waren.

"So, Ronin, du kannst mich hören?" Irgendwann im Laufe der Untersuchung hatte die junge Wissenschaftlerin es aufgegeben, den Weißhaarigen zu siezen. Obwohl es anmaßend war, sie fühlte sich ganz einfach lächerlich dabei. Und abgesehen von Ronins kindlichem Äußeren war sie ja mittlerweile auch mit dem versammelten Rest ihrer kleinen Mannschaft per du.

"Kann ich!" Aya konnte sehen, dass auf Ronins Lippen ein Lächeln lag. Noch, schoss es ihr durch den Kopf, obwohl sie sich dafür am liebsten augenblicklich getreten hätte. Am Anfang hatte der Kampfpilot auch noch gelächelt, gegrinst und dann den Verstand verloren, den er niemals so wirklich besessen hatte.

"Gut. Du kannst den Roboter nun steuern. Folge bitte meinen Anweisungen ganz genau. Ich möchte, dass du erst einmal den rechten Arm hebst."

"Hab verstanden!"

Der Roboter auf dem Bildschirm hob ohne eine Sekunde lang zu zögern seinen rechten Arm. Dann winkte er, salutierte und streckte die Hand mit einem Victory-Zeichen nach vorne.

Aya war einen Moment lang so baff, dass sie nicht einmal mehr bemerkte, wie ihre Kinnlade langsam aber sicher nach unten sackte. Ein kurzer Blick nach hinten verriet ihr, dass auch D viel zu überrascht war, um sich über den doch leicht dümmlichen Gesichtsausdruck seiner Vorgesetzten lustig zu machen.

"Wie... wie hast du das gemacht?" stammelte Aya leicht hilflos in ihr schwarzes Headset.

"Ich hab einfach ihre Anweisungen befolgt - das sollte ich doch, oder?"

"Ja... ja natürlich. Kannst du dasselbe auch mit dem linken Arm?"

"Klar doch!" Der metallene Gigant reckte den Arm siegessicher der Hallendecke zu und sah dabei so unbeschreiblich lächerlich aus, dass Aya sich trotz ihrer Überwältigung ein Kichern nicht verkneifen konnte.

"Der Kleine scheint ein Naturtalent zu sein!" grinste D und ahmte hinter ihr die Siegesgeste des Roboters nach.

"Das kannst du gerne noch ein bisschen lauter sagen!" Die junge Wissenschaftlerin schüttelte noch immer vollkommen fassungslos den Kopf, als sie die Sprachverbindung zu Ronin wieder aufnahm. "Also, wenn das so weitergeht, dann hast du den Job und ich lasse dich in meinem Testament als Alleinerben eintragen, OK?"

"Wieso denn?" Der Weißhaarige stieß ein Lachen aus. "Bin ich sooo gut?"

"Besser!" Aya wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. "Warum konntest du nicht ein paar Stunden früher als erster Bewerber vor der Türe stehen? Dann würde ich jetzt mindestens ein Jahr älter werden!"

"Erstens, ich hab erst ein bisschen spät von der ganzen Aktion erfahren und zweitens, mein Glück, so erbe ich wenigstens früher."

"Weißt du, dass du perfekt zu einem gewissen anderen Mitarbeiter hier passen würdest?" seufzte Aya und warf dem äußerst breit grinsenden D einen resignierenden Blick zu. "Aber bevor es soweit ist, musst du erstmal die nächste Hürde überspringen, und glaub mir, das wird ein klein wenig schwieriger. Du sollst nämlich laufen. Setze am besten erstmal... hey, was machst du da?!?"

Die junge Wissenschaftlerin hatte mit einem Mal das Gefühl, dass sich ihre Beine und nach und nach ihr ganzer Körper in Gummi verwandelten. Ihre dunklen Augen hinter den in blaues Licht getauchten Brillengläsern weiteten sich, als der Roboter auf dem Bildschirm zwar noch etwas hölzern, dafür aber äußerst zielstrebig und sichtlich gut gelaunt durch seinen übergroßen Spielplatz spazierte.

"Was soll ich am besten?" tönte eine heitere Stimme aus dem kleinen Lautsprecher in ihrem Ohr. Aya schluckte ein paar Mal, nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. Das Bild auf den Monitoren blieb unverändert - oder besser gesagt, es veränderte sich binnen weniger Sekunden mehr als in den endlosen Stunden, die ihr bis vor wenigen Augenblicken noch tonnenschwer auf den schmalen Schultern gelastet hatten. Der zum Leben erwachte Roboter betrachtete nämlich überaus eifrig sein kleines Reich, während seine Bewegungen mit jeder Sekunde flüssiger und sicherer zu werden schienen.

"Ähm... nichts... wirklich nicht." Aya atmete tief durch. "Entschuldige mich bitte für ein paar Stunden. Ich bin sprachlos."

"Ach, das ist gar kein Problem!" Der Weißhaarige lachte. "Wissen sie, man sagt mir manchmal, dass ich reden kann wie ein Wasserfall, ich werde sie also bestimmt noch eine Weile unterhalten können."

"Das tust du auch so!" Die junge Wissenschaftlerin spürte, wie ihr Tränen der Freude in die Augen stiegen. Die Mühen und Ärgernisse des endenden Tages waren auf einen Schlag vergessen. Was waren ein paar Stunden zugegebenermaßen äußerst nervenaufreibender Arbeit im Angesicht von Träumen, die sie ihr ganzes Leben mit sich herumgetragen hatte, und die sich nun, in den warmen Abendstunden dieses wundervollen Tages endlich erfüllen sollten.

"Was heißt das?" fragte Ronin und ließ den Roboter in eine der Kameras winken.

"Was soll das schon heißen?" Auf Ayas Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. "Willkommen im Team, Ronin!"
 

Als Aya an diesem Abend etwa anderthalb Stunden nach ihrem offiziellen Dienstschluss in ihrem winzigen Büroraum am Computer saß und die Akte ihres neuen Mitarbeiters anlegte, stand immer noch ein verzücktes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie kopierte seine medizinischen Daten in einen Ordner, speicherte ihn und begann, ein leises Liedchen vor sich hin zu pfeifen. Ganz in die leicht schrägen Töne ihres momentanen Lieblingsohrwurmes vertieft, bemerkte die junge Wissenschaftlerin nicht, wie jemand von hinten an sie herantrat.

Plötzlich legte ihr sich eine eiskalte Hand auf die Schulter. Sie fühlte einen der Finger an ihrem Hals, und für den Bruchteil einer Sekunde jagte ihr ein entsetzter Schauer über den Rücken, als sie eine Haut an ihrer eigenen spürte, die sich auf eine unbeschreibliche Art und Weise tot und leblos anfühlte.

"Wer zum Henker muss mich so erschre... Ravin?" Aya warf ihrem erschreckenderweise jüngsten Mitarbeiter einen überraschten Blick zu, während ihr Herz immer noch mit leicht erhöhter Geschwindigkeit in ihrer Brust flackerte. Ravin sah die Wissenschaftlerin mit seinen gleich bleibend kühlen Augen an und zog seine Hand zurück. Aya wusste nicht, ob sie es sich nicht nur einbildete, aber ihr war so, als bliebe ein eisiges Kribbeln an ihrem Hals zurück, dort, wo der Weißhaarige sie berührt hatte.

"Ich werde gleich wieder gehen", entgegnete er mit seiner vollkommen emotionslosen Stimme. Der Ausdruck auf seinem wunderschönen Gesicht blieb undeutbar.

"Ist schon in Ordnung, du störst nicht!" versicherte Aya hastig und wandte ihren Drehstuhl dem jungen Soldaten zu. "Ich wusste nur nicht, dass du noch hier bist. Was gibt es?"

"Es geht um den Neuen." Ravin lehnte sich gegen eine der Wände. Seine eisblauen Augen fixierten Ayas Gesicht und schienen gleichzeitig geradewegs durch sie hindurchzublicken. Die junge Wissenschaftlerin fröstelte es.

"Was ist mit ihm?" fragte sie hastig.

"Etwas stimmt nicht mit ihm." Die Stimme des Weißhaarigen war eiskalt. Noch während er sprach, bemerkte Aya, was sie an seinem Blick so sehr beunruhigte. Es war die ebenso einfache wie unerklärliche Tatsache, dass der junge Soldat so gut wie nie blinzelte.

"Wie meinst du das? Und wie kommst du darauf?"

"Ganz einfach. Als Wachsoldat ist es meine Aufgabe, mich über jeden neuen Angestellten zu informieren. Allerdings liegen über Ronin so gut wie keinen Akten vor. Die Daten, die er dir gegeben hat, sind korrekt, aber über sein Vorleben lässt sich nichts herausfinden."

"Ja aber... dafür gibt es bestimmt eine Erklärung!"

"Bestimmt. Aber auch in seinen medizinischen Daten gab es Ungereimtheiten."

"Das überlass jetzt aber mal wirklich mir!" Aya verschränkte die Arme vor der Brust und konnte sich einen trotzigen Unterton nicht ganz verkneifen. Sie hatte nach unvorstellbar langer Suche ihr Wunderkind gefunden, ihren PSI-Walker, und kein Ravin der Welt hatte das Recht, ihr diesen Triumph streitig zu machen. "Ja, einige seiner Werte waren ungewöhnlich, aber wenn man seine ganz offensichtlich immensen psychischen Werte in Betracht zieht, kann das schon einmal vorkommen. Wenn du wüsstest, was ich schon alles an seltsamen Gestalten untersucht habe!"

"Ich wollte es nur gesagt haben." Der Weißhaarige drückte sich von der Wand ab und ging zur Türe hin. Dort blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Aya ertappte sich dabei, wie sie seinem Blick unweigerlich auswich. "Ich werde keine weiteren Nachforschungen über ihn anstellen, wenn das nicht nötig ist."

"Ist es bestimmt nicht!" versicherte die junge Wissenschaftlerin gereizt. Normalerweise gab sie sich redlich Mühe, ihre feierabendliche Erschöpfung nicht an ihren Mitarbeitern auszulassen, aber Ravin schien es ohnehin nicht zu interessieren, in welchem Tonfall seine Mitmenschen mit ihm redeten. Wie erwartet zeigte sich auf seinem blassen Gesicht nicht einmal die Andeutung einer Gefühlsregung.

"Gut. Dann werde ich jetzt gehen."

"Ja, kannst du!" grummelte Aya und strich sich durch die Haare. "Ach so: Wenn D dir das nächste Mal eine Anweisung gibt, bitte denke vielleicht mal eine Sekunde lang nach, bevor du sie blindlings befolgst - ansonsten könnte es sein, dass wir hier bald keine Besucher mehr empfangen können. Du hast das vielleicht nicht ganz verstanden, aber die Sache mit dem verlorenen Gehirn war nicht wirklich ernst gemeint."

"Ich weiß." Für einen Augenblick verzogen sich Ravins Lippen zu einem eiskalten Lächeln, während seine Augen starr und emotionslos auf Ayas Gesicht gerichtet waren. Er strich sich langsam eine schneeweiße Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann drehte er sich um verließ den Raum.
 

Ende des zweiten Kapitels

Akte 3a/ Bin ich schön?

Irgendwie... hab ich lange nix mehr hochgeladen... was soll man sagen? Tempus fugit. Und zwar viel zu schnell... oh, und weil dieses Kapitel irgendwie - ausgeartet ist, hab ich kurzerhand beschlossen, es in zwei Teile aufzuteilen. Ich weiß, das Ende ist gemein, aber... viel Spaß beim mitraten! ^_^ Ja, und es ist auch so noch lang, aber ich hatte sehr viel Spaß beim Schreiben und hoffe, den habt ihr beim Lesen genauso!!! Diese Story ist bislang nicht so sehr beachtet worden, ich hoffe, das ändert sich jetzt, wo's richtig losgeht. Dieses Chapter ist sehr... von meiner momentanen Verfassung beeinflusst, was natürlich wieder an meinen armen Charas ausgelassen wurde. *drop* Gomen! Trotzdem hat's mir Spaß gemacht... ^^;;; Ich bin schlimm. Und ich widme das wieder mal meinem Fünkchen, der Yoko-chan (Danke, dass ihr immer so lieb meine Fanfics lest ;_;), allen Mit-RPGern und vor allem der Tía-chan, danke für das schönste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten. Und DIR!!! ^____^
 

Das Lächeln des Mädchens glich dem eines Engels. Ihre zart geschwungenen roten Lippen bildeten einen anmutigen, faszinierenden Kontrast zu ihrer blassen Haut. Langes, goldblondes Haar rahmte ihr fein geschnittenes, klassisches Gesicht ein. Nur ein halb transparentes, schimmernd weißes Kleid umspielte die sanften Rundungen ihres makellosen Körpers.

Das Einzige, was dieses betörende Abbild vollkommener Schönheit störte, waren die armdicken Stahlkabel, die Bauch, Brust und Schultern des Mädchens durchstießen und sie so wie eine engelsgleiche Marionette knapp einen Meter über dem spiegelnden Boden des Laufstegs schweben ließen. Einer der Deckenscheinwerfer ließ die bizarre Szenerie in einem geisterhaft hellen Rund erstrahlen. Der Rest des Raumes, der schwere, samtig rote Vorhang und die Armada von Stühlen, auf denen normalerweise unzählige Reporter und Fotografen die zehn Meter, die die Welt bedeuteten, in ein Feuerwerk aus Blitzlichtgewittern tauchten, lagen wie eine längst verlassene Grabstätte in erdrückendem Halbdunkel.

Aya verzog das Gesicht und wandte sich mit einem widerwilligen Grummeln von ihrem IV-Gerät ab, das die wieder einmal alles andere als erbaulichen Spätnachrichten als fotorealistisches Hologrammbild in ihr Wohnzimmer projizierte. Der durchaus verstörende und nicht unbedingt unblutige Anblick des aufgehängten Mädchens wurde von einer ruhigen, emotionslosen Männerstimme kommentiert, die der jungen Wissenschaftlerin bis in ihre kleine Küche folgte.

"Der Tod der jungen Kimberly Melvin überschattet die nahende Vorausscheidung des größten Schönheitswettbewerbs des Sigma-Quadranten, dem Evershine New Diamonds Award. Profiler vermuten, dass ein Serientäter hinter der Tat stecken könnte und verlangen die Absagung der Veranstaltung. Nach Aussagen des Firmenleiters Marque Venelle ist der Kosmetikhersteller Evershine zurzeit jedoch noch nicht gewillt, auf seine jährliche Haupteinnahmequelle zu verzichten und hofft..."

Mit einem energischen Tritt nach der kleinen Fernbedienung, die nichts ahnend auf dem Telefontischchen zwischen Eingangs- und Küchentür geruht hatte, brachte Aya ihr IV-Gerät mitsamt Nachrichtensprecher zum Schweigen. Während das schwarze Plastikteil mit einem ebenso erschrockenen wie empörten Klappern zu Boden fiel, angelte die Wissenschaftlerin nach dem Teller, auf dem sie ihr Essen vom Vortag aufgewärmt hatte, und stapfte dann zurück in ihren bescheidenen Wohnraum, wo sie sich auf einen der schon etwas ausgesessenen, aber dafür umso gemütlicheren Ledersessel fallen ließ.

Langsam begann sie die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden zu begreifen.

Da war zunächst einmal dieser große, leuchtend rote Strauß künstlich herangezüchteter Rosen gewesen, der heimlich, still und duftend vor der Türe ihres Appartements platziert worden war. Sicher, Aya war es gewohnt, von Laborgehilfen und Kollegen jeglichen Alters umschwirrt zu werden wie eine Kerzenflamme im Mottenbau, aber es war doch alles andere als gewöhnlich, dass sich jemand den überaus unreifen Spaß erlaubte, ihr einen derart sündteuren Blumenstrauß ohne Absender oder Nachricht zukommen zu lassen.

Wie auch immer, sie hatte sich über diese willkommene kleine Abwechslung nach einem langen, harten und vor allem grauenvoll eintönigen Arbeitstag durchaus gefreut - zumindest so lange, bis sie jene geheimnisvolle Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter gehört hatte. Normalerweise ärgerte sich Aya jedes Mal darüber, dass sie Tag für Tag heimkehrte, ohne ein Lebenszeichen auf ihrem kleinen elektronischen Freund vorzufinden. Wenn sie dann auch noch ans Fenster trat und hinaus auf das glitzernd graue Häusermeer Litonias blickte, wurde ihr mit grausamer Eindringlichkeit bewusst, dass sie doch eigentlich nur eine gesichtslose Nummer unter Milliarden war, die sich als winziges, unbedeutendes Zahnrad in ein fehlerhaftes, sinnloses Ganzes einfügte. Und wenn sie sich dann mit einer extragroßen Tasse Vanillecapuccino und einer Tafel Guaranaschokolade vor die tristesten Sendungen, die ihr IV-Gerät am späten Nachmittag zu bieten hatte, zurückzog, um ausgiebig zu bedauern, dass niemand an sie dachte und niemand sie wirklich kannte, spätestens dann begann sie ein ums andere Mal zu bedauern, dass sie sich anstelle dieser wortkargen mechanischen Nervensäge nicht den schönen Camouflage-Minirock oder die blaue Nachttischlampe oder den silbernen, ganz besonders flauschigen Bettvorleger gekauft hatte.

Kurz gesagt: Der ewig schweigende Anrufbeantworter gehörte zu den ständigen kleinen Ärgernissen in Ayas Alltagsleben, und eigentlich hatte sie sich über das rot blinkende Lämpchen an dem kleinen Gerät sogar fast noch mehr gefreut als über den unzweifelhaft kostspieligen Rosenstrauß.

Dann jedoch hatte sie sich die Nachricht angehört.

"Sieh dir unbedingt die 21-Uhr-Nachrichten an. Die dritte Nachricht, vielleicht auch die vierte. Ich brauche deine Hilfe, Aya."

Nachdem die junge Wissenschaftlerin den kurzen, eindringlichen Hilferuf etwa zehnmal wiederholt und die nächsten zweieinhalb Stunden damit verbracht hatte, sich vergeblich daran zu erinnern, wo sie die tiefe, von einem undefinierbaren Akzent beherrschte Männerstimme schon einmal gehört hatte, war sie schließlich doch vor dem IV-Gerät gelandet, nur um dort einem durchbohrten, lächelnden Modell ins Gesicht zu blicken.

Und jetzt endlich wusste sie auch, wer ihr die Blumen und die dazugehörige Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Gleichzeitig hatte ihre Freude über die ungewohnten Aufmerksamkeitsbezeugungen einen reichlich heftigen Tiefschlag erleiden müssen.

Es gab nämlich einige Kapitel in Ayas Vergangenheit, die sie irgendwo, ganz tief unten in einer unauffälligen Kiste vergraben und im grauen Wandschrank des Vergessens platziert hatte. Sie schämte sich nicht etwa dafür, und noch viel weniger wollte sie all diese Erlebnisse ungeschehen machen - aber sie ruhten gut und friedlich in ihrem angestaubten Grab mit dem großen, leuchtend roten Aufdruck: "Ich war jung und brauchte das Geld!" und sollten dort nach Möglichkeit auch nicht angetastet werden.

Eine dieser gesammelten Requisiten und Kuriositäten waren jene Monate in Ayas Studienzeit, nachdem der hoffnungsvollen, dafür aber umso mittelloseren angehenden Wissenschaftlerin eines schicksalhaften Abends im damaligen Trendlokal der Stadt, dem Heaven's Delusion, ein sympathischer, wenn auch allzu glatter Mann namens Marque, Marque Venelle, begegnet war. Er hatte sie angelacht, sich kurzerhand mit seinem zartfliederfarbenen Anzug, dem schreiend bunten Hemd und der silbernen Sonnenbrille im pechschwarz am Kopf klebenden Haar neben sie gesetzt und sich mit ihr - unterhalten. Da bei dem damals aber noch recht jungen Nachtclubbesitzer jegliche noch so banale Unterhaltung einer Gehirnwäsche gleichkam, hatte Aya gar nicht recht bemerkt, dass er ihr einen Job in seinem florierenden Laden angeboten hatte. Bis, ja, bis sie etwa vierundzwanzig Stunden später mit Silbertablett und Bunnykostüm bewaffnet durch das Heaven's Delusion gestöckelt war, um den mehr oder weniger lüsternen Gästen Getränke anzubieten.

Damals war ihr der eigentlich doch sehr leicht verdiente Lohn gerade recht gekommen, doch mittlerweile hatten sich die Zeiten geändert. Sie war nun eine nicht mehr angehende, sondern schon aufstrebende Wissenschaftlerin, die es nach langen Jahren harter Arbeit endlich geschafft hatte, sich einen gewissen Bekanntheitsgrad in der reich bevölkerten Szene zu verschaffen. Marques Nachtclubrepertoire hatte sich mittlerweile auf etliche andere Planeten ausgebreitet und erfreute sich immer noch größter Beliebtheit - obwohl, oder vielleicht gerade weil ihr Besitzer sie eigentlich nur noch rein hobbymäßig betrieb und ganz nebenbei noch eine der größten Kosmetikfirmen des gesamten Quadranten leitete.

Diese und noch etwa tausend andere Gründe trugen als erdrückende Gesamtmasse dazu bei, dass Aya nicht die geringste Lust verspürte, ihren ehemaligen Arbeitgeber noch einmal wieder sehen zu müssen. Sie wollte die teuren Blumen aus dem Fenster werfen, auf dass ein übel gelaunter Passant sich an ihnen erfreuen konnte - und den Anrufbeantworter am liebsten gleich hinterher - aber ihre Fenster blieben geschlossen und die Rosen unberührt. Denn trotz all ihres Widerwillens wusste Aya, dass sie sich noch am nächsten Tag mit Venelle verabreden und nur wenig später wieder einmal in seinem Auftrag handeln würde. Und trotz dieser ernüchternden Erkenntnis mischte sich eine unverhohlene Spur von Stolz in die trübsinnige Laune der jungen Wissenschaftlerin.

Ihr kleines Labor hatte soeben seinen ersten Auftrag erhalten.
 

Ayas dunkle Vorahnung sollte sie wieder einmal nicht trügen, denn es dauerte in der Tat nur etwas weniger als vierundzwanzig Stunden, bis die Dunkelhaarige mit einem ausnahmsweise gar nicht so kurzen Rock und einem unguten Gefühl in der Magengegend im lauschigen kleinen Büro ihres ehemaligen Vorgesetzten saß. Süßlicher Zigarrenrauch hing in dunstigen Nebelschwaden zwischen den mit violetter Tapete und dunklem Holzimitat verkleideten Wänden, die ein enges Viereck um eine Garnitur von schwarzen Ledersesseln bildeten. In den Ecken des Raumes standen grün glänzende Palmpflanzen, zwischen denen je zwei flache quadratische Lampenschirme wie Bilder an der Wand hingen und den Raum in diffuses Licht tauchten.

"Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist, Aya. Du weißt gar nicht, was für einen Gefallen du mir damit tust."

Venelles tiefe Stimme erfüllte den kleinen Raum mit ihrem tiefen, einlullenden Tonfall. Aya nickte schwach, dann legte sie den Kopf ein kleines Stück weit in den Nacken und ließ ihre Augen zu dem großen schwarzen Deckenventilator schweifen, der gute zwei Meter über ihnen träge seine Runden zog, ohne wirklich Bewegung in die stagnierende Luft zu bringen.

"Das ist mein Job", entgegnete sie kurz, ohne den Blick des schwarzhaarigen Mannes aufzufangen. Ein leises metallisches Klicken ertönte, als dieser daraufhin seine mit goldenen Ringen besetzte Hand nach einem der Cocktailgläser ausstreckte, deren grellbunte Farben sich auf dem kleinen runden Glastisch inmitten der ledernen Sitzgruppe widerspiegelten.

"Ich weiß, ich weiß, Honey. Du hattest schon immer höhere Ziele, was? Schade eigentlich. Du warst mein bestes Pferd im Stall. Wirklich schade."

Aya antwortete mit einem Lächeln. Sie wusste, dass sich jede weitere Antwort erübrigte, denn natürlich hatte Venelle mit seinen Worten voll und ganz Recht. Ja, sie hatte höhere Ziele verfolgt. Ja, die Stammkunden des Heaven's Delusion hatten ihre Kündigung nur schwer verschmerzt (und sie auch noch monatelang auf offener Straße auf selbige Tatsache hingewiesen). Aya vermied es grundsätzlich, auf rhetorische Fragen eine Antwort zu geben. Außerdem - konnte man überhaupt noch tiefere Ziele verfolgen, als Nacht für Nacht zwischen Rauch, Bartischen und Betrunkenen im Playboyhäschendress Getränke zu verteilen?

"Und jetzt hat uns das Schicksal wieder zusammengeführt..." Venelle verschränkte seine braungebrannten Finger und zeigte seine blitzend weißen Zähne. Eigentlich, schoss es Aya unweigerlich durch den Kopf, sah ihr ehemaliger Chef immer noch genauso aus wie früher. Der hellblaue Anzug. Die cremefarbene Krawatte. Die goldene Rolex am Handgelenk. Die schwarz glänzenden Wellen, die sich über seine dunkle Kopfhaut zogen und einer ebenso schwarzen Sonnenbrille mehr oder weniger Halt boten. All das brach wie ein alptraumhaftes Déja-vu-Erlebnis über die Wissenschaftlerin herein und sie fühlte sich mit einem mal wieder so klein und völlig von dem geballten Charisma des jungen oder zumindest jung gebliebenen Nachtclubbesitzers gebannt wie in jener schicksalhaften Nacht, als sie völlig ohne nachzudenken einen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte.

"Eigentlich war es eher mein Anrufbeantworter." Aya zwang sich zu einer trockenen Antwort und rückte ihre Brille zurecht. "Beziehungsweise diese Nachrichtensendung. Und ich liege doch richtig damit, dass es genau darum auch geht. Ich soll deinen Modelcontest retten, bevor entweder ein weiteres dieser Zuckerpüppchen oder der letzte Rest deiner Reputation im Eimer ist, richtig?"

"Ist das ein Verhör?" Venelle lachte so plötzlich auf, dass ihm beinahe die Zigarre aus dem Mund fiel.

"Nein. Aber bevor ich ein Problem löse, muss ich erst einmal wissen, worum es eigentlich geht."

"Honey, das fällt hier wohl unter empirische Wissenschaften, aber die liebt ihr Akademiker doch so, was?" Er strich sich eine glänzende Haarlocke aus dem Gesicht, die sich in doch noch nicht ganz unterdrückter Widerspenstigkeit aus dem aalglatten Gesamtkunstwerk gestohlen hatte, und nahm einen weiteren Schluck seines giftgrünen und wohl auch ebenso gesunden Cocktails, in dem eine dicke Schicht zerstoßenes Eis wie gefrorenes und zerschmettertes Mondlicht schimmerte. Aus irgendeinem Grund überflutete das Gefühl leiser Melancholie, den dieser Anblick in Aya wachrief, jene unterschwellige Wut, die schon seit Venelles erster lustiger Bemerkung mit stetig wachsendem Appetit an dem Nervenkostüm der jungen Wissenschaftlerin nagte. Ein resignierter Seufzer stahl sich über ihre Lippen.

"Soll das heißen, du hast keine Ahnung, was es mit diesem Mord auf sich hat? War es denn der Erste?"

"Der Erste?" Der braungebrannte Konzernchef lachte wieder, diesmal allerdings klang ein bitterer Unterton in seiner Stimme mit. "Honey, wenn das so wäre, würde ich dir jetzt nicht deine kostbare Zeit stehlen. Allerdings gab es auf Ecliptica schon das eine oder andere Casting, und glaub mir, der Planet hat ne ganze Menge hübscher Chicos und Chicas zu bieten. Andererseits - was erwartet man? Dort ist immerhin unsere Quadrantenhauptstadt Neo-Midgard, und die ließ sich nicht zweimal bitten und der Ansturm war echt gigantisch. Das war unser Glück. Ich glaub, das erste Mädchen hatte keine wirklichen Angehörigen. Hübsches Ding, aber wahrscheinlich ne Nutte oder Schlimmeres. Jedenfalls hat keiner nach ihr gefragt."

"Es gab also schon ein Opfer. Und du bist sicher, dass es der gleiche Täter war?" Ayas Finger zeichneten Linien aus gebrochenem Licht auf das Leder der breiten Sessel. Sie fühlte, wie ein leichtes, aber nicht unbedingt unangenehmes Schaudern über ihren Rücken lief. Es fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer, ihre seit jeher etwas zu stark ausgeprägte Neugierde noch zu bezähmen.

"Sie war die Erste. Du weißt, ich bin alles andere als religiös, Aya. Aber dieses Mädchen - Moira, wenn ich mich nicht irre - die hatte jemand gekreuzigt. Sie lag in einem weißen Kleid auf dem Laufsteg, in den Händen und den Füßen Schraubenzieher und im Bauch ne Babypuppe. Ja, ganz recht, im Bauch. Gott weiß, wo das Zeug hingekommen ist, das vorher drinnen war. Es war pervers. Aber das Schlimmste... das..." Venelle stockte. Auf das gesunde Braun seines Gesichtes hatte sich eine leicht grünlich anmutende Bleiche gelegt. Er nahm einen weiteren tiefen Schluck von seinem Getränk und beugte sich ein Stück weiter zu Aya vor, bevor er in leiserem Tonfall weitersprach. "Das Schlimmste war nicht das Blut und alles, sondern... ihr Gesicht. Ich bin nicht leicht zu erschüttern, das darf man in meinem Job nicht sein und das weißt du auch. Aber davon... davon hatte ich noch tagelang Alpträume."

"Wieso?" Ayas große braune Augen hingen wie gebannt an Venelles leicht bebenden Lippen.

"Sie... sie hat gelächelt. Wie ein Engel. Nicht so ein verzerrtes Todesgrinsen, keine Spur von Angst oder irgendetwas in der Art. So glücklich hat sie lebend und ganz jedenfalls nie gelächelt. Ich hab noch nie so etwas Krankes gesehen, und ich hab ne Menge gesehen, Honey."

"Ja aber..." Die junge Wissenschaftlerin spürte, wie das warme Leder unter ihren Fingern zu kleben begann. "Ein Mensch, der getötet wird, lächelt normalerweise nicht, und schon gar nicht glücklich oder entspannt. Aber erzähl nur erst einmal fertig, bevor ich mit irgendwelchen Theorien und Zweifeln auspacke."

"Für dich doch gerne, Aya. Natürlich wurde intern getuschelt, auch wenn nichts von dem grauenvollen Mord nach draußen drang. Aber damals war es noch mehr Sensationsgier - immerhin hat ein leichtes Mädchen wie Moira immer viele Feinde und man vermutete sogar religiöse Fanatiker hinter der ganzen Sache. Aber kurz darauf fand man etwas in einem der Spinde des Gebäudes, in dem die besten Models des Castings untergebracht worden waren. Ich sage bewusst etwas, denn als Mensch kann man es ja wohl kaum mehr bezeichnen, wenn ein bloßer abgetrennter Kopf auf einen Puppenkörper genäht wird, nicht? Jedenfalls war es diesmal einer der Jungs, Stan. Wieder war der Körper unauffindbar. Wieder dieses selige Lächeln. Abartig. Das Mädchen, das ihn oder es oder wie auch immer gefunden hat, sitzt jetzt glaube ich in der Geschlossenen. Schade - sie war hübsch. Wir hatten allerdings wieder Glück. Denn dieser Stan war von zuhause weggelaufen, um am Wettbewerb teilzunehmen. Also immer noch keine wirkliche Gefahr für uns. Was meinst du soweit dazu?"

"Schäbig", grummelte Aya und bemaß Venelle mit einem tadelnden Blick. "Und damit meine ich nicht den Mörder."

"Honey, du verstehst mich falsch. Natürlich tat der Junge mir Leid, und das Mädchen ja sowieso. Aber in diesem Business ist sich nun mal jeder selbst der Nächste und man muss immer das Gemeinwohl im Auge behalten. In diesem Fall bedeutet das: Show must go on. Wir brauchen diesen Wettbewerb. Das Geld. Schon allein die verdammte Webecampagne für den New Diamonds Award kostet mehr, als drei durchschnittliche Unternehmen in einem ganzen Jahr verdienen. Zusammengenommen natürlich. Die Sache abblasen? Unmöglich! Und deshalb können wir auch keine Massenpanik oder böse Gerüchte gebrauchen, verstehst du?"

"Ja." Aya nickte ergeben, um Venelles theatralischem Vortrag ein schnelles Ende zu bereiten. "Aber schäbig ist es trotzdem. Egal. Was ist dann passiert?"

"Zu diesem Zeitpunkt haben wir die ganze Sache wohl noch nicht mit dem nötigen Ernst behandelt. Aber warum auch? Wir sind dann ja eh mit Mann und Models nach Attraya übergesiedelt. Irgendwie dachten wohl alle ,Neuer Planet, neues Glück' oder etwas in der Richtung. Es wollte wahrscheinlich auch keiner damit rechnen, dass uns dieser mordende Irre folgt - meine Güte, in einer Mega-Metropole wie Neo-Midgard laufen nun mal eine ganze Menge Freaks und Killer und so weiter herum, jedenfalls fühlten wir uns nach diesem Ortswechsel alle mehr oder minder sicher oder wollten es zumindest. Und tatsächlich vergingen fast drei Wochen, ohne dass unser ,Sweet Slaughter' irgendein Lebenszeichen von sich gegeben hätte. So wurde unser Mörder nämlich mittlerweile von den Eingeweihten genannt, weil seine Opfer zwar reichlich verstümmelt, aber dabei doch erstaunlich glücklich aussahen. Etliche Models kamen und gingen und der übliche, schon allein zeit- und stressbedingte Verdrängungsprozess setzte ein."

"Bis gestern Abend", vermutete Aya und brachte so Venelles düstere Erzählung an dessen Stelle zu Ende. Der hatte mittlerweile zu seiner üblichen solariumverwöhnten Hautfarbe zurückgefunden und bleckte seine professionell gebleichten Zähne, während er einen tiefen Zug von seiner halb heruntergebrannten Zigarre nahm und dann einen glühend roten Regen aus Asche und sterbenden Funken in seinen goldenen Aschenbecher hinabgehen ließ.

"Ganz genau. Und diesmal hatten wir weniger Glück. Irgendeine dieser gottverdammten Reporter-Ratten muss von der ganzen Sache hier Wind gekriegt haben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber meiner Meinung nach sollte man jeden Einzelnen von denen ersäufen und dann von mir aus ihre schicken, feinen Wohnungen zu wohltätigen Zwecken vermieten. Das wäre die mit Abstand beste Tat, die unser kleiner grauer Planet hier jemals gesehen hat!"

"Soll ich jetzt den Mörder finden oder Attrayas Reporter unter die Erde bringen? Das solltest du mir eventuell noch sagen, bevor ich zur Tat schreite." Die junge Wissenschaftlerin fühlte sich von Minute zu Minute unwohler in dem neblig finsteren Raum, der durch die ausnahmslos dunklen Farben der Wände und Einrichtungsgegenstände noch ungleich kleiner und auf eine unangenehme Art und Weise erdrückend wirkte. Der träge Ventilator ließ einen kraftlosen Wirbelsturm aus blauem Dunst inmitten der glanzlosen schwarzen Ledersitzgruppe emporsteigen. Das bleiche Licht der Wandlampen wurde mit jedem Zug an der teuren braunen Zigarre mehr und mehr gedämpft.

"Honey, du bist meine letzte Hoffnung. Der Strohhalm in meinem Cocktailglas sozusagen. Ich kann doch nicht zur Polizei gehen! Was würden die mir sagen? Ich soll die Veranstaltung abblasen! Und dann das ganz öffentliche Drumherum, ich wäre glatt ruiniert, da könnte ich mir den Sweet Slaughter auch gleich zum Kaffee einladen. Ich hoffe du verstehst selber, dass diese Möglichkeit quasi nicht existiert. Aber du kennst meine Philosophie - zu jedem Problem gibt es eine Lösung, und meine Lösung hat braune Haare und unwerfend lange Beine, verstehst du?"

"Nein. Vergib mir, aber für derart subtile Anspielungen reichte mein bescheidener IQ noch nie aus." Aya ließ ein leises Grummeln über ihre Lippen entweichen und warf einen sehnsüchtigen Blick zu der schwarzen Türe hin, deren golden polierter Türgriff ihr wie ein einziges pupillenloses Zyklopenauge höhnisch entgegenblitzte. Das Wiedersehen mit ihrem ehemaligen Chef weckte tatsächlich ursprünglichste Seiten in ihr, von denen sie nicht einmal mehr geahnt hatte - insbesondere einen ausgeprägten Fluchtinstinkt.

"Für deinen Humor könnte ich dich heiraten, Aya, aber wie du weißt lehne ich derartige Dinge ja grundsätzlich ab." Ein tiefes, leicht heiseres Kichern drang aus Venelles Kehle hervor. Er fuhr mit seinem rechten Zeigefinger einmal um den vergoldeten Rand seines Cocktailglases herum. Ein leiser, singender Ton durchschnitt die bedrückend schwere Luft. "Aber es wird Zeit, dass ich dich in meinen in der Tat überaus subtilen Plan einweihe. Du hast dich bestimmt gefragt, warum ich mich ausgerechnet an dich gewendet habe, oder?"

Nein, dachte Aya, während das letzte sterbende Leuchten in ihren dunklen Augen endgültig erlosch, eigentlich hatte sie sich das nicht gefragt. Vielmehr war sie naiv und verblendet davon ausgegangen, dass tatsächlich jemand von ihren Fähigkeiten und ihrer neuen Stellung gehört und ganz spontan beschlossen hatte, sie und ihr kompetentes Team um Hilfe zu bitten. Sicherlich - eine dumme, ganz und gar absurde Annahme. Aber die kleine Aya, die vom Leben und von der großen bösen Welt da draußen ja sowieso keine Ahnung hatte, fühlte sich durch Venelles Frage so ernüchtert wie durch einen Faustschlag mitten in die Magengrube.

"Ja, natürlich", nickte sie hastig, bevor ihre tiefe Enttäuschung den Weg aus den Untiefen ihres Inneren hinauf an die betont gelangweilt dreinblickende Oberfläche ihrer Gesichtszüge finden konnte. "Wer würde das nicht tun?"

"Die Antwort ist ganz einfach, Darling!" grinste Venelle, ganz offensichtlich von Stolz ergriffen, dass ihm ein neuer Kosename für die junge Wissenschaftlerin eingefallen war. "Du... warst immer der Liebling meiner Gäste, und glaube mir, die hatten Geschmack und in den meisten Fällen auch reichlich Erfahrung. Du kannst dich bewegen, du hast eine perfekte Figur - von allem nicht zuviel und nicht zuwenig, sondern eben genau richtig und unwahrscheinlich lecker - und ganz nebenbei verfügst du auch noch über das reizendste Gesichtchen jenseits des Atalic Lake und darüber hinaus. Aya, du wirst sie umhauen! Du wirst sie nicht nur täuschen - du hast Chancen, verstehst du?"

"Moment!" Venelle hatte kaum das letzte Wort über seine Lippen gebracht, da brachen Ayas latent geweckte Instinkte endgültig über sie herein und ließen sie so heftig aufspringen, als ob ein Stromschlag durch das matte, warme Kunstleder gefahren wäre. Ihre dunklen Augen blitzten mit ihren Brillengläsern um die Wette, in denen sich der schwache Widerschein der Lampen und der intensiv rote Glutfunken von Venelles Zigarre spiegelten. "Sag mir jetzt bitte, dass ich das falsch verstanden habe. Ich soll... ich... ich soll..."

"Du sollst dich als Modell ausgeben und an meinem kleinen Wettbewerb teilnehmen. Ganz harmlos und niemand außer uns beiden Hübschen wird jemals etwas davon erfahren."

"Ich hoffe inständig, du meinst das nicht ernst! Du wolltest mir gerade eben nicht mitteilen, dass ich allen Ernstes zwischen diesen grinsenden, mehr Silikon als Fleisch gewordenen Barbiepüppchen in Badeanzügchen und Abendkleidchen und natürlich den patentierten Stöckelschühchen von Genickbruch und Co.-KG über einen mörderisch schmalen und noch viel, viel glatteren ,Lauf'steg hüpfen und mich von einer Horde notgeiler alter Säcke, verzeih, Modefotografen und frigiden alten Modedesignerjungfern und natürlich, wie du jetzt sagen würdest, Reporter-Ratten begaffen lassen soll wie ein Affe im Käfig?" Die junge Wissenschaftlerin unterbrach ihren Redeschwall für eine kurze Atempause, um die gesamte Wut, die sich im Laufe der vergangenen Stunde in ihr angestaut hatte, in ihre letzten Worte zu legen, und selbige ihrem ehemaligen, aber garantiert nicht zukünftigen Arbeitgeber wie zwei Magnumschüsse aus nächster Nähe mitten ins schmierige Grinsen zu feuern. "Vergiss es, Honey!!!"

Aya warf sich ihren langen braunen Zopf über die Schulter und gab noch ein letztes entrüstetes Schnauben von sich, dann stapfte sie hoch erhobenen Hauptes auf die geduckte schwarze Türe zu, obgleich alles in ihr danach schrie, sich noch weitere wunderbar erhebende Minuten an Venelles paralysiertem Gesichtsausdruck zu weiden. Mit einer energischen Bewegung zwang sich die junge Wissenschaftlerin dazu, den altmodischen goldenen Türöffner herumzudrehen (Venelle bestand in seinen Firmengebäuden, ebenso wie in seiner Prachtvilla auf einem der kleineren Trabanten Eclipticas aus stilistischen Gründen auf manuell zu öffnende Türen), um das so genannte Konferenzzimmer des Konzernbesitzers so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.

Sie wusste nicht, warum Venelles Worte sie schlagartig zum Einhalten zwangen.

"Schade, Aya. Ich habe gehört, du und dein neues Team, ihr sollt die Besten sein."

Wie ein lähmendes Nervengift gruben sich die hinfällig gesprochenen Sätze in Ayas zierlichen Körper und ließen sie mitten in ihrer Fluchtaktion erstarren. Noch bevor sie wie im Zeitlupentempo den Kopf herumgedreht hatte, wusste sie, dass Venelles Gesicht sein Grinsen wiedergefunden hatte.

"Hast du das?" Der immer noch feindselige Tonfall in ihrer Stimme konnte nicht ganz über ein erwartungsvoll gespanntes Beben hinwegtäuschen und Venelle begriff augenblicklich, dass seine Beute den ganz nebenbei hingeworfenen Köder nicht nur gewittert hatte, sondern ihm schon ganz und gar verfallen war. Ein selbstgefälliges Zucken umspielte seine Mundwinkel und Aya hätte sich am liebsten augenblicklich dafür erschossen, dass sie nun nicht mehr die Kraft fand, die Türe zu öffnen und hinaus in die Freiheit der Nacht zu laufen. Ihre Finger hinterließen einen feucht-weißen Film auf dem Gold des Türgriffs.

"Honey, du hast nen Ruf, selbst bei uns Neureichen. Du bist mein Licht, das die äußerst finstere Gesamtsituation erleuchtet. Ich hab von deinem neuen Job gehört und dachte - du oder keiner. Und das meine ich auch so. Ich kann jeder Frau das Feeling geben, die Schönste von allen zu sein. Ich könnte wahrscheinlich jede Alcyara-Tempelschwester dazu bringen, mich auf der Stelle zu heiraten. Aber wenn ich von einer letzten Hoffnung rede, dann sind das mehr als nur leere Worte. Niemand anderem trau ich soviel zu wie dir... niemand anderem vertraue ich wie dir, zumindest niemandem, der dann auch noch das Zeug dazu hat, an unserer wahrhaft und in meinem Auftrag kritischen Jury vorbeizukommen, denn die darf natürlich nicht eingeweiht werden - immerhin könnte jeder, auch jemand vom Team hier der Sweet Slaughter sein! Du bist die Letzte, die meinen Wettbewerb noch retten kann. Aya, der New Diamonds Award liegt in deinen Händen."

Eine leichte Röte stahl sich auf die Wangen der jungen Wissenschaftlerin. Sie wusste, dass sie für Lob und Schmeicheleien jeglicher Art überaus empfänglich war - und dummerweise wusste Venelle das genauso gut wie sie selbst. Aya wischte ihre Hand am glatten weißen Stoff ihres doch recht kurzen Rockes ab und sammelte sich, bevor sie endlich mit möglichst ruhiger Stimme zu einer Antwort ansetzte.

"Ich werde den Job nicht annehmen."

"Ja, aber..." Venelles schwarze Augen wurden größer, als Aya es jemals bei ihm gesehen hatte. Seine glänzende Stirn legte sich in derart tiefe Falten, dass ihm beinahe die obligatorische Sonnenbrille vom Kopf gerutscht wäre. Als er weitersprach klang seine Stimme ein bisschen so wie die eines auf die Straße gesetzten untreuen Ehemannes, der im strömenden Regen unter dem Fenster seiner Gattin um Gnade beziehungsweise Einlass flehte. Das sicher geglaubte Beutetier hatte sich ganz offensichtlich seinen Fängen entzogen. "Honey, das kannst du mir nicht antun! Das ist mein Todesstoß!"

Nun war es Aya, die mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen den Kopf schief legte, während ihre schlanken Finger wie beiläufig an dem längeren Hebel herumspielten, an dem sie nun endlich hatte Platz nehmen können. Sie genoss das stumme Winseln in Venelles Augen noch einige Sekunden lang, bevor sie langsam und bedächtig fortfuhr.

"Es tut mir leid, Marque. Ich werde und ich kann diese Rolle einfach nicht übernehmen. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe auch meinen Stolz und ganz nebenbei noch einen Ruf, den ich beim besten Willen nicht auf eine derartige Art und Weise verspielen möchte. Mal abgesehen davon, dass es vielleicht doch nicht ganz so unauffällig wäre, wenn jemand in meiner Position ausgerechnet an einem Schönheitswettbewerb teilnimmt, der gerade - oh Wunder! - von rätselhaften Morden überschattet wird. Nein, welch ein Zufall! Entschuldige, aber das ist es mir nicht wert."

"Das heißt dann wohl, du kannst es mir antun." Venelle stieß einen theatralischen Seufzer aus und drückte den kümmerlichen Stummel seiner einstmals so stolzen Zigarre in dem goldenen Aschenbecher aus, der es sich neben seinem nicht mehr ganz so intensivgrünen Cocktail bequem gemacht hatte, dessen Alkoholanteil inzwischen von dem geschmolzenen Gletscher aus zerstoßenen Eiswürfeln größtenteils in Wohlgefallen aufgelöst worden war. "Gut, Honey. Tu, was du nicht lassen kannst. Aber bitte sage mir - was habe ich falsch gemacht? Womit habe ich diese Abfuhr verdient?"

"Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass du dich schon so sehr an Abfuhren gewöhnt hast, dass du sie selbst dann noch raushörst, wenn es gar keine gibt. Wie auch immer. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht an diesem dubiosen Wettbewerb teilnehmen werde. Aber den Fall übernehme ich, verlass dich drauf. Vielleicht gibt es ja doch noch eine andere Lösung? Wart einfach ab - du hörst von mir."

Aya zwinkerte Venelle, der zum zweiten Mal an diesem Abend gelernt hatte, sprachlos zu sein, noch ein letztes Mal zu, dann öffnete sie endlich die niedrige schwarze Türe und trat mit einem unverschämt breiten Grinsen auf den dunklen Gang hinaus.

Sie hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt.
 

"Ihr habt eine Mission zu erfüllen!!"

In Ayas dunklen Augen lag ein Ausdruck ernsthaften Stolzes. Ihr Gesicht war mit äußerst wichtiger Miene der Decke zugewandt, während ihr Blick unaufhörlich über ihre in Reih und Glied vor ihr aufgestellten Mitarbeiter glitt. Ihr linker Arm war hinter ihrem militärisch gerade aufgerichteten Rücken verschränkt, während sie mit dem rechten Zeigefinger in lebhaft-autoritärer Eindringlichkeit jedes einzelne ihre Worte mit einer bedeutungsschwangeren Geste untermalte.

"Aye, Sir!" rief D und salutierte, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

"Das heißt Ma'am, du Depp, und außerdem ist die Sache verdammt ernst, also verhaltet euch auch dementsprechend, kapiert, Rekruten?"

"Du bist der Boss!" Ronin nickte sichtlich begeistert und zwinkerte Aya mit einem seiner großen roten Augen zu. "Aber wenn derartige Fragen einem einfachen Rekruten wie mir gestattet sind: Worum geht's denn jetzt eigentlich genau?"

"Noch so eine Frage und es setzt zwanzig Liegestützen, Unwürdiger!" Aya reckte demonstrativ ihr Kinn in die Höhe und zwang sich mit einigen Anstrengungen zu einem ernsten Gesichtsausdruck. "Etwas Unfassbares und absolut Unvorhergesehenes ist eingetroffen, also wird hiermit Ausnahmezustand über dieses Labor verhängt."

"Warum freust du dich darüber?" mischte sich Ravin in üblich kaltem Tonfall ein und bedachte Aya mit einem kritisch zweifelnden Blick. Damit war es um die Fassung der jungen Wissenschaftlerin endgültig geschehen und ein strahlendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

"Leute... wir haben einen Auftrag!"

"Nein!" Ronin schlug die Hände zusammen und stieß ein leises Quietschen aus. "Wie geil! Und das gleich an meinem... ähm... dritten Arbeitstag! Werd ich gebraucht? Sag schon, Aya, werd ich gebraucht?"

"Nun ja... da liegt das Problem bei der ganzen Sache... dafür, dass dies die erste richtige Arbeit in meinem neuen Team sein wird, bin ich mit der geplanten Vorgehensweise nicht ganz glücklich."

"Jetzt machen sie uns aber Angst, Ma'am!" D zog die Augenbrauen hoch und hob seine Hände an, sodass er mehr oder weniger wie ein verstörtes kleines Hundebaby aussah. Ayas vorsichtig bedrückte Miene wich augenblicklich wieder einem Lächeln.

"Es ist ja gar nichts Schlimmes, D, aber mich enttäuscht ein wenig, dass wir für diesen Auftrag weder das PSI-Walking noch das Maze wirklich gebrauchen können. Gut, Letzteres vielleicht noch am Rande, aber... eine richtige Arbeit im Team wird es nicht geben. Es lässt sich nicht vermeiden. Dies ist nun mal eine ungewöhnliche Aufgabe, und ungewöhnliche Aufgaben verlangen ungewöhnliche Maßnahmen."

"Jetzt machen sie uns wiederum neugierig, Ma'am!" grinste D, nicht ohne ein vorfreudiges Blitzen in den braunen Augen, und sah Aya mit leicht geneigtem Kopf erwartungsvoll an. Im Hintergrund kündigte ein leises Piepsen an, dass die laborinterne Kaffeemaschine gerade mit der Zubereitung des morgendlichen Lieblingsaufputschmittels des jungen Schwarzhaarigen fertig war - eine extragroße Tasse Karamell-Schokocappuccino mit viel Zucker und Sahne - und das verführerisch duftende Getränk nun auf seine Abholung wartete, aber Ds Neugierde war stärker als sein Appetit und ließ selbst dieses überaus verlockende Angebot zumindest für einige Augenblicke in den Hintergrund treten.

"Ich will euch ja gar nicht auf die Folter spanne - auch wenn ich vielleicht so aussehe und es mir, zugegebenermaßen, eine ganze Menge Freude bereitet. Aber da dies ein ernstes Gespräch ist, werde ich euch natürlich gleich einweihen, jedenfalls, nachdem ich euch noch einmal darauf hingewiesen habe, dass ihr all die Informationen, die ihr nun erhaltet, strengst vertraulich behandeln müsst und unter keinen Umständen an Dritte weitergeben dürft, kapiert?"

"Woah, jetzt wird's aber spannend!" Ronin rieb sich die Hände, ohne seine roten Augen - die nun noch ein bisschen größer waren als sonst - vom Gesicht der jungen Wissenschaftlerin zu nehmen. "Ich liebe das! Ich gebe ja zu, einer der Gründe, warum ich mich für diesen Posten beworben habe war meine nicht zu leugnende Affinität für sämtliche Dinge, die man als absonderlich oder ganz trivial mit dem Wort ,spannend' bezeichnen würde, und diese Spannung, um mal einfach bei dem Wort zu bleiben, die wird ja durch das sprichwörtliche Siegel der Verschwiegenheit nur noch erhöht und überhaupt, ich frag mich ja schon von Anfang an, worum es hier geht, weil das doch alles so wahnsinnig wichtig und auch ein bisschen bedrohlich klingt, und deshalb schweige ich natürlich wie ein Grab, Ehrensache, denn für mich ist es doch irgendwie noch ein Privileg, in derartige Dinge eingeweiht zu werden, ich meine, ich bin ja sozusagen noch neu auf diesem Gebiet und außerdem..."

"Im Arbeitsvertrag mit INFERIA verpflichtet sich jeder Mitarbeiter, betriebsinterne Informationen niemals an Außenstehende und nur mit ausdrücklichem Hinweis an andere Angestellte oder organisationsgebundene Institutionen weiterzugeben", stellte Ravin trocken fest und brachte so den immer euphorischer werdenden Redefluss des Rotäugigen zum Versiegen. Aya seufzte ergeben.

"Du hast es wieder einmal auf den Punkt gebracht. Mein Hinweis war natürlich überflüssig und ich danke dir, dass du mich darauf hingewiesen hast. Aber zurück zu unserem eigentlichen Problem. Wer von euch hat vorgestern Abend die Spätnachrichten gesehen?"

"Ich! Ich!!!" rief Ronin begeistert aus und fuchtelte wie ein übereifriges Schulkind mit seinem dünnen, bleichen Arm.

"Ich auch. Wieso?"

"Das will ich dir gerne sagen, D... und dir natürlich auch, Ronin. Ihr erinnert euch vielleicht an die Story von dem toten Modell..."

"Die Blonde?" D verzog das Gesicht. "War keine sehr schöne Story, wenn ich mich recht erinnere. Die Kleine wurde ja regelrecht gekreuzigt... nur auf ne verdammt makabre Art und Weise."

"Sie wurde mit etwa zehn Zentimeter dicken Stahlkabeln durchbohrt und knapp zwei Meter über dem Laufsteg aufgehängt", verbesserte ihn Ravin mit ungerührter Miene. "Das ist etwas Anderes. Bei einer Kreuzigung stirbt man nicht durch seine Verletzungen, sondern weil die Organe durch die Anstrengung der unnatürlichen Körperhaltung..."

"Hey! So genau wollte ich das gar nicht wissen!!!" winkte der Schwarzhaarige hastig ab und wandte sich dann wieder Aya zu. "Übrigens, deute ich deine vage andeutenden Worte jetzt richtig, wenn ich mal ganz vorsichtig vermute, dass wir uns um genau diesen Mord kümmern sollen? Aber sprich, ehrwürdige Lady, ist das nicht eher Sache der Bul... der Polizei?"

"Da kann ich eigentlich nicht widersprechen, D - also wirklich, jetzt sagt mir doch bitte mal, womit ich solch intelligente Mitarbeiter wie euch verdient habe? Ach so, und nutzt diese Intelligenz dann bitte auch und denkt mal scharf darüber nach, dass es eventuell auch einen Grund dafür geben muss, warum sich der Geschädigte nicht an die städtischen Sicherheitsbeamten gewandt hat, sondern eben an unsere Wenigkeiten."

"Häh?" D kratze sich am Kopf und zog eine seiner Augenbrauen nach oben, um dem ganzen Ausmaß seiner Verwirrung plakativ Ausdruck zu geben. "Wieso der Geschädigte? Ich dachte, das wär ne sie gewesen und außerdem sah die irgendwie nich ganz so aus, als ob sie so in nächster Zeit geplant hätte, mal eben fröhlich in ein Polizeirevier zu spazieren und..."

"D! Du bist wirklich... ooooh! Aber nein. Nein - ich bin ja selber schuld! Schutt und Asche auf mein Haupt! Wie konnte ich dich auch allen ernstes als intelligent bezeichnen? Ich meine... diese Handlung ist ja fast schon eine Antithese an sich, wenn du verstehst, was ich meine..."

"Eure gute Laune freut mich", mischte Ravin sich mit Grabesmiene und ebenso lebhafter Stimme ein. "Aber ich dachte, wir hätten irgendein unvorstellbar ernstes Thema zu besprechen? Es ging um einen Grund. Es ging um einen Geschädigten. Wie weiter?"

"Weiter... ja, natürlich... danke, Ravin. Ich sag's doch immer - wenn ich dich nicht hätte! Wo wär ich denn dann? Wahrscheinlich immer noch in der tiefsten Einleitung..." Aya strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und zwang sich mit einem tiefen Seufzer zur Ruhe. "Aber gut, du hast ja Recht. Trotzdem fang ich am Besten mal ganz von vorne an: Unser Geschädigter heißt Marque Venelle, Inhaber des Kosmetikherstellers Evershine und diverser florierender Nachtclubs. Kann gut sein, dass ihr - ihr auf D bezogen - den Namen schon mal gehört habt."

"Jau, die Clubs, die kenne ich!" stimmte Ronin grinsend zu, was ihm einen kurzen Blick seitens seiner Vorgesetzten, sonst jedoch keine größere Beachtung einbrachte. Die Dunkelhaarige räusperte sich kurz, um den Einstieg in ihren Vortrag wieder zu finden, und fuhr dann in möglichst sachlichem Tonfall fort.

"Um es kurz zu machen: Dieser Venelle ist reich, er ist mächtig und er veranstaltet gegenwärtig den Model-Contest des Sigma-Quadranten, den Evershine New Diamonds Award. Habt ihr vielleicht auch schon mal gehört."

"Langsam begreife ich die Zusammenhänge... aber red nur weiter, Aya."

"Ja, ich glaube, das ist auch besser so, D. Denn langsam aber sicher komme ich an den Punkt der Erzählung, wo's wirklich wichtig und spannend und so weiter wird. Denn unter den Models wütet ein Killer - der Sweet Slaughter. Der aktuelle Mord ist nur der dritte aus einer Serie, die sich wahrscheinlich noch weiter fortsetzen wird. Dummerweise sind jetzt aber die Medien aufmerksam geworden wovon Venelle natürlich wenig begeistert ist und dementsprechend dringend unsere Hilfe benötigt, weil sonst sein süßer kleiner Contest der ganz große Reinfall wird."

"Cool." Ronin nickte andächtig. "Aber entweder hab ich grade nicht richtig zugehört oder du hast immer noch nicht gesagt, warum sich der Gute jetzt an uns und nicht an die Polizei gewandt hat."

"Sagt bloß, ihr könnt euch das nicht denken! Na, weil unser Ruf uns eben bis weit über die Landes- und Planetengrenzen vorauseilt! Aber was für ein Ruf, das glaubt ihr gar nicht! Und jetzt ratet noch mal, warum Venelle ausgerechnet uns zu Hilfe gerufen hat? Kommt ihr drauf? Weil die Polizei an unsere Kompetenz nun einmal nicht herankommt, weil wir die Besten, die absoluten Spezialisten sind - bei solch mysteriösen Angelegenheiten versagt der gewöhnliche Sicherheitsapparat! Da braucht es andere Methoden! Und so - treten wir auf den Plan. Geheimnisvoll. Unerkannt. Das wollte Venelle sich natürlich nicht entgehen lassen und hat sich dementsprechend an uns gewandt." Aya holte tief Luft und ließ ihre eben noch stolz geschwellte Brust mit einem Seufzer der Resignation wieder in sich zusammensinken. "Genau das würde ich euch jetzt gerne erzählen. Leider halte ich nicht viel von Lügen. Schade eigentlich. Um genau und ehrlich zu sein, Venelle hat sich einzig und allein aus einem Grund an uns gewandt, nämlich weil er sich keinen Skandal erlauben kann und deshalb die Öffentlichkeit aus den Ermittlungen ausschließen möchten. Uns kennt keiner, uns verdächtigt keiner, uns braucht keiner, wir haben den Fall. Das ist traurig, demotivierend und desillusionierend, aber wahr."

"Ach weißt du, so schlimm find ich's jetzt gar nicht!" D zuckte kurz mit den Schultern, immer noch ein breites Grinsen auf den Lippen. "Fall ist Fall. Honorar ist Honorar. Und wenn's ein reicher Geldgeber ist - umso besser! Aber jetzt sag doch mal... wie stellst du dir denn diese... unerkannten, diese geheimnisvollen Ermittlungen vor? Ich... ahne ja was, aber ein letzter schwindender Hoffnungsstreif am Horizont lässt mich nicht aussprechen, was dort in meinem Geiste nagt und wütet."

"Vielen Dank für diese pathetische Einleitung, D, aber du brauchst dich gewiss nicht vor meinem Plan zu fürchten, der fällt nämlich leider nicht auf dein Hoheitsgebiet. Dabei hast du wahrscheinlich sogar Recht - ich will, dass einer von euch Undercover Ermittlungen anstellt. Ja, genau, unerkannt, geheimnisvoll, all das. Und um sogar noch genauer zu sein: Einer von euch Experten soll sich in diesen Wettbewerb einschleichen und ein Auge auf alles haben, was da so vor sich geht. Niemand darf euch erkennen, nicht einmal Venelle selber. So und nicht anders könnt ihr den Sweet Slaughter zur Strecke bringen. Ganz einfach. Alles klar soweit?"

"Ähm, ja, schon... das Prinzip ist auch noch nicht sonderlich kompliziert... aber... verrätst du mir dann auch mal, an wen du..."

"Aya, Aya, Aya, darf ich? Darf ich? Bitte, bitte, bitte! Ich... ich hab doch schon immer mal davon geträumt, ein Model zu sein und dann... dann... all die schönen Menschen und die Zuschauer und das Blitzlichtgewitter und diese ganz besondere, unbeschreibliche Atmosphäre aus Angst, Aufregung und Euphorie, dieses innerliche Flackern und Glühen, wenn man hinaus in das Scheinwerferlicht tritt und die wichtigsten Minuten seines Lebens beschreitet und... und... oh Aya, bitte!" Ronins rote Augen glühten vor Aufregung. Ein stetes Beben durchlief seine bleichen Lippen und bei jedem seiner Worte schlugen seine Hände mit einem dumpfen Klatschen gegeneinander, ganz so wie die eines überdrehten Kindes.

"Oh... Ronin, du... also..." Die Dunkelhaarige räusperte sich einige Mal. Wieder einmal musste sie feststellen, wie schwer es ihr eigentlich fiel, jenen Ausdruck beschämter Verlegenheit von ihren Gesichtszügen zu wischen, den sie sich als Vorgesetzte nicht leisten musste und konnte. Denn trotz ihrer nicht zu leugnenden Affinität zur Macht und Autorität war sie alles andere als glücklich darüber, der gierigen Begeisterung ihres neusten Mitarbeiters so jäh einen Riegel vorschieben zu müssen. Gleichzeitig war ihr klar, allzu klar, dass ihre Entscheidung längst schon gefallen und vielleicht nicht schön, nicht angenehm, aber doch in jedem Falle richtig war.

"Was'n los, Chef?"

Aya musste ein weiteres Mal tief durchatmen, bevor sie endlich antworten konnte - langsam, schoss es ihr durch den Kopf, mussten ihre Lungen an akuter Sauerstoffvergiftung leiden!

"Ronin - du wirst diesen Auftrag nicht annehmen. Bitte... schau nicht so... ich... ich habe mir eine ganze Menge Gedanken gemacht, das könnt ihr mir glauben. Aber mein Plan steht jetzt umso fester und er kann nur funktionieren, wenn darin jeder seine angemessene Rolle spielt. Versteh mich bitte nicht falsch, ich... es ist nicht so, dass ihr dir diesen Job nicht zutraue, aber unser Undercoveragent muss ja selber so lange wir möglich bei diesem Wettbewerb dabei bleiben, um auch entsprechend lange ermitteln zu können. Und ich denke, die besten Chancen..."

"Aya, bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?" fiel D der jungen Wissenschaftlerin ins Wort, nun doch mit einer dunklen Spur von Besorgnis in der plötzlich gar nicht mehr so heiteren Stimme. "Ich meine... ich weiß, dass es auf eine Art schon irgendwie gut ist, ja. Und wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, auch ja. Aber glaubst du wirklich, dass er..."

"D - ich glaube nicht. Ich bin keine Theologin, sondern Wissenschaftlerin. Ich überlege und ziehe dann aus diesen Überlegungen meine Möglichkeiten."

Nun endlich fand Aya die nötige Bestimmtheit, die sie die ganze Zeit über so vergeblich in ihrer Stimme gesucht hatte. Ein wichtiger, ungewohnt autoritärer Ausdruck trat in ihre dunklen Augen.

"Ravin, du wirst dich unerkannt in diesen Schönheitswettbewerb einschleichen... und dem Sweet Slaughter das Handwerk legen!"
 

Gedämpftes buntes Licht durchsickerte den Raum, tränkte die unangenehme Wärme, das allgegenwärtige Murmeln, Kichern und Plaudern, ließ die überfließende Schönheit zu einer einzigen, konturlosen Masse verschwimmen. Das leise Klingen aufeinanderprallenden Glases legte sich wie ein hoher, unrhythmischer Singsang über die belanglose Musikuntermalung.

Eine einzige Gestalt stand abseits der fröhlichen Zwanghaftigkeit, abseits der Gespräche, der besorgt-ängstlichen Lästereien über die - selbstverständliche chancenlose - Konkurrenz, der geballten Dekadenz teurer Anzüge und Abendkleider, gekauft, geliehen oder gestohlen für nur einen einzigen Abend in einem langen, aber meist belanglosen Leben. Diese Gestalt musterte die umstehenden Personen ruhig und abschätzend, wie durch eine gläserne Mauer oder die schonungslos objektive Linse einer Kamera von ihnen getrennt. Bildhübsche Frauen aller Haut- und Haarfarben, manche exotisch, manche interessant, manche niedlich, einige erotisch. Hier und dort hatten die Modedesigner gewaltig an Stoff gespart, die Schönheitschirurgen dafür eine Extraportion Silikon und Falten mordende Nervengifte zugelegt und so ging die Gleichung letzten Endes überall auf, die Gleichung, deren Ergebnis mehr oder minder jenem rätselhaften Wort entsprach, das die Menschen so gerne leichtfertig verwendeten und beurteilten.

Schönheit.

Unsere einsame Gestalt kümmerte sich jedoch nicht weiter um das so genannte schöne Geschlecht, das ja schließlich für ihn als Konkurrenz nicht in Frage kam, und wandte sich stattdessen den anwesenden Herren der Schöpfung zu, ganz so, wie seine Vorgesetzte es ihm angeordnet hatte.

"Ravin, diese Party ist deine Chance! Du musst deinen Gegner kennen, um ihn besiegen zu können, also schau dir deine Rivalen besser mal genau an - du wirst noch eine ganze Menge Zeit mit ihnen verbringen müssen..."

Ravin seufzte leise. Er konnte den Sinn und Zweck dieser ganzen, zweifellos unglaublich kostspieligen Veranstaltung beim besten Willen nicht begreifen. Warum dieses äußerliche Kräftemessen? Warum musste ein willkürlicher Zusammenschluss einiger Planeten unbedingt wissen, welcher seiner Bewohner nun am ehesten einem durch und durch subjektiven Idealbild entsprach, das sich in einem, höchstens in zwei Jahren ohnehin wieder vollkommen verändert haben würde?

Es war absurd, es folgte keinerlei Logik, aber nichtsdestotrotz war dies ein Befehl seiner Chefin, und denen hatte er nun einmal Folge zu leisten. So tasteten seine eisfarbenen und nicht weniger kalten Augen stumm und analytisch über die leicht verschwommenen Menschenmassen, suchten nach einem Gegner, den zu fürchten und zu besiegen es nun galt.

Die Männertypen überraschten ihn nicht weiter, entsprachen sie doch im Großen und Ganzen denen ihrer weiblichen Gegenstücke. Grinsende, vom zurückgegelten Scheitel bis zur blank polierten Schuhspitze strahlende Sunnyboys Marke Surflehrer deines Vertrauens, etliche verkappte Bauarbeiter mit eher rustikalem, wildem Charme, durchtrainierte Dunkelhäutige mit glühenden Augen, bildhübsche Asiaten oder auch jener momentan nicht ganz so beliebte nette Junge von nebenan, der sich ohne größere Probleme an die Front irgendeiner Boygroup stellen und harmlos lächelnd Playback singen konnte...

Eigentlich interessierten auch sie ihn nicht sonderlich, denn er selber verstand nicht viel von diesen Dingen, von jenem Mythos namens Attraktivität, der die ganze Welt fest in seinen lackierten und perfekt manikürten Klauen hielt. Den klassischen schwarzen Anzug hatte er ganz einfach deshalb angezogen, weil Aya und Ronin etwa eine Stunde lang um die Wette gequietscht und gekichert hatten, wie umwerfend er doch darin aussehen würde, beide mit diesem seltsamen Leuchten in den Augen, das ihm nach all der Zeit immer noch so fremd war... sie waren es auch gewesen, die ihm das lange, schneeweiße Haar geflochten hatten, die ihm eine ganze Menge über die richtigen Bewegungen, eine seltsame, an und für sich vollkommen widernatürliche Art zu laufen beigebracht hatten... und trotzdem. Er verstand das alles nicht.

Eigentlich hatte er von Anfang an nicht ganz begreifen können, warum ihm so viele Menschen immerzu gesagt hatten, wie unglaublich schön er war. Zu schön, hatte es ab und an sogar geheißen, aber was machte das denn nun wieder für einen Sinn? Wie konnte man von einer offensichtlich positiven Gabe überhaupt zuviel besitzen? Man sprach doch auch nicht von zuviel Geld, zuviel Gesundheit, zuviel Geschicklichkeit... es war absurd. Es war alles vollkommen absurd.

"Du trinkst ja gar keinen Champagner, mein Hübscher!" säuselte ihm urplötzlich eine süßliche Stimme ins Ohr und riss ihn aus seiner nachdenklichen Beobachtungshaltung. Ravin blickte auf - und direkt in das dezent solariumgebräunte Gesicht einer sehr hübschen, sehr blonden jungen Frau. Ihre Augen lagen etwas zu weit auseinander und waren eigentümlich angeschrägt, aber gerade das riss ihr Äußeres aus der recht niedlichen Belanglosigkeit, strahlte eine ganz eigene Faszination aus. Das Haar der Fremden war sanft gelockt und eigentlich fehlten nur noch zwei flauschige weiße Flügelchen auf ihrem makellosen, frei liegenden Rücken, um das Gesamtbild perfekt zu machen.

Ravin schüttelte stumm den Kopf und beachtete sie dann nicht weiter.

"Warum nicht? So ein sündteures Tröpfchen, und das umsonst, wo kriegt man das schon wieder in derartiger Fülle? Ob ich nun weiterkomme oder nicht - ich will jeden dieser Abende genießen. So ein süßes Leben könnte ich mir durchaus auch auf die Dauer vorstellen."

"Ich trinke keinen Alkohol", warf Ravin der Blonden kurz angebunden zu und hoffte, dass sie sich doch möglichst bald wieder unter jenes feiernde Volk mischen mochte, in dem sie sich offensichtlich so heimisch und wohl fühlte.

"Das ist mir und einigen anderen Models auch schon aufgefallen!" Die Frau kicherte, eine bezaubernde, aber dadurch nicht weniger gekünstelt wirkende Geste, bei der sie ihre blitzenden Augen schloss und galant eine Hand vor den zarten Mund hob. "Du bringst offensichtlich Opfer dafür, so auszusehen, wie du es jetzt tust. Das müsstest du nicht. Das Ganze ist eigentlich eh schon entschieden."

"Wie meinst du das?" Ravin hob seinen Blick, nicht aber seinen Kopf, was seiner Meinung nach schon mehr als genug war, um wenigstens einen Anflug von Interesse anzudeuten. In den letzten Tagen hatte er gelernt, dass es in jenen entzückenden Kreisen, in denen er sich nun bewegte, offensichtlich normal zu sein schien, jeden noch so Fremden, noch so unsympathischen Menschen, dem man bei gleich welcher Beschäftigung begegnete, spontan und ohne weitere Fragen zu duzen, zu umarmen, zu knuddeln, zu küssen und vielleicht sogar zu heiraten.

"Ach, sag bloß, das hast du nicht bemerkt!" Die Blonde machte eine zuckersüße Handbewegung und warf ihren Kopf ein wenig zurück.

"Was habe ich nicht bemerkt?"

"Jetzt hör aber auf! Ich meine, du brauchst dich doch gar nicht mehr anzustrengen. Wer außer dir soll denn diesen Wettbewerb schon gewinnen? Keiner hier ist auch nur annähernd so... so perfekt wie du. Die Juroren stehen auf so was. Du weißt schon, dich könnte man in einen Müllsack stecken und vor eine abgebrannte Fabrik stellen und du würdest immer noch umwerfend aussehen!"

"Aha", machte Ravin. Sein Interesse war ebenso schnell wieder verflogen, wie es sich bemerkbar gemacht hatte, und daran konnte auch die betont überpointierte Sprechweise der blonden Schönheit nichts mehr ändern. Eigentlich brauchte er sich gar nicht zu wundern, und wenn, dann nur über seine eigene Dummheit - wie hatte er jemals annehmen können, dass ausgerechnet diese durch und durch künstliche Marionette, gekettet an die unsichtbaren Fäden von Political Correctness und einer steten, unschudlig-mädchenhaften Ausstrahlung, über irgendwelche betrügerischen Unstimmigkeiten dieser großen, strahlenden Wahl Bescheid wissen konnte? Angenommen, die Juroren waren bestochen. Angenommen, der Sieger würde sich seine gold-blaue Schärpe nicht nur durch ein charmantes Lächeln und einen makellosen Teint, sondern vielmehr durch eine kleine Gefälligkeit in Form eines unscheinbaren, aber umso wertvolleren Schecks erringen... wieso sollte ausgerechnet diese wandelnde, in weiß gehüllte Unschuld vom Himmel herabgestiegen sein, um ihn davon in Kenntnis zu setzen?

Noch eine Absurdität, die sich perfekt in das abstoßend süßliche Gesamtbild dieses verlorenen Abends fügte.

"Aber natürlich!" Die Blonde hauchte einen leisen Seufzer hervor. "Bei den Frauen ist es dieses Jahr nicht ganz so einfach. Trotzdem schien es mir in der Vorrunde so, als ob entweder Tara, Li-Anh oder Chastity die Jury am meisten entzückt hätten."

Ihre schrägen Augen glitten nacheinander über eine klassische Brünette, deren bleiche Gesichtzüge wohl schon recht nah an die Definition des Wortes makellos heranreichten, über eine zierliche, nicht minder schöne Asiatin und schließlich eine außerordentlich gut gebauten Blondine. Ein leises Kichern drang über die Lippen des Models, und für einen ganz kurzen Augenblick durchlief ein Beben ihren zarten Körper. Die perlende Flüssigkeit in ihrem Cocktailglas erzitterte. Als sie weitersprach, klang ihr entzückendes Stimmchen gedämpft.

"Ach, was soll denn dieses ganze scheinheilige Gerede? Natürlich will ich gewinnen! Und deshalb werde ich auch gewinnen. Wenn ich in meinem Leben eines gelernt habe, dann, dass ich immer bekomme, was ich haben will, verstehst du? Aber sag das bloß nicht weiter! Was würde das denn für einen Eindruck machen? Vor allem bei der Jury! Immer schön bescheiden, so ist das Motto, bescheiden, niedlich, willenlos... ha!"

Ravin betrachtete den leisen Ausbruch der schönen Frau mit ungerührter Miene. Er verstand nicht, warum sie ihre harmlose, reizende Maske ausgerechnet in seiner Gegenwart lüftete, aber es bestätigte einmal mehr jenes Bild, das er seit jeher von derartigen Veranstaltungen und ihren Teilnehmer hatte - falsch, verlogen, erzwungen, berechnend.

Ansonsten interessierte sie es ihn nicht weiter.

"Aber scheinbar muss ich mir da eh keine Gedanken machen. Bist wohl keiner von der gesprächigen Sorte, was? Ich bin mal gespannt, wer dein Zimmerpartner wird."

"Zimmerpartner?"

"Ja. Jeder hier hat einen Zimmerpartner, und die Ausscheidungsrunden sind von Anfang an so ausgelegt, dass das auch bis zum Schluss so bleibt. Damit wollen sie wohl verhindern, dass irgendjemand hier allzu sehr in Allüren verfällt. Außerdem schürt es Neid, Eifersucht und Intrigen - und somit wohl auch den Ehrgeiz der Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Übrigens fällt mir gerade auf, dass ich noch nicht einmal deinen Namen kenne!"

"Ravin", antwortete der Weißhaarige kurz, ohne Anstalten zu einer jener üblichen erniedrigenden Begrüßung zu machen, wie sie von den übrigen Models so exzessiv betrieben wurden, um auch ja aller Welt zu zeigen, auf welch glückliche, tolerante, durch und durch faire Familie sie da blickte.

"Ich bin sehr erfreut. Ein wundervoller Name!" Sie biss sich leicht auf die Lippe, wohl, um noch verführerischer auszusehen, und senkte ihren Kopf ein wenig. "Er passt zu dir." Wie zufällig schlug sie ihre langen Wimpern einige Male auf und nieder. "Ich bin Ivy. Merk dir den Namen gut. Du wirst noch einiges von mir hören!"

Sie stieß ein letztes, zuckersüßes Lachen aus, bevor sie sich abwandte und wieder in der graubunten, gesichtslosen Masse verschwand.
 

Ravin konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, welche Bedeutung das Wort Zimmerpartner noch für ihn haben sollte. Im Grunde genommen konnte er es selbst dann noch nicht ahnen, als er die stilvoll schwarz-goldene Türe mit einem kurzen Druck auf einen goldfarben glänzenden Knopf lautlos öffnete, eintrat und sich kurzerhand auf einem der beiden breiten, außerordentlich bequemen aussehenden Betten niederließ, das sich an die linke Wand des ihm zugeteilten Zimmers drängte. Er begann in aller Seelenruhe damit, seine Sachen auszupacken und in einen der lackschwarzen Schränke einzuräumen, und er blickte auch dann nicht auf, als sich die Türe ein zweites Mal leise öffnete.

Er unterbrach seine Tätigkeit notgedrungen erst dann, als er mit einem einzigen Ruck am Arm gepackt und herumgerissen wurde.

"Hey, Mr. Perfect!"

Das Erste, was Ravin unweigerlich ins Augen sprang, waren zwei makellose Reihen weiß glänzender Zähne, entblößt zu einem ganz und gar unglaublich breiten Grinsen. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass diese strahlende Palisadenfront ganz nebenbei auch noch von einem Gesicht umgeben war, von sonnen- oder wahrscheinlich eher solariumgebräunter Haut, von blondierten, leicht lockigen Haaren, die sich in scheinbarer Todesangst eng an die Kopfhaut krallten und auf eine höchst bizarre Art und Weise wie ein betonharter Heiligenschein direkt auf das Haupt des vor guter Laune schier platzenden Wesens aufzementiert zu sein schienen. Passend zu dieser heiligen Ausstrahlung war das leuchtende Wasserstoffblond von einer unsichtbaren Aura aus Haarspray umnebelt, die bei jeder Bewegung in den hilflosen irdischen Raum diffundierte.

Ravin schluckte und blinzelte das wandelnde Grinsen mit großen, entsetzten Augen an. Es war nicht unbedingt leicht, ihn zu schockieren - der Fremde jedoch hatte dieses Wunder ohne größere Mühen und ohne mehr als drei Worte mit ihm gewechselt zu haben in größtem Maße zustande gebracht.

"Wie - bitte?" war alles, was der Weißhaarige noch über die Lippen brachte.

"Du wirst es nicht glauben, aber ich will dich begrüßen." Aus irgendeinem Grund fühlte sich Ravin überaus unangenehm von der Tatsache berührt, dass der Fremde und am besten auch für immer und ewig fremd Bleibende ihn so einfach duzte, wie es in den vergangenen Tagen schon unzählige andere getan hatten. Er machte mehr oder weniger unauffällig einen Schritt zurück und versuchte vergeblich, sich aus der Reichweite der stechend süßlichen Duftwolke zu retten.

"Aha."

"Ja! Woah! Staun!" Das Grinsen schien auf wundersame, erschreckende Weise sogar noch ein wenig breiter zu werden und legte einige Millimeter lachsfarbenen Zahnfleisches frei. Ravin spürte, wie sich ein widerlich kalter Schauer über seinen Rücken zog. "Du scheinst das ja noch nicht zu wissen, aber für gewöhnlich begrüßt man jemanden, den man noch nicht kennt. Vor allem, wenn man in den nächsten Tagen - Wochen? - sein Zimmer und sein Brot mit ihm teilen wird. Na, verblüfft? Tja, man lernt eben täglich dazu."

Ravin sparte sich eine Antwort. Langsam hatte sich sein gewohnt kalter Blick wieder eingestellt, und der Weißhaarige hatte schon lange begriffen, dass er die meisten Menschen damit abschreckte - wie gesagt, die meisten, denn sein fröhlicher Zimmergenosse zeigte sich unbeeindruckt und - grinsend.

"Also, Geschwätzigkeit scheint ja nicht grad zu deinen Todsünden zu gehören. Hey - sag nichts. Ich weiß, dass es eigentlich keine Todsünde ist, aber... ach, warum reg ich mich auf? Du würdest ja ohnehin nichts sagen!" Das Grinsen seufzte. "Weißt du, was deine Todsünde ist?"

Ravin deutete ein Kopfschütteln an und warf einen hastigen Blick auf die viereckige, goldgerahmte Uhr, die ihm unbarmherzig und höhnisch tickend von der Wand entgegenblitzte.

Noch fünfzig Minuten bis zur ersten Probe - keine Chance zu entkommen - vertreib dir die Zeit mit deinem Zimmerpartner - hahahahaha - ....

"Deine Todsünde", verkündete das Grinsen und machte einen unangenehm forschen Schritt auf Ravin zu, den Zeigefinger wie eine vernichtende Waffe auf sein Gesicht gerichtet, "das ist der Hochmut. Oder Eitelkeit. Nenn es, wie du's willst. Du meinst, du bist was Besseres, was? Du weißt genau, dass du die Jury in der Tasche hast! Aber freu dich mal nicht zu früh!"

Absurderweise schien der junge Mann selbst dann noch zu grinsen, als sein Gesicht längst schon einen finsteren Ausdruck angenommen hatte. Ravin zuckte nur kurz mit den Schultern, dann ließ er sein solariumgebräuntes Gegenüber kurzerhand stehen und wandte sich wieder seinem Koffer zu. Dann jedoch hielt er noch einmal inne, blickte auf und sah seinen Zimmerpartner mit eisig kalten Augen an.

"Freut mich auch. Ich bin Ravin."

"Äh- häh?!?"

Diesmal war es das Grinsen, welches ihn verwirrt, nahezu perplex anstarrte und nicht so recht zu wissen schien, welche Reaktion als nächstes angebracht war. Der Weißhaarige ließ ihn einige Sekunden lang in dieser dumpfen Ungewissheit schweben, dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder jenen Kleidungsstücken, die Aya und Ronin so fein säuberlich für ihn ausgesucht und zusammengepackt hatten.

"Erstaunt? Nun - du scheinst das ja noch nicht zu wissen, aber für gewöhnlich begrüßt man jemanden, den man noch nicht kennt. Vor allem, wenn man in den nächsten Tagen - Wochen? - sein Zimmer und sein Brot mit ihm teilen wird..."

Als Ravin seinen Blick zum zweiten Mal hob, war es um die Fassung des Grinsens endgültig geschehen. Es klappte einige Male seinen Mund auf und zu und presste dann so fest die Lippen aufeinander, dass die gleichmäßig gebräunte Haut einige Augenblicke lang ihre Farbe verlor.

"Freut mich!" stieß der blonde junge Mann in übertrieben freundlichem Tonfall hervor. "Freut mich wirklich sehr! Ich bin Sean. Ich habe wirklich gerne deine Bekanntschaft gemacht! Wir werden uns bestimmt blendend verstehen..."

Ravin ignorierte den leicht knurrenden Unterton in der Stimme jenes Wesens, das sich soeben als Sean entpuppt, in seinem Gedächtnis jedoch längst als ein einziges, Furcht erregendes Grinsen eingeprägt hatte. Es war ihm eigentlich auch egal, ob sein Zimmerpartner ihn nun hasste oder nicht, und da er das scheinbar ohnehin schon von Anfang an getan hatte, bestand erst Recht kein Grund, überhaupt noch einen weiteren Gedanken an dieses leidige Thema zu verschwenden.

Er hatte ohnehin nicht vor, jemals wieder ein Wort mit ihm zu wechseln.
 

Die folgenden Tage sollten sich als noch ungleich tödlicher herausstellen, als Ravin nach Ayas farbenfroher Schilderung der Mordfälle zunächst erwartet hatte - durchzogen, erdrückt, erschlagen von einer gigantischen Masse zähflüssiger Langeweile, die jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde wie ein blutig roter Faden zu durchtränken schien. Jeder einzelne verdammte Tag schien sich exakt nach demselben Strickmuster in die Länge zu ziehen, sodass sich Ravin das eine oder andere Mal tatsächlich in einer niemals enden wollenden Zeitschleife gefangen wähnte, ohne eine Aussicht auf Entkommen, auf Veränderung.

Die Wecker klingelten früh in den Morgenstunden. Süßlich, hell, enervierend - mit einem Wort: unangenehm. Sie klingelten und klingelten, bis sich auch der letzte schöne Mensch aus seinem stilvoll eleganten Nachtlager bequemt hinab auf den unwürdigen Erdboden bequemt hatte. Das Frühstück war ebenfalls stilvoll, aber kärglich. Ravin kümmerte sich nicht darum, er machte sich nicht viel aus Frühstück, auch nicht aus Mittag- oder Abendessen. Trotzdem wurden diese drei hektisch kurzen Zeitspannen mit der Zeit zu Dreh- und Angelpunkten der Tage, schienen sie doch das einzige, was ab und zu wenigstens noch geringfügig variierte.

Ansonsten fügte sich alles zu einem ekelhaft klebrigen Brei aus Fotoshootings unter mehr oder minder unmenschlichen bis menschenverachtenden Bedingungen, aus Interviews und einer unerträglichen Menge an Proben, Proben und nochmals Proben. Alles sollte und musste perfekt sein, bereit, das großformatige Hochglanzcover der nächsten BeStyle oder Celebrity Inn oder auch aLive! zu zieren, Käufer an die Zeitungskioske und mitfiebernde Zuschauer in die Veranstaltungshallen zu locken. Mehr und mehr begriff Ravin, dass es eigentlich gar nicht so sehr darum ging, wen die Jury im Endeffekt für den Schönsten, den Charismatischsten, für ein potentielles Supermodel hielt - was zählte, war das Drumherum, die Show, Entertainment. Die einzigen, die davon scheinbar keine Ahnung hatten, waren die hoffnungsvollen neuen Covergirls und -boys, die mit eiserner Disziplin, asketischer Diät und tonnenweise Make up einem Traum nachjagten, den es nicht gab.

Ravin kümmerte sich jedoch nicht weiter um Träume, um ratternde Geldmaschinen und erbarmungslose Vermarktungsgeschäfte - er hatte einen Job zu erledigen. Dies war jedoch leichter gesagt als getan. Wie sollte er ermitteln, wie sollte er unauffällig Fakten sammeln in einem Sumpf totaler Amnesie? Das Blut war hinfort gewischt. Der Laufsteg erstrahlte in altgewohntem Funkeln. Alles lächelte, umarmte, fotografierte, verteilte Küsschen und verdeckte letzte Hautunebenheiten, als ob niemals etwas geschehen wäre in dieser bunten, kitschig-künstlichen Plastikwelt. Aya hatte ihm eingeschärft, um gar keinen Preis aufzufallen - aber wie sollte er auch nur irgendetwas über die ungeklärten Todesfälle herausfinden, wenn er sie nicht einmal am Rande erwähnen durfte?

Was blieb, war Warten. Endloses, ermüdendes Warten, mitzutreiben im ewigen Strom aus grinsenden Fotografen, aus Novelle Cuisine und PR-Partys, einem Strom, der sich wieder und wieder im Kreis drehte, wie die fünfzigste Wiederholung einer öden Fernsehserie, die schon damals niemanden interessiert hatte...

Bis eines Tages die Leiche von Chastity Kramer in der Frauentoilette gefunden wurde.

Der vernichtende Blitz schlug inmitten der alkoholisch-heuchlerischen Fröhlichkeit der x-ten kleinen, familiären Feierlichkeit ein, traf die Festgesellschaft scheinbar vollkommen unerwartet und hinterließ ein Chaos aus Schreien, hysterischem Weinen und verzweifelten Versuch, den vernichtenden Schaden auf irgendeine absurde Art und Weise in seine blutigen Grenzen zurückzutreiben.

Ravin hatte von Anfang an gespürt, dass die hohen Tiere, die schmierig erhabenen Fadenzieher hinter der profitträchtigen Veranstaltung, mit jedem Tag angespannter, ihr Lächeln und Scherzen erzwungener wirkte. Das Viertelfinale rückte unaufhaltsam näher und die Nerven lagen blank. Selten hatte der junge Weißhaarige derart entsetztes Grauen erblickt, wie in den Augen dieses mysteriösen Venelles (Ravin wusste nur, dass er Aya angeheuert hatte, und dass sie auf irgendeine Art und Weise früher schon einmal miteinander zu tun gehabt haben mussten), als urplötzlich ein gellender Schrei die seichte Musikuntermalung der Party zerriss. Binnen weniger Sekunden war alles in Bewegung, helle Aufregung hatte sich wie ein Feuerwerkskörper zwischen dem belanglosen Geplauder entzündet.

Venelle rannte nicht. Er stand da wie erstarrt, die Zähne so fest aufeinander gepresst, dass es beinahe schien, als ob die perlweiße Front im nächsten Moment in tausend makellos glänzende Stücke zerbersten müsste. Seine Fäuste zitterten, die Haut wie zum zerreißen über den Knöcheln gespannt. Es vergingen etliche Momente, Ravin folgte schon längst dem Weg, auf den das hysterisch schrille Kreischen ihn geführt hatte, als er mit einem Mal begriff, was im Kopf des obersten aller Veranstalter vorgehen musste.

Ein weiterer Mord war geschehen. Aya hatte versagt...

Ravin schüttelte den Gedanken ab. Es gab andere Dinge, um die er sich nun kümmern musste, und diese Dinge ließen es nicht zu, Zeit an irgendwelche sinnlosen Überlegungen zu verlieren. Überall harrten Menschenleiber, dicht an dicht, einige zitternd, wie ein Labyrinth, jede Sekunde bereit, seine Form zu verändern. Der Weißhaarige hatte Mühe, sich schnell und sicher zwischen den schockierten, aufgebrachten, teils ratlosen Models hindurchzudrängen und es verging viel zuviel Zeit, bis er endlich am Ort des Geschehens angelangt war, jener Ort, an dem - endlich! - eine Chance, eine Chance auf Erfolg zu warten schien.

Wie alles andere in dem Hotel war auch die Toilette extrem stilvoll. Weiße Kacheln. Lackschwarze Kabinen. Hier und dort ein Hauch von Gold, gerade im Bereich der Waschbecken. Kein einziger Fleck, der nicht vollkommen sauber und steril wirkte. Eine der Kabinen war geöffnet, davor stand eine junge, dunkelblonde Frau, zitternd, schluchzend. Sie klammerte sich an die Arme eines der männlichen Models, um nicht endgültig zusammenzubrechen, die Wangen schwarz von zerfließendem Make up. Der junge Mann, der sie stützte, wirkte jedoch nicht viel weniger hilflos als sie selbst. In seinen Augen stand ein merkwürdiges Flackern, dicke Schweißtropfen rannen über seine beinahe schwarze Haut. Zum ersten Mal, seit Ravin ihn an jenem schicksalhaften, wenn auch reichlich öden Abend seiner Ankunft gesehen hatte, wirkte dieser Mann nicht wie eine makellose Statue, sondern wie ein Mensch - ein reichlich verstörter Mensch, um genau zu sein.

"Was ist passiert?"

Ohne dass er recht begriff, warum, rückte sich Ravin durch seine kurze Frage binnen Sekundenbruchteilen in den Mittelpunkt aller Öffentlichkeit. Große, vor Angst triefende Augen richteten sich auf ihn, und einen Tick zu spät realisierte der Weißhaarige, dass es sich in dieser bluttriefenden Atmosphäre aus Furcht und Entsetzen ganz offensichtlich nicht schickte, auch nur ein einziges Wort zu sprechen - vor allem dann nicht, wenn dieses Wort so kalt, nüchtern und sachlich klang, wie das bei Ravins Stimme nun einmal der Fall war.

Er räusperte sich kurz und blickte in die gaffende Runde, immer noch in Erwartung einer Antwort.

"Sie ist tot", presste der Dunkelhäutige hervor, was den gebrechlichen Körper in seinen Armen zu einer erneuten Salve ohrenbetäubenden Schluchzens antrieb. Das nervlich vollkommen zerrüttete Model stammelte irgendetwas, doch es gelang Ravin beim besten Willen nicht, irgendeinen klaren, verständlichen Satzfetzen darin auszumachen. Er holte tief Luft und zückte den kleinen transportablen Nachrichtenübermittler aus seiner Tasche, den ihm Aya als Allzweckwaffe mit auf den gefahrvollen Weg gegeben hatte.

"Ich werde jetzt einen Arzt rufen", kündigte er an, während er sich mühte, einen möglichst unauffälligen, für zufällige Betrachter nervös wirkenden Bogen durch den weiß gekachelten Raum zu beschreiten. Glücklicherweise schien tatsächlich keiner der umstehenden Gaffer zu bemerken, dass er tatsächlich mit seinem vermeintlichen Handy ganz nebenbei auch das eine oder andere Foto vom Fundort der Leiche schoss, dass er sich jedes Detail genauestens einprägte, während er scheinbar konzentriert auf das blau leuchtende Display des kleinen Portable Transmitters starrte.

Konzentration hin oder her - es sollte Ravin nicht mehr gelingen, die Nummer des nächsten Krankenhauses zu wählen, bevor eine bebende Hand grob, nahezu schmerzhaft seinen Arm packte und ihn derart ruckartig herumriss, dass er einen Moment lang mit dem Gleichgewicht kämpfen musste. Der Blick zweier brennender Augen traf ihn, stechend wie der Hieb eines frisch geschliffenen Messers.

"Hast du den Verstand verloren?!?" Venelles Stimme bebte, und etliche Sekunden lang war sich Ravin beinahe sicher, dass der Konzernchef nur zu gerne das Risiko eines weiteren Mordes auf sich nehmen würde, wenn er jenem verachtungswürdigen Subjekt mit dem kleinen grauen Elektrogerät in der Hand jetzt und auf der Stelle den Kopf hätte abreißen dürfen. Aus irgendeinem Grund führte er diesen Plan, der so überdeutlich in den vernichtenden Augen geschrieben stand, dann aber doch nicht aus und machte stattdessen seiner Wut mit einem tiefen, grollenden Seufzer Platz. "Ich bin von Verrückten umgeben! Ich - ich meine... einen Arzt! Einen Arzt!!! Hat man so etwas schon einmal gehört??! Warum nicht gleich die Polizei? Den Grenzschutz? Die Presse?!? Ja, nur zu, nur zu, ruiniere mich, stoß mir den Eispickel in mein faulendes Fleisch! Los! Los!"

Ravin schlug seine Augenlider einige Male auf und nieder und betrachtete den Wutausbruch des aalglatten Mannes mit einer Mischung aus Faszination und vollkommenem Unverständnis. Zumindest letzteres schien selbst Venelle zu bemerken, als sich sein Blutdruck langsam wieder senkte und sein rasender Pulsschlag nicht mehr allzu laut, apokalyptischen Paukenschlägen gleich durch den Kopf des Konzernchefs hallte, um jeden klaren Gedanken finster und drohend zu verjagen.

Er atmete tief durch - einmal, zweimal, dreimal - wischte sich dann über die ölig glänzende Stirn, die trotz aller Wut auf mysteriöse Art und Weise nicht eine einmal einzige Falte aufwies, und schaffte es dann sogar bemerkenswert schnell, seine abstoßend aufgesetzte Fassung zurückzuerlangen.

"Ich - es tut mir leid. Natürlich hast du es nur gut gemeint. Natürlich wolltest du nur Hilfe holen. Du kommst aus Litonia, richtig?"

"Illythia", verbesserte Ravin.

"Ach, da ist doch kein großer Unterschied! Nein... ich meine... vergiss es. Du kommst von Attraya. Du kannst nicht wissen, dass..." Er brach ab und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. "Euch Models ist vielleicht nicht ganz klar, wie sehr uns negative Pressemeldungen schaden können. Das geht euch ja auch nichts an... aber... redet einfach nicht darüber. Redet nicht darüber. Es ist in eurem eigenen Interesse. Außerdem... traue ich Ärzten generell nicht. Nennt es einen Spleen von mir - wir sind ja eine Familie, da kann man schon mal seine Schwächen eingestehen, ist ja auch alles halb so wild... na, jedenfalls... ich kenne da eine sehr fähige Medizinerin und Wissenschaftlerin, die sich bestimmt gerne um alles kümmern wird. Wird schon alles erledigt, du musst dir also keine Sorgen machen - wie war doch gleich dein Name?"

"Ravin", murmelte der Weißhaarige, während seine Gedanken schon längst nicht mehr bei Venelle und seiner mehr oder weniger überzeugenden Beschwichtigungspolitik weilten. Auch die kurz aufflammende Erleichterung bei der beiläufigen Erwähnung jener sehr fähigen Medizinerin und Wissenschaftlerin, die natürlich überaus gut in den Plan seiner Ermittlungen passte und diese endlich, endlich einmal nicht zu behindern, sondern im Gegenteil zu erleichtern versprach, schien vergessen, denn ein neuer Impuls hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Zunächst war es mehr ein Reflex gewesen, der ihn hatte aufblicken lassen, die Ahnung einer flüchtigen Bewegung hinter dem goldgerahmten Glas eines Fensters. Ravin hatte nicht nur eindrucksvoll stechende, sondern ganz nebenbei auch noch überaus gute Augen, und so kurz, so vage die Bewegung auch gewesen sein mochte, er war sich vollkommen sicher, nicht einfach nur einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen zu sein. Einige Sekunden lang starrte er angestrengt auf das blauschwarze Viereck, konnte doch nichts wahrnehmen als warme Dunkelheit, dicht, staubig und undurchdringlich.

Dann sah er das gedämpfte, stroboskopartige Blitzen.

Ravin begriff sofort und zögerte nicht lange. Ob Venelle noch mit ihm geredet hatte oder auch nicht, vermochte er später nicht mehr genau sagen, wahrscheinlich deshalb, weil es ihm in diesem Augenblick ebenso egal war wie das immerwährende Schluchzen des Models, wie die starren, schockierten Gesichter der gaffenden Statuetten, dicht aneinander gedrängt hinter dem Rahmen der Türe. Er machte auf dem Absatz kehrt und sprintete noch aus dem Stand los. Die Menge der schaulustigen Models stellte kein Hindernis mehr für ihn dar, denn nun schlug er sich mit sämtlichen Mitteln durch, die im finsteren Angesicht dieser Situation mehr als berechtigt schienen, ohne sein Tempo dabei verringern zu müssen. Wofür hatte er eine lange, anstrengende Ausbildung, etliche Jahre Training für seinen Posten als Soldat im Dienste INFERIAs absolviert, wenn er in einer Situation wie dieser nicht angemessen regieren konnte?

Und es bestand überhaupt kein Zweifel darüber, dass es sich um einen Notfall handelte.

Nicht nur, dass man sie ganz offensichtlich die die ganze Zeit über beobachtet hatte - man hatte sie fotografiert. Und wer auch immer hinter dem Fenster gelauert hatte, aus irgendeinem Grund musste er ganz genau gewusst haben, dass und wo in diesem riesenhaften, an und für sich vollkommen unverdächtigen Gebäude ein Mord begangen worden war. Ravin war kein Kriminalbeamter, dennoch fielen ihm nur genau zwei plausible Erklärungen für dieses merkwürdige Phänomen ein. Entweder, der Fotograf war einer jener unerträglichen Paparazzi, schlich schon seit Tagen fortwährend ums Haus, beobachtete sie, verfolgte sie und hatte an diesem grauenvollen Abend ganz einfach eine verfluchte Menge Glück gehabt.

Oder er war der Mörder.

Schon weit mehr als nur einmal hatte sich Ravin gewünscht, in derart rasantem Tempo aus einem der stickigen, von Rauch, Körperausdünstungen und Alkoholdämpfen vernebelten Partyräume entfliehen zu können. Er durchquerte das bunte Licht des vor kurzem noch vollkommen überfüllten, jetzt wie ausgestorben und von seinem eigenen Atem erdrückt daliegenden großen Saal, stieß die schwarzen Türen auf und stürzte sich ohne zu zögern in den Strom kühler Luft, der ihm wie eine unsichtbare Faust entgegenschlug. Jeder einzelne Muskel im Körper des jungen Soldaten war gespannt, sein Verstand und seine Sinne vollkommen wach und geschärft. Gleich, was ihn erwarten würde - er war darauf vorbereitet.

Dummerweise schien auch ihr stummer Beobachter auf diesen kampfesbereiten Ansturm vorbereitet gewesen zu sein, denn als Ravin in halsbrecherischer Geschwindigkeit, aber dennoch sicher im Gleichgewicht um die Ecke des großen Gebäudes rannte (welches von außen übrigens gar nicht mehr so stilvoll und edel, sondern vielmehr grau und hässlich wirkte), konnte der Weißhaarige nur noch mit ansehen, wie eine Gestalt in der tiefen Schlucht zwischen zwei Hochhausbauten verschwand. Ein schwarzer, bodenlanger Mantel, schwarze Haare und schneeweiße Haut, Statur eher klein und zierlich, aber doch eindeutig ein Mann - dies war der letzte Eindruck, den Ravin von dem Flüchtenden aufgreifen konnte, bevor dieser sich endgültig zwischen den Schatten verlor.

Ein leiser Fluch stahl sich über die Lippen des Weißhaarigen. Was auch immer nun geschehen würde, er wusste, dass ihm gerade ein unglaublich wichtiges Beweismittel, ein entscheidendes, vielleicht endlich Ordnung in das chaotische Puzzlespiel bringende Teil, wenn nicht sogar der Sweet Slaughter höchstpersönlich durch die Finger geglitten war. Oder auch ein Pressefotograf? Schlimm genug, denn Ravin hatte ja am eigenen Leibe erlebt, dass Venelles Nerven bis aufs äußerste gespannt waren und jeden Augenblick zerreißen konnten. Der Konzernbesitzer hatte - Ayas Schilderung zufolge mit sichtlichem Hängen und Würgen - nach Hilfe gesucht, hatte sich dazu durchgerungen, einen vorsichtigen Schritt in die verhasste Öffentlichkeit zu wagen. Und nun? Es reichte wohl nicht aus, dass ein weiterer Mord geschehen war - nein, damit hatte Venelle ja wahrscheinlich sogar gerechnet -, mit etwas Glück würde ebendieser Mord auch noch in blutig roten Lettern von jeder verfluchten Titelseite jedes verfluchten Sensationsblattes erstrahlen, von grausigen Taten und einem Netz aus Intrigen und Schönheit singen, bis auch der letzte potentielle Zuschauer auf dem großen, weiten Planeten und darüber hinaus die Flucht ergreifen würde, verstört und verängstigt von den apokalyptischen Chören der Yellow Press.

Die kalte Nachtluft drang schmerzhaft in Ravins Lungen und machte ihm erstmals bewusst, wie schnell und keuchend sein Atem ging. Es ärgerte ihn, dass sein kleiner Sprint so vollkommen umsonst gewesen sein sollte. Der Schlafmangel der zurückliegenden Tage forderte mit klammen Fingern seinen Tribut, jagte ein leises Zittern durch den Körper des jungen Soldaten und ließ ihn mit einem boshaften Flimmern gegen die raue Wand in seinem Rücken taumeln.

Ravin strich sich einige lange, unangenehm feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er hörte, wie ihn endlich das vertraute Stimmengewirr einholte, wie die schockiert-sensationslüsterne Meute seinem überstürzten Weg folgte, die Türen des Hochhauses aufstieß und einen Schwall rauchiger Wärme mit sich brachte. Allen voran stolzierte Venelle, einem schwer verwundeten Feldherren gleich, das stumme Verlangen nach einer gefälligst verdammt guten Erklärung auf den glänzenden Gesichtszügen.

Einmal mehr trug Ravin ein langes, blitzendes Messer in seiner Hand, bereit für den letzten, grausamen Todesstoß. Er konnte die Wahrheit nicht beschönigen. Die Fotos existierten, sie schlummerten fliehend und sicher im Fotoapparat jenes schwarzen Mannes, allzeit bereit, sich in die große, weite Welt der Druckerpressen und Lieferjungen hinauszuwagen. Vielleicht morgen, mit Sicherheit aber übermorgen würde der Evershine New Diamonds Award eine ganze Menge Zeitungscover zieren, wenn auch auf eine andere Art und Weise, als Venelle sich das gewünscht und vorgestellt hatte. Und um den schmerzenden Hohn perfekt zu machen, stammten ebendiese Fotos vielleicht sogar aus den blutbefleckten Händen des Sweet Slaughters, der - nein. Ravin unterbrach sich in seinem dunklen Gedankenfluss. Dieses letzte Detail würde er selbstverständlich nicht vor dem Konzernchef erwähnen. Das vollkommen neue Licht, das dieser Abend auf den ganzen Fall warf, war bislang sicherlich noch nicht für Venelles finster glühende Augen bestimmt...

Ravin konnte nicht wissen, dass ohnehin alles ganz anders kommen sollte, als er noch in diesen kalten Minuten wie selbstverständlich annahm.
 

Angst ist ein merkwürdiges Phänomen. Es ist sicher nicht vermessen zu behaupten, dass sie der schlimmste, der unbezwingbarste Feind des Menschen ist; gleichsam auch der flüchtigste. Menschen vergessen vieles, aber nichts anderes verdrängen die selbsternannten Herren der Welt so gern und so oft wie die eigenen Ängste. Dabei benötigt es in den wenigsten Fällen ein halbes Leben, um all die Schatten im Geist eines kleinen Kindes verscheuchen zu können, all die schwarzen Gestalten im Schrank, die Monster unter dem Bett - in dem ganz speziellen Fall einer ganz speziellen Ansammlung von Models und Veranstaltern genügte knapp eine halbe Nacht dazu.

Dabei hatte noch der Vorabend in gleichnishafter Eindringlichkeit gezeigt, dass sich Angst zwar sehr gut verdrängen, niemals aber verscheuchen ließ. Lauernd, wie ein von boshaftem Spieltrieb geplagtes Raubtier schlich sie stets um das Lachen, um das ausgelassene, sinnfreie Plaudern all der schönen Menschen, stets bereit dazu, im unerwartetsten Moment wieder hervorzubrechen, gewaltiger, brutaler noch als je zuvor. Und die Angst war nicht nur ein mörderischer, fleischeshungriger Jäger, sondern auch ein leiser Dieb, der beinahe jedem einzelnen Gast der ehemals so fröhlichen, in sorglosen Scheinwelten schwebenden Gesellschaft in dieser Nacht den Schlaf raubte.

Doch dann, als die ersten Strahlen der Sonne den Himmel in ein schüchternes Blaugrau färbten, als die Schatten wie in erstarrter Panik vor den Pastelltönen des neuen Morgens hinfortkrochen, zog sich auch die Angst in ihren fernen, allgegenwärtigen Unterschlupf zurück und nur noch der eine oder andere gekonnt überschminkte Augenring erinnerte an die scheinbar so weit zurückliegenden Ereignisse. Die Show musste weitergehen - und sie tat es, um ein kleines Fingerpüppchen ärmer, aber nicht weniger strahlend, funkelnd und mitreißend wie zuvor.

Die Zeitschriften jedoch schwiegen.

Ravin hatte sich seit jenem nächtlichen Drama auf der Frauentoilette des Evershine Theater Utopia Builidings (von Attrayas zahllosen Bewohnern kurz, bequem und wenig liebevoll ETU genannt) angewöhnt, in den frühen Morgenstunden die kostbare Zeit zwischen Frühstück, Styling, Interviews und Fotoshootings sinnvoll zu nutzen. Er verließ ihr Hotel durch den dezent lackschwarzen Hinterausgang, folgte der breiten Wasserader des Atalic Rivers und kreuzte den Valonia Square. Dieser kleine viereckige Platz, der schon in den ersten Minuten des Tages einen lebendig bunten Rahmen für eine im alten Stil errichtete Kirche bildete, sollte eigentlich an die tapferen Opfer eines Studentenaufstandes im Jahre 6998 erinnern, die damals mit Friedensbannern und lautstarken Parolen gegen die skrupellose Militärs- und Kolonialpolitik der Carfeld-Regierung und die MG-Salven der örtlichen Polizeitruppen angerannt war. Von besinnlicher Feierlichkeit war auf dem Viereck im Schatten der rötlichen Backsteinkirche namens Victoria Church jedoch nicht viel zu spüren, denn immer noch lag das angrenzende Viertel fest in der Hand der Lakeside University Studenten, die reges Treiben zwischen die Häuserfassaden brachte, welche irgendein nostalgischer Künstler vor langer Zeit mit teils klassischen, teils bunten, teils in den absurdesten Formen gewundenen Fachwerkmustern verziert hatte.

Es war jedoch nicht die ganz besondere Atmosphäre zwischen liebevoller, leicht melancholischer Tradition und dem Puls einer neuen Generation, vielleicht noch ein bisschen fortschrittlicher als die vorangegangene, die Ravin Morgen für Morgen auf das hier und dort mit feinem Sand bedeckte Kopfsteinpflaster des Valonia Square führte. Er schlängelte sich eher desinteressiert zwischen den Straßenkünstlern und allgegenwärtigen Flohmarktständen hindurch, die vom dicken juristischen Wälzer bis hin zu altgermanischer Tempeltracht so ziemlich alles zu bieten hatte, was man in sämtlichen Quadranten des Universums an Schulbüchern, Haushaltshelfern und Kuriositäten erstehen konnte. Nur allzu oft rief ihm einer der jungen, in Latzhosen oder ausgetragene Anzüge gehüllten Minutenzeichner zu, ihm doch für ein Kohleportrait Modell zu stehen - zum einmaligen Sonderpreis! Format A2, bestes Papier, für läppische 7,60 Credits! Statt der morgendlichen Tasse Kaffee mit Kuchen eine bleibende Erinnerung, in nur 10 Minuten, jetzt zuschlagen oder sein Leben lang bereuen! - doch Ravin hatte keine Schwierigkeiten damit, derartige Störenfriede schlichtweg zu ignorieren.

Er steuerte zielsicher und unbeirrbar auf den kleinen sechseckigen Zeitungskiosk zu, hinter dessen gläsernen Scheiben eine ganze Armada von grinsenden Semiprominenten, kreischenden Rockstars und vollbusigen, lasziv in die Kamera schmachtenden Schönheiten, gefangen auf 210x297 Millimetern Hochglanzpapiers, auf einen nahenden Befreier und Käufer wartete. Rechts und Links des Verkaufsschalters ragten weißgraue Türme aktueller Tageszeitungen dem morgendlichen Rotschimmer des weiten Himmels entgegen, deren wirre sprachliche Vielfalt gut und gern ihrem babylonischen Verwandten Konkurrenz machen konnte. Diese geballte Mischung aus Multikulturalität, Blut und sachlichen Neuigkeiten war Ravins Ziel.

Morgen für Morgen studierte der junge Weißhaarige sämtliche Billigpapier-Cover, die sich eng an ihren weißen Metallständer schmiegten, hier und dort bereits verbleicht, zerfleddert, vom Regen mit druckerschwarzen Mustern gezeichnet - doch auf keinem einzigen wurde dem jüngsten Mord in der Welt der Reichen und Schönen auch nur eine einzige Silbe, geschweige denn eines der sicherlich zahlreichen Bilder gewidmet, die der finstere Fremde in jener finsteren Nacht geschossen haben musste. Ravin war verwirrt. Und als schließlich eine ganze Woche den Atalic River hinabgeflossen war, ohne auch nur die Andeutung jener schockierenden Nachricht mit sich zu bringen, hielt er all die ungewisse Verwirrung schlicht und einfach nicht mehr aus.

Ravin wusste, was zu tun war. Er hatte es eiliger als jemals zuvor, in die trügerische kleine Glitzerwelt zurückzukehren, die er momentan seine Heimat nennen musste. Allerdings interessierten ihn weder das spärliche Frühstück, noch die pseudointelligent-unterhaltsamen Gespräche seiner Konkurrenten oder gar die rosarote, wolkenweiche Daunendecke des Vergessens, die irgendeine gnädige höhere Macht über die große, einträchtige Familie der Magersüchtigen und Geldgierigen ausgebreitet hatte - alles, was ihm in diesem Augenblick helfen konnte, waren eine ruhige Ecke und sein grauer Portable Transmitter, auf dessen Display ihm nun in großen, andächtigen Zahlen die Nummer seiner Vorgesetzten entgegenstrahlte.

"Ja, hier Mitsuyuki Aya, wie kann ich helfen?" flötete eine fast schon ausgelassen fröhliche Stimme in den kleinen Plastikapparat. Zum ersten Mal wurde Ravin bewusst, dass es lange her war, seit er das letzte Mal wahre, offene Fröhlichkeit gehört hatte, die nicht einfach nur dem unheiligen Zweck dienen sollte, krampfhaft und aufgesetzt in die große, dunkle Welt hinauszustrahlen, um jedem hilflosen Passanten mit einem Faustschlag mitzuteilen, wie unglaublich nett und glücklich man doch war...

Vielleicht war es genau dieser kurze, unbedeutende Augenblick, in dem Ravin mehr denn je klar wurde, wie sehr ihn diese ganze entzückende Plastikgesellschaft, die Models, die Modeberater, die Make-up-Artists und stilvollen Hotelflure abstießen.

"Aya, hier ist Ravin", entgegnete er in gewohnt kaltem Tonfall.

"Ravin? Ah, was für ein Zufall! Ich wollte dich heute nämlich auch anrufen."

"Wieso? Neuigkeiten?" erkundigte sich Ravin kurz. Die kurze Sprechpause am anderen Ende der Leitung zeigte dem Weißhaarigen, dass er Recht behalten hatte und Aya wieder einmal ihrer fast schon zwanghaften Unart nachging, eine am Telefon gestellte Frage mit einem eifrigen Nicken zu beantworten.

"Das kann man wohl sagen!" Ein leichtes Beben lag in ihrer Stimme, das wahre Bände von dem euphorischen Lächeln sprach, das in diesem Augenblick auf dem Gesicht der Wissenschaftlerin liegen musste. "Wie du vielleicht mitgekriegt hast - der gute Venelle hat mir ein nettes kleines Geschenk zukommen lassen, nämlich eure letzte Leiche. Und ich hab's natürlich gleich ausgepackt, sprich: obduziert. Dann hab ich ein paar Proben genommen und im Labor hier untersuchen lassen. Jetzt rate doch mal, was deine liebe kleine Chefin bei der Gelegenheit herausgefunden hat?"

"Gift?" vermutete Ravin. Wieder folgte eine kurze Pause seitens seiner Vorgesetzten.

"Ja, aber nicht irgendein Gift! Halt dich fest - also, mich hat's echt aus den Latschen gehauen, als ich das gehört habe! Unser Sweet Slaughter hat offensichtlich Stil oder einen Hang zum Außergewöhnlichen oder Beides."

"Wieso?"

"Er verwendet ein Pflanzengift!"

"Ein Pflanzengift?" Ravin ließ eine seiner Augenbrauen langsam in die Höhe wandern. "Wer verwendet Pflanzengifte?"

"Das ist es ja! Heutzutage werden die meisten Pflanzen ja eh nur noch künstlich aufgezüchtet. Euer süßer kleiner Schlachter muss einen ganzen Privatgarten betreiben, sozusagen Giftanbau aus eigener Hand und mit viel Liebe zubereitet. Und, mal ganz nebenbei bemerkt, auch noch sündteuer."

Ravin nickte - und hätte sich noch in derselben Sekunde am liebsten eine kräftige Ohrfeige versetzt. Ayas Unarten waren ganz offensichtlich nicht nur nervig, sondern auch noch unheimlich ansteckend.

"Äh-ja", fügte er hastig hinzu. "Er ist also wohlhabend?"

"Das ist anzunehmen. Und... also, es ist vielleicht anmaßend, aber... ich hab da so eine Vermutung... nein. Dazu später. Erstmal zu den Fakten. Du brennst doch bestimmt darauf, endlich zu erfahren, an welchem Gift die gute Chastity - hast du jemals bemerkt, wie wenig der Name zu ihr passt? - denn nun eigentlich gestorben ist!"

"Ja", antwortete Ravin ganz automatisch, ohne überhaupt darüber nachzudenken, ob er das wirklich tat.

"Also gut, hör zu. Wir haben es nämlich mit einem wahren Schmuckstück zu tun. Besagtes Juwel hört auf den schönen Namen Epipremnum, oder, trivial ausgedrückt: Efeutute. Die Efeutute gehört zu den Araceae, den Aronstabgewächsen. Wird dir nichts mehr sagen, aber früher waren das recht beliebte Zierpflanzen und somit in vielen, vielen Wohnzimmern vertreten."

"Aber..."

"Halt - ich weiß, was du sagen willst! Dass eine Zierpflanze tötet, ist ungewöhnlich, nicht? Und normalerweise laufen, oder besser gesagt, liefen Vergiftungen mit Araceae auch meist eher glimpflich ab. Hautreizungen und so weiter, bestenfalls Reizungen der Mundschleimhaut und gefährlich eigentlich nur bei Kontakt mit den Augen."

"Ich glaube nicht, dass Chastity an Reizungen der Mundschleimhaut gestorben ist."

"Natürlich nicht! Aber unser Sweet Slaughter hat das Gift auch in verdammt konzentrierter Form und hoher Dosis eingesetzt. In dem Fall ist die Efeutute weniger harmlos und... glimpflich, wenn du weißt, was ich meine. Immerhin hören deine reizbaren Membranen ja nicht bei der Mundschleimhaut auf. Wenn das Zeug sich im Magen sammelt, ich meine, richtig viel von dem Zeug, dann es zu Krämpfen, Erbrechen und schlimmstenfalls zu inneren Blutungen führen. Wenn die entsprechend stark sind... Exitus."

"Exitus", echote Ravin, den Blick starr auf das Marmormuster der Kacheln zu seinen Füßen gerichtet. Irgendetwas rumorte in seinem Verstand, seinen Erinnerungen, suchte jedoch vergeblich nach einem Weg an die lichte Oberfläche. War es ein Verdacht? Hatte er bei dem Fest... bei einem der Feste davor... irgendetwas Wichtiges gesehen, es damals mangels der nötigen Informationen aber noch nicht als wichtig erkannt? Und warum kehrte dann ausgerechnet jetzt, während diesem mehr oder minder erbaulichen Gespräch, langsam und schleichend diese hohle Andeutung einer Erkenntnis zurück?

"Genau. Und lass mich raten - schon seit dem ersten Wort dieses wissenschaftlich fundierten Vortrags brennst du förmlich darauf, mich endlich fragen zu können, was denn nun meine gewagte, anmaßende Vermutung ist! Hab ich Recht?"

"Was für eine Ver- achso. Ja, natürlich."

"Wusst ich's doch!" strahlte die Wissenschaftlerin in ihren Portable Transmitter. Sie machte eine bedeutsame Pause, nahm zwei tiefe Atemzüge und räusperte sich, bevor sie in feierlichem Tonfall fortfuhr. "Sag was du willst, aber meiner Meinung nach ist der Sweet Slaughter eine Frau!"

"Eine Frau?" Bei aller Emotionslosigkeit konnte sich Ravin einen Anflug von ungläubigem Zweifel in der Stimme nicht ganz verkneifen.

"Ja klar, warum nicht?"

"Das ist einfach: Weil ich es mir nicht vorstellen kann, dass eine Frau jemanden mit einem Meter dicken Stahlkabeln durchbohrt und über einem Laufsteg aufhängt."

"Warum denn nicht?!?" fragte Aya unwirsch. "Zweifelst du etwa an unserem psychopatischen Potential?"

"Nein!" antwortete Ravin schnell, als er den empört-beleidigten Gesichtsausdruck seiner Vorgesetzten vor seinem inneren Auge vorbeischweben sah. "Aber dazu benötigt man Kraft. Hier gibt es nur Models und ein paar Maskenbildnerinnen und die sind alle magersüchtig. Oder von Natur aus dürr. Verstehst du?"

"Ach, Kleinigkeiten!" stieß die junge Wissenschaftlerin abfällig hervor. "Psychopaten verfügen über Kräfte, von denen du und ich keine Ahnung haben. Außerdem spricht ansonsten alles für eine Frau."

"Ansonsten?"

"Ja. Denk doch mal nach! Der Mörder mordet offensichtlich nach einem Prinzip ganz eigener Ästhetik, also ist er entweder schwul, eine Frau oder eine begehrenswerte Ausnahme eures Geschlechtes. Aber gut, Mörder sind oft absonderlich. Soweit noch kein Beweis. Nur... ach, ich weiß nicht. Das sind vielleicht alles Klischees, aber welcher Mann arbeitet denn mit Gift? Gut, Gift, aber... ein Pflanzengift! So etwas seltenes, teures... außerdem noch in einer Menge und von einer Art, dass es auf jeden Fall bei einer Obduktion bemerkt werden muss. Das ist beinahe schon eine Botschaft! Eine Visitenkarte! So ein liebevoller Mord widerspricht jeglichen nüchtern-rationalen Denkweisen, auf die ihr Männer immer so stolz seid!"

"Aya... das klingt, als ob dir dieser Mord gefallen würde!"

"Gefallen? Mir? Ein Mord? Natürlich! Ich meine... nein! Natürlich nicht! Blödsinn!" Ein Schwall von Luft wurde entnervt in den Lautsprecher des Transmitters gestoßen. "Aber verstehst du nicht, was ich meine? Meiner Meinung nach hat diesen netten Giftmord hier eine Frau begannen, glaub es oder nicht. Dagegen sprechen würde nur, dass der reizende Sweet Slaughter eigentlich gar nicht konsequent genug ist für eine Frau."

"Nicht - konsequent genug? Wie meinst du das?" Noch während er sprach musste Ravin feststellen, dass es ihn mit einem Mal keinerlei Überwindung mehr kostete, seine Vorgesetzte zu duzen. Ein bitterer Hauch des Entsetzens kroch seinen Hals hoch und ließ ihn kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde lang erschaudern. Ayas Theorie mochte unüberlegt sein, von einer dicken Zuckergussschicht aller handelsüblichen Klischees überzogen - dennoch war er heilfroh über jeden Hinweis, der sich als ein weiterer Pflasterstein in den langen, steilen Weg zu seiner blutrünstigen Beute führen sollte. Es wurde höchste Zeit, dass er aus diesem verfluchten Modelcontest entkam, bevor er noch gänzlich von all den Ekel erregend süßen Bräuchen und Konventionen dieser künstlichen Welt verschlungen wurde.

"Ich habe dir doch von Venelles netten kleinen Geschichten erzählt, nicht wahr?"

"Ja."

"Und du hast es ja selber gesehen, wie dieses... also... gekreuzigte Model... wie sie gelächelt hat. Richtig?"

"Richtig."

"Weißt du, nach diesen ganzen Bildern und Horrorstorys war ich mir eigentlich fast schon sicher, dass der Sweet Slaughter ein Gift verwendet, um seine Opfer zu töten. Wie du siehst, hatte ich ganz offensichtlich Recht. Aber diesmal... also... entweder ist etwas schief gelaufen oder... kann es Absicht sein? Ich weiß es nicht. Aber gewundert habe ich mich doch."

"Gewundert? Warum hast du dich gewundert?" Langsam, ganz langsam hatte Ravin keine Lust mehr, den zahllosen Andeutungen und unvollendeten Halbsätzen der Wissenschaftlerin nachzujagen. Sein kalter Tonfall klang schärfer, als er es eigentlich beabsichtigt hatte und als er es sich im Gespräch mit seiner Vorgesetzten leisten konnte. Trotzdem suchte er vergeblich nach einem Ausdruck von Vorwurf oder auch nur Tadel in Ayas finsterer Stimme, als sie seine Frage leise, beinahe ein wenig hilflos beantwortete.

"Wir haben nur dieses eine Gift in Chastitys Körper gefunden. Und dieses Gift ruft definitiv nur die Symptome hervor, die ich dir vorher beschrieben habe. Nichts anderes und schon gar keine merkwürdige Lähmung oder Erstarrung... der Gesichtsmuskeln."

"Aber... das ist nicht möglich. Irgendetwas muss doch diese unnatürliche Verzerrung der Gesichtszüge hervorgerufen haben!"

Ein schwaches, kurzes und wenig überzeugtes Lachen drang durch den Lautsprecher des Portable Transmitters.

"Unnatürliche Verzerrung der Gesichtszüge... so eine Beschreibung für ein Lächeln kann auch nur von dir kommen! Aber... nun ja... genau das ist es ja, was mich bei diesem Opfer... gestört hat. Ravin..."

Aya machte erneut eine kurze Pause, doch diesmal wusste der junge Weißhaarige, dass sie nicht einfach nur die Spannung erhöhen oder eine überflüssige weil für ihn ohnehin nicht sichtbare Geste einbauen wollte, sondern schlicht und einfach Mühe damit hatte, die folgenden Worte über die Lippen zu bringen. Ihre Stimme klang ungewohnt ernst, als sie endlich ihren Satz zu Ende brachte.

"Ravin, diese junge Frau hat überhaupt nicht gelächelt!!"
 

Der Abend war finster.

Das lag jedoch weniger an den äußeren Umständen - die Scheinwerfer leuchteten sanft wie eh und je, die Cocktailgläser auf der langen, silbernen Buffettafel perlten und glommen in gewohnt unnatürlichen, dafür aber umso intensiveren Farben, alles lachte, plauderte, schwatzte, sperrte die große, böse Welt gekonnt aus dem gigantischen ETU-Building aus und huldigte dem magersüchtigen Gott der anspruchslosen Unterhaltung, der sich wieder einmal rauchend und Prosecco saufend unter seinen treusten Jüngern niedergelassen hatte. Die schleichende Veränderung hatte sich vielmehr in Ravin selbst vollzogen, hatte sein inneres Bildnis ebenso vergiftet wie jene blonde junge Frau, die vor acht Tagen auf der Damentoilette ein jähes und unrühmliches Ende gefunden hatte.

Irgendetwas stimmte nicht...

Ausgerechnet seine optimistische, nur allzu oft schier unerträglich kindische Vorgesetzte war es gewesen, die - wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken - die Saat des Misstrauens tief in sein Bewusstsein eingepflanzt hatte, wo sie nun nach Herzenslust schmarotzte und wucherte. Möglicherweise hatten die Worte der jungen Wissenschaftler endlich die Pforten seiner Wahrnehmung geöffnet, für das wahre Ausmaß des allgegenwärtigen Übels empfänglich gemacht - möglicherweise hatten sie auch die Dämme für die teerschwarzen Fluten der Paranoia niedergerissen, die sein Bewusstsein überschwemmt und wie ätzende, klebrige Säure befallen hatte - möglicherweise auch beides. Jedenfalls sah, hörte, fühlte Ravin mit einem Mal Dinge, die ihm vorher bei aller Abscheu, bei allem Misstrauen niemals aufgefallen waren.

Ein lautes Lachen peitschte über den reißenden Gedankenstrom, der hinter dem unbewegten Gesicht des jungen Weißhaarigen tobte. Noch in derselben Sekunden fixierten dessen kalte Augen die Quelle des unangenehmen Geräusches, richteten sich wie die automatische Zielfunktion einer Selbstschussanlage auf einen der dicklichen Manager oder Veranstalter oder vielleicht auch Modehausleiter, die sich stets in einer komprimierten Traube um ihr goldenes Kalb namens Venelle scharten. Sie lachten, rauchten, tranken, aber Ravin blickte hinter diese unerträgliche, aufdringlich-fröhliche Fassade.

Sie hatten Angst.

Alle, sogar - oder vielleicht sogar ganz besonders? - der große Marque Venelle, sie erschauderten, die Lippen bebend, die dumpfen Augen flackernd, die über und über mit goldenen Ringen gefesselten Finger krampfhaft an den viel zu dünnen Stiel ihrer Champagnergläser gepresst. Ravin deutete ein Kopfschütteln an und nahm einen Schluck von seinem blutroten Cocktail, den er aus der dezent angestaubten Ecke entführt hatte, welche die aussterbende Spezies alkoholfreier Partygetränke beheimatete. Wahrscheinlich, rauschte es durch sein gespanntes Bewusstsein, hatte Aya mit ihrer letzten Behauptung sogar Recht behalten.

Ravin, dieser schwarze Mann ist ein Erpresser.

Die junge Wissenschaftlerin hatte sich zunächst auch keinen Reim auf das Mysterium des finsteren Fotografen machen können, der sich im Dunkel der Nacht zu ihrem kleinen, 25-stöckigen Paradies geschlichen hatte (tatsächlich waren es nur 24 Stockwerke, aber Venelles doch nicht ganz zu verleugnender Aberglaube hatte das 13. Stockwerk bei der Nummerierung aussparen lassen), den Tatort unerbittlich auf Mikrofilm gebannt und diesen dann scheinbar lautlos, ohne Spuren zu hinterlassen wieder mit sich in das Reich der Schatten genommen hatte. Doch Aya wäre nicht Aya gewesen, wenn sie nicht hinter jeder noch so rätselhaften, scheinbar sinnlosen Tat einen Pfad hinab in die Abgründe der menschlichen Psyche gefunden hätte. Sie wusste um das Böse in der Welt, ja, mehr noch, sie konnte ihren eigenen Verstand mit diesem Bösen synchronisieren und jedes noch so abscheuliche Verbrechen mit nahezu kindlicher Heiterkeit rekonstruieren.

Normal war dies sicher nicht - aber konnte man eine an und für sich erwachsene Frau, die sich mit größtem Vergnügen die Abendnachrichten ansah, Gummibärchen sezierte und dabei gut gelaunt die schrecklichsten Verbrechen verfolgte, um im Laufe der nächsten Wochen mitraten zu können, wer denn nun Täter und Opfer sei, überhaupt in irgendeiner Weise als normal bezeichnen? Ravin wusste es nicht. So oder so, er verstand seine Chefin nicht, er hatte sich damit abgefunden und nutzte lieber die guten Ideen, die der jungen Frau von Zeit zu Zeit in ihre merkwürdige Psyche flatterten.

Der Gedanke lag nahe - war der erwartete und gefürchtete Artikel bislang ganz einfach deshalb noch nicht in den Zeitungen erschienen, weil der große Chef hier und dort ein paar tausend Credits locker machte? Kam daher diese Nervosität? Dieses Flackern, Beben, das vergebliche Suchen nach einem Halt, den es nicht gab in dieser kalten, schönen Welt...

Aber warum griff das merkwürdige Verhalten dann auch auf die Models über? Was kümmerte es sie, ob irgendein reicher, unsympathischer Veranstalter um einen höchstwahrscheinlich sowieso nicht relevanten Teil seines erdrückenden Vermögens gebracht wurde? Oder spürten sie es? Spürten sie die lauernde Bedrohung so wie ein naives, unwissendes, hilfloses Beutetier? Erwachte ihr längst abgetöteter Fluchtinstinkt... oder vielleicht doch ihr Jagdinstinkt?

Der Sweet Slaughter war unter ihnen, soviel stand ganz ohne jeden Zweifel fest, er lachte und plauderte inmitten dieser scheinbar so unbefangenen Gesellschaft, während irgendein Teil seiner Psyche analysierte und aussortierte, stets auf der Suche nach einem neuen Opfer...

Ravin schüttelte erneut den Kopf. Was waren denn das für seltsame, wirre Gedanken? Diese ganze Situation war ohnehin viel zu makaber, um sie in Worte fassen zu können. Eine boshafte Version von Murder on the Dancefloor, Mord in der Disko, jenem uralten Kinderspiel, das er zwar niemals selbst miterlebt hatte, ihm aber noch vor wenigen Tagen bunt und lebhaft aus den Mündern von D und Aya geschildert worden war. Eigentlich war es doch eine bloße Laune des Schicksals, der Gene, eventuell sogar irgendeines größenwahnsinnig gütigen Wesens namens Gott - wahrscheinlich aber ganz einfach nur Zufall, wer nun ein Zettelchen mit der verdammenden Aufschrift ,Opfer' zog, wer als bloßer ,Gast' sein Leben fristete oder als ,Täter' selbiges viel zu früh beendete...

Aber was, wenn genau in diesem Augenblick die alles entscheidenden Zettelchen neu gemischt wurden? Wenn eine Runde des mörderischen Spiels begann?

Der junge Soldat strich sich durch sein langes, schneeweißes Haar, das ihm in schier endlosen, ausnahmsweise einmal von keinerlei Band oder Gummiringchen gebändigten Strähnen über die Schultern fiel. Während sein Blick, getrieben von einer unbestimmten Nervosität, weiter durch das fahle Halblicht des Raumes wanderte, nahm er geistesabwesend einen weiteren Schluck von der makabererweise tatsächlich blutroten Flüssigkeit in seinem Cocktailglas.

Er spürte, wie ein ganzes atomares Strahlungsbündel von Blicken auf ihm ruhte, wie sie ihm folgten, ihn fixierten, schamlos und unverhohlen. Ravin ortete schnell, woher diese tödliche, alles vernichtende Waffe auf ihn abgefeuert wurde, einzig und allein zu dem Zweck bestimmt, ihn zu versengen... allerdings, wie das bei tödlichen Blicken meistens der Fall war, von wenig durchschlagendem Erfolg gekrönt. Ganz vorne an der Front erkannte der Weißhaarige ein gigantisches Schild perlweißer Zähne, begleitet von einer Schar junger Männer, einige interessant, andere attraktiv, die wenigsten wirklich schön im eigentlichen Sinne.

Sie alle starrten ihn an.

Ravin machte einige Schritte auf das Buffet zu, leerte sein Getränk in einem Zug, um unauffällig nach dem nächsten Glas greifen und so taktisch seinen Standort wechseln zu können - vergeblich. Die Blicke hefteten unbeirrt auf ihm, tauschten kurz Informationen aus, lachten und feixten dann und wann, ohne ihre Beute jemals entkommen zu lassen. Aus irgendeinem Grund, den er eigentlich nicht kannte, fühlte sich der junge Weißhaarige von dieser offenkundigen Observation unangenehm berührt. Was wollten sie von ihm? Für gewöhnlich konnte er selbst den kältesten Blicken ohne größere Probleme und notfalls auch etliche Minuten lang standhalten, ohne auch nur einen Anflug von Nervosität zu verspüren, aber nun...

In seiner Brust machte sich ein unangenehmes Kribbeln breit. Ravin schlucke einige Male, was jedoch lediglich von dem überwältigenden Erfolg gekrönt war, dass sich zu der kollektiven Ameisenwallfahrt in seinem Inneren nun noch ein warmer Hauch leichter, aber dennoch ungemein störender Übelkeit gesellte. Er strich sich kurz mit dem Handrücken über die Stirn, schloss seine Augen, doch das beklemmende Gefühl schien sich in seinem Körper durchaus wohl zu fühlen und machte sich prompt sesshaft.

Die bleichen Lippen des jungen Soldaten pressten sich ganz wie von selbst fester aufeinander. Für einen kurzen Moment verzog er sein kaltes, wunderschönes Gesicht. Was war denn nur los mit ihm? Die stickige Luft schien in seinen Lungen zu stagnieren. Ravin drehte sich um und ging, mit einem Mal ein leicht unsicheres Gefühl in den Beinen, die rechte Hand fest um den Griff seinen Glases geschlungen, auf das glänzend pechschwarze Viereck jener Pforte zu, die das Himmelreich der engelsgleichen Models mit der irdischen, dafür angenehm kühlen nächtlichen Welt verband.

Er hatte kaum drei Schritte hinter sich gebracht, als mit einem Mal ein gleißender, glühend heißer Blitz in seinen Körper schlug.

Die Reaktion war absurd. Obwohl der Schmerz vom ersten Augenblick an durch und durch unerträglich war, ihm schlagartig den Atem raubte, war Ravin zunächst wie erstarrt, wie eingefroren, so als stünde er neben sich, über sich, blicke auf seinen zerrissenen Körper hinab, spürte, ohne wirklich zu begreifen, regungslos, die Augen weit aufgerissen und vollkommen ausdruckslos.

Dann begann er zu schreien.

Ravin begriff nicht, was mit ihm geschah, was dieses brüllende Feuer mitten in seinem Inneren entzündet hatte, wer das rostige, über und über mit Widerhaken gespickte Messer führte, das ihn von innen heraus zu zerfetzen schien. Er schlang die Arme um seinen Bauch, ohne zu merken, wie sich seine Fingernägel in die eigene Haut krallten, das makellose Weiß blutig rissen. Er hörte nicht, wie sein Glas, eben noch krampfhaft umfasst, angesichts der plötzlichen Freiheit erschrocken zu Boden fiel, mit einem schrillen Todeskreischen zerbarst und eine rote, dickflüssige Pfütze auf das Schachbrettmuster des Fliesenbodens ergoss. Auch die erschrockenen Aufschreie seiner schockierten Umgebung realisierte er nicht mehr, nicht, wie eine Gruppe weiblicher Schönheiten entsetzt vor ihm zurückwich, als er blind und jeglicher Kontrolle über seinen Körper beraubt rückwärts taumelte.

Nichts existierte mehr, nichts außer diesem rasenden, tobenden, alles verschlingenden Schmerz, der ihm beinahe den Verstand raubte, ohne jedoch seine Sinne in eine gnädige Finsternis entgleiten zu lassen. Eine Welle nicht mehr nur latenter, sondern regelrecht brachialer Übelkeit schien inmitten dieses Sturmes zu explodieren, breitete sich rasend schnell in seinem Inneren aus, und das einzige, was ihn wohl nun noch davor rettete, sich hier und auf der Stelle übergeben zu müssen, war wieder einmal der Schmerz, der unbezwingbare Schmerz, der sogar jeden körperlichen Reflex außer Kraft setzte.

Erneut rammte sich das vernichtende Schlachtmesser in seinen Bauch, drehte und wand sich genüsslich und raubte Ravin endgültig die Stimme, die letzte Kraft zu schreien oder sich auf den Beinen zu halten. Ein letztes, abgehacktes Wimmern drang über seine Lippen, und obgleich er nicht mehr realisierte, wie er auf dem blutig rot befleckten Boden zusammenbrach, raste noch ein letzter, alles andere verwischender Gedanke durch das schwindende Bewusstsein des jungen Weißhaarigen, kreuzte das tödliche Meer unendlichen Schmerzes, durchtrennte in beängstigender Klarheit die Wogen der Übelkeit.

Er hatte den falschen Zettel gezogen.

Und als nun endlich die erlösende Nacht über Ravins Bewusstsein hereinbrach, wusste er nur noch eines: Es war vorbei.
 

Akte 3a/ Ende

Akte 3b/ Bin ich schön?

... and the Story goes on... ja, ihr dürft euch alle (alle? Das klingt ja so, als würden weiß-gott-wie-viele meine FF's lesen! ^^;;; Wunschdenken?!?) bei dem lieben Fünkchen bedanken. Wollt das Kapitel nämlich unbedingt bis zu seinem Birthday fertig kriegen und, by God, es ist mir gelungen. *stolz sei* Trotz Mörder-Schule in den letzten Wochen. Ihr glaubt nicht, wie viel Spaß es macht, nach solch einer Zeit wieder zu schreiben!!!! ^.^ Und Levi macht eh so unglaublich viel Spaß... leider... ich habe nämlich verlernt, wie man sich kurz fasst. Entschuldigt bitte. Ich habe mich total verlabert in diesem Chapter! Ich mag's trotzdem... irgendwie...

Offizieller Soundtrack und schönste Inspiration zu dem Kapitel ist der über alle Maßen geniale American Beauty-Soundtrack meines Lieblingskomponisten, Divus Thomas Newman (*grins* Das verstehn jetzt nur Latein-Schüler...). Ein herzliches Danke in die Richtung. ^.^ *anbet* Ich hoffe, es gefällt euch, wirklich. Ich bin für jeden Comment sehr, sehr, sehr dankbar, ebenso wie ich all jenen dankbar bin, die so lieb meine Stories lesen, allen voran Yoko-chan und Tía-chan. DAISUKI!!! Dieses Chapter widme ich einzig und allein meinem FF-Autor, dem großartigen SonGokuDaimao alias Fünkchen... lest seine Stories, wer's bereut, kriegt von mir Schadensersatz, aber das wird eh nicht passiern. ^^ Schreib immer weiter so, du bist genial. Und mögen all deine Wünsche in Erfüllung gehen... forever yours, deine Yu-chan. ^_________^
 

Das Licht im Himmel war weiß, schneeweiß und unendlich kalt. Auch der Boden war kalt, Linoleum in gesichtslosem Grau, dazwischen das Weiß der Wände, der Decken, das Silber der widerwärtig breiten Türen... alles jagte so schnell und stinkend an ihr vorbei, stinkend nach irgendetwas stechend süßlichem... Alkohol? Desinfektionsmittel?

Aber wie konnte ein Himmel trotz allem Licht und Weiß und Glanz nur so abstoßend sein?

Vielleicht, schoss es Aya durch den Kopf, lag es ja daran, dass sie gar nicht wirklich zwischen Gott, Engeln und anderen himmlischen Sklaven und Wohltätern weilte, sondern in jenem Krankenhaus, in dem sie ihr erstes Praktikum verlebt hatte. Damals war ihr schon das bloße Angebot als ein Fingerzeig himmlischer Güte erschienen, und selten hatte sie sich so sehr gefreut wie an jenem Tag, als das Bestätigungsschreiben in ihren heruntergekommenen Briefkasten geflattert war, übermittelt von einem etwas griesgrämigen, aber zumindest in diesen frühen Morgenstunden doch unglaublich engelsgleichen Boten.

Wie klein und unbedeutend hatte sie sich damals gefühlt, als sie mit zwei nicht minder verunsicherten Anwärtern auf den Titel des Halbgottes in Weiß durch die Gänge zum Hauptverwaltungsgebäude geschlichen war! Und welch riesenhaftes Gebirge war ihr daraufhin vom Herzen gefallen, als der Chefarzt nett und freundlich, die Kollegen doch zumindest annehmbar und das Kantinenessen immerhin noch erträglich gewesen war. Dieses Krankenhaus, das hatte Aya damals schon geahnt, war ihr erster Schritt zu einer eigenen Karriere gewesen, und so hatten sie und ihre Kommilitonen den hässlichen weißen Bau damals schlicht als ,den Himmel' bezeichnet.

Wie gesagt - damals.

Was sich nicht verändert hatte, war dieses grausame, nagende Gefühl in ihrem Inneren, dieses schmerzhafte klein und unbedeutend, Hilflosigkeit... Aya hasste es, mehr als alles andere, zu wissen, dass sie nichts tun konnte. Platz zwei der emotionalen Hassrangliste nahm die sichere Erkenntnis ein, versagt zu haben, und momentan fühlte sie beides. Vielleicht kam es daher, dass sie mit einem Mal den Geruch nach Desinfektionsmitteln, den sie als Medizinerin ja an und für sich gewohnt war und eigentlich niemals als unangenehm empfunden hatte, kaum noch ertragen konnte, dass ihr all die weiße Sterilität ein hysterisches Lied des Todes sang und dass der Linoleumfußboden bei jedem Schritt ein kleines, nur ein ganz kleines bisschen nachzugeben schien, obwohl das doch wahrscheinlich nur das Zittern ihrer Knie war...

Und dabei hatte sie sich doch zunächst noch gefreut, als sie am späten Abend heimgekommen war und just in dem Augenblick, als sie Türe hinter sich ins Schloss hatte gleiten lassen, ihr Telefon zu klingeln begann. Normalerweise kannte Aya diese Szenarien nur zu gut - denn immer genau dann, wenn sie anschickte, sich zu beeilen, um den mysteriösen und potentiell erst einmal wichtigen Anrufer auch ja nicht warten zu lassen, brach beim allzu hastigen Ausziehen ihrer Stöckelschuhe mindestens ein Absatz ab, was spontan zum unvorstellbar schmerzhaften Verstauchen eines Knöchels oder Fingers oder Zehs führte. Aufgeschreckt vom unmittelbar folgenden Schmerzensschrei floh dann nur allzu gerne eine randvolle Milch- oder Rotweinflasche aus der Einkaufstüte und zerschellte auf dem Boden, um sich mit bösartig grinsenden Flecken oder einem unsterblichen säuerlichen Gestank auf dem unschuldigen Teppichboden zu verewigen. Im besten Fall stürzten sich nun auch noch einige unvorstellbar wichtige Unterlagen aus der Tasche der jungen Wissenschaftlerin, um in dem Meer teppichfeindlicher Substanzen stumm und stilvoll Selbstmord zu begehen. Und während Aya dann mit schmerzverzerrtem Gesicht, fluchend und blutige Fußabdrücke hinterlassend (wer achtet noch auf Glasscherben, wenn das Telefon ruft?!) durch ihre kleine Wohnung humpelte, ihre Hand heroisch in die Lüfte schwang, um den schwarzen Plastikhörer an ihr Herz beziehungsweise an ihr Ohr zu reißen, beschloss der mysteriöse und potentiell erst einmal wichtige Fremde am anderen Ende der Leitung - aufzulegen.

An besagtem Abend war nichts von alldem geschehen. Die halsbrecherischen Absätze an Ayas neuesten Stöckelschuhen hatten sich dazu entschlossen, ihr unseliges, sadistisches und Wirbelsäulen vernichtendes Leben noch ein wenig länger zu fristen, auch Milch, Wein und Unterlagen blieben brav an ihrem Platz, und auf wundersame Weise gelang es Aya sogar, vielleicht zum ersten Mal in ihrem jungen Leben den Telefonhörer rechtzeitig abzuheben und den Anrufer freundlich, wenn auch leicht atemlos zu begrüßen.

Aya hatte fest damit gerechnet, von Ravins kalter Stimme begrüßt, vielleicht auch von einem Schwall guter Laune ihres selbst am Telefon noch grinsenden Mitarbeiters D hinweggefegt zu werden. Immerhin hatte sie einen ganzen Tag am anderen Ende des Planeten auf einem Kongress junger Wissenschaftler verbracht, hatte sich über interessante Neuigkeiten und belebende Konkurrenz der Szene informiert und nur für wenige, aber überaus schöne Stunden jenen finsteren Schleier lüften können, den ihr bedrückender, abstoßender erster Fall ganz unbemerkt auf ihrer Seele hinterlassen hatte.

Und dann war irgendwie alles ganz anders gekommen. Eine süßlich-mitfühlende Stimme hat ihr irgendetwas ins Ohr gesäuselt, das sie erst mit einer absurden Verzögerung hatte begreifen können, längst nachdem ihre Stimme schon einige Male geantwortet, ihre Hand den Hörer stumm und eigenmächtig wieder auf dem zugehörigen Gerät platziert hatte. Genau genommen hatte sich Aya leicht zusammengesunken auf ihrem Kunstledersofa wiedergefunden, verwirrt und hilflos wie nach einem langen Fieberschlaf. Und während ihre dunklen Augen auf die Scheibe ihres Fensters starrten, hinter der Litonias Lichtermeer langsam zu glitzern begann, hallte ein ums andere Mal dieser grauenvolle Satz in ihrem Kopf wieder, dröhnend, hohl, wie in einer blutig leeren Konzerthalle, in der irgendeiner Verrückter die Auswüchse seiner kranken Psyche in den Nacht hinausschrie.

Ja, sind sie es, Dr. Mitsuyuki? ... Hier spricht das Hopecraft Central Hospital... Es tut uns leid, sie zu stören... Wie? ... Ja... Ja, es ist leider etwas passiert. Es geht um einen ihrer... Mitarbeiter? ... Ja, ein anderer Mitarbeiter ist hier. Er sagte, ich solle sie benachrichtigen... Der Name? Einen Moment... Ravin Lancis... Genau. Er wurde gestern Abend eingeliefert... Wir konnten sie leider nicht früher erreichen. Es tut uns leid... Ich kann ihnen leider am Telefon nicht mehr sagen...

Ganz instinktiv hatte Aya dann aber doch nachgehakt, hatte Wortfetzen wie "Zustand kritisch" und "steht nicht gut" aus der wirren Schlacht ihrer rasenden Gedanken zurückbehalten. Augenblicklich waren all ihre wehmütig-naiven Pläne für den Feierabend in nichtige Sphären entschwunden, hatten sich Vanillecappuccino und warmes Bad mit Regenbogenschaumkrone in Wohlgefallen und Vergessen aufgelöst, und obwohl sie dazu eigentlich gar nicht mehr in der Lage gewesen war, hatte sich Aya einmal mehr an diesem Tag hinter das Steuer ihres Gleiters gesetzt, um in jenes Krankenhaus zu eilen, in dem vor so langer Zeit alles begonnen hatte...

Und nun war sie hier, starrte schon seit mindestens fünf Minuten auf das blanke Viereck der Edelstahltüre, geradewegs durch ihr eigenes, merkwürdig verzerrtes Antlitz hindurch - und wagte es nicht, einzutreten. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was sie erwartete...

Angst, ihren Mitarbeiter mit eigenen Händen getötet zu haben.

Schön - es war vielleicht doch nur mittelbarer Mord, den sie begangen hatte, aber das änderte nichts an dem dumpfen, widerwärtigen Schmerz, der mit fauligen Zähnen in ihrem Inneren zu nagen begonnen hatte. Wieso war sie nicht vorsichtiger gewesen? War es nicht von Anfang an ein viel zu großes Risiko gewesen, einen einzelnen Mitarbeiter in einen Wettbewerb einzuschleusen, der von einem blutrünstigen, mit überaus makabren Humor gesegneten Killer heimgesucht wurde? Und nun? Nun war ebendieser einsame Mitarbeiter Opfer des Killers geworden, musste vielleicht sogar sterben, nur weil ihr unsinniger Stolz eigene Investigationen nicht zugelassen hatte!

Die junge Wissenschaftlerin schüttelte ihren Kopf und rückte sich mit einer kurzen, nervösen Bewegung die Brille zurecht. Dann atmete sie tief durch, nahm all ihren Mut zusammen - und trat ein.

Der Anblick übertraf alles, was sie in ihren finstersten Fantasien erwartet hatte.

Zumindest fast alles. Denn inmitten von weißen Decken und Schläuchen und nervtötend piepsender Maschinerie lag Ravin - oder vielmehr etwas, das ganz entfernt noch an den Ravin erinnerte, den Aya während ihrer kurzen Zeit im Labor kennen gelernt hatte. Vor allem anderen war er bleich, jedoch nicht auf die gewohnte, makellose Art und Weise, sondern so wie ein Mensch, der dem Tode näher stand als dem Leben. Nun, da die eisfarbenen Augen geschlossen waren, war die Kälte von dem sonst so schönen Gesicht gewichen, stattdessen sprach es letzte, leise Worte von einem unvorstellbaren Schmerz, der in dem nunmehr leblosen Körper gewütet haben musste. Die Lippen des jungen Mannes schienen von einem seltsamen weißen Film überzogen, einzig in den Mundwinkeln setzte sich verkrustetes Rot von dem sonst so allgegenwärtigen Weiß ab.

Neben dem Bett saß eine Leiche.

Aya konnte einen leisen Schreckenslaut nicht mehr unterdrücken. Sie schlug die Hände vor den Mund und zwang sich, verborgen hinter ihren zittrigen Fingern, zu einem schiefen Grinsen, während sich ihre Füße unsicher auf jene Gestalt zubewegten, die sie erst auf einen gründlichen zweiten Blick als einen reichlich übernächtigten D hatte identifizieren können. Das Lächeln des Schwarzhaarigen wirkte starr und erzwungen wie niemals zuvor. Unter seinen Augen schimmerten bläuliche Ringe, seine Hand lag kraftlos auf den blassen Fingern des Weißhaarigen, die selbst im Schlaf noch krampfhaft die Decke umschlossen hielten.

"Hey, Aya!"

"Oh mein Gott, D... wenn ich dich so sehe, dann bin ich mir gar nicht mehr so sicher, wessen Zustand hier eigentlich kritisch ist."

"Vielen Dank", murmelte der junge Schwarzhaarige, während seine Vorgesetzte langsam neben ihm auf dem zweiten Bett Platz nahm. "War ne verdammt lange Nacht. Irgendwie ist das Verschwendung. Da stellen die mir extra noch ein Bett mit rein..."

"Was ist denn überhaupt passiert? Was ist los mit ihm? Wie... wie geht es ihm denn jetzt?!" Ganz wie von selbst drang ein Schwall von Fragen über Ayas Lippen und brach ungebremst über ihre Mitarbeiter herein. Der verzog das Gesicht und ließ dann seine müden Augenlider sinken.

"Bitte noch mehr Fragen auf einmal, mein Hirn ist ja grad so frisch und jung und einsatzbereit!" Er fuhr sich mit einem Finger in sein kurzes Haar und stieß einen tiefen, leisen Seufzer hervor. "Ich fang einfach mal hinten an, weil ich mir das sogar irgendwie noch merken konnte. Wie du siehst, schläft er jetzt. Zum Glück. Die letzte Nacht ging es ihm ganz verflucht dreckig. Ehrlich gesagt, ich mochte ihn ja nie so wirklich, aber so etwas gönne ich echt keinem Menschen!"

"Aber... er kommt durch, oder?" Aya Stimme klang merkwürdig fremd und brüchig in ihren eigenen Ohren wider und sie biss sich nahezu beschämt auf die Unterlippe, kaum dass die Worte ausgesprochen waren.

"Ich hoffe es. Ich meine... Ärzte sagen einem ja eh nie die Wahrheit... kuck nicht so böse, du weißt, dass ich Recht habe. Jedenfalls meinen die, dass er das Schlimmste überstanden haben sollte und sie jetzt ganz zuversichtlich seien und so. Na ja, wenn ich so an die letzten Stunden zurückdenke, könnt ich's mir zwar doch irgendwie vorstellen, aber wirklich hoffungsvoll stimmt mich das ganze Gerede trotzdem nicht."

"Das... das darf doch einfach nicht sein, dass gleich bei meinem ersten Auftrag einer meiner Mitarbeiter stirbt!" Aya stieß einen verzweifelten Seufzer hervor und rang mit den Händen, hielt dann in der Bewegung inne und strich mit ihrer Rechten vorsichtig über Ravins Stirn. "Das ist so seltsam, ich meine... Ravin sieht plötzlich so... so ganz... klein und hilflos aus! Also... Ravin... jeder andere, aber ausgerechnet Ravin..."

"Ich weiß, was du meinst!" D vergrub sein Gesicht in den Händen, während Aya sich im Geist eine ganze Salve von Ohrfeigen dafür verpasste, dass es wieder diese grauenhaften Worte, klein und hilflos, klein und unbedeutend waren, die sich wie ein Schraubstock um ihren Geist geschlungen hatten, um ihn nie, niemals wieder entfliehen zu lassen. Alles an diesem Abend war irgendwie klein und unbedeutend, auf eine ganz perfide, hinterhältige Art und Weise, dass es der jungen Wissenschaftlerin schier den Atem und ihr mühsam angespartes und sorgsam gehegtes Nervenkostüm kostete - ebenso wie den Verstand. Es machte sie schier verrückt, den sonst so makellosen, perfekten, eiskalten Menschen inmitten all jener heilungsspendenden Ungeheuer sehen zu müssen, ohne auch nur das Geringste tun zu können...

Es widersprach Ayas tiefster, unantastbarer Natur, an gleich welchen Umständen nichts ändern zu können und es rief einen vagen Schmerz in ihr wach - dumpf, nagend, aber gerade deshalb so unerträglich wie kaum etwas anderes. Die Finger der Dunkelhaarigen gruben sich tief in die nahezu unberührte Decke des Krankenbettes, auf dem sie eine rastlose Ruhestätte gesucht hatte. Als sie ihre Hand wieder zurückzog, um eine auf überaus unpassende Art und Weise nervige Haarsträhne aus ihrem Blickfeld zu entfernen, haftete ihrer Haut derselbe ekelhafte, sterile Geruch an, der sich wie ein diffuser Schatten an scheinbar jeden einzelnen Gegenstand in diesem verfluchten Krankenhaus gekrallt hatte.

Sie verzog das Gesicht und wischte ihre Handfläche mit einer raschen, fahrigen Bewegung an dem rauen Stoff ihres kurzen Rockes ab.

"Was... war es denn eigentlich für ein Gift?" fragte sie hastig. Auf eine absurde, naive Art und Weise erschien ihr der Feind erträglicher, verwundbarer, wenn sie nur sein Gesicht und seinen Namen kennen würde. Aya war gewiss keine Spezialistin auf dem Gebiet von Giften - trotzdem schien ihr schon das bloße Wissen zumindest als kleine, morsche Planke im Meer vollkommener Hilflosigkeit. "Wieder dieses... dieses Pflanzengift, ja? Epipremnum?"

"Epi- was?!" D zog kraftlos eine seiner Augenbrauen in die Höhe, ließ sie aber beinahe augenblicklich wieder sinken und verzog sein Gesicht stattdessen zu einem ausgiebigen Gähnen, bevor er sich wieder seiner Vorgesetzten zuwandte. "Also sorry, ich bin ja über den bisherigen Fall nicht so ganz im Bilde. Ich weiß zwar, dass es irgendwie in irgendeiner Form um ein Gift geht, aber mehr auch nicht."

"Ach, das ist doch auch egal!" Ayas Finger glitten immer noch über den Stoff ihres Rockes, zogen sinnlose, nervöse, abgehackte Linien. "Haben dir die Ärzte den Namen des Giftes nun gesagt oder nicht?!"

"Gift? Na ja... schon... aber ob man wirklich von Gift sprechen kann? Irgendwie ja doch, aber irgendwie auch wieder..."

"D, warum druckst du so komisch herum?" Mit jedem Wort des Schwarzhaarigen kroch das ungute Gefühl, das sich längst in Ayas Brust ausgebreitet hatte, weiter in ihr hoch, erklomm mit rostigen Klauen und Zähnen die Speiseröhre und hinterließen einen schalen, überaus ekelhaften Nachgeschmack in ihrem Mund. "Er hat doch eine Vergiftung, oder?"

"Ja!"

"Dann sag mir endlich, was für ein gottverdammtes Gift das war!!"

"Also... nun ja... es war Alkohol."

"Alko- bitte was?!" Die Augen der jungen Wissenschaftlerin weiteten sich, und noch während ihre innere Anspannung von einer merkwürdigen, ungläubigen Hysterie hinweggefegt wurde, stahl sich ein kurzes, hilfloses Lachen über ihre Lippen. "D... ich finde das nicht komisch. Du kannst mir ja wirklich viel erzählen, aber... aber nicht, dass sich Ravin... ich meine Ravin... derart einen hinter die Binde kippt, dass er an einer Alkoholvergiftung fast ums Leben kommt!"

"Nein... nein, das hat er garantiert nicht." Auf Ds Stirn legte sich eine tiefe Falte. "Genau das ist es ja, was mich so wundert. Ravin trinkt nie Alkohol. Er verträgt das Zeug nämlich absolut nicht."

"Scheint so..." seufzte Aya. "Aber wenn er keinen Alkohol verträgt und das auch weiß... dann verstehe ich nicht, wieso... er weiß es doch, oder?"

"Ja, er weiß es sogar sehr gut. Spätestens, seit er auf einer Betriebsfeier vor zwei Jahren plötzlich zusammengebrochen ist und damals schon alle dachten, er stirbt jeden Moment. Danach hat er nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken - gut, wär ja auch irgendwie blöd, aber... ach, ich kann's mir einfach nicht erklären. Beim besten Willen nicht."

"Aus Versehen?"

"Aya!" D bemaß seine Vorgesetzte mit einem derart zweifelnden Blick, dass diese sich beherrschen musste, nicht beschämt eine Hand vor den Mund zu schlagen, obwohl sie eigentlich noch gar nicht genau wusste, was sie eigentlich falsch gemacht hatte. "Bei Ravin gibt es kein aus Versehen. Ravin macht nichts einfach so aus Versehen. Schon gar nicht, wenn er einen Auftrag hat."

"Vielleicht... sollte es ja ein Streich sein?"

"Wenn, dann ist er wirklich verdammt gut gelungen!!" In der Stimme des Schwarzhaarigen lag ein Beben, das Aya unweigerlich zusammenzucken ließ - schon allein deshalb, weil sie eine Emotion wie Zorn noch niemals zuvor persönlich bei ihrem jungen Mitarbeiter kennen gelernt hatte. Mehr noch verwunderte sie allerdings ihre eigene Schreckhaftigkeit, und noch während ihr Blick auf Ds Hand fiel, die sich unter leichtem Zittern um das Bettlaken geschlossen hatte, bemerkte sie, dass ihre Nerven an diesem Abend mehr als nur blank lagen.

"Trotzdem, ich meine... angenommen, jemand hätte auf irgendeine ominöse Art und Weise herausgefunden, dass Ravin ein verdeckter Ermittler ist... woher hätte dieser jemand wissen sollen, dass er ihn ausgerechnet mit Alkohol vergiften kann? Hallo, darauf kommt doch keiner!"

"Jemand, der auf der Betriebsfeier vor zwei Jahren dabei war, an dem Modelcontest teilnimmt und zufällig auch noch Mörder ist?!"

"Etwas viele Zufälle auf einmal, meinst du nicht? Das widerspricht meiner natürlichen rationalen Denkweise und somit jeglicher Logik!"

"Jemand, der jemanden kennt, der auf der Betriebsfeier vor zwei Jahren dabei war, an dem Modelcontest teilnimmt und zufällig auch noch Mörder ist?!?"

"D, jemand hat dein Hirn heruntergefahren, das arbeitet nicht mehr!" Aya reckte ihr Kinn ein Stückchen weit in die Höhe und blickte streng auf ihren Mitarbeiter herab. "Allerdings ist das auch kein Wunder, so wie du aussiehst! Jede Wasserleiche würde neben dir noch frisch und jugendlich anmuten!"

"Aya, es ist nicht zufällig so, dass du so ganz leicht zu Übertreibungen neigst?"

"Nein! Also... doch. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Du siehst wirklich furchtbar aus! Ich hatte Angst, als ich dich gesehen habe. Und das ist keine Übertreibung. Warum hast du nicht Ronin angerufen, ob er dich mal ablöst? So begeistert, wie der von Ravin ist, wäre er doch sicher nur zu gerne an deine Seite geeilt... wobei... hätte ihn bestimmt schockiert, ihn so zu sehen..."

"Nicht nur ihn, glaub mir, mich hat's auch schockiert. Aber du kannst dir vielleicht denken, dass ich nicht nur aus lauter Rücksichtname auf Ronins sensibles Nervenkostüm hier sitze und mir die Augen aus dem Kopf wache. Unser Neuer musste gestern Abend frühzeitig die Arbeit verlassen. Grippe. Er liegt jetzt mit vierzig Grad Fieber im Bett."

"Na toll! Wieder mal alles auf einmal, was?"

"Wie immer..."

"Die unumgängliche Duplizität der Ereignisse... aber jetzt bin ich ja da, und du..." Wieder hatte sich ein mütterlich-gestrenge Tonfall in die Stimme der Wissenschaftlerin gestohlen. Sie legte eine Hand an Ds Schulter und versuchte mit sanfter Gewalt, ihn nach hinten auf die Matratze zu drücken. "Du wirst jetzt schlafen. Schön tief und fest und ganz, ganz lange schlafen wirst du. Und jedes Widerwort wird ab sofort mit Prügelstrafen bis zu fünfzig Gürtelhieben geahndet."

"Ach Aya... ich kann bestimmt nicht schlafen, wenn Ravin-chan so still vor sich hinleidet und du mit deinem kurzen Röckchen neben mir auf der Bettkante sitzt!"

"War das ein Widerwort?!"

"Aya... ich mein's ernst!"

"Ich meine es auch ernst, D!" Die Dunkelhaarige erhob sich mit einem Ruck und trat demonstrativ zur Seite, dass ihr Mitarbeiter sich hinlegen konnte. Dieser seufzte noch einmal tief, warf einen letzten, verzweifelten Blick auf das unbarmherzig versteinerte Gesicht seiner jungen Vorgesetzten und nahm dann mit einem erschöpften, resignierten Seufzer auf der leise quietschenden Matratze Platz.

"Na gut. Dann liege ich halt. Ich weiß zwar nicht, was das für einen Unterschied macht, aber ich liege jetzt. Ich hoffe, du bist glücklich."

"Sei still und schlaf!" grummelte Aya, warf sich ihren Zopf über die Schulter und ließ sich vorsichtig am unteren Ende der alles andere als stabil und Vertrauen erweckend anmutenden Bettkonstruktion nieder.

"Ich sag doch, ich kann nicht schlafen."

"Dann sei eben einfach nur still."

"Sklaventreiberin."

"D!" Der scharfe Tonfall und ein letzter, eindringlicher Blick der jungen Wissenschaftlerin schienen es D wohl endgültig klar zu machen, dass es seiner Vorgesetzte ganz und gar nicht zum Scherzen, geschweige denn zu irgendwelchen Diskussionen zumute war. Auf sein Gesicht trat ein nahezu schuldbewusster Ausdruck, bevor er sich schließlich auf die Seite rollte, seinen Kopf auf umständliche Art und Weise zwischen den Armen vergrub und dann endlich zur Ruhe kam.

Aya seufzte tief und wandte sich wieder ihrem zweiten Mitarbeiter zu, der ebenso regungslos in einem beunruhigend gebrechlich wirkenden Krankhausbett lag - mit dem Unterschied, dass er nicht wie ein Schlafender, sondern vielmehr wie ein Toter aussah. Und noch während die Dunkelhaarige sein bleiches Gesicht betrachtete, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, was für eine Angst sie eigentlich hatte. Sie wusste nicht, wie diese ganze Geschichte noch enden sollte... ob Ravin seine kalten Augen jemals wieder öffnen sollte... was aus ihren Ermittlungen werden sollte.

Und selbst wenn diese eine Episode ihn ihrem grauenhaften ersten Fall eine überraschend gute Wendung nehmen sollte - sie hatte Angst vor dem, was noch kommen würde.
 

Selten zuvor in ihrem jungen Leben war es Aya so deutlich bewusst geworden, aus wie vielen endlosen Stunden eine einzige Nacht eigentlich bestand. Minute reihte sich an Minute, und das auf eine ganz widerwärtige, boshafte Art und Weise, die nicht mehr auch nur das Geringste mit jener wohligen, leicht melancholischen Wärme gemein hatte, die sie ansonsten jedes Mal aufs Neue verspürte, wenn ihr Blick das nächtliche Litonia streifte - schlaflos, bunt und glitzernd. Ein Grund, warum Aya sich ihre kleine Wohnung im vierzehnten Stock eines einstmals weißen, nun grauen Hochhauses inmitten einer kahlen, tristen, potthässlichen Wohnsiedlung ausgesucht hatte, war die schlichte Tatsache, dass sie den Blick über nächtliche Großstädte immer schon geliebt hatte.

Schon als kleines Kind hatte sich Aya oft, wenn ihr Vater irgendwo zwischen Sofa, IV-Gerät und Bierflaschen eingeschlafen war, heimlich aus der Wohnung geschlichen. Die riesigen farblosen Bauten und die schwarzen Straßenschluchten hatten ihr immer große Angst gemacht, zumal sich dort nach Einbruch der Dunkelheit nicht unbedingt die freundlichsten und unbescholtensten Bürger herumgetrieben hatte, aber stärker noch als ihre Angst war die Sehnsucht danach gewesen, die Sterne zu sehen. Auf Ayas Heimatplaneten war die Luft sehr stark verschmutzt gewesen, viel schlimmer noch als auf Attraya, denn der Planet war deutlich ärmer und die Technologie noch längst nicht so weit entwickelt gewesen. Viele Industriegebiete hatten dafür gesorgt, dass der Himmel stets mit einer vagen, mal asphaltartig flachen, mal bizarren Landschaften gleichen Smogdecke verhüllt gewesen war.

Und doch hatte Klein-Aya in einer warmen Sommernacht den Ort entdeckt, von dem aus man die Sterne betrachten konnte.

Es war ein uraltes, längst verlassenes Hochhausgebäude im ehemaligen Bankenviertel ihrer Heimatstadt gewesen. Vor vielen Jahren hatte in einem der Stockwerke ein Brand gewütet. Gerüchten zufolge hatte der Chef einer damals bedeutenden Firmenkette sich und seine untreue Ehefrau im eigenen Büro den Flammen geopfert und dabei von seiner halben Mitarbeiterschaft nicht mehr als Schutt, Asche und ekelhaft stinkende Leichname übriggelassen. Aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise in den folgenden Jahren hatte es wohl nicht mehr gelohnt, das Gebäude reparieren lassen und mehr und mehr der ehemals so strahlenden Bankgebäude und Firmenhauptsitze waren verlassen worden und so dem unausweichlichen Verfallsprozess überlassen worden. Die meisten davon hatten sich Bettler, Junkies und Prostituierte zurückerobert, doch in die alles überragende verkohlte Ruine schien sich keiner so recht zu wagen.

Keiner - außer Aya. Denn die hatte sich in jenen längst vergangenen Tagen zwar über wirklich viele Dinge Gedanken gemacht, nicht aber über Einsturzgefahr irgendwelcher Hochhäuser. Warum auch? Sie war unzählige Male durch eine der zerborstenen Scheiben im Erdgeschoss geklettert, hatte sich flink und geschickt durch die Schuttwüste der finsteren Stockwerke gekämpft und Stufe um Stufe der so endlos scheinenden Treppe hinaufgequält, vorbei an Löchern, Stahlträgerungetümen und tödlichen Steinlawinen... bis, ja, bis sie endlich die rostige, völlig verbeulte Türe erreicht hatte, die hinaus auf das Dach führte.

Und dann war mit einem Schlag alle Angst vergessen gewesen.

Dort oben auf dem Dach hatte stets ein starker Wind geweht, das braune Haar des kleinen Mädchens zerzaust, lindernde Kühle auf ihre oft genug zerschundene Haut gelegt. Dann hatte Aya immer die Augen geschlossen und sich langsam bis zum Rand des Daches vorgetastet. Da die Dachterrasse in besseren Zeiten den geschundenen Mitarbeitern als Erholungsort gedient hatte, war sie nicht nur von einer niedrigen steinernen Mauer eingefasst, sondern auch von einem stählernen Geländer. Daran hatte sich Aya festgehalten und war vorsichtig auf den Betonwall geklettert, wo sie sich gegen die Eisenstange gelehnt hatte, um ihrem kleinen Körper Halt und ein trügerisches Gefühl von Sicherheit zu gewähren. Jetzt wagte sie es auch, ihre Hände von dem Geländer zu lösen - erst die linke, dann die rechte - und ihre Arme weit von sich zu strecken, so wie die Flügel eines Vögelchens, das all seine Federn verloren hatte. Und wenn dann nach einigen Momenten auch noch die letzte Angst aus ihrem Körper gewichen war, wagte sie es endlich, ihre Augen wieder zu öffnen.

Und dann flog sie.

Sie flog über ein riesenhaftes Meer aus bunten Sterne, manche weiß, andere blau und rot und grün, einige bewegten sich sogar, funkelten, schillerten, glitzerten und erloschen dann, nur um wenige Sekunden später aufs Neue zu erstrahlen, noch märchenhafter und vielfarbiger als zuvor. Sie fühlte, wie der Wind sanft über ihre Schwingen strich, ihr Gesicht streifte, wie sie näher und näher an die bläulich silberne Scheibe des Mondes kam, die ihren sanften, kalten Schein auf die menschenleere Straße vor jenem asiatischen Restaurant warf, dem sie als Werbebanner diente...

In diesen Momenten hatte Aya alles andere vergessen, sie wusste nicht mehr, dass sie in der nächsten Nacht vielleicht wieder allein in ihrem kahlen, finsteren Zimmerchen sitzen und leise in ihr Kissen weinen würde, sie hatte selbst ihre brennenden Träume vergessen können, die ihr damals noch so fern und unerreichbar erschienen waren, sie vergaß vollkommen, dass sie nicht einfach nur ein kleiner Vogel war, der frei und sorglos seine Runden über der glitzernden Stadt drehen konnte.

Manchmal, wenn Aya am Fenster ihrer Wohnung stand und schweigend auf Litonias Häusermeer blickte, dann kehrte die Erinnerung an jene weltvergessene Freiheit zurück, an das überwältigende Glück jener fernen, kostbaren Augenblicke, und dann erwachte in ihrer Brust stets ein wundervolles Gefühl schmerzhafter Wehmut. Für dieses Gefühl war sie sogar bereit, sich im widerwärtig heißesten Hochsommer keuchend und schwitzend Stockwerk um Stockwerk hinaufzuquälen, weil der Aufzug wieder einmal den Geist aufgegeben hatte, selbst wenn die ohnehin schon tonnenschweren Einkäufe mit jedem Stockwerk noch ein bisschen schwerer wurden - und bei vierzehn Stockwerken kam da schon einiges zusammen...

Selbst diese sprichwörtliche Höllenqual nahm sie in Kauf, so sehr liebte Aya die Nacht und den Blick auf die nächtliche Großstadt.

In dieser Nacht war das anders. Die Lichter, die durch das Fenster zu ihr hineindrangen, waren ekelhaft kalt und gedämpft und in der Farbgebung vollkommen unstimmig. Von Fliegen konnte überhaupt keine Rede sein, denn dazu war jede einzelne Stunde viel zu erdrückend. Von draußen drangen Geräusche hinein, die sie an einen grottenschlechten, leider aber trotzdem äußerst verstörenden Horrorfilm erinnerten, in dem ein psychopatischer Zahnarzt all seine Patienten auf äußerst makabre und ekelhafte Art und Weise umgebracht hatte. Aya hatte in den nächsten Tagen ernsthafte Probleme damit gehabt, ihr Bad auch nur zu betreten, zu tief war ihre Beziehung zu weißen Fließen erschüttert worden, und ausgerechnet jetzt, in dieser sowieso schon unangenehmen Nacht, kehrten all die sorgsam verdrängten Erinnerungen kriechend und schabend in ihr Gedächtnis zurück.

Das Geräusch von Ds tiefen, ruhigen Atemzügen klang in ihren Ohren wie höhnisches Gelächter und sie mühte sich nach Leibeskräften, auf irgendetwas anderes zu hören - etwas, das sie nicht an weiche, warme, herrlich bequeme Betten beziehungsweise den damit verbundenen Tiefschlaf und auch nicht an mordende Zahnärzte oder kreischende Bohrer erinnerte, die boshaft grinsend aus irgendwelchen Hinterköpfen herauslugten. Leider blieben da nur die spärlichen Geräusche aus Ravins Richtung, wenn er sich ab und an unter der viel zu übermächtig scheinenden Bettdecke regte, wenn ein Zittern über seinen Körper lief oder ein leises Wimmern über seine bleichen Lippen drang.

Auch dies sorgte nicht unbedingt dafür, dass die junge Wissenschaftlerin sich in irgendeiner Form besser gefühlt hätte, und so marterte diese endlose Nacht Stunde um Stunde an ihren Nerven, bis sie wohl irgendwann in all ihrer verzweifelten Erschöpfung in einen unruhigen Halbschlaf fiel. Zumindest glaubte sie, geschlafen zu haben - denn als sie ihre Augen wieder aufschlug, da fiel mit einem Mal blasses Sonnenlicht durch die Fenster herein und vertrieb eine Armada von wirren Bildnissen lachender Bohrer und ermordeter Ravins aus ihrem Kopf. Ihr Nacken schmerzte, da sie die ganze Zeit über auf wundersame Art und Weise im Sitzen verharrt haben musste, und Ravins blasse Hand lag immer noch reglos in ihrer eigenen. Darüber hinaus fühlte sie sich so wenig ausgeruht oder erholt wie selten zuvor in ihrem Leben.

Wahrscheinlich lag es daran, dass Aya erst im nächsten Augenblick bemerkte, was sie hatte erwachen lassen. Es war ihre Zimmertüre höchstpersönlich gewesen, die leise, nahezu schüchtern geöffnet wurde. Im ersten Moment erwartete Aya einen der Ärzte, vielleicht auch eine Schwester - was anhand ihres momentanen Aufenthaltsortes ja auch keine sonderlich ausgefallene oder anmaßende Erwartungshaltung war - doch der Kopf, der sich langsam und zögerlich zwischen dem Weiß der Wand und dem Silber der Türe hindurchschob, passte weder zu dem einen, noch viel weniger aber zu dem anderen Berufsbild.

Es war ein junger Mann, der die müden Augen der Wissenschaftlerin spontan zum Schmerzen brachte, da sich sein gesamtes Erscheinungsbild aus viel zu harten Kontrasten zusammenfügte. Die Haut war viel zu dunkel gebräunt, als dass es noch zu den blondierten Haaren und vor allem zu den äußerst unnatürlich weißen Zähnen gepasst hätte. Zu allem Überfluss trug das merkwürdige Wesen auch noch ein strahlend weißes, ärmelloses Oberteil, das Aya unangenehm an ein Unterhemd erinnerte, und dazu eine Camouflagehose in seltsamen, viel zu grellen Grüntönen, deren Hosenbeine bis über die Schienbeine hinweg hochgekrempelt waren.

"Ähm... oh... da ist ja jemand..." stellte er - Ayas Meinung nach vollkommen unnötigerweise - fest und hob seine Hand zu einem unbeholfenen Gruß.

"Sh!" machte sie und deutete mit dem Kopf in Richtung des jungen Schwarzhaarigen, der immer noch ruhig und selig im Reich der Träume weilte und sich dort offensichtlich weitaus wohler fühlte als sie selbst.

"Oh, sorry!" Der Fremde vollführte eine merkwürdige Geste mit seinen Händen, die wohl entschuldigend wirken sollte, dann trat er betont leise ein, schloss die Türe hinter sich und nahm ganz ungefragt neben Aya auf dem Bett Platz.

"Dürfte ich fragen, was Sie hier verloren haben?" fragte die junge Wissenschaftlerin so betont misstrauisch, wie sie es in ihrem Flüstertonfall eben noch zustande bringen konnte. Schon der erste flüchtige Blick auf die seltsame Gestalt hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass diese Person ganz gewiss nicht zu Ravins Bekanntenkreis zählte - wobei sie sich sowieso nicht einmal wirklich sicher war, ob Ravin überhaupt so etwas wie einen Bekanntenkreis besaß.

"Ja... natürlich... Ihnen sag ich das doch gerne."

"So, mir sagen Sie das also gerne. Nur zu - ich bitte darum!" Aya erwiderte den Blick des jungen Mannes mit einer feindseligen Kälte, um die sie sich in ihrer momentanen Verfassung nicht einmal mehr bemühen musste. Gleichzeitig konnte sie sich nicht vollkommen jener beschämenden Tatsache erwehren, dass der Fremde sie interessierte - allerdings auf eine ganz und gar analytisch-wissenschaftliche Weise. Sie konnte es sich nämlich beim besten Willen nicht erklären, wie es diesem Menschen gelang, im gleichen Augenblick so beschämt und verlegen, beinahe schon ängstlich auszusehen, und dabei doch noch irgendwie - zu Grinsen.

"Ach, einer der Gründe, warum es mich zu dem unseligen Modelberuf hingezogen hat, war die Tatsache, dass ich mich einfach zu gern von schönen Frauen umgeben weiß!" Er stieß ein reichlich missglücktes Lachen aus, was ihm von Seiten Ayas lediglich einen derart vernichtenden Blick einbrachte, dass selbst die Wand in seinem Rücken mit einem Mal ganz, ganz feine Risse aufzuweisen schien. Der Fremde mit der gesunden Hautfarbe eines leidenschaftlichen Solariumgängers schluckte schwer, jedoch ohne seinen Gesichtsausdruck dabei nennenswert zu verändern. "Naja, ist ja egal... geht ja hier nicht um mich. Sie... sind Sie seine Freundin? Hm... passt. Hab mir schon gedacht, dass der sich nicht mit weniger zufrieden gibt!"

"... und selbst wenn es so wäre, würde das hier nichts zur Sache tun." Aya rückte sich in betonter Strenge ihre Brille zurecht und fühlte sich mit einem Mal stark an ihre ehemalige Mathematiklehrerin erinnert, vor der sie sich als kleines Mädchen immer ein wenig gefürchtet hatte. Offensichtlich schien diese auf perfide Weise äußerst autoritär und gefährlich wirkende Geste auch bei ihrer eigenen, weitaus wenig furchterregenden Person noch überaus gut zu funktionieren, denn der Fremde grinste mit einem Mal reichlich verlegen und rutschte zu Ayas höchster Freude ein kleines, aber erleichterndes Stück weit von ihr weg.

"Ja... stimmt. OK, sorry, ich bin heut etwas durcheinander, normal stelle ich mich auch vor, bevor ich ein Gespräch beginne. Aber schöne Frauen verwirren mich nun einmal." Der Mann deutete eine Verneigung an. "Ich bin Sean Clayson und ich kenne Ravin von dem Evershine New Diamonds Award... haben Sie ja bestimmt schon davon gehört. Ach, was sag ich, Sie werden ja sicher wissen, dass Ravin auch daran teilnimmt."

"Ich weiß davon." Aya hatte sich oft gefragt, was ihren schönen weißhaarigen Mitarbeiter zu dem kalten, scheinbar vollkommen emotionslosen Menschen gemacht hatte, der seit ihrer ersten Begegnung stets in exakt dem gleichen Tonfall zu ihr gesprochen hatte. Nun stellte sie fest, dass schon die bloße Gegenwart jenes Subjektes namens Sean ganz ähnliche Veranlagungen in ihr wachrief und ein bisschen fürchtete sie sich davor - wie gesagt, ein bisschen. Der Rest von ihr war randvoll mit entnervter Abscheu angefüllt, die sie weder zurückhalten konnte noch wollte.

"Ähm, gut - oh man, war gar nicht so leicht, mich davon mal nen Tag loszueisen! Ich muss verrückt sein... egal. Viel schlimmer war's noch, an diesem furchtbaren Klinikpersonal vorbeizukommen. Diese Schwestern, das sind Furien, ganz grausige Furien. Und schlimmer noch sind die Ärzte. Ich hasse Ärzte! Werden die eigentlich nach irgendwelchen nicht vorhandenen Fähigkeiten ausgesucht, oder nach Arroganz, Kaltschnäuzigkeit, Unsympa- ähm... wie heißt das? Unsympathie? Unsympathischheit?"

"Sie haben Unhöflichkeit vergessen."

"Ganz genau - Unhöflichkeit!" Sean schnippte mit den Finger und streckte Aya seinen Zeigefinger entgegen - eine Geste, von der sie sich augenblicklich im höchsten Maße unangenehm berührt fühlte.

"Oh, apropos unhöflich, da fällt mir ein, ich habe mich ja auch noch nicht vorgestellt." Aya legte ihren Kopf schief und schenkte dem braungebrannten Mann das boshafteste Lächeln, das sie nur irgendwie aus den tiefsten Tiefen ihres schwarzen Innersten herauskramen konnte. "Gestatten - Dr. Aya Mitsuyuki."

"Dok- oh." Das Grinsen auf dem Gesicht des jungen Mannes gefror für einen kurzen Augenblick. In seinen hellen Augen blieb ein deutlich gedämpfter Ausdruck zurück, obgleich er jenes unvermeidbare Grinsen immer noch aufrecht erhielt. Langsam begann sich Aya zu fragen, ob Ravins Konkurrent um den Titel der schönsten Puppe aus Venelles großem Marionettentheater nicht einfach nur das arme, bemitleidenswerte Opfer einer missglückten Gesichtsoperation geworden war.

"Ja, wieso?!" flötete sie, nun ebenfalls grinsend.

"Ach.. nichts... jedenfalls hab ich mich dann als sein Bruder ausgeben und so bin ich reingekommen, auch um die Uhrzeit."

"Bruder?"

"Ja, Bruder! Ich hätte auch drauf verzichten können, aber ist es meine Schuld, wenn die sich scheinbar für die einzigen Menschen auf ganz Attraya halten, die auch noch andere Sachen zu tun haben?! Egal - egal..."

"Also sein Bruder." Aya ließ eine ihrer Augenbrauen nach oben wandern und räusperte sich. "Na von mir aus. Die Familienähnlichkeit ist auch nicht zu übersehen."

"Was weiß ich, dann halt unehelicher Halbbruder... nicht, dass ich großen Wert auf solche Verwandtschaft legen würde..."

"Aha. Und genau dieser wohl als erheiternd wirken sollend geplante Satz gerade eben führt mich zu einem Punkt, der mich schon die ganze Zeit über beschäftigt."

Nämlich, ob Ihre Mundlippen da irgendwie festgetackert sind, fügte Aya in Gedanken hinzu, sprach den Satz aber doch nicht laut aus - zu sehr war ein vages, aber durchaus ernsthaftes Misstrauen in ihrem Inneren erwacht, dem sie all ihrer Neugierde zum Trotz erst einmal auf den Grund gehen musste. So zwang sie sich zu einer ausdruckslosen bis feindseligen Miene und kostete es noch einmal voll und ganz aus, langsam und genüsslich ihre Brille zurechtzuschieben, bevor sie ihre gerade erst erhobene Anklage wieder aufgriff und zuende führte.

"Ich habe nämlich nicht so wirklich das Gefühl, dass Sie Ravin in irgendeiner Weise mögen oder sympathisch finden. Gut, Gefühle können täuschen, aber... wie auch immer. Warum sind Sie hier? Tut mir leid, aber ich verstehe das nicht."

"Tja... jetzt haben Sie mich erwischt." Sean seufzte und ließ seinen dezent lockenbewehrten Kopf ein Stück weit dem eintönig grauen Linoleumfußboden entgegensinken. "Natürlich mag ich ihn nicht. Der Mensch, der den sympathisch findet, der gehört so was von in die Klapsmühle, das ist nicht mehr schön. Aber es ist nun mal so, dass ich... ich hab Mist gebaut. Und jetzt plagt mich das schlechte Gewissen."

"Moment mal... Mist gebaut?" Aya horchte auf und rutschte nun ihrerseits dem betont niedergeschlagen dreinblickenden Mann ein Stückchen weit entgegen, so sehr es sie im Inneren auch vor dieser Tat ekelte. "Was soll das heißen, Mist gebaut?"

"Ach, was soll ich da groß sagen? Ich nehme an, Sie wissen, warum er hier ist?"

"Ja, stellen Sie sich mal vor, das weiß ich."

"Sehen Sie? Aber... aber..." Der Gebräunte hob seine Hände in einer Geste scheinbarer Hilflosigkeit und quälte sich einen Ausdruck auf sein Gesicht, der dem Schicksal scheinbar mit aller Macht und ohrenbetäubender Lautstärke entgegenschreien wollte, wie sehr er mit ihm haderte - der deshalb aber nicht weniger falsch, verlogen, künstlich und erzwungen wirkte. "Hätt ich das denn ahnen können? Ich meine, mich hat es einfach ganz gewaltig angekotzt, dass er sich nicht nur wie was Besseres vorkam, sondern das auch noch immer und überall und ständig heraushängen lassen musste. Und nicht nur mich, ja? Der wollte ja mit keinem was zu tun haben und immer... immer war er nur für sich... hat sich gewaltig was darauf eingebildet, wie toll und perfekt er doch aussieht und meinte wohl, er hätte schon vorher gewonnen. Und all das mit diesem Getue, von wegen kein Alkohol und so... das... das sollte doch nur ein kleiner Spaß sein!"

"Ein kleiner... ein kleiner Spaß, ja?!" Aya keuchte, einzig und allein aus dem Grund, dass es ihr kaum noch gelingen wollte, die langsam in ihr aufkochende Wut am endgültigen Explodieren zu hindern. In ihre dunklen Augen trat ein Funkeln, das von ihrem an und für sich sehr umgänglichen Wesen nicht einmal mehr das geringste ahnen ließ und ebenso gut in das blutverschmierte Antlitz eines geifernden Massenmörders vor seinem letzten ausgeweideten Opfer gepasst hätte.

"Man, das war doch gar nicht meine Idee!"

"Nicht Ihre Idee, ja? Das ist ja toll! Ich frage mich nur, warum dann ausgerechnet Sie hier auf diesem Bett sitzen und verzweifelt versuchen, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen!"

"Weil... weil..."

"Hören Sie doch auf, natürlich war es Ihre Idee. Und wissen sie noch etwas? Sie können verdammt noch mal froh sein, dass ich hier drinnen weder schreien noch mit Dingen werfen kann, sonst hätten sie nämlich bald keinen Kopf mehr. Gut - darum wäre es nicht schade. Und zum Thema schlechtes Gewissen, wissen Sie, was Sie ihrem schlechten Gewissen mal ausrichten können? Sie hätten ihn mit Ihrem kleinen Spaß fast umgebracht! Ich war zwar selber nicht dabei, aber wenn ich daran denke, wie schon derjenige aussah, der die ganze Zeit bei ihm war, dann muss es ihm wirklich ganz verflucht schlecht gegangen sein und es tut mir wirklich sehr leid, dass ich daran nichts, aber auch gar nichts Witziges finden kann!"

Einige Sekunden lang starrte Sean die junge Wissenschaftlerin nur aus großen, entsetzt geweiteten Augen an, in denen mit übergroßen Neonbuchstaben geschrieben stand, dass er mit wirklich allem gerechnet hatte, nur nicht mit solch einem Ausbruch. Er schluckte erneut, schwerer und gequälter noch als zuvor, und warf einen kurzen, angstvollen Blick zu der leeren Glasvase hin, die in bedrohlicher Nähe auf einem kleinen, weißen Klapptisch stand.

"Ich... also... man, es tut mir ja auch leid! Wirklich! Ich hab das doch nicht wissen können!"

"Nein, natürlich nicht."

"Also schön - es war meine Idee. Ich hab die reizende Cocktailmixerin dazu gebracht, ein wenig Alk in die angeblich alkfreien Getränke zu kippen. Trinkt ja eh keiner außer ihm. Ich... ich wollt doch nur, dass er auch mal ein bisschen locker wird! Sich mal ein bisschen amüsiert... hätt ja wohl kaum schaden können."

"Man sieht's ja, wie es nicht hat schaden können..." murmelte Aya mit finsterer Miene. "Jedenfalls finde ich so ein dahingesagtes ,es tut mir leid' reichlich dürftig - sogar ganz gewaltig dürftig, um ehrlich zu sein."

"Was kann ich den tun, außer mich zu entschuldigen?!" Der junge Mann rang mit den Händen und gab sich redliche Mühe, einen verzweifelt flehenden Ausdruck in seine unangenehm hellen Augen zu legen.

"Einfach keine Sympathien von mir erwarten?"

"Oh ja, das sagt sich so leicht, aber es schmerzt mich, solch Ablehnung auf dem Gesicht einer schönen Frau zu sehen."

"Na, Sie scheinen ja Erfahrung damit zu haben", entgegnete Aya knapp und warf einen demonstrativen Blick auf das schwarze Display des Digitalweckers, der ihr in tiefem Rot von Ds Nachttisch aus höhnisch entgegenleuchtete.

"Seien Sie sich da mal nicht zu sicher! Aber gut... sie scheinen wohl eher in die Kategorie Ravin zu gehören. Schön, aber... ach, egal."

"Versuchen Sie jetzt, meine Zuneigung zu gewinnen, indem Sie mich beleidigen?" Noch bevor Aya diese Worte über ihre Lippen gebracht hatte, wurde ihr nicht ohne Anflug eisigen Entsetzens bewusst, dass sich ihr ganzer Körper, ihre Mimik, ihre Stimme zunehmend dem Verhalten anglichen, das sie bislang nur von ihrem weißhaarigen Mitarbeiter kannte und schon mehr als nur einmal halb belächelt, halb gefürchtet hatte.

"Seh ich so aus?" Das pseudo-gesund und braun anmutende Gesicht zu ihrer Linken verzog sich einen Augenblick lang auf eine so selbstherrlich affektierte Art und Weise, dass Aya an sich halten musste, einen angewiedert-verächtlichen Laut dezent wieder herunterzuschlucken, so heiß und entsetzt er ihr auch auf der Zunge brennen mochte. "Ich steh nur nicht wirklich darauf, mich hier auf so eine linke und überhebliche Tour heruntermachen zu lassen. Zumindest nicht ohne wenigstens ein kleines Wort des Dankes gehört zu haben!"

"Ein kleines Wort - des Dankes."

"Des Dankes, ja. Keine Ahnung, ob ihnen das ein Begriff ist."

"Ich soll Ihnen danken?" Trotz all ihrer Selbstbeherrschung und dem merkwürdigen Gefallen, den Aya langsam aber sicher an ihrer kalten, feindseligen Fassade gegenüber dem grinsenden Subjekt gefunden hatte, das sich in ihrem Geiste irgendwo im Staube des Linoleumbodens zwischen Bettgestell und ihren High Heels wand, konnte sie sich ein kurzes, hysterisches Lachen nicht mehr länger verkneifen. Sie hatte sich nun schon einige, teilweise nur allzu lange Jahre in einem immer noch von Männern dominierten Beruf behauptet, hatte noch über ihre Kräfte hinaus gegen Vorurteile und Zudringlichkeiten angekämpft, ohne jemals ihr junges Alter oder ihre unübersehbaren körperlichen Reize verleugnet zu haben. Kurz gesagt: Sie war im Laufe ihres Lebens schon mit einer derartigen Menge an Frechheiten, an durch und durch schamlosen Anmaßungen konfrontiert worden, als manche durchschnittliche Politesse mitsamt ihrer versammelten Nachbarschaft. Langsam aber sicher hatte sie in all ihrer weltfremden Naivität doch tatsächlich angenommen, dass sie eine bloße Ansammlung von Worten nun wirklich nicht mehr erschüttern könnte.

Bis, ja, bis das grinsende Subjekt an ihrer Seite sie auf überaus ekelhafte Art und Weise eines Besseren belehrt hatte.

"Jetzt hören Sie mir mal gut zu", fuhr sie betont ruhig und langsam fort, ohne sich länger des mordlüstern aggressiven Zitterns erwehren zu können, das sich heimlich, still und blutdurstig in ihr Flüstern geschlichen hatte. "Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass die Menschheit groß, schlecht und verdorben ist. Ich habe einmal eine Hausarbeit zusammen mit einem Kommilitonen von mit angefertigt, der zwei Wochen später seine Exfreundin erwürgt, zersägt und dann im Kühlschrank eingefroren hat. Ich habe in Kreisen verkehrt, in denen Bigamie kein Kavaliersdelikt, sondern ein Lebensgefühl ist. Ich... habe mich schon von Politikern zum Essen einladen lassen, und von einem steinreichen Wirtschaftsanwalt, der bestimmt schon mehr Giftmüllskandale und sexuelle Übergriffe unter den Teppich gekehrt hat, als Sie in ihrem ganzen Leben lang in den Nachrichten sehen werden! Aber Sie... Sie und das, was Sie mir da gerade eben an den Kopf geworfen haben, das ist mit sehr großem Abstand das Impertinenteste, das Abstoßendste, die... das ist die bodenloseste Unverschämtheit, die mir jemals in meinem ganzen Leben untergekommen ist! Ich hoffe, Sie haben verstanden, was ich Ihnen da gerade eben gesagt habe, denn ich meine es verdammt noch mal ernst!"

"Hey, jetzt kommen sie mal wieder runter, Lady!" Sean bemaß Aya mit einem Blick, in dem sie nicht genau lesen konnte, ob er nun lachen, weinen, oder sie auf dem schnellsten Wege in die örtliche Nervenheilanstalt befördern wollte. Es interessierte sie allerdings auch nicht weiter, denn wenn irgendein Mensch tatsächlich erst einmal das Kunststück fertig brachte, die junge Wissenschaftlerin wirklich und vollständig aus der Fassung zu bringen - und das war alles andere als einfach! -, dann konnte kein herzerweichendes Schluchzen und keine Hochsicherheitsklapsmühle der Welt sie noch aufhalten.

"Runterkommen von was?! Oh, Sie wissen gar nicht, was für ein wahrhaft unverschämtes Glück Sie doch haben, dass ich hier nicht wirklich ausrasten kann, nein, glauben Sie mir, das wissen Sie wirklich nicht... ich... ich weiß einfach nicht, was ich dazu noch sagen soll. Es reicht Ihnen wohl nicht, dass Sie beinahe einen Menschen töten und das ganze auch noch als Spaß hinstellen - nein, jetzt verlangen Sie auch noch, dass ich Ihnen dafür dankbar bin! Selbst ein psychopatischer Massenmörder besitzt im Regelfall noch genügend Anstand im Leibe, das nicht zu tun!"

"Jetzt reicht es aber! Massenmörder!" Der braungebrannte junge Mann schüttelte den Kopf und betrachtete Aya mit einem gewissen Entsetzen, das nicht unbedingt zur Linderung ihrer Wut beitragen wollte. "Sag ich, dass Sie mir für diese - zugegebenermaßen nicht ganz geglückte - Aktion danken sollen?! Nein! Aber Sie hören mir ja nicht zu! Wissen Sie was? Ohne mich wäre Ihr hübscher kleiner Freund schon längst nicht mehr bei diesem verfluchten Wettbewerb dabei, aller gottverdammten Perfektion zum Trotz!"

"Er wäre... was soll das heißen?"

"Genau das, nach was es sich anhört! Sie werden's nicht wissen, aber unsere Veranstalter haben aus gewissen Gründen alles andere als gute Nerven und die hätten ihn glatt aus dem Contest rausgeworfen, wenn ich nicht zu diesem gelackten Oberbonzen gekrochen wär und bei dem ein gutes Wort für ihn eingelegt hätte. Jetzt kucken Sie, was?"

"Heißt das... er ist noch beim Wettbewerb dabei?" Aya spürte eine tiefe Verwirrung in sich aufsteigen, die für einen kurzen Augenblick sogar das wüste Kampfgeschrei des Hasses übertönte, das schon ein kurzer Blick auf das selbstgefällige Grinsen ihres Gegenübers in ihr wachrief. "Aber das ist doch nicht möglich! Ich meine... wie soll er denn so noch an diesem Wettbewerb teilnehmen?"

"Das ist natürlich die Bedingung - bis zum Viertelfinale übernächste Woche muss er wieder auf die Beine gekommen sein, sonst ist er so oder so draußen. Aber wissen Sie eigentlich, was für eine Überwindung mich das gekostet hat, vor diese Zuhältervisage zu treten und dem für ihn - ausgerechnet für ihn! - ganz tief in den Arsch zu kriegen? Danke, ich hätt drauf verzichten können! Sehr gern sogar. Und ich kann auch nicht sehen, dass zumindest ein kleiner Dank dafür in irgendeiner Weise vermessen und unverschämt wäre!"

"Ich glaube, Sie sind sich nicht ganz darüber im Klaren, wie viel Überwindung es mich kostet, Ihre Visage nicht einfach so ganz nebenbei aus dem Fenster zu befördern. Wir befinden uns hier im siebten Stock und, glauben Sie mir, es würde weh tun. Ich könnte auch schreien und meinen Rock und mein Oberteil zerreißen und vor den Ärzten behaupten, sie hätten mich sexuell belästigt und wissen Sie noch etwas? Kein Mensch würde ihnen glauben. Und ich hätte ja solch eine Lust, all diese Dinge zu tun, aber ich beherrsche mich und das ist schon ein größerer Dank, als Sie wohl jemals in ihrem ganzen verfluchten Leben verdient haben. Haben Sie erwartet, dass ich mich vor ihnen auf den Boden werfe und ihnen die Füße küsse und salbe und das alles für diesen lächerlichen kleinen Versuch, Ihr Gewissen wieder zum Schweigen zu bringen?"

"Mein Gewissen hin oder her, ohne mich wäre er trotzdem nicht mehr..."

"Ohne Sie wäre er überhaupt nie in die Lage gekommen, auch nur potentiell aus diesem ganzen verlogenen Spiel ausscheiden zu müssen! Sie haben nur versucht, das in Ordnung zu bringen, was sie vorher zerstört haben, und daran kann ich weiß Gott nichts Bewundernswertes finden! Aber jetzt, da es nun einmal so weit gekommen ist, lassen Sie es sich Dank genug sein, dass ich ihm nichts davon sagen werde, wer für diese ganze beschissene Situation verantwortlich ist!"

"Heißt das - Sie werden's wirklich nicht tun, oder?" Das Grinsen auf dem Gesicht des jungen Mannes veränderte sich gerade so weit, um einen verlegenen Ausdruck anzunehmen. Ein einsamer, glitzernder Schweißtropfen quälte sich langsam über seine dauerurlaubsbraune Stirn hinab. "Bitte, sagen Sie ihm nichts. Ich werd mich... schon irgendwie selber entschuldigen, ich versprech's. Aber wenn Sie ihm das sagen, ich... ich wäre tot. Wirklich tot."

"Das wäre es ja beinahe schon wieder wert. Aber leider bin ich nicht so ein verlogener kleiner Heuchler wie Sie, also sparen Sie sich bitte Ihre Versprechen, die Sie ja sowieso nicht einhalten werden." Aya ließ einen kurzen Blick über Ravins totenbleiches, in stummem Schmerz erstarrtes Gesicht gleiten und rief sich so auf überaus effektive Weise ins Gedächtnis zurück, woher dieses tiefe, kalte Gefühl von hasserfüllter Abscheu stammte, das schon allein die Stimme dieses Mannes in ihr wachrief. Es war an und für sich ein Grundsatz der jungen Wissenschaftlerin, in jedem Menschen wenigstens irgendetwas Gutes entdecken zu wollen, und meist war dieses überaus anstrengende Vorhaben sogar von Erfolg gekrönt. Doch alles hatte seine Grenzen, und von übertriebener Prinzipientreue hatte selbst die überaus ehrgeizige und zielstrebige Frau noch nie besonders viel gehalten.

"Das wird nichts mehr mit uns, oder?"

"Woher nehmen Sie eigentlich dieses Talent, genau im falschesten Augenblick immer die denkbar falschesten Dinge zu sagen, die sich ein menschliches Gehirn nur irgendwie zusammenspinnen kann? Nun gut, jeder braucht irgendeine Talent. Und bevor Sie mich falsch verstehen - ich schweige ganz bestimmt nicht ihnen zuliebe. Aber ich habe leider meine persönlichen Gründe dafür, denn dieser Wettbewerb ist verdammt noch mal wichtig. Nein, das müssen und das sollen sie jetzt nicht verstehen. Halten Sie sich bloß in Zukunft von Ravin fern und behalten Sie ihre Schnapsideen gefälligst für sich. Und jetzt gehen Sie endlich, bevor ich es mir noch anders überlege!"

Ein, zwei Sekunden lang blickte Sean der Dunkelhaarigen direkt in die Augen, unsicher, zögernd, und Aya konnte förmlich die gigantische Armee kleiner, sadistischer Fragen erkennen, die hinter seinen wässrigen Iriden loderten. Dann jedoch schloss er seinen Mund, erhob sich langsam, bedächtig, wie ein Jäger im Angesicht eines wilden Tieres, das jeden Moment die Flucht ergreifen oder sich auf ihn stürzen und ihm die Kehle aus dem Hals reißen konnte. Er behielt diesen lauernden Gang bei, bis er die chromsilbern glänzende Pforte durchquert hatte, die ihn hinaus auf den auch zu solch früher Stunde schon reichlich belebten Gang geleitete.

Dann drehte er sich ohne ein Wort des Abschiedes um und tauchte eiligen Schrittes in die Sicherheit fremder Menschenmassen und potentieller Tatzeugen ein.

Aya fühlte, wie ein tiefer Seufzer ihre Brust hob und nahezu geräuschlos über ihre trockenen Lippen entfloh. Die Türe des Krankenzimmers schloss sich mit einem leisen Surren und zeigte ihr ein leicht verzerrtes, unscharfes Spiegelbild ihrer selbst, das dennoch Bände von ihrer momentanen Verfassung sprach - sie sah nämlich exakt so jämmerlich und mitgenommen aus, wie sie sich an diesem grauenvollen Morgen in diesem grauenvollen Krankenhaus fühlte, jenem durch und durch höllengleichen Himmel, dessen Name trotz allem Bände sprach von dem allgegenwärtigen Tod und Verfall...

Ihr Finger strichen ganz wie von selbst über Ravins eisig kalten Handrücken. Tausend Gedanken jagten durch ihren Kopf, ohne dass sie auch nur einem einzigen davon hätte folgen können... alles war viel zu wirr und sinnlos und verstörend... auf eine Weise beunruhigend, auf eine Weise schmerzlich enttäuschend, hatte es ihr doch einer eisig kalten Morgendusche gleich auf brutalstem Wege ins Bewusstsein gerufen, dass sie mit leeren Händen am Rande eines bodenlosen Abgrundes stand, den kühlen Stahl eines Messers im Rücken... nicht um einen einzigen kümmerlichen Funken eines Geisterblitzes reicher als noch ganz am hoffnungsvollen Anfang dieses grauenhaften Falles.

Sie besaß nichts.

Wie hatte dieser unerträgliche, hirnlose und dennoch - oder gerade deshalb? - unentwegt grinsende Zeitgenosse ihr eben noch voller Stolz und Selbstverliebtheit mitgeteilt? Wenn Ravin nur bis zum Viertelfinale wieder auf die Beine gekommen war, konnte er zum Wettbewerb zurückkehren, eine weitere randvolle Schaufel unter den sanften Deckmantel des Vergessens kehren und weiterleben, nicht anders als jemals zuvor. War denn irgendeine Fernsehsendung weniger glamourös, nur weil die eine oder andere Szene vollkommen unauffällig gekürzt oder herausgeschnitten wurde?

Es war eine Chance - die einzige Chance - und trotz allem nur eine lächerliche, verschwindend kleine Chance. Wie sollte denn diese weit mehr tot als lebendig aussehende Gestalt dort in dem Krankenbett in knapp zwei Wochen wieder strahlend schön über einen glitzernden Laufsteg schweben, Zuschauern und Kritikern den Atem rauben und schließlich als strahlender Sieger rührende Dankeshymnen auf Gott und die Welt in das goldene Mikrofon hauchen? Schon die bloße Idee war vollkommen absurd! Aya wusste nur zu gut, dass kaum etwas anderes gefährlicher und durchschlagender auf den menschlichen Körper einwirkte als eine Vergiftung, eine boshafte, tückische Vergiftung, die den gesamten Organismus mit rücksichtsloser und roher Gewalt vollkommen auf den Kopf stellte. Was ihr trotz aller guten, schleimigen Worte des in diese Richtung sicherlich überaus talentierten Herrn Sean Clayson noch blieb, war nicht mehr als eine vage, naive und weltfremde Hoffnung, ihre glücklosen Ermittlungen noch auf irgendeine unmögliche Art und Weise aufzufangen, bevor sie ihr endgültig durch die Finger glitten und auf dem ebenso unangenehm riechenden wie unansehnlichen Krankenhausfußboden in tausend kleine Splitter zerbarsten.

Viel schlimmer war jedoch, dass sie sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher war, ob sie überhaupt noch hoffen wollte.
 

In all der finsteren Verzweiflung, die Aya in diesen dunklen Stunden überkommen hatten, waren ihr einige Dinge nicht oder zumindest noch nicht bewusst gewesen. Dies lag zum Teil daran, dass ihr die sicherlich überaus hilfreiche Gabe, in die Zukunft blicken zu können, von Mutter Natur leider nicht in die Wiege gelegt worden war, zum anderen an ihrer vollkommenen Erschöpfung und Übermüdung, die auch ihrem von Natur aus rationalen Verstand selbst die einfachsten Naturgesetze fremd und fern hatte erscheinen lassen.

Eines dieser unumstößlich festen Gesetze war, dass auf jede noch so lange Nacht ganz unweigerlich ein neuer Morgen folgen musste, dass am Ende jeden Tunnels irgendwann der zögerlicher Schimmer eines Lichtscheines wartete, vielleicht schwach, vielleicht kümmerlich, aber doch - ein Lichtschein.

Das zweite Phänomen, mit dem Aya gar nicht hatte rechnen können, war Ravins Konstitution.

War es ihr zu Anfang noch ganz und gar unmöglich erschienen, dass der junge Weißhaarige binnen der nächsten zwei Monate überhaupt wieder so etwas Ähnliches wie feste Nahrung zu sich nehmen könnte, wurde sie nur vier Tage später schon von heftigsten Zweifeln geplagt, ob jene blasse, sterbenskranke Gestalt, an deren Seite sie so endlos lange Stunden gewacht hatte, nicht einfach nur ihrer vollkommen überreizten, von Stress und Selbstvorwürfen geplagten Fantasie entsprungen war. Nach sieben Tagen wurde Ravin auf eigenen Wunsch und mit gewissenhafter Zustimmung der ebenfalls reichlich verblüfften Ärzteschaft aus dem Himmel entlassen. Und weitere zwei Tage später erschien er auch schon wieder auf seiner Arbeit, schön, makellos und kalt wie eh und je.

Anfangs hatten Aya tiefste Zweifel und Ängst geplagt. Die mehr als nur rasche Genesung ihres Mitarbeiters erfreute sie natürlich - doch mehr als alles andere war die junge Wissenschaftlerin verblüfft, verblüfft und auch ein wenig misstrauisch. Konnte nicht irgendeinem völlig überarbeiteten, vielleicht noch unerfahrenen, vielleicht schon zu erfahrenen Arzt irgendein fataler Fehler unterlaufen sein? Hatte sich das Gift nur in irgendeinen entlegenen Teil des Körpers zurückgezogen, lauernd, geifernd, jede Sekunde bereit, nur umso brutaler und gewaltiger wieder hervorzubrechen?

Doch ausnahmsweise einmal schien sich keine ihrer Ängste bestätigen zu wollen, und als auch nach zahlreichen eigenen Untersuchen nicht einmal mehr der leiseste Verdacht auf einen Rückfall bestand, da war sie erst einmal in den nächsten Supermarkt gefahren. Dort hatte sie sich einen ganzen Einkaufswagen voll mit Chips, Erdnüssen, Schokolade und Sekt besorgt - immerhin war der nächste Feind, den es zu bezwingen galt, ein knapp hundertzwanzigminütiger Abend vor der gigantischen Bildschirmwand ihres Labors, an dem sie gemeinsam mit D und Ronin ihrem Mitstreiter dort oben auf dem glitzernden Schlachtfeld namens Laufsteg aus weiter Ferne mentalen Beistand leisten und sämtliche zur Verfügung stehende Daumen drücken musste.

Aya wusste - wenn Ravin nun ausschied, dann hatten all die bisherigen Ermittlungen, all das Hoffen und Bangen und Wachen der letzten Tage sie lediglich im Kreise herumgeführt, dann stand sie wieder an jenem Punkt, an dem sie vor so langer Zeit begonnen hatte. Mit dem kleinen aber entscheidenden Unterschied, dass ihr auf dem steilen, beschwerlichen und überflüssigen Marsch sämtliche Motivation, sämtliche Euphorie und leider auch sämtliche Ideen verloren gegangen waren, die sie in jenem magischen Moment namens Anfang noch beschwingt und beflügelt hatten. Hinzu kam, dass das bloße Gehalt, das ihr INFERIA für die obligatorische Verrichtung ihrer Aufgaben als Wissenschaftlerin und Medizinerin zukommen ließ, auf jener untersten aller Karrierestufen nicht unbedingt in astronomischen Höhen schwebte. Leider Gottes konnte Aya der Chefetage deshalb noch nicht einmal Vorwürfe machen - immerhin sollten und mussten ihre Haupteinnahmequelle die Aufträge außenstehender Personen sein.

Es lag einzig und allein an ihr, diese zufriedenstellend auszuführen.

Oder besser gesagt - an ihr, ihrem kompetenten kleinen Mitarbeiterstab und einer fünfköpfigen Jury, bestehend aus dem Reichsten und Einflussreichsten, was die große, bunte Welt der Mode und Magazine, der IV-Sender und Beautyfirmen derzeit zu bieten hatte. Jeder von ihnen war durch Verträge und Sponsoring untrennbar an das schillernde Netz gebunden, das die Mammutveranstaltung namens Evershine New Diamonds Award über einen gesamten Quadranten geworfen hatte, und so hatte auch jeder Einzelne sein Möglichstes dazu beigetragen, die PR-Maschinerie in Gang zu bringen.

Und was sollte man sagen? Sie lief, sie lief sogar bestens, und auf irgendeine wundersame Art und Weise war es wieder einmal gelungen, den gigantischen Modelcontest sogar noch ein bisschen größer, greller und prächtiger zu machen als im Jahr zuvor. Neben Aya, D und Ronin hatte es knapp die Hälfte der Bevölkerung Attrayas, immerhin noch ein Drittel aller registrierten Bewohner des Sigma-Quadranten vor die Bildschirme und Hallentore gezogen - Traumquoten, wie sie sonst nur die Konzerte der größten Showlegenden oder interplanetare Sportevents der Superlative zustande bringen konnten. Dabei sah ein Großteil gar nicht einmal wirklich deshalb zu, weil es ihn interessiert hätte, sondern weil es eben einfach dazu gehörte, weil jeder es tat und weil natürlich niemand gesteigerten Wert darauf legte, am nächsten Tag im Büro als einziger nicht mitreden zu können.

Es war allerdings auch alles andere als leicht, die Ohren vor dem tosenden Brüllen der Werbetrommel zu verschließen, die schon Wochen vorher angelaufen und mittlerweile zum Bersten heißgelaufen war. Und nun, da das Evershine Theater Utopia Building über und über in farbigem Licht erstrahlte - so hell, dass man den Wiederschein auch vom mehrere Kilometer entfernten Riesenrad des Atalic Lakeside Vergnügungsparks noch sehen konnte - und die riesige unterirdische Veranstaltungshalle mit Lasershow, hochkarätigster Livemusik und einer wahrhaft atemberaubenden Kulisse aus Spiegeln, glitzernden Vorhängen und überdimensionalen Leinwänden lockte, da blieb wohl kein einziger Zuschauer vor den IV-Geräten und schon gar nicht im Saal, dem nicht zumindest insgeheim ein leiser Schauer über den Rücken lief.

Von all dieser mitreißenden, überwältigenden und bombastischen Atmosphäre war hinter den Kulissen jedoch herzlich wenig zu spüren. Das einzige, was hier mitreißend, überwältigend und bombastisch war, das war eine allgegenwärtige Hektik und Nervosität, der sich selbst Ravin nicht mehr entziehen konnte. Alles lief in kopfloser Hast durcheinander, verzweifelt darum bemüht, die anderen in ihrer schier unerträglich schrillen Lautstärke noch zu übertönen. Aus der bis auf den letzten dürftigen Platz ausverkauften Arena des ETU drangen dumpfe, unrhythmische Bässe zu den wartenden Models herein. Die Luft war auf eine Übelkeit erregende Art und Weise erdrückend heiß. Mindestens alle fünf Minuten stürzte eines der Models in Richtung der Toiletten davon. Das Make-up saß trotz allem. Hier und dort noch ein letzter Handgriff, der fehlende Schliff an der extravaganten Frisur, die letzte Probe eines einstudierten Lächelns...

Und dann begann die Show.

Zumindest begann sie für die wahrhaft zahllosen Zuschauer in der Halle und vor den Bildschirmen. Für Ravin begann ein merkwürdiger Film, der zunächst einmal größtenteils daraus bestand, dass er auf einem unbequemen schwarzen Drehstuhl saß, an dessen Rückenlehne ein hässliches kleines Plastikschild angebracht war, auf dem in krakeligen Buchstaben sein Name geschrieben stand. Dann wurde er von einer blechernen Lautsprecherstimme dazu aufgefordert, gemeinsam mit den anderen Models einmal den Laufsteg zu überqueren. Er tat, wie ihm geheißen war. Alle trugen sie verwaschene Jeans und fleckige Arbeiterhemden, das Lächeln auf den Gesichtern gefroren und starr, keiner von ihnen äußerlich nervös. Vom Publikum war nicht mehr zu sehen als eine grau-schwarze Masse, die sich des gesamten Gebäudes bemächtigt hatte. Blitzlichter auf allen Seiten. Hier und dort ein schrilles Kreischen, Johlen, Applaudieren.

Dann der Rückweg in die Kabine. Umziehen binnen weniger Sekunden, vielleicht auch nur Sekundenbruchteilen. Von draußen laute Musik, Schreie, Hitze. Die Anzugrunde. Ravins Anzug trug die Farbe von mattem Schwarz, dazu ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Irgendeine kleine, dürre Person mit riesigen blauen Glubschaugen und einer wirren rotblonden Lockenpracht auf dem Kopf machte sich mit fahrigen, aber scheinbar doch recht professionellen Bewegungen daran, ihm das lange weiße Haar zu einem Zopf zu flechten.

Die Musik nahm für einen kurzen Augenblick lang an Lautstärke ab, stattdessen kehrte jener blecherne Stimme zurück und rief seinen Namen. Ravin atmete tief durch, ganz automatisch und ohne davon Notiz zu nehmen. Dann ging er los. Was nun kam, hatte er so oft geübt, dass sein Körper sich ganz wie von selbst bewegte, jede einzelne Bewegung, jede noch so kleine Geste wie das exakt durchgeplante Programm einer Maschine abspulte. Nichts von dem, was während dieser so kurzen und doch alles entscheidenden Momente geschah, war dem Zufall überlassen. Jedes falsche Lächeln, jeder Augenaufschlag, jede Antwort bei der darauf folgenden kleinen Fragerunde folgte einem strengen Plan - und einem ganzen Haufen an Tipps und Ratschlägen, die Aya und vor allem Ronin ihm in den vergangenen Tagen mit auf den Weg gegeben hatten.

Das Publikum wusste natürlich nichts von den zahllosen, alles andere als glamourösen, sondern in erster Linie verflucht langweiligen Proben, die der strahlenden Show vorangegangen waren. Es sah nur, was es sehen sollte - und es war begeistert. Es jubelte auch dann noch, als Ravin schon längst wieder hinter dem samtroten Vorhang verschwunden war und der Name eines neuen Schauobjektes aus den Lautsprechern hallte.

Dem Weißhaarigen blieb kaum Zeit, sich mit dem Handrücken über die Stirn zu wischen, schon rief das nächste Outfit unbarmherzig seinen Namen. Er schlüpfte achtlos aus dem teuren Designeranzug, trennte sich von Krawatte und Lackschuhen - und schlüpfte nicht minder achtlos in die Uniform, die ihm an deren Stelle dargeboten wurde. Noch während er sich die dazu passenden Springerstiefel zuschnürte, wuselte aus den Schatten des Raumes einmal mehr jene Glubschäugige Stylistin hervor, löste den Zopf aus seinen Haaren, kämmte sie, erstickte ihn beinahe mit den widerwärtig stinkenden Dämpfen irgendeines Glanzsprays und schlang dann betont nachlässig ein Band um das schimmernde Weiß.

Schon wenige Sekunden später erklang sein Name zum zweiten Mal, rief ihn zurück auf den Weg aus Licht und Spiegeln, die zumindest für diesen einen Abend bedeutendsten Meter des gesamten Planeten. Es fiel ihm schwer, seinen eigenen Namen überhaupt noch verstehen zu können, denn augenblicklich setzte ein ohrenbetäubendes Kreischen im Schwarz der Menge ein. Erneut folgte Ravin dem Weg, den eine nervtötende Endlosschleife von Proben ihm vorgezeichnet hatte. Er setzte wie in Trance einen Fuß vor den anderen, stets in jener merkwürdigen, unnatürlichen Art, wie er es zunächst beinahe widerwillig erlernt und mittlerweile blind und vollkommen sicher verinnerlicht hatte. Viel schwerer fiel es ihm, bei all der pausenlosen Hektik nicht einfach dann und wann das Atmen zu vergessen.

Ein weiterer Schritt, ein kurzes Innehalten, dann das Umdrehen - Blick über die Schulter ins Publikum - und zurück in Richtung Vorhang. Alles spielte sich exakt so ab, wie es sein inneres Drehbuch ihm befahl, ohne jeden Patzer, ohne jeden Makel. Und das Publikum kreischte. Es kreischte und kreischte sich die Seele aus dem Leib, sodass Ravin den kalten Rhythmus der Musik kaum noch wahrzunehmen vermochte. Die finstere graue Masse war inzwischen verschwunden, hinweggefegt von einem apokalyptischen Blitzlichtgewitter, das ihm für einen kurzen Augenblick beinahe schwindlig werden ließ.

Und dann, ganz plötzlich, geschah etwas in Ravins Innerem, das er nicht verstand, das ihn aber nichtsdestotrotz voll und ganz überwältigen sollte. Es war etwas, das er niemals zuvor in seinem jungen Leben kennen gelernt hatte und das ihn nun umso mehr verwirrte. Er konnte sich nicht erklären, was ihn dazu trieb, nur wenige Meter vor dem schweren Vorhang noch einmal stehen zu bleiben und für einen kurzen Moment in seinem mechanischen Bewegungsablauf zu verharren. Und damit nicht genug - irgendetwas zwang ihn auf eine ganz und gar unwiderstehliche Art und Weise dazu, noch einmal den Kopf zu wenden, einen letzten Blick auf die entfesselte Menge zu werfen, wie sie schrie und vergeblich versuchte, die überwältigende Atmosphäre dieses einen Abends auf Papier und Computerchips festzuhalten und einzusperren bis in alle Ewigkeit... wie sie nach ihm schrie.

Als Ravin dies begriff und gleichzeitig doch wieder nicht begriff, weil er in diesem absurden Augenblick ja eigentlich überhaupt nichts mehr wirklich begreifen konnte, da tat er etwas, das er noch niemals zuvor getan hatte. Er tat es nicht aus dem Grund, aus dem die meisten Menschen es vielleicht ganz selbstverständlich getan hätten - es war vielmehr eine Art innere Eingebung, die plötzliche und unumstößliche Gewissheit, dass es seinem Auftrag und Vorhaben, möglichst lange an diesem Wettbewerb teilhaben zu können, doch sicherlich nicht schaden konnte, wenn er jetzt und in genau diesem Moment... lächelte. Dabei war lächeln ein Bedürfnis, das Ravin an und für sich gar nicht kannte - schon seit er denken konnte, fehlte ihm dieser eigentlich ja auch reichlich überflüssige Reflex, angesichts eines positiven Ereignisses krampfhaft seine Mundwinkel nach oben verziehen zu müssen.

Nun aber tat er es. Er blieb stehen, drehte seinen Kopf noch einmal dem Publikum zu und - lächelte. Dies dauerte tatsächlich nicht mehr als ein paar Sekunden, doch auf Ravin machte diese lächerlich kurze Zeitspanne einen Eindruck, der tiefer gar nicht mehr hätte sein können. Als er dann endlich die Bühne verlassen hatte und wieder in das staubig heiße Kunstlicht der Backstageräumlichkeiten eingetaucht war, bemerkte er mit immer größerer Verwirrung, dass sein ganzer Körper zu zittern begonnen hatte.

Er hatte es mit einem Mal sehr eilig, an der anerkennend nickenden Froschaugenstylistin vorbeizueilen, auf dem kürzesten Wege hin zu seinem erlösenden, wenn auch immer noch reichlich unbequemen Drehstuhl, und ließ sich mit einem tiefen Atemzug auf das klebrig warme Leder sinken. In seinem Kopf herrschte eine merkwürdige Leere, die alles andere voll und ganz verdrängt hatte. Seine eisfarbenen Augen ruhten starr auf dem schwarzen Boden zu seinen Füßen, der mit dem grau-schwarzen Camouflagemuster seiner Hose zu einem ekelhaften Flimmern verschwamm. Er stützte sich mit beiden Armen auf seinen Oberschenkeln ab, senkte seinen Kopf und verharrte stumm und reglos in exakt dieser Position - aber was hätte er denn auch tun sollen? Alles, was er zu der ersten großen Entscheidung hatte beitragen können, das lag bereits hinter ihm. Was nützte es da, nervös wie ein Tiger im brennenden Käfig auf und ab zu schreiten und nach besten Möglichkeiten auch noch alle umstehenden Personen mit dieser widerwärtigen Nervosität anzustecken?

Ravin konnte und wollte dieses Verhalten einfach nicht einleuchten, also saß er stattdessen weiterhin auf seinem niedrigen schwarzen Drehstuhl, das eigene hässliche Namensschild im Rücken, bis irgendwann, nach einer ekelhaft heißen Ewigkeit, von der er doch eigentlich gar nicht viel mitbekommen hatte, jene obligatorische Lautsprecherstimme den wichtigsten Augenblick des ganzen Abends ankündigte.

Eine blecherne Fanfare ertönte, gefolgt von dröhnender Musik, die Ravin sonst nur von jenen Momenten kannte, wenn ein Gleiter eine erfolgreiche, wenn auch nicht ganz einfache Landung im heimischen Raumhafen hinter sich gebracht hatte und die Passagiere dem erschöpften Piloten ein wenig Beifall spendeten. Und auch hier, im randvollen Evershine Theater Utopia Bulding, ließ ebendieser Beifall nicht lange auf sich warten - tosender, euphorischer und überschäumender, als ihn wohl jemals eine noch so große Langstreckenmaschine zustande gebracht hatte.

Scheinbar interessierte es zumindest den weiblichen Part des Publikums herzlich wenig, ob er am nächsten Morgen heiser, taub und mit garantiert appetitzügelnden Halsschmerzen aus dem Bett steigen würde, jedenfalls gelang es besagten furchtlosen Mädchen, sogar noch ein wenig lauter zu kreischen als zuvor. Sie verstummten erst, als ein schmierig grinsender Anzugträger mittleren Alters auf die Bühne trat, ein Mikrofon in der einen, zwei golden schimmernde Umschläge in der anderen Hand.

"Meine Herren und insbesondere natürlich meine Damen - ich grüße Sie!" säuselte er in das Plastikgebilde in seiner Linken, und noch bevor ihm die letzte Silbe über die glänzenden Lippen geglitten war, kehrte eine regelrecht beängstigende Stille in das diffuse Halblicht ein, das jenseits von Lasershow und Scheinwerferglanz die gigantische Halle ausfüllte. Nur hier und dort war noch ein leises Räuspern, Tuscheln oder Kichern zu vernehmen und erinnerte Ravin daran, dass er sich im Angesicht eines Millionenpublikums und nicht etwa in einem Massengrab befand. Dabei war es höchstwahrscheinlich gar nicht wirklich so leise, wie es dem jungen Weißhaarigen in diesem Augenblick erschien, doch die stundenlange Reizüberflutung von extatischem Kreischen und ohrenbetäubender Musikuntermalung hatte sein Gehör für das leise Surren der allgegenwärtigen Kameras und die zahllosen Atemzüge unempfänglich gemacht.

Und zu allem Überfluss war da noch dieses seltsame Rauschen und Pochen in seinem Kopf, dessen Ursprung er wie so vieles andere nicht kannte und wohl auch niemals kennen lernen sollte.

"Die Würfel sind gefallen", schlich sich die Stimme des Ansagers in seine Gedanken und in die gleichermaßen erholsame wie auch bedrückende Stille. Der Mann mühte sich sichtlich um eine gewisse Dramatik - mit dem großartigen Erfolg, dass sein Tonfall verdächtig an den eines Polizisten erinnerte, der einer ahnungslosen Ehefrau zwischen Tür und Angel mitzuteilen hatte, dass ihr Mann bei einer Messerstecherei im örtlichen Einkaufszentrum ums Leben gekommen war. Das einstudierte Grinsen auf seinem makellosen Antlitz bildete dabei einen derart absurden Kontrast zu seinen Worten, dass Ravin ganz unweigerlich ein Schauder über den Körper lief - oder lag das vielmehr daran, dass er sich von ebendiesem Gesichtsausdruck an irgendetwas, oder besser gesagt an irgendjemanden erinnert fühlte?

Irgendwo im schwarzgrauen Brei der Zuschauer fiel ein trockenes Husten in die erwartungsvolle Stille ein und veranlasste den gut gelaunten Mordbeauftragten in dem elegant schimmernden Anzug endlich dazu, seine rhetorische Pause zu beenden.

"Nun, meine Damen und Herren - die Würfel liegen in meiner Hand. Ich werde nun die Namen jener Schönheiten verlesen, die es in die nächste Runde geschafft haben und ich beginne dabei mit den Herren, die es unser Jury heute ganz besonders schwer gemacht haben."

Ravin atmete tief durch, ohne dabei seinen Blick von dem reichlich merkwürdigen Ansager zu nehmen, der sich nun mit langen, dürren Fingern daran machte, zwei mattsilbern schimmernde Karten aus den empört knisternden Umschlägen zu befreien. Für einen Augenblick verzog sich das einnehmende Grinsen des Mannes zu einer reichlich überzogenen Grimasse, die wohl Überraschung oder Verblüffung darstellen sollte, dann fand er zu einem geheimnisvollen Lächeln zurück und kündigte mit einem letzten, seltsam endgültig wirkenden Nicken den großen Augenblick an.

"Nun weiß ich also mehr als Sie und ich sehe in Ihren Gesichtern, wie gerne Sie mir dafür den Hals umdrehen würden!"

Über das Dunkel der Menge legte sich ein Schleier verhaltenen Lachens. Ravin rollte unauffällig mit den Augen - in der leisen Hoffnung, dass nicht ausgerechnet jetzt, in genau diesem Moment eine Fernsehkamera auf sein Gesicht gerichtet war und dem halben Quadranten demonstrierte, dass seine Nerven unangenehm blank lagen. Aber was sollten denn auch diese vollkommen überflüssigen Spielchen ihres selig grinsenden Smokingträgers? Sicher, es war sein Job, die Spannung bis ins Äußerste zu steigern und das Publikum so lange wie nur irgendwie möglich hinzuhalten - aber es war doch wohl offensichtlich, dass er nicht ein einziges der Gesichter erkennen konnte, die dort im drückend heißen Nichts zu seinen Füßen lagen.

Der Weißhaarige wischte mit seinem Handrücken über den rauen Stoff seiner reichlich tief sitzenden Armeehose und tat sein Bestes, den Ansager mit einem möglichst kalten Blick zum Weitersprechen zu animieren.

"Da ich an meinem Kopf und meiner Stimme hänge - sie sind ja schließlich mein Kapital! - möchte ich Sie nun aber nicht mehr länger auf die Folter spannen. Ich verlese nun die Namen der Teilnehmer, die von unserer Jury mit den meisten Punkten belohnt worden sind. Die Reihenfolge ist zufällig und hängt nicht mit den tatsächlichen Punktzahlen zusammen. Ich bitte die Sieger, nach vorne zu treten und sich diesem großartigen Publikum zu präsentieren!"

Ein letzter Applaus. Der Ansager lächelte. Er stand da, lächelte und wartete, bis der Beifall wiederum verebbt war. Dabei legte er eine wahrhaft widerwärtige Geduld und Ausdauer an den Tag, denn er ergriff erst dann wieder das Wort, als tatsächlich vollkommene Stille in der riesenhaften Arena eingekehrt war. Ravin fühlte, wie sich ein merkwürdiges Gefühl in seiner Bauchgegend ausbreitete, und für einen ganz kurzen Augenblick kroch so etwas ähnliches wie Besorgnis in ihm hoch - und die Erinnerung an einen vor noch gar nicht so langer Zeit verstrichenen Abend, der ein alles andere als schönes Ende genommen hatte...

Glücklicherweise blieb jegliche Art von höllischen Schmerzen bis auf weiteres aus und stattdessen ertönte einmal mehr die schmierige Stimme des Ansagers - wobei sich Ravin gar nicht mehr so sicher war, was denn nun eigentlich das größere Übel von beidem war.

"Unser erster Sieger ist... Akahiro Asai!"

Das Publikum begann erneut zu jubeln, während sich ein junger Asiat mit schulterlangem, pechschwarzem Haar aus der Menge von uniformtragenden Models löste und einen regelrechten Satz auf das Publikum zumachte, ein erleichtertes Lächeln auf dem blassen Gesicht.

"Michail Atakov... Eric Johnson... Rafael Weiß..."

Einer nach dem anderen folgten sie der Stimme ihre Herren und Ansagers, reihten sich wie tatsächliche Soldaten zu einer freudestrahlenden Armada aus, ließen sich bereitwillig vom Publikum feiern und verehren. Ravin schluckte. Und was war mit ihm? Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er sich niemals zuvor Gedanken darüber gemacht hatte, was denn eigentlich geschehen sollte, wenn er nicht zu den glücklichen Gewinnern dieses Viertelfinales gehören würde. Irgendwie war es von Anfang an als selbstverständliches Faktum angesehen worden, dass er so lange wie möglich ermitteln sollte und auch konnte und er war sich wirklich nicht sicher, ob Aya überhaupt irgendwann einmal Gedanken an einen anderen, einen Notfallplan verschwendet hatte.

Und jetzt? Jetzt stand er da, inmitten einer erschreckend großen Zahl von hoffnungsvollen Nachwuchsmodels, und jedes einzelne von ihnen erwartete, doch endlich seinen Namen aus dem erlösenden Munde des Ansagers hören zu dürfen. Aber wie groß war denn überhaupt die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Wunsch auch tatsächlich erfüllen sollte? Ravin wusste nur allzu gut, dass er bislang noch nicht einmal das Geringste erreicht hatte. Er war genauso schlau wie am Anfang seiner Ermittlungen - und würde es wohl auch bis in alle Ewigkeit bleiben, wenn er es jetzt nicht in die nächste Runde schaffte!

Der junge Weißhaarige spürte, wie ihm eine kalte Woge über den ganzen Körper glitt, als er stumm und hilflos mit ansehen musste, wie der Ansager die silbernen Karten sinken ließ, wie er lächelte und seinen Blick langsam und genüsslich über die bewegten Wogen der Zuschauermenge gleiten ließ. Und doch mussten noch etliche dieser eisig kalten Sekunden vorüber kriechen, bis Ravin endlich begriff, was diese kurze, ganz unbedacht ausgeführte Geste bedeutete.

Er hatte verloren.

Der Ansager hatte all die Namen verlesen, die irgendeine herzlose Jury auf seine metallisch schimmernden Karten niedergeschrieben hatte. Die Würfel waren gefallen, hatten Sieger von Verlierern getrennt, Träume zerschlagen und Hoffnungen mit blutigen Stiefeln im Staube zertreten - und sie hatten einem Mörder dem Weg bereitet, ohne es wissen oder auch nur ahnen zu können...

Einmal mehr war die Wahrheit ebenso grausam wie unumstößlich, und Ravin hatte sich nach einigen weiteren Atemzügen gerade daran gemacht, die unschönen Fakten als gegeben hinzunehmen, als der Ansager mit einem Mal begann, leise und höhnisch in sein pechschwarzes Mikrofon zu lachen.

"War es Ihnen bislang noch nicht spannend genug, meine Damen und Herren?" Er verzog seine Lippen zu dem boshaftesten Lächeln, das Ravin jemals in seinem ganzen Leben hatte mit ansehen müssen. "Dann ist spätestens jetzt der Augenblick gekommen, auf den Sie die ganze Zeit lang gewartet haben. Auf meiner Karte stehen nämlich noch genau zwei Namen."

Ein Raunen ging durch die Menge und kroch die Bühne hinauf, um dann langsam, ganz langsam Ravins Körper zu durchqueren. Er hob seinen Kopf, und beinahe noch in derselben Bewegung schloss er die Augen. Seine Hände falteten sich ganz wie von selbst ineinander, so fest, dass es beinahe schon weh tat, doch gerade in diesem Schmerz lag ein Weg, wahrscheinlich der einzige Weg, noch Ruhe und Beherrschung wahren zu können. Was war denn nur mit ihm los? Ravin verstand sich selber nicht, weniger noch als all die anderen Dinge, die um ihn herum geschahen, weniger noch als das Kreischen und Raunen und Kichern der Zuschauer und das selbstgefällige Grinsen des Ansagers. Es war solch ein fremdes Gefühl, das ihn befallen und überwältigt hatte, ein Gefühl, das er nicht kannte, das ihn verwirrte und fast sogar ein klein wenig ängstigte. Lag ihm denn wirklich so viel daran, diesen Auftrag auszuführen? Aber warum? Oder war da am Ende ein ganz anderer Grund und Ursprung, der überhaupt nichts mehr mit seinem eigentlichen Job zu tun hatte?

Ravin wusste es nicht, er war sowieso kaum mehr dazu imstande, einen seiner sonst so klaren und kühlen Gedanken fassen zu können, als der Ansager sein Mikrofon hob und mit bedeutungsvoller Stimme zu sprechen begann.

"Meine Damen und Herren, einen besonders kräftigen Applaus für unsere letzten Halbfinalisten - Sean Clayson und Ravin Lancis!!"

Was dann folgte, war mit einem Wort beschrieben grandios. Nur für wenige Sekunden war der Ansager kein bloßer Ansager mehr, sondern ein unwahrscheinlich mächtiger Magier, der mit nur einem einzigen Satz ein wahres Erdbeben entfachen konnte. Und genau dies geschah - das Evershine Theater Utopia Building erzitterte, als die Menge zu kreischen und zu jubeln begann, ein infernale Sturm von ohrenbetäubender Lautstärke losbrach, wieder und wieder durchzuckt von grell flackernden Blitzschlägen. Oder war es nur eine schlichte Einbildung, war es nur das Zittern in seinen eigenen Beinen, das ihm jene orkanartige Illusion vorgaukeln wollte? War es nur der Schleier der Anspannung, der sich von seinen Sinnen gelüftet hatte und ihn so glauben machte, dass die Zuschauer nun sogar noch ein wenig lauter kreischten als zuvor?

Wenn Ravin ganz ehrlich war - und das war er meist, denn er sah keinerlei Sinn und Zweck darin, sich selbst zu belügen -, dann war es ihm aber auch vollkommen egal. Was hätte es denn auch für einen Unterschied gemacht, jenes merkwürdige Gefühl benennen oder erklären zu können, das ihn gleichzeitig lähmte und auf eine so tiefgreifende Art und Weise belebte, dass er sich wie in einem niemals zuvor gekannten Rausch gefangen fühlte?

Er trat einen Schritt nach vorne, trat in die strahlende Front der Sieger und mühte sich wiederum um ein Lächeln. Das fiel ihm weiß Gott nicht leicht, denn bei aller Erleichterung war und blieb ihm der Impuls zu lächeln oder gar zu lachen immer noch vollkommen fremd. Doch er wusste nur zu gut, dass die Jury und das Publikum genau dies sehen wollten und immerhin waren die Jury und das Publikum gerade die Institutionen, die jenes lange, feine Messer in den unsteten Händen hielten, auf dessen schmaler Schneide Erfolg und Misserfolg seiner Mission entschieden werden sollte.

Von einer knappen Entscheidung war er momentan jedoch meilenweit entfernt - die Menge war begeistert und Ravin wusste, dass er sie in der Hand hatte, dass diese erste Schlacht voll und ganz zu seinen Gunsten geschlagen worden war. Und diese Erkenntnis stürzte seinen analytischen Verstand einige Augenblicke lang in einen derart mitreißenden Taumel, dass er die erwartungsvoll-verwirrte Miene des Ansagers zu seiner Rechten zunächst noch gar nicht so recht bemerkte.

"Nur keine falsche Bescheidenheit!" lachte er in sein Mikrofon, doch irgendetwas in seiner unverändert fröhlichen Stimme klang falsch, künstlich, fehl am Platz - und das lag keinesfalls nur daran, dass jener makellos geschniegelte Mensch trotz all seiner Anstrengung nun einmal nicht lustig sein könnte, wahrscheinlich schon in der Grundschule nicht lustig gewesen war und es mit sehr großer Sicherheit auch niemals in seinem ganzen Leben sein würde. Und das wusste selbst Ravin, obwohl er sich ja eigentlich von jeder Art von penetrantem Humor mehr oder minder belästigt fühlte, vorausgesetzt, sie wohnte nicht gerade einer Person inne, die ihm so vollkommen egal war, dass er es ohnehin nicht für nötig hielt, seine Aufmerksamkeit in diese Richtung verschwenden zu müssen.

Wäre der Ansager nicht so unangenehm wichtig gewesen - Ravin hätte ihn wohl mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit spontan in Schublade Nummer zwei eingeordnet und abgelegt und augenblicklich wieder vergessen. Da dies aber leider nicht möglich und dieser Abend sowieso alles andere als normal und gewöhnlich war, bemerkte der junge Weißhaarige sofort, dass irgendetwas nicht stimmte, dass etwas geschehen sein musste...

Etwas, dass selbst den äußerst begrenzten Verstand ihres allmächtigen Götter- beziehungsweise Jury-Botens, nebenberuflich sorglos und auf eine abstoßend belanglose Art und Weise unterhaltsam, verwirrt und irritiert hatte.

"Meine Damen und Herren, hätten sie das gedacht? Es gibt doch tatsächlich noch schüchterne Models! Und da sage mir noch mal einer, dies wäre ein herzloses Business!"

Der Ansager lachte erneut - vielleicht der größte Fehler, den er in diesem Augenblick nur irgendwie hatte begehen können. Das Geräusch kroch langsam ein sein Mikrofon, um sich dort zu winden, zu paaren, irrwitzig und widersinnig zu mutieren und dann explosionsartig über das Dunkel des Saales hereinzubrechen. Die gesichtslose Masse antwortete mit einem Raunen und Murmeln, grausam und hungrig wie eine gigantische Bestie, und diese ganze misstönende Sinfonie vermengte sich zu etwas derart Alptraumhaften, dass es selbst Ravin für einen kurzen Augenblick kalt wurde.

Und erst jetzt bemerkte er, was so falsch, so beunruhigend an ihrer gegenwärtigen Situation war, was nicht in das bis in die Schnürsenkel ihres Ansagers straff und fehlerlos durchgeplante Konzept dieses rauschenden Abends passte und so unweigerlich für Unruhe und Verwirrung sorgen musste. Er bemerkte es erst dann, als er seinen Kopf zur Seite wandte, als der süße Rausch langsam von seinem Körper wich und er endlich begriff, dass der Platz zu seiner Linken leer war.

Das Grinsen war dem unerbittlichen Lockruf des Ansagers nicht gefolgt. In der grinsenden und strahlenden Mauer der Sieger fehlte ein einziger Stein - genug, um sie binnen Sekunden einstürzen zu lassen und die glänzende Pracht in ein abstoßendes Gewand von Schutt und Staub zu hüllen. Das Publikum schien mit jeder Sekunde lauter und schriller zu Flüstern. Über die sonnenbraune Stirn des Ansagers rollte ein einziger Tropfen hinab, dick und salzig, obwohl der Zuschauerraum doch eigentlich auf eine angenehme Mitteltemperatur klimatisiert war, nicht zu warm, nicht zu kalt...

Eine dünne Gestalt löste sich aus der feindseligen Masse, die sie wie ein farbloser schleimiger Wall umfing und einsperrte. Es war ein Mädchen, die schwarzen Haare merkwürdig asymmetrisch geschnitten, das Gesicht eines Kindes mit der Kleidung einer vierzigjährigen Edelprostituierten auf dem Gipfel ihres zweifelhaften Erfolges. Sie stakste die Stufen zum Laufsteg herauf, die mindestens so schwer bewacht wurden wie die interplanetare Botschaft Neo-Midgards beim alljährlichen Sigma-Gipfeltreffen, in der Hand ein zitterndes weißes Zettelchen. Der Ansager kam ihr entgegen, beugte sich kurz zu ihr hinab, während sie ihm irgendetwas in das Ohr flüsterte und das kleine Stück Papier so inbrünstig in seine Hand drückte, als ob es ihre eigene Seele wäre (vorausgesetzt, dass sich selbige überhaupt noch in ihrem Besitz befand).

Ein kurzer Blick - ein verlegenes Lächeln der merkwürdigen Kindfrau - und schon war sie ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Das Publikum war unruhiger denn je, das Gesicht des Ansagers vollkommen ausdruckslos, auf eine merkwürdige Art und Weise verhärtet, die Augen starr auf das verknitterte Etwas in seiner Hand und in das kalte Nichts dahinter gerichtet.

Und dann, mit einem Mal, verzogen sich seine Lippen zu einem so breiten Lächeln, dass Ravin einen Moment lang fast schon fürchtete, dass sein Gesicht jeden Augenblick auseinanderreißen müsste. Stattdessen hob er jedoch sein Mikrofon und begann mit unverändert unbekümmerter Stimme zu sprechen.

"Ich muss mich vielmals entschuldigen, meine Damen und Herren - es handelt sich hier um ein Missverständnis. Da hat mir die Jury doch tatsächlich einen falschen Namen zukommen lassen, glaubt man es? Tja, was soll ich sagen... that's entertainment - that's live and uncut. Und bevor ich mich noch ganz um Kopf und Kragen rede - give it up for our last winner - Cole Adams!"

Ein Schrei durchzuckte die erneut hereingebrochene Stille, der triumphierende Schrei eines jungen Schwarzhaarigen, der die Mauer der Sieger endlich komplettierte und alles was dahinter lag schlicht und einfach wegsperrte, jeden Blick darauf verwehrte und Dunkelheit über die gebrochenen Opfer des glorreichen Triumphes legte. Und das Publikum liebte dieses Licht, es war losgelöst und glücklich, die Finsternis nicht sehen zu müssen, und so tat es das was es am besten konnte - es klatschte, es jubelte, es feierte, es stimmte in den Freudentaumel der Schönsten aller Schönen ein und hatte jenen kleinen, bedeutungslosen Zwischenfall, jenen winzigen Kratzer im funkelnden Lack des Evershine New Diamonds Award beinahe schon wieder vergeben und vergessen.

Da plötzlich wusste Ravin, dass er das Grinsen niemals wiedersehen würde.
 

Dieser auf eine beschämende und politisch ganz und gar unkorrekte Weise gar nicht einmal so unangenehme Gedanke sollte sich schon bald als falsch - oder zumindest als nicht vollständig richtig herausstellen. Es mochte wahr sein, dass Ravins kalte Augen niemals mehr das Grinsen an sich erblicken sollten, sehr wohl aber die zugehörige Person, die sich in den Backstageräumlichkeiten des Evershine Theater Utopia Buildings scheinbar unglaublich wohlgefühlt und so spontan beschlossen hatte, bis zum Rest ihres Lebens dort zu verweilen.

Gut - dies war nicht unbedingt eine lange Zeitspanne, doch ihr Ende war prägnant genug, um wahrscheinlich all jenen Personen, die es mit eigenen Augen hatten bezeugen müssen, auf ewig im Gedächtnis zu verweilen. Davon einmal abgesehen war Venelles große Familie nicht nur um ein, sondern um ganze zwei Mitglieder ärmer, denn die junge Maskenbildnerin, die als erste einen gewissen schicksalhaften Schminktisch hatte betrachten müssen, war daraufhin augenblicklich schreiend zusammengebrochen. Ihre Schreie waren verschluckt worden von der lauten Musik und dem Gekreisch des Publikums, doch das änderte nichts an der unschönen Tatsache, dass Sean Clayson es sich auf eine äußerst bizarre Art und Weise zwischen Lippenstiften und Nagellackfläschchen bequem gemacht hatte.

Genauer gesagt waren es sieben lange Friseurscheren, die Arme und Oberkörper fest an den halb zersplitterten Spiegel in seinem blutüberströmten Rücken geheftet hatten. An die Stelle der grauen Polizeiuniform, die er bei seinem letzten Auftritt noch mehr oder minder glücklich zu präsentieren versucht hatte, war nun eine ganz andere Art von Uniform getreten - die Schuluniform eines jungen Mädchens, die seinen Anblick beinahe schon wieder lächerlich hätte anmuten lassen, wäre da nicht das kleine, aber überaus schwerwiegende Detail hinzugekommen, dass irgendjemand die Haut von dem Gesicht des jungen Mannes gezogen hatte.

Übrig blieb ein äußerst blutiger Totenschädel, der aus hohlen Augen in die Leere des Todes starrte und - grinste.

Vielleicht war es ein gnädiger Wink des Schicksals, vielleicht auch nur der Verdienst Tausender und Abertausender Zuschauer, Pressefotografen und natürlich erfolgstrunkener Models, in jedem Fall hielt es Venelle anscheinend nicht für möglich, die unschöne Leiche und deren stinkenden Spuren noch in derselben Nacht unauffällig beseitigen zu lassen. Stattdessen hatte er das Gebiet so gut es eben ging abgesperrt, hatte den Vorhang der Dunkelheit über den grausigen Tatort sinken lassen und nun feierte er, feierte mit einer Meute Unwissender, als ob es um sein Leben ginge.

Ob diese oftmals so lapidar dahingesagte Redewendung der Wahrheit nicht vielleicht sogar näher kam, als es irgendjemand zu diesem Zeitpunkt ahnen konnte, das wusste Ravin nicht und eigentlich war es ihm auch relativ egal. Er hatte sich nach etwa zwanzig Minuten von der Siegesfeier davongestohlen - ihm ginge es nicht gut, er habe sich von seinem Zusammenbruch noch nicht vollkommen erholt... es hatte keinen interessiert. Wieso auch? Jeder hatte in diesem Moment andere Sorgen. Diejenigen, die es wussten, quälte niemand anderes als die blanke, kalte, boshaft kichernde Angst höchstpersönlich, und das war weiß Gott genügend Sorge für einen einzigen Abend. Diejenigen, die es nicht wussten, waren ihrerseits viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu beweihräuchern, und so nahm keiner wirklich Notiz davon, dass sich eine einsame, ganz in Schwarz gehüllte Gestalt heimlich, still und leise von der strahlenden Party in die Nacht hinausstahl.

Der Weg war nicht weit - eigentlich führte er nur einmal um das ganze Gebäude herum zum weitaus größeren, prachtvolleren Haupteingang. Dort, wo noch vor wenigen Stunden wahre Sturmfluten von sensationsgierigen Menschenmassen in das schmucklose Hochhaus geströmt waren, da herrschte jetzt nur mehr Dunkelheit und Leere. Keine Menschenseele kreuzte den großen Platz, die dunklen Hochhäuser - vornehmlich Büro- und Kongressgebäude - waren längst in lichtlosen Schlummer gefallen und erholten sich für den nahenden Arbeitstag.

Ravin war diese Einsamkeit nur allzu Willkommen. War das Gebäude am frühen Abend noch so schwer bewacht gewesen, dass nicht einmal ein kleinwüchsiger Kanarienvogel es unbemerkt hätte betreten können, lag es nun vollkommen ungeschützt im Dunkel der Nacht. Diesen überaus glücklichen Umstand verdankte er wohl vor allem anderen Venelles Intelligenz, denn der große Firmenbesitzer hatte natürlich schon lange vor ihm begriffen, dass jede Sicherheitsmaßnahme nur Aufsehen erregen musste. Das ETU war nämlich unter normalen Umständen niemals bewacht und das aus gutem Grund. Denn außer ein wenig Bühnendekoration, Spiegeln und vielleicht noch dem einen oder anderen vergessenen Kosmetikartikel gab es in der gigantischen unterirdischen Halle wirklich nichts, aber auch gar nichts zu holen. Scheinbar wussten das auch die Einbrecher, und so wagten sich diese höchstens einmal in die zahllosen überirdischen Stockwerke vor - unwissend, dass dort sehr wohl Securitypersonal, Lichtschranken, Alarmanlagen, Kameras und andere kleine, aber wirksame Gemeinheiten stationiert worden waren, die das Ziel der verbrecherischen Ausflüge meist schon sehr bald von einer einsamen Karibikinsel in das städtische Zentralgefängnis umwandelten.

Davon einmal abgesehen war Ravin überaus geschickt und hatte durchaus schon Übung darin, sich selbst in besser bewachte Gebäude einzuschleichen. Er wusste, wo die Lüftungsschächte im Freien endeten, er wusste, wie leicht man ihre Schutzgitter abmontieren konnte und er hatte schon vor beginn seiner langen und schweren Mission die Grundrisse des Hochhauses studiert. Kurzum - er konnte sich in dem stählernen Netzwerk, das sich nun als stilles, finsteres Aderwerk durch das steinerne Fleisch des ETU zog, um bei Bedarf für ein angenehmes Raumklima sorgen zu können, ohne größere Probleme zurechtfinden.

Und Ravin zögerte nicht lange. Er zog sich mit einer einzigen schnellen Bewegung in das schmale Viereck, dessen metallene Wände sich nach etlichen Metern in fahler Dunkelheit verloren, matt und glanzlos im dämmrigen Licht der Straßenlaternen. Der Weg war monoton, eng und finster, führte um zahlreiche Biegungen, mal bergauf, mal bergab, die pechschwarze Perversion einer Berg- und Talbahn, auf jedem halben Meter von einer Naht unterbrochen, die sich kaum einen Zentimeter von der schier endlosen glatten Fläche abhob. Und auf eine äußerst bizarre Weise war es der kalte Weg durch die immer gleiche Finsternis, der Mangel an Augenlicht, der bloße Tastsinn als einzigen Wegesboten, der Ravin in einen Zustand vollkommener Gedankenlosigkeit abdriften lies.

Unter seinen Fingerspitzen war nichts als kaltes, glattes Metall, dann wieder eine Naht - Metall - Naht - Metall, und irgendwie ergab sich in diesem eintönigen Stakkato ein sinnvolles Ganzes, ein Weg, kein roter, sondern ein schwarzer Faden, aber dennoch - ein Faden. Selbst die Luft in Ravins Lungen schmeckte nach Metall, nach Stahl oder Blech oder Aluminium, sein Körper schien förmlich einzusinken in dieses allgegenwärtige Metall, das über oder unter oder durch seinen Körper glitt, ebenso kalt wie seine eigene Haut, die freilich nicht schwarz war, sondern schneeweiß war... oder es zumindest einmal gewesen war, denn Weiß existierte schon längst nicht mehr, nur noch die Farbe des Metalls, verschmolzen mit der Nacht...

Und dann - ganz plötzlich - Licht. Ein Schimmer, warm, fast gelb... in jedem Fall aber fehl am Platz. Und doch war es sein Ziel, denn natürlich war Ravin dem richtigen Weg gefolgt, zielsicher in Richtung jener Umkleidekabine, in denen noch vor kurzer Zeit das Leben bis zum Überkochen pulsiert hatte, in seiner lautesten, buntesten, schnellsten und hektischsten Form. Der Ort hinter den Kulissen, abgeschnitten vom glamourösen Feuerwerk der Selbstinszenierung, für das der Evershine-Konzern wohl weit mehr Geld ausgegeben hatte, als jeder gewöhnliche Arbeiter während seines gesamten Lebens in den schmutzigen Händen halten würde. Nun hatte sich dieser Ort in ein Grab verwandelt, war vielmehr verwandelt worden, und lag nun einsam und verlassen in seinem eigenen Blut.

Einsam und verlassen...

Noch bevor Ravin realisierte, dass sich das stählerne Gitter, welches sonst den Blick in den Lüftungsschacht verwehrte, nicht mehr an seinem Platz befand, begriff der junge Weißhaarige, was für ein kleiner, aber entscheidender Denkfehler ihm unterlaufen war - oder besser gesagt, was ihm eigentlich schon viel früher störend hätte auffallen müssen. Immerhin schlich er sich gerade eben in die hinteren Areale eine sehr großen, sehr prachtvollen, aber trotz allem auch sehr leeren Veranstaltungshalle. Models, Veranstalter, Sicherheitsbeamte - alle waren sie längst gegangen, hatten den ehemals so verzauberten Ort allein gelassen mit seiner Glitzerbühne und seiner Leiche.

Warum um alles in der Welt hätten sie dabei das Licht brennen lassen sollen?

Ravin atmete sehr langsam, bewegte sich wie im Zeitlupentempo vorwärts, um jedes nur erdenkliche verräterische Geräusch noch im Keim zu eliminieren. Das blasse Viereck kam näher und näher, lockte ihn an, so wie eine Motte ganz unweigerlich von einer tödlichen Kerzenflamme angelockt werden musste. Gleichzeitig hatte es die Konzentration des jungen Soldaten schlagartig wieder entbrennen lassen, jeden seiner Sinne bis auf Äußerste geschärft, denn wenn Ravin eine Fähigkeit wirklich und wahrhaftig beherrschte, dann war das vollkommene und ungetrübte Konzentration.

Er schob sich auf den Ausgang des stählernen Labyrinthes zu und spähte vorsichtig in das Halbdunkel des Umkleideraumes hinein. Und was er dort sah, ließ für einen kurzen Moment zumindest so etwas Ähnliches wie Triumph in seiner Brust aufflammen. Und das lag keinesfalls nur daran, dass die nun sogar noch ein klein wenig unansehnlichere Gestalt des auch im Tode noch grinsenden Grinsens unverändert in ihrer ebenso unnatürlichen wie tödlichen Haltung auf dem Schminktisch verharrte.

In dem dämmrigen Saal war ein Gewitter entflammt.

Es war nur ein kleines, fast schon lachhaftes Gewitter im Vergleich zu den tosenden Blitzstürmen, die noch am Abend durch die Reihen des Zuschauersaales gefegt waren. Doch was Ravin viel mehr interessierte als das Ausmaß des Gewitters war sein Verursacher - und dieser Verursacher war eine relativ kleine Gestalt, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, gekleidet in Trenchcoat und Anzug. Er hatte Ravin den Rücken zugewandt, und so konnte dieser nicht das Gesicht des Fremden sehen, sondern lediglich sein Haar, das ihm lang und ebenfalls pechschwarz bis über die Schultern auf den Rücken hinabfiel, außerdem zwei totenbleiche Hände, die mit raschen, sicheren Bewegungen an einer kleinen schwarzen Kamera hantierten.

Mehr musste Ravin allerdings auch gar nicht sehen, um zu wissen, dass er jenen schwarzen Mann vor sich stehen hatte, der ihm in einer jüngst verstrichenen Nacht auf äußerst unglückliche Art und Weise in die nächtlichen Schatten der Großstadt entflohen war.

Und Ravin hatte nicht vor, diesen Fehler noch ein zweites Mal zu begehen. Konnte die erste Begegnung mit dem finsteren Beobachter noch Zufall gewesen sein - diese war es definitiv nicht mehr. Gut, es konnte durchaus vorkommen, dass irgendein besonders hartnäckiger Sensationsreporter bei Nacht und Nebel um ein Hochhaus von überaus skandalträchtiger und publikumswirksamer Einwohnerschaft schlich. Doch es war nichts anderes als unmöglich, dass derselbe besonders hartnäckige Sensationsreporter in einer anderen nebligen Nacht so ganz spontan beschloss, durch ein wahrhaft undurchschaubares Gewirr von Luftschächten in eine vollkommen verlassene Veranstaltungshalle einzudringen, nur um dann - rein zufällig, versteht sich - just in dem Raum herauszukommen, in dem erst seit wenigen Stunden eine überaus hässliche Leiche ihr abstoßendes Quartier bezogen hatte.

Zentimeter um Zentimeter kroch Ravin vorwärts und glitt dann mit einer wahrhaft lautlosen Rolle aus seinem engen stählernen Gefängnis auf den schwarzen Linoleumfußboden hinab. Binnen weniger Sekunden kam er wieder auf die Füße, den Atem angehalten, regungslos in der Bewegung eingefroren. Ein kurzer Blick auf die pechschwarze Maus, die noch immer nichts ahnend, wieder und wieder fotografierend in ihrer Falle verharrte - keine Reaktion auf Seiten des Eindringlings erkennbar. So weit, so gut.

Ravin atmete langsam, sehr langsam auf. Der erste Schritt war getan - nur dummerweise mussten diesem ersten Schritt noch eine ganze Menge weiterer Schritte folgen, die ihn näher an sein bislang noch ahnungsloses Opfer heranführen sollten. Fast schon instinktiv ließ er seine rechte Hand auf den Griff der kleinen, unauffälligen, aber deswegen nicht minder tödlichen Waffe hinabsinken, die schon viel zu lange schlafend und ungenutzt an seiner Seite hatte verharren müssen. Dann begann er, unendlich vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, den Blick starr auf den Rücken des schwarzen Mannes gerichtet.

Wenn er sich jetzt verriet, wenn er jetzt nur eine einzige falsche Bewegung machte, dann würde das fast schon unverschämte Glück, das ihm jene leicht verdiente Beute in die Hände getrieben hatte, mit einem einzigen Schlag wieder in tausend Stücke zerbersten und höchst wahrscheinlich niemals wieder zurückkehren - eine unangenehme, aber leider unumgängliche Eigenschaft, die unverschämtem Glück nun einmal leider Gottes anhaftete wie einer verwesenden Leiche ihr bestialischer Gestank. Und so bewegte er sich, als ob sich nicht hässliches, latent unangenehm riechendes Linoleum, sondern ein Meer von Eierschalen unter seinen Füßen erstrecken würde, hier und dort versetzt mit der einen oder anderen Tretmine.

Erst wenige Augenblicke später sollte er begreifen, dass sich wieder einmal alles ganz anders fügen würde, als er es gedacht und geplant hatte.

Genauer gesagt begriff er es in dem Augenblick, als sich in die Stille der toten Arena, die er so verzweifelt zu bewahren versucht hatte, mit einem Mal ein leises Kichern mischte. Dieses Geräusch schien anhand seiner zwielichtigen Umgebung, die wohl jeder andere Mensch als überaus unheimlich, wenn nicht sogar bedrohlich empfunden hätte, so unglaublich fehl am Platz, dass der junge Weißhaarige erst nach einigen Sekunden tatsächlich realisierte, dass es von jenem schwarzen Mann stammte, der dort vor dem einzigen beleuchteten Spiegel jenes Schminktisches stand, auf dem das Grinsen sein makabres Grab gefunden hatte.

Dann ließ der Fremde seinen Fotoapparat sinken, drehte sich um und sah Ravin geradewegs in die schönen kalten Augen.

"Hallo, Todesengel."

Im ersten Moment war der junge Soldat derart überrascht, dass er weder antworten, geschweige denn irgendeine sinnvolle Reaktion zustande bringen konnte. Er stand einfach nur da, die Hand auf den Griff seiner Waffe gelegt, wie ein lauerndes Raubtier, dass irgendeine höhere oder auch tiefere Macht nur wenige Meter vor seiner Beute kurzerhand hatte zu Stein erstarren lassen. Zwei Augen, die auch im dämmrigen Licht der verlassenen Backstageräumlichkeiten noch das intensivste Türkisblau trugen, das Ravin jemals zuvor bei einem menschlichen Wesen gesehen hatte, fixierten unentwegt die seinigen. Sie saßen mitten in dem fast schon beunruhigend blassen Gesicht eines jungen Mannes - Ravin schätzte ihn auf Ende zwanzig, keinesfalls älter, jedoch mit einem merkwürdig harten Zug um die schmalen Lippen.

"Warum siehst du mich so an?" fuhr der schwarze Mann in leisem, fast schon beschwörerischem Tonfall fort, der zusammen mit dem Ausdruck in seinem Blick eine merkwürdige Spur von Wahnsinn auf seine ganze Erscheinung zauberte. "Keine Angst, ich werde nicht davonlaufen. Du dürftest genauso wenig hier sein wie ich, also habe ich keinerlei Grund, mich zu fürchten. Du kannst mich nicht verraten und ich kann dich nicht verraten, aber warum auch? Warum sollte ich?"

"Wer sind Sie?" Es war wohl mehr die Gunst der Gewohnheit als seine ebenfalls nicht zu unterschätzende Selbstbeherrschung, die Ravins Stimme in diesem Moment so kalt und eindringlich klingen ließen, wie sie es eben meistens tat. "Und was haben Sie hier zu suchen?"

"Ich? Ich suche nicht. Ich finde." Der schwarze Mann strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte. "Aber warum fange ich nicht einfach mit der ersten Frage an? Ich halte zwar nicht viel von Regeln, aber in diesem Fall macht es die Sache doch weitaus einfacher. Gestatten, Rafferty, Cailan Rafferty. Du kennst meinen Namen vielleicht aus dem Blue Summit, vorausgesetzt du liest so etwas, Todesengel. Aber keine Sorge, du musst mich nicht gleich erschießen. Ich habe nicht vor, diese Fotos zu veröffentlichen."

"Ich bin nicht in der Stimmung für dieses Gerede, also sagen Sie mir endlich, woher Sie von diesen Morden wissen. Was wollen Sie hier? Und - warum nennen Sie mich Todesengel?"

Wieder kicherte der schwarze Mann, und wieder hallte das Geräusch dumpf und hohl aus den Schatten des verlassenen Raumes wieder.

"Du hast so etwas an dir, weißt du? Der Tod folgt dir, aber nicht, weil er dich holen will. Das wüsste ich, keine Sorge. Er ist einfach da. Und weil du so schön bist, nenne ich dich Engel."

"Sie sind wahnsinnig", stellte Ravin fest, obwohl er das eigentlich schon vom ersten Augenblick an geahnt oder vielleicht sogar gewusst hatte. Außerdem war die ganze Situation viel zu absurd, als dass ihm noch irgendeine sinnvollere Bemerkung eingefallen wäre.

"Schon möglich. Oder vielmehr: Sehr wahrscheinlich. Aber das macht keinen Unterschied. Ich fühle den Tod. Hast du noch niemals etwas von Empathie gehört?"

"Empathie?" Ravin zog eine seiner Augenbrauen nach oben.

"Ja, Empathie. Aber nicht von dieser gewöhnlichen Sorte, die lediglich die Gefühle anderer Menschen wahrnehmen können - ich spüre ihren Tod. Ich sehe sie an und weiß, dass sie sterben werden. Wenn es sehr bald geschieht, kann ich manchmal sogar sagen, auf welche Art sie sterben werden. Für meinen Beruf als Journalist ist das natürlich überaus vorteilhaft. Ebenso für mein Hobby. Und dies ist auch der Grund, warum ich hier bin. Mein Redakteur weiß von nichts. Auch wenn er mich töten würde, wenn er wüsste, von was er da eigentlich nicht weiß. Meinen eigenen Tod kann ich übrigens nicht spüren."

"Aha", machte Ravin, ohne von seinem Platz zwischen Rafferty und dem ungeschützten Eingang zum Labyrinth der Luftschächte zu weichen. Obwohl er sich eigentlich sicher war, dass der schwarze Mann tatsächlich nicht davonlaufen würde, gab ihm diese Position doch zumindest die trügerische Sicherheit, immer noch Herr der Lage zu sein. "Dann haben sie also den Tod hier sozusagen im Vorbeigehen gespürt und sind ihm gefolgt? Das halte ich für unglaubwürdig."

"Du redest wie eine Maschine, Engel, so kalt..." Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. "Du scheinst mehr über diese Morde wissen, als du zugibst. Aber mehr ist noch nicht genug. Ich verfolge diese Serie schon von Anfang an. Frag nicht, warum. Du kannst es nicht verstehen. Hast du jemals den Tod gesehen? Ihm wirklich und wahrhaftig ins Auge geblickt? Nein... wie könntest du auch... ich aber kenne ihn schon lange und nichts ist schöner, als den Tod zu fangen, festzuhalten... jedes Mal aufs Neue... diese Fotos gehören mir, hörst du? Nur mir. Es ist meine Sammlung. Ich verfolge jeden Mordfall, in dessen Nähe ich kommen kann. Dieser hier ist etwas ganz Besonderes."

"Etwas Besonderes?"

"Oh ja, das ist er... dies ist kein gewöhnlicher Mörder. Diesem Mörder geht es nicht um die Freude am Töten. Nicht einmal um persönliche Dinge... solch... solch Banalitäten wie Rache... oder Liebe..."

"Halt - ich habe das richtig verstanden: Sie machen diese Fotos, weil es ihnen... Spaß macht? Ein Hobby, ja?"

"Nennen wir es lieber... Leidenschaft... meine Leidenschaft."

In die türkisblauen Augen des jungen Journalisten trat ein merkwürdiges Glitzern, wie bei einem kleinen Kind, das soeben stolz und glücklich von seinem neusten Spielzeug oder seinen jüngsten Erfolgen in der städtischen Fußballmannschaft berichtete. Ravin runzelte die Stirn und strich sich eine seiner endlos langen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

"Wie auch immer. Die Fotos haben Sie jedenfalls nicht veröffentlicht, soviel steht fest. Ich verstehe zwar nicht, was genau Ihnen Spaß daran macht, tote Menschen zu fotografieren, aber ich verstehe bei den meisten Hobbys nicht, was daran sinnvoll sein soll. Warum Hobbys überhaupt sinnvoll sind. Das ist auch nicht wichtig. Ich sehe nur nicht, was außer Freude am Töten und persönlichen Gründen noch für ein Mordmotiv übrig bleiben soll."

"Schönheit, mein Todesengel." Auf die bleichen Lippen des Schwarzhaarigen stahl sich ein merkwürdiges Lächeln. "Der Grund, aus dem unser Sweet Slaughter tötet, ist eine... gut, sagen wir mal, etwas ungewöhnliche Art von Schönheitsempfinden."

"Schönheit, ja?"

"Sein Sinn für Ästhetik entspricht vielleicht nicht der allgemeinen Vorstellung, die so in den Straßen Litonias und Illythias und vielleicht sogar Neo-Midgards kursieren, aber über solch ein unwichtiges Detail denkt ein Mörder doch nicht nach! Er meint es nicht böse... er will niemandem etwas zu leide tun... er ist wie ein Künstler, der rohes Material noch einmal behauen will."

"So etwas nennt sich also Kunst..." Ravin schüttelte den Kopf. "Ich verstehe trotzdem nicht, was das ganze für einen Sinn haben soll."

"Ein Sinn, ein Sinn, muss denn alles einen Sinn haben, Engel?" Rafferty löste sich von seinem Platz im Licht des blutigen Spiegels und schlenderte langsam, gelassen, wie in Gedanken versunken durch das dumpfe Spiel aus Licht und Schatten, das die Einsamkeit der Nacht in die sonst so belebten Räumlichkeiten gezaubert hatte. "Glaubst du wirklich, ein Psychopath fragt nach dem Sinn eines Mordes, bevor er ihn begeht? Hat denn alles was du tust einen Sinn? Ich frage mich zum Beispiel..."

Der schwarze Mann blieb stehen, verharrte in einer finsteren Ecke und wandte langsam sein Gesicht in die Richtung des jungen Soldaten, fixierte ihn so durchdringend, als ob sein Blick nicht einfach nur ein Blick, sondern ein Geschoss von eisig kalten Nadeln wäre. Obwohl sein blasses Gesicht zu großen Teilen mit den staubigen Schatten verschwamm, konnte Ravin sehen, dass er lächelte.

"Ich frage mich, warum du einem Mörder hinterher jagst, wo du selbst die Augen eines Mörders hast. Du hast getötet, Engel, habe ich Recht? Nicht nur einmal hast du getötet. Du hast so das an dir, den Tod. Und diese Augen. So kalte Augen..."

"Ich bin Soldat. Es ist mein Beruf zu töten", antwortete Ravin kurz. Die Gegenwart des jungen Journalisten wurde ihm von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Er fühlte sich von ihm durchschaut, voll und ganz durchschaut, oder mehr noch... wie bei lebendigem Leibe seziert. Der schwarze Mann mochte wahnsinnig sein, sicherlich, aber bei all dem Wahnsinn war er auch intelligent, unglaublich intelligent. Und wenn er die Menschen schon nicht auf mysteriöse Weise durchschauen konnte, so lag es doch zumindest in seiner Macht, sie nervös und unvorsichtig zu machen, Dinge über ihre Lippen zu locken, die niemals hätten enthüllt werden sollen...

Glücklicherweise gehörte Ravin nicht zu den Menschen, die sich von irgendjemand oder irgendetwas einschüchtern ließen, und so ließ er sich nicht etwa zu einem unüberlegten Redefluss verleiten, sondern stand nur unverändert da, versperrte Rafferty den Fluchtweg und sah ihn mit kalten Augen an.

"Soldat? Soldat nennst du dich? Erzähl mir nicht, dass du rein zufällig an diesem Wettbewerb teilnimmst! Immerhin weißt du von dem Mörder. Du folgst ihm."

"Warum ich hier bin tut nichts zur Sache. Und wenn Sie schon wissen, dass ich ihm folge, warum fragen Sie dann überhaupt danach?"

"Weil ich dir vielleicht helfen kann, Engel." Der Schwarzhaarige neigte seinen Kopf zur Seite und begann, mit den Fingern seiner rechten Hand unentwegt mit einer seiner langen Haarsträhnen zu spielen. "Ich bin auch ein Jäger, vergiss das nicht, wenn meine Beute auch etwas anders aussehen mag."

"Sie wollen mir also helfen, ja? Warum sollten Sie das tun?"

"Weil ich nicht glaube, dass du so etwas zum ersten Mal machst. Ich glaube, wir könnten gemeinsam viel erreichen. Nimm das, Engel."

Rafferty ließ seine Hand sinken und kramte kurz in der Brusttasche seines schwarzgrauen Trenchcoats herum. Dann zogen seine bleichen Finger ein kleines, schneeweißes Kärtchen hervor. Er lächelte, trat auf Ravin zu und streckte ihm das Stück Papier auffordernd entgegen - eine Geste, die auf äußerst befremdliche Art und Weise an einen alten perversen Mann erinnerte, der im Gebüsch irgendeines Spielplatzes auf der Lauer lag, um kleine Kinder mit Bonbons und Schokolade in den qualvollen Tod zu locken. Der Weißhaarige bemaß den Journalisten mit einem kurzen, abschätzenden Blick, dann nahm er ihm die Karte mit einer raschen Bewegung aus der Hand und ließ seine Augen über den kunstvolle, wenngleich auch etwas altmodisch anmutenden Schriftzug gleiten, der sich in schwarzen Schnörkeln über das raue, dicke Papier wand.

"Meine Visitenkarte. Da steht alles drauf, was du wissen musst, Engel. Ich will nicht viel von dir - ich will nur den Fall. Sobald er gelöst und der Wettbewerb vorüber ist. Du musst eine Art Ermittler sein, Privatdetektiv, irgendetwas... hat dich der große Venelle eingeschleust, um seinen Schatten loszuwerden?"

"Venelle weiß von nichts. Und der Rest interessiert mich nicht. Sie können von mir aus schreiben, was Sie wollen."

"Ich sehe, wir verstehen uns." Rafferty lachte. "Merk dir meinen Namen, Engel. Ich weiß viel. Ich werde dir vielleicht irgendwann noch einmal von großem Nutzen sein. Ruf mich nur an, wann immer du einen interessanten Fall in deinen schönen Händen hältst. Informationen gegen Informationen, verstehst du? Ich werde dir helfen und bin dafür als erster am Tatort. So einfach ist das."

"Ich sagte doch schon, Sie können schreiben, was Sie wollen. Und jetzt sagen Sie mir endlich, was Sie angeblich wissen. Ich habe auch nicht ewig Zeit. Wenn ich entdeckt werde, nützen mir die schönsten Informationen nichts mehr."

"Nur nicht ungeduldig werden! Die Nacht ist immer noch jung und in schlechten Zeiten feiern die Menschen noch lieber und noch länger als in guten Zeiten. Brot und Spiele. Opium für das Volk. Nenn es, wie du willst. Sie werden schon nicht kommen. Und außerdem habe ich dir bereits das Motiv des Täters verraten."

"Und was nützt mir das?"

"Was es dir nützt, Engel? Siehst du das nicht? Um einen Mörder fangen zu können, musst du sein Muster kennen. Du musst seinen Plan noch schneller spinnen können, als er selber es tun kann. Die Kunst ist es, zu verstehen, wer das nächste Opfer sein wird, noch bevor der Mörder selber es weiß."

"Was bringt es mir zu wissen, dass er nach... nach Schönheit mordet, wenn ich auf einem Schönheitswettbewerb bin?"

"Das macht es natürlich nicht einfacher. Aber bedenke, dass es der Täter sich selbst auch nicht einfach macht. Jedes mal braucht er Zeit, viel Zeit, um seinen Tatort vorzubereiten. Es ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass er bei solch einer Aktion irgendwann gestört wird."

"...oder, dass ihm genau das schon einmal passiert ist. Er ist gestört worden und konnte seinen Tatort nicht mehr vorbereiten."

"Du redest von dieser kleinen Blonden? Chastity, richtig?" Rafferty senkte seinen Kopf ein Stück weit und legte sich den Zeigefinger an die Lippen. "Dieser Mord ist mir auch aufgefallen und ich muss zugeben, dass er mich verwirrt. Er passt nicht."

"Was soll das heißen, er passt nicht?"

"In das Schema des Mörders. Von vorne bis hinten passt er nicht. Er muss ein anderes Gift verwendet haben."

"Ein sehr seltenes Gift. Und warum sollte es nicht passen? Wenn er gestört worden ist, bevor er sein Opfer... bearbeiten konnte?"

"Hm..." Der Schwarzhaarige schloss einige Sekunden lang seine meeresfarbenen Augen. Als er wieder aufblickte, lag ein merkwürdig ernster Ausdruck auf seinem Gesicht. "Ich glaube, dass dahinter etwas anderes steckt. Wenn es nicht sogar einer bestimmten Absicht folgt... diese Tote, Chastity, sie hatte eine Botschaft. Die übrigen Leichen hatten das nicht. Ja, ich bin mir sogar sicher, dass wir den Mord an Chastity Kramer vorerst einmal vollkommen aus unseren Gedanken streichen müssen, wenn wir den Sweet Slaughter zur Strecke bringen wollen."

"Aber was sollen wir dann überhaupt beachten, um ihn zu überführen? Ohne Chastity bleibt für mich nur eine einzige Leiche übrig, und zwar das Gri... dieser Sean, meine ich. Wie soll ich daran sehen, wer... wer das nächste Opfer sein wird? Und wie fange ich damit den Täter."

"Ich muss gestehen, Engel, dass ich dich angelogen habe." Rafferty hob langsam seinen Blick, und wieder einmal überfiel Ravin das äußerst unangenehme Gefühl, von den türkisblauen Augen des jungen Journalisten gleichermaßen durchbohrt und durchschaut zu werden. "Wir haben tatsächlich nicht mehr viel Zeit und ich muss bald gehen, sonst werde weder ich dir helfen können, noch wirst du dazu imstande sein, meine Hilfe anzunehmen. Wenn sie uns entdecken ist das Spiel vorbei. Also höre mir gut zu. Denn ich glaube... ich fürchte ich weiß, wer das nächste Opfer sein wird, auch wenn ich es noch nicht spüren kann."

"Ich höre schon die ganze Zeit zu. Also reden Sie endlich, bevor wir tatsächlich noch entdeckt werden!"

"Ist schon gut, Engel. Informationen gegen Informationen, richtig? Aber wo fange ich an?" Er stieß einen leisen Seufzer aus und strich sich durch sein langes schwarzes Haar. "Gut...wie ich schon erwähnte, kann ich das nächste Opfer noch nicht spüren, also wird noch einige Zeit vergehen, bis der Sweet Slaughter erneut zuschlägt. Vielleicht während dem Halbfinale, vielleicht danach, vielleicht vor dem endgültigen Finale. In keinem Fall vorher, das würde auch keinen Sinn machen. Er wird nervös. Fühlt sich eingekesselt. Die Serie muss sich langsam dem großen Finale nähern."

"Dem - Finale? Soll das etwa heißen, sein nächster Mord ist auch sein letzter? Ist diese These nicht ein wenig gewagt?"

"Beschwören möchte ich es natürlich nicht. Vielleicht auch sein Vorletzter, zumindest bei dieser Veranstaltung. Wer kann schon sagen, was danach noch kommen wird?"

Ravin hob kurz und unwillig seine Augenbrauen.

"Das heißt, die Zeit läuft uns tatsächlich davon."

"Ja, das tut sie wirklich, Engel. Sie läuft dir davon, langsam aber sicher. Sagte ich nicht, man müsse einen Mörder verstehen? Seinen Plan? Sein Schema? Sein Muster? Wer die Logik eines Mörders kennt, kann zumindest erahnen, was er tun wird - oder besser gesagt, was er nicht tun wird. Und ich glaube nicht, dass der Sweet Slaughter sein Werk zuende bringen kann, solange das schönste und wertvollste Rohmaterial von allen noch unbearbeitet ist..."

"Was soll das heißen?!" Ravin fixierte den jungen Journalisten mit einem eisig kalten, durchdringenden Blick, während dieser langsam auf die viereckige Luke zuschlenderte, die ihm Zutritt zu dem leblosen Labyrinth aus Metall und zerflossener Nacht gewähren sollte, zu dem einzigen finsteren Pfad, der aus dem staubig toten Gefängnis des Umkleideraumes zurück in die lebendige Freiheit der schlaflosen Metropole führte.

"Du solltest gut auf dich aufpassen, Engel", lächelte der Schwarzhaarige. Dann zog er sich mit einem einzigen behänden Ruck in den Luftschacht hinauf und war im nächsten Moment auch schon im dichten Netz der Schatten verschwunden.
 

Akte 3b/ Ende

Akte 3c/ Bin ich schön?

... bitte was? Da schreibe ich Wochen an diesem Kapitel, wenns überhaupt hochkommt, und dann wird es nicht hochgeladen, weil angeblich zu wenig Absätze drin sind??? *FRUUUUUUST* Also gut, dann gebe ich eben jetzt mein Bestes, an völlig widersinnigen Stellen irgendwo Absätze reinzupacken und hoffe, man findet Gnade mit mir... BIIIIITTE!!! Dieses Kapitel war so unglaublich viel Arbeit und ich habe mir wirklich was dabei gedacht, wo ich Absätze gesetzt habe! Außerdem mache ich doch sooo viele Zeilenumbrüche... wenn das irgendein Freischalter liest, bitte, bitte, bitte ladet es hoch. Sollten nicht eigentlich die Leser entscheiden können, ob sie es für leserlich erachten oder nicht? Achso, und die Fanfic-ändern-Funktion tut bei mir auch irgendwie nicht, also habe ich Versuch Nr. 1 gelöscht und hoffe, dass dieses Chapter beim zweiten Upload Gnade findet... ;_;

Ich entschuldige mich jetzt zum zweiten Mal für Fehler und schlechte Syntax. Wie gesagt... 33 Seiten... *grusel* Aber die Ära Levitation 3 ist wenigstens zu Ende. Wer weiß, wann es weitergeht? *an 13. Klasse denk* Wie gesagt - es ist lang, sehr lang, aber ich wollte keine Idee rauslassen. Und wie man sieht, hatte ich viele Ideen. ^_^ Ich bin gespannt, was ihr zum Ende sagt, und grüße alle, die das Chapter trotz Unleserlichkeit lesen... ^_~
 

Es schien eine naturgegebene Gesetzmäßigkeit zu sein, dass alle, wirklich alle Dinge, die so hier und dort im Universum vor sich gingen, auf irgendeine schier unverschämte Weise kompliziert und kaum durchschaubar sein mussten. Auf einer Seite war das natürlich auch gut so - verhinderte es doch, dass Wissenschaftler, Physiker, Chemiker und andere akademische Berufsgruppen in Arbeitslosigkeit und Überflüssigkeit abglitten und lieferte ganz nebenbei dem ungeschulten Laien Tag für Tag neue Wunderlichkeiten, die ihm dann und wann ein Ticket aus der alltäglichen Ereignislosigkeit des Seins in die Welt des Staunens spendierten.

Von allen Absonderlichkeiten des Universums zählte jenes Phänomen, das Gesellschaftstheoretiker und Sensationsblätter so lapidar als menschliche Gesellschaft betitelten, sicherlich zu den komplexesten, zu den undurchschaubarsten Dingen. Und wäre nicht jedes neue Lebewesen von Geburt an daran gewöhnt worden, wie sich auf wundersame Weise alles fügte oder auch nicht fügte, und wie sich im Falle einer jeden schädlichen Unplanmäßigkeit der ganze Apparat zu wehren und regenerieren wusste, unaufhaltsam und unbeirrbar, es müssten wohl Stunde um Stunde nur staunende Menschen mit weit aufgerissenen Augen durch Straßenschluchten und Einkaufshallen wandeln.

Nun war es aber auf irgendeine unergründliche und willkürliche Art und Weise gekommen, dass eines der Milliarden von Schräubchen, Federn und Zahnrädern, dem man zufällig den Namen Ravin gegeben hatte, sich um all jene Wunder, Sensationen und Attraktionen des Universums und der Gesellschaft noch niemals sonderlich gekümmert hatte. Es war zufrieden gewesen mit der Tatsache, dass sich eben alles irgendwie fügte, war mal besser, mal schlechter gelaufen, hatte aber stets funktioniert und die gigantische Maschinerie niemals auf außergewöhnliche Weise zum Erbeben gebracht. Aber warum auch? Was geschah, das geschah eben, und wenn Ravin wusste, dass jedwede Aktion oder Gefühlsregung an diesen Tatsachen ja sowieso nichts ändern konnte, dann nahm er diese eben einfach hin, wie sie kamen.

Umso mehr verwirrte es ihn, dass eine unbegreifliche Unruhe in diese stete Gleichgültigkeit getreten war, eine merkwürdige, mal stärkere, mal schwächere Unruhe, die einfach nicht mehr dorthin verschwinden wollte, wo sie nahezu sein ganzes Leben lang verborgen und unerkannt gelauert hatte. Ravin konnte sich nicht erklären, was dieses fremdartige Gefühl zu bedeuten hatte, und da ihm eigentlich sämtliche Gefühle fremdartig erschienen, versuchte er auch gar nicht erst, es bestimmen oder einordnen zu können. Er folgte seinem Tagesablauf wie gehabt und hoffte, dass nach und nach die altgewohnte Normalität in sein bislang nicht unbedingt ausgeprägtes Innenleben treten würde.

Es waren allerdings nicht nur innere, sondern auch äußere Umstände, die sich verändert hatte. Ravin war sich nicht ganz sicher, ob ihm seine scheinbar ohnehin nicht mehr ganz so zuverlässige Einbildungskraft nicht einfach nur den einen oder anderen Streich spielte, doch mit einem Mal erschien ihm das Training... ja - kurzweiliger. Dabei fiel ihm dann und wann auf, dass er sich nun, als das Viertelfinale schon hinter ihm lag, noch ungleich öfter auf dem Probelaufsteg wiederfand, als er es jemals zuvor getan hatte. Es war verrückt, doch jener rauschende Abend schien das Evershine Theater Utopia Building auf eine ganz wundersame Art und Weise verhext zu haben, denn manchmal, wenn Ravin zum vierundzwanzigsten Mal seine immer gleichen Runden drehte, da war ihm, als ob ganz weit hinten, in einer besonders dunklen und versteckten Ecke des Raumes, nicht doch noch irgendwo ein Jubeln in der Luft lag, als ob dann und wann ein Blitz in den Schatten aufleuchten würde, begleitet von bebender Erde, zitternd unter Massen von Füßen und Stürmen von Beifall...

Natürlich wusste Ravin, dass dies schlicht und ergreifend unmöglich war, und er glaubte weder an Geister noch an Zauberei, doch aus irgendeinem Grund, der nicht weniger mysteriös war alles andere, was den jungen Weißhaarigen in letzter Zeit umgab, flüsterten diese nicht existenten Blitze und Schreie und Jubelstürme ihm jedes Mal zu, noch eine weitere Runde auf dem kargen Laufsteg zu drehen, ganz egal wie langweilig und unglamourös diese auch immer sein mochte. Und Ravin gehorchte. Er gehorchte einfach, ohne weiter darüber nachzudenken, folgte jedem einzelnen Lockruf dieser unbekannten Macht, wann immer sie auch nach ihm rufen mochte...

Und manchmal, wenn Ravin morgens in seinem Zimmer erwachte, wenn er an sich halten musste, um nicht kurzerhand aufzustehen und wieder einmal seinen Mitbewohner aus dem wohl verdienten, knapp bemessenen Schlaf zu reißen, dann hatte er wahrlich seine Mühe damit sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, aus welchem Grund er denn eigentlich in den unheiligen, aber deshalb nicht weniger prunkvollen Hallen des ETU weilte: Es gab da einen Mörder, der von ihm zur Strecke gebracht werden musste.

Die Erinnerung drängte sich mit einem überaus gewaltigen Schlag und auf sehr brutale Weise wieder in Ravins Bewusstsein zurück - und das ausgerechnet am letzten Morgen vor seiner zweiten großen Herausforderung, die ja im Grunde genommen noch ungleich wichtiger, bedeutsamer und schwerwiegender war als die erste. Leider waren zudem auch die Anforderungen gestiegen, war doch nach dem Viertelfinale kaum mehr als die Hälfte der Nachwuchsmodels übrig geblieben. Der Rest, der jener unaufhaltsamen natürlichen Selektion zum Opfer gefallen war, ohne die gleich welche Art von Wettbewerb ja auch eigentlich gar keinen Sinn machen konnte, war längst im Ozean des Vergessens ertrunken, war entschwunden in schwarzblaue Fluten, zu tief und zu trübe, als dass irgendein Auge sie hätte durchdringen können.

Daraus folgten genau zwei logische Konsequenzen: Zum einen war natürlich die Konkurrenz deutlich geschwunden und es blieben weniger Feinde, mit denen man um die kostbaren Plätze im Lebensraum Modelcontest kämpfen musste. Zum anderen bedingte eine Auslese natürlich auch immer das Prinzip der Verbesserung, sprich: Die wenigen Kontrahenten waren gleichzeitig auch weitaus bedrohlichere Kontrahenten und jeder von ihnen wusste, dass die Auswahlverfahren verschärft und die Siegerplätze weiter begrenzt worden waren.

Kurzum - die Nerven aller Beteiligten lagen blank, die Stimmung war schlecht, das Essen sogar noch schlechter (oder waren selbst die Geschmacksnerven einfach nur ebenso gespannt und verirrt?) und alles in allem war eigentlich jedes Model in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sie standen beisammen im lichtlosen Vakuum der verlassenen ETU-Arena, ohne einander wirklich wahrzunehmen, von ein paar feindseligen bis eifersüchtigen Blicken einmal abgesehen. Denn der Kampf ums Überleben war und blieb nun einmal ein Kampf, den jeder irgendwann auf sich allein gestellt ausfechten musste, lag es doch jedem anderen gleichermaßen im Sinn, den schmalen, rettenden Pfad für sich selbst beanspruchen zu können.

Was die lebenshungrigen Einzelkämpfer doch zumindest für kurze Zeit wieder einte und Ravin gleichzeitig aus seinem verwirrenden Trancezustand riss, das war eine allgegenwärtige Lähmung, ein Schock und wenige schicksalhafte Sekunden, die auf kaltblütig unspektakuläre Weise über den leiblichen und wahrhaftigen Fortbestand eines Menschenlebens entscheiden sollten.

Es begann mit einem leisen Ruckeln, dem Geräusch von Metall auf Metall, das zunächst keiner so recht zuordnen konnte, aber auch gar nicht weiter beachtete, da in den vergangenen Tagen schon wahre Völkerwanderungen von Handwerkern über das ETU hereingebrochen waren, um eine noch spektakulärere, noch gleißendere... noch magischere Lichtshow zu erschaffen. Auch um Ton- und Pyrotechnik musste sich gekümmert werden, hatte bei der großen und einmaligen Premiere jenes Theaterstückes mit Namen Evershine New Diamonds Award doch schließlich jeder auch nur theoretisch irgendwie denkbare Fehler noch im Keim ausgerottet zu werden.

Nur eines der Mädchen, die nun schon zum wiederholten Male über den Laufsteg geschwebt war, hielt in ihrer Bewegung inne, blickte kurz nach rechts und nach links - und wandte ihren schönen Kopf dann langsam, sehr langsam nach oben. Ravin erinnerte sich daran, dass sie den Namen Tara trug und dass der grauenvolle Ansager des Viertelfinales mehr als nur einmal lüstern bis geifernd in ihre Richtung geblickt hatte. Und auch jetzt, in der mehr als nur katastrophalen Nachmittagsbeleuchtung des gigantischen Saales, lag dieser unvergleichliche Goldschimmer auf ihrem brünetten Haar, war ihr Gesicht so rein und makellos wie das einer alten Götterstatue, geschaffen von unvergleichlicher Meisterhand.

Einige Sekunden lang verharrte sie in ihrer Position, fast so, als ob irgendjemand sie mitten in ihren katzenhaft eleganten Bewegungen eingefroren hätte. Dann, ganz plötzlich, begannen sich ihre tiefgrünen Augen zu weiten und ihr roter Mund öffnete sich, wie in der zeitlupenhaften Andeutung eines stummen Schreies. Und schon im nächsten Moment begriff auch Ravin, was dieses lähmende Entsetzens auf ihr makelloses Gesicht gezaubert hatte, was sie nun mehr und mehr in Zittern verfallen ließ, starr und unfähig, sich auch nur um einen einzigen Millimeter bewegen zu können.

Es war einer der riesenhaften Scheinwerfer, der sich aus seiner sicheren Fassung hoch oben im schwarzen Himmel über dem Catwalk gelöst hatte und nun in haltlosem Taumel zu Boden stürzte.

Eines der Model stieß einen schrillen, gellenden Schrei aus, dem aus allen Ecken des Raumes weitere Entsetzensrufe folgen sollten. Zwei näherstehende Männer stürzten auf die in Todesangst gelähmte Tara zu, riefen ihren Namen, winkten, fuchtelten - und kamen doch allesamt zu spät. Zu schwer war das Gewicht des Lichtspenders, zu schnell, zu zielgerichtet sein Fall. Die Entscheidung über Leben und Tod war längst gefallen, und welche Macht auch immer dieses Urteil ausgesprochen hatte, es hatte sich gegen die schöne junge Frau gewandt, hatte sie kaltblütig der Menschenwelt entrissen und vielleicht begierig zu sich geholt, vielleicht aber auch ganz einfach nur in ewige Finsternis hinabgestürzt.

In nur wenigen Sekundenbruchteilen wurde ihr perfekter Körper zerschmettert, begraben unter Tonnen von Glas und Metall, die mit einem entsetzlichen Knirschen und Klirren auf der Spiegelbahn des Laufstegs zerbarsten. Und dann begann es zu regnen. Aus den Schatten und dem Tuchwerk, das von der Halle aus den Blick auf die technischen Gerätschaften an der Decke versperrte, fielen sanft und lautlos tiefgrüne Blätter hinab, tanzten zu dem misstönenden Konzert von Schreien und Schluchzen, das sich im Raume ausgebreitet hatten, verspielt und leichtfüßig, bis sie schließlich in dem roten Teich, der sich unregelmäßig konturiert über die den gesprungenen Spiegelplatten erstreckte, zum Liegen kamen.

Ravin zwang sich mit einem energischen Kopfschütteln dazu, seinen Blick von diesem grotesken, aber auf eine rabenschwarze Art und Weise auch friedlichen und schönen Bildnis abzuwenden. Er stieß sich von der Wand ab, an der er eben noch für eine kurze Pause Halt gesucht hatte, und sprintete dann in wahrhaft rekordverdächtigem Tempo die Stufen des Zuschauersaales hinab.

"Sie ist tot..." wimmerte eine leise Stimme zu seiner Rechten, und ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihm das ebenfalls nicht sonderlich lebendig anmutende Antlitz eines jungen rothaarigen Mädchens, dessen Namen er entweder noch niemals gehört oder schon längst wieder vergessen hatte. Über ihre blassen, sommersprossigen Wangen zogen sich lange Spuren von verlaufener Wimperntusche wie Kratzer pechschwarzen Blutes.

Wie so viele andere Dinge, die vom Sturz des schlafenden Lichtbringers aus dem nervösen, aber auch sehr, sehr müden Halbdunkel der ETU-Arena aufgeschreckt worden waren, die sich nun einer tödlichen, unaufhaltsamen Lawine gleich gen Bühne wälzten, nahm Ravin aber auch die Weinende nur am Rande wahr. Seine wahre Aufmerksamkeit galt dem bizarren Gebilde aus Metall, Blut, Blättern und seltsam verformten menschlichen Gliedmaßen, der sich inmitten des Catwalks als bizarres und abstoßendes Stillleben präsentierte. Er nahm eine enge Kurve um die vorderste Sitzreihe, folgte dem Bühnenrand in Richtung Laufsteg - und verlangsamte dann schließlich doch noch sein Tempo, als sich mit einem Mal ein vollkommen neuer Reiz in sein gespanntes Bewusstsein stahl, ein Reiz, den er angesichts seiner gegenwärtigen Situation wohl von allen Reizen dieser Welt am Wenigsten erwartet hatte.

Es war eine Veränderung, eine stumme, schleichende Veränderung, die sich auf den Gesichtern jener beiden Männer vollzog, die noch vor wenigen und doch endlos scheinenden Sekunden fuchtelnd und schreiend herbeigestürzt waren, um die todgeweihte Schönheit aus den blutig weißen Klauen ihres grausam endgültigen Schicksals zu reißen. Gut - dieser sicherlich sehr lobenswerte Plan war nicht unbedingt von Erfolg gekrönt worden. Und manchmal, das wusste Ravin, taten Menschen die seltsamsten und unerwartetsten Dinge, wenn ihre hochtrabenden Pläne scheiterten und zu tausend Scherben zerbarsten.

Doch das, was er auf den Gesichtern jener edlen, wenn auch glücklosen Ritter las, das war nicht Enttäuschung, nicht Bestürzung, Hysterie oder wortloser Selbsthass, sondern schlicht und ergreifend - Erleichterung. Und selbst Ravin, für den menschlich emotionale Regungen ja generell etwas Sinnloses und Befremdliches an sich hatten, war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass man angesichts gleich welcher Leiche vielleicht schockiert, vielleicht angewidert oder bestürzt dreinblickte... bestenfalls noch hasserfüllt lächelte, vorausgesetzt, man selbst war der Täter und stolz auf seine Tat... aber dass gleich zwei Menschen, die getrennt voneinander zu Hilfe geeilt und dem Opfer auch sonst wohl alles andere als abgeneigt waren, im Angesicht eines ganz besonders blutigen Tatorts erleichtert aufatmeten, das war selbst Ravin noch nie unter die kalten Augen gekommen.

Und dann, beinahe noch in derselben Sekunde, fiel ihm noch etwas auf, etwas vollkommen Anderes, etwas, das auf den ersten Blick gar nicht so recht zu dem finster-bizarren Gesamtbild passen wollte, das beinahe falsch und störend anmutete, sofern man diese Worte bei einem derart blutrünstigen Mordschauplatz überhaupt noch verwenden konnte. Dieses falsch und störend blieb allerdings einzig und allein den Betrachtern vorenthalten, die tapfer oder sensationslüstern genug waren, Taras zerschmetterten Körper genauer und eingehender zu betrachten, und das waren in diesem Moment weiß Gott nicht viele.

Unter diesen weiß Gott nicht vielen fanden sich unter anderem auch Ravin - und jene beiden Männer, die das zweifelhafte Kunststück vollbracht hatten, den jungen Soldaten allein durch eine bloße Gesichtsregung verwirren zu können. Einer von ihnen - ein großer Blonder, kurze Haare, hellblaue Augen, insgesamt ein eher sportlich-kühler Typ Mensch - wandte sich von der toten Tara ab und zwang sich ein komplett missglücktes Lächeln auf die Lippen.

"Wer... wer hätte das gedacht", sagte er leise, fast schon andächtig, und Ravin war sich nicht ganz sicher, ob der Mann tatsächlich mit ihm sprach oder einfach nur irgendeinen beliebigen Ansprechpartner gesucht und dabei zufällig ihn fixiert hatte. "Das mag jetzt grausam klingen, aber irgendwie ist es doch noch Glück im Unglück. Aber dass ausgerechnet unsere weibliche Schönheit Nummer Eins gar nicht wirklich ein Mensch war... das hätt ich nicht gedacht... das hätt ich wirklich nicht gedacht..."

Er ließ sich mit einer schleppenden Bewegung in die Knie sinken und strich mit seinen blassen Fingern andächtig über ein rundes metallisches Teil, das von der Wucht jener tödlichen Romanze zwischen Tara und dem Bühnenscheinwerfer fast unmittelbar vor seine Schuhspitzen befördert worden war. Als er seine Hand wieder zurückzog, lag ein tiefroter Schimmer auf seiner hellen Haut.

"Ein Cyborg, huh?" stieß ein anderer hervor, der sich in bedächtigem Tempo dem ramponierten Laufsteg genähert hatte. "Die Dinger sind mittlerweile ja wohl wirklich überall. Ich weiß, man sollte sich eigentlich so im Laufe der letzten hundert Jahre mal dran gewöhnt haben, aber... ach, egal. Sie war ja schon ein verflucht hübsches Exemplar."

"War sie, war sie..." nickte der Blonde und sprang mit einem Satz von der Bühne auf den pechschwarzen Boden. Dabei landete er wie zufällig exakt neben Ravin, der immer noch jenes Falsche im falschen Gesamtbild, jenes störende Moment in der gesamten Absurdität von Tara Melvins Grab betrachtete, das nun mehr und mehr zum Interessenmittelpunkt seiner schönen Umwelt zu werden schien. Es war die bloße Tatsache, dass zwischen all dem Rot des verlorenen Lebenssaftes, zwischen dem letzten Weiß der Haut und dem durchtränkten Goldbraun der Haare eben keine Knochen und Sehnen, sondern silbernes Metall und hauchdünne Drähte aus der Leiche der jungen Frau hervorblitzten.

"Oh man", seufzte der zweite jener beiden Männer, die zur vergeblichen Rettung des zerschmetterten Modells herbeigeeilt waren. Ravin erinnerte sich vage an sein Gesicht, ganz einfach deshalb, weil er ihn an jenem schmerzhaft unvergesslichen, aber dennoch so unendlich weit entfernt scheinenden Abend seines (seltsamerweise immer noch unerklärlichen) Zusammenbruchs an der Seite jenes unselig ruhenden Grinsens erblickt hatte. Vielleicht kam es daher, dass sich beim bloßen Betrachten des stupsnasigen Braunhaarigen sofort eine gewisse Abneigung in Ravins Brust bemerkbar machte - vielleicht lag es aber auch ganz einfach nur daran, dass ihm sein kindlich entnervter Tonfall beinahe augenblicklich auf den Geist ging.

"Hey, was is los?" erkundigte sich sein blonder Gefährte.

"Ach, was los ist? Dumme Frage! Ich hab verflucht noch mal fast einen Herzinfarkt gekriegt, als ich diesen ganzen Spaß da mit ansehen musste! Ich dachte echt, da stirbt eine!!"

"Reg dich nicht auf, ja? Sei lieber froh, dass es nicht jemanden erwischt hat, der... also ich meine, dass es keinen Menschen erwischt hat."

"Wieso?"

Was nun geschah, war seltsam - überaus seltsam. Wie auf ein unsichtbares Kommando hin schien jeder Einzelne im gesamten Raum... oder zumindest im näheren Umfeld seinen Kopf zu heben und zu drehen und in Richtung von Ravin zu wenden. Alle Augen waren mit einem Mal auf ihn gerichtet, obwohl er an und für sich ja nichts anderes getan hatte, als eine simple, leicht verständliche Frage zu stellen. Natürlich kam es nicht oft vor, dass er in einer allgemeinen Diskussion das Wort ergriff, wenn keiner ihn angesprochen hatte, trotzdem konnte der junge Weißhaarige das stille Fragen in den beunruhigend zahlreichen Blicken beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Oder lag die allgemeine Verwunderung etwa gar nicht daran, dass er überhaupt etwas gesagt hatte, sondern vielmehr an dem, was er gesagt hatte?

"Was - wieso?" fragte ausgerechnet der kindliche Dunkelhaarige, was Ravin spontan zu einem noch kälteren, noch abweisenderen Blick veranlasste.

"Ich verstehe nicht, warum man sich darüber freuen muss, dass sie kein Mensch war, sondern ein Cyborg. Ich sehe den Unterschied nicht ganz. Ich hatte so oder so nicht mit ihr zu tun, aber sie ist doch in jedem Fall tot. Warum ist das einmal schlimmer und einmal weniger schlimm?"

"Was'n das für ne blöde Frage?" Der Braunhaarige sah Ravin in etwa so an, als ob gerade eben seine eigene Mikrowelle zu ihm gesprochen hätte. "Hallo, es ist ja wohl auch ein riesengroßer Unterschied, ob jetzt den Hund von einem Gleiter überfahren wird, oder... dein Staubsauger."

"Mein Staubsauger?" Ravin zog eine Augenbraue hoch. "Ich glaube nicht, dass das ein treffender Vergleich ist."

"Wieso?" mischte sich der Blonde ein. "Ich weiß jedenfalls, was er meint. Und ich sehe da schon auch einen Unterschied. Ich meine... wir wurden geboren und sie wurde - gebaut. Oder so. Ich kenne mich damit jetzt auch nicht hundertprozentig aus, aber diese Süße hier war eine Maschine!"

"Sie war die Kopie eines Menschen..." Der Weißhaarige zuckte mit den Schultern. "Trotzdem hat den Unterschied keiner gemerkt, bis dieser Scheinwerfer sie in ihre Einzelteile zerlegt hat. Und wie gesagt - jetzt ist sie auf jeden Fall tot. An eurer Stelle würde ich mich jetzt lieber mit irgendeinem Verantwortlichen in Verbindung setzen, als weiter über irgendwelche komischen Moralvorstellungen zu diskutieren. Es wird sicherlich einige Zeit dauern, bis der Laufsteg gereinigt und repariert ist. Und immerhin brauchen wir ihn morgen."

Ohne weiter auf die hier und dort recht entgeisterten Blicke zu achten, die seine kalten bis gleichgültigen Worte unweigerlich auf ihn gezogen hatten, wandte Ravin sich um und schlenderte ohne jegliche Spur von Eile oder Hast auf einen der Ausgänge des großen Saales zu. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er ausgerechnet an diesem wichtigen Tag nicht mehr üben konnte - doch auch das ließ sich leider Gottes jetzt nicht mehr ändern. Es gab scheinbar einige Dinge, die sich nicht ändern ließen, vor allem in den Köpfen der Menschen... der meisten Menschen zumindest.

In seinem Kopf jedoch hatte sich etwas verändert, zunächst noch sehr leise, unauffällig, schüchtern - trotz allem jedoch unübersehbar. Es war nur ein einziges Puzzlestück, das er da irgendwo zwischen Teppichfasern, hinabgestürzten Sofakissen und alten Fernsehzeitschriften gefunden hatte, und noch hatte er seinen Platz im Gesamtbild nicht finden können, aber dennoch... irgendetwas sagte ihm, das dieses eine Puzzlestück das Letzte war, dass mit ihm alle wirren Fäden zusammenliefen, sich zu einem einheitlichen Ganzen verwoben und ihm endlich den Weg zum Ausgang jenes wirren Labyrinths weisen sollten.

Was er nun brauchte, war Ruhe - Zeit. Zeit, um nachzudenken, langsam, genau, systematisch. Ravin wusste, diese letzten Schritte würden seine wichtigsten sein, denn mit ihnen stand und fiel alles. Das Netz, das er in all den vergangenen Wochen langsam und mit schier unerträglicher Geduld um den Sweet Slaughter gewoben hatte, konnte mit jeder unvorsichtigen und unachtsamen Bewegung in tausend haltlose Fasern zerbersten und das sicher geglaubte Opfer erneut in die Dunkelheit der Anonymität entwischen lassen.

Davon einmal abgesehen begriff Ravin just in dem Moment, da er die schweren Türen der ETU-Arena wieder hinter sich geschlossen hatte, dass er die Gesichter seiner ach so schönen Konkurrenten und Familienmitglieder einfach nicht mehr länger ertragen konnte.
 

Der Nachmittag lag bereits fast schon wieder im Sterben, als Ravin zum Ersten Mal seit einer viel zu langen Zeit begriff, wie unendlich dumm er eigentlich gewesen war.

Zu diesem Zeitpunkt lagen viele und lange und einsame Stunden hinter ihm. Immerhin war es noch recht früh am Morgen gewesen, als er den Mordschauplatz in jener gigantischen Halle, in der in kaum mehr als 24 Stunden ganze Heerscharen von Menschen jubeln und feiern und kreischen würden, hinter sich gelassen hatte. Und da sich an ebendiesem Morgen natürlich fast alle Models in ihrer dezent verunstalteten Übungsstätte aufgehalten hatten, waren die Gänge des übrigen Gebäudes natürlich entsprechend leer und verlassen im bleichen Licht der Morgensonne gelegen.

Erst einige Minuten später hatte er begriffen, dass er eines der grünen, dreizackigen Blätter in der Hand gehalten hatte, die in sanftem Tanz auf die unter Tonnen von Metall begrabene Tara hinabgeregnet waren. Er hatte es angesehen - lange, eindringlich. Hatte wieder weggesehen. Aus dem Fenster. An die Wand. Die Decke. War über Meilen von blitzsauber schimmernden Schachbrettfliesen geschlendert. Eine unzertrennliche Symbiose von Schwarz und Weiß, gewaltsam in immer gleiche geometrische Formen gepresst. Eintönig. Makellos. Erst Schwarz, dann Weiß, dann wieder Schwarz...

Ein erneuter Blick auf das Blatt in seiner Hand.

So hatte Ravin seinen Tag verbracht, den er sich noch in den frühsten Morgenstunden so vollkommen anders, so unwahrscheinlich viel trivialer und egoistischer erdacht hatte. Statt seine Runden über die strahlende Spiegelfläche des Catwalks zu drehen, kämpfte er sich still und verbissen durch die Wirren in seinem Kopfe, stellte sich wieder und wieder seinem erbittersten Feind... ein Feind, der ja eigentlich nur eine einzige, gar nicht einmal so komplizierte Frage war - die Frage, wo er dieses fragile grüne Gebilde, das nun stumm und feindselig zwischen seinen Fingern ruhte, schon einmal gesehen hatte.

Lange, lange Zeit war es ihm nicht eingefallen. Und als er sich dann endlich hatte erinnern können, da war mit einem Mal alles so klar, so unvorstellbar klar, dass es fast schon wieder schmerzte. Ein strahlendes Licht in zwei Augen, die sich längst schon an Nacht und Dunkelheit gewöhnt hatten. Doch Ravin war stark und selbstbeherrscht genug, seinen Blick nicht wieder abzuwenden, denn mit einem Mal kam tatsächlich alles so, wie er es auf seiner ruhigen Flucht aus der ETU-Arena nur hatte erahnen können.

Alle Bruchstücke, die er eben noch unsicher, zusammenhangslos in seinen Händen gehalten hatte, schienen sich mit einem Mal zu fügen... sicher, hier und dort blieb ein dunkler Fleck, eine kleine Ungereimtheit zurück, doch das änderte nichts daran, dass sich im sinnlosen Puzzlespiel nun endlich, endlich ein unschönes Bildnis erkennen ließ. Und kaum, da er es sah, drängte sich Ravin die unangenehme Frage auf, warum es ihm nicht schon viel früher aufgefallen war, so lächerlich einfach war des großen Rätsels Lösung.

Die Frage beschäftigte ihn immer noch, als er längst neben der in Gold gerahmten Zimmertüre jenes schicksalhaften Zimmers stand, in dem der Sweet Slaughter schon viel zu viele Nächte lang ruhig und selig geschlummert hatte, unverdächtig, unerkannt. Er stand da und wartete, denn der versammelte Rest der Models hatte sich mittlerweile zum kärglichen, aber figurschonenden Mahle versammelt - ein Mahl, das für allzu viele von ihnen einer trostlosen Henkersmahlzeit gleichkommen sollte. Ravin wusste, dass der Sweet Slaughter von allen Models als erstes den Saal verlassen würde, weil er das stets so tat, Tag für Tag, immer nach demselben zwanghaften Schema. Er kam als Erster - er ging als Erster. Genauso würde er es auch an diesem so bedeutsamen Nachmittag machen, unwissend, dass dieser Gang sein letzter sein sollte.

Für den Schlachter selbst würde sich dabei nicht allzu viel ändern, musste er von nun an eben im zugegebener Weise etwas weniger stilvollen und glamourösen Speisesaals des nächstgelegenen Hochsicherheitsgefängnisses als Erster kommen, als Erster gehen, und den Rest des Tages in ähnlich neurotischer Unfreiheit verbringen, wie er es auch hier schon längst zu praktizieren pflegte.

Zumindest eine von Ravins gedanklichen Zukunftsprognosen sollte sich nur allzu bald bewahrheiten, denn es war tatsächlich niemand anderes als der Sweet Slaughter höchstpersönlich, der knapp fünf Minuten vor dem Rest der makellosen Armada durch die Gänge ihrer komfortablen Fünfsternefestung stolzierte - oder vielmehr schlenderte, seltsam verloren, aber leichtfüßig, nicht weniger elegant als auf dem Laufsteg höchstpersönlich, bewundert, bejubelt, begafft von jenem gesichtslosen Brei aus Zuschauern, Fotoapparaten und leise surrenden Kameras. Er lächelte, süß und unschuldig wie eh und je, zumindest auf den ersten, flüchtigen Blick hin. Vielleicht lag es nur daran, dass Ravin im Geiste schon hinter die Fassade dieses engelsgleichen Wesens geblickt hatte... dass er es nun auf eine andere Art und Weise betrachtete als zuvor und deshalb sehen konnte, welch harter, verbitterter Zug um die weichen Lippen des Mörders spielte, der sein Lächeln unangenehm falsch und künstlich wirken lies... dass seine Augen beinahe noch kälter waren als Ravins eigene... oder vielmehr kalt auf eine ganz andere Art und Weise, mehr hasserfüllt als emotionslos...

Ebendiese starre Kälte wurde binnen weniger Sekunden von einem fragenden Ausdruck künstlich-aufgesetzten Erstaunens übertüncht und das eisige Feuer in den grünen Iriden begann zu flackern, als die dazugehörigen Augenlider einige Male auf und nieder geschlagen wurden.

"Was machst du denn da?" fragte Ivy betont langsam und spitzte ihre Lippen zu einem herausfordernd süßlichen Lächeln. Dabei gelang es ihr, das Gesicht auf wundersame Weise genau so weit zu senken, um zwar unschuldig verführerisch, nicht aber unterwürfig auszusehen. Ravin hatte längst schon begriffen, dass jede einzelne ihrer Gesten, jeder Augenaufschlag, jedes Spiel von Haar und Fingern einem genauestens durchdachten Plan folgte - oder besser gesagt einem Schauspiel, wie es perfekter gar nicht mehr hätte sein können. Jeder Atemzug der blonden Frau war eine derart gekonnte Selbstinszenierung, dass sie es selbst demjenigen, der um ihre Fassade wusste, schier unmöglich machte, auch dahinter blicken zu können.

Ihre rot lackierten Nägel strichen in lasziver Nervosität über den weißen Lederstoff ihrer Handtasche, in die mit schwarzen Linien ein dreifingriges Blatt eingeprägt war, ein zweidimensionaler Klon jenes lebendig grünen Gebildes, das Ravin immer noch in seinen bleichen Händen hielt.

"Ich muss mit dir reden", sagte er kalt, ohne auch nur in irgendeiner Form seinen Blick von den smaragdfarbenen Augen des engelsgleichen Models zu nehmen. Sie antwortete mit einem Lächeln, dem toten Lächeln eines Mörders, dessen emotionslos berechnender Verstand in der schläfrig süßen Sicherheit des Wahnsinns weilte.

"Reden? Mit mir?" Ein leises Lachen stahl sich über ihre rosenfarbenen Lippen. "Ich gebe zu - damit hätte ich nicht gerechnet. Nimm es mir nicht übel, aber du bist mir bislang noch nicht unbedingt durch deine Redseligkeit aufgefallen!"

"Es ist wichtig", fuhr Ravin ungerührt fort, ohne auf den neckischen Spott in Ivys zuckersüßem Stimmchen einzugehen. "Und es ist besser, wenn wir ungestört sind."

"Ungestört?" In die unschuldige sanfte Stimme der jungen Frau mischte sich ein spielerisch verruchter Tonfall, der allerdings ebenso schnell wieder verflog, wie er gekommen war. Sie warf ihren Kopf in den Nacken, sodass sich ein ganzer Wasserfall von goldfarbener Seide in die drückende Luft des nahenden Abends ergoss, und wieder drang ein Lachen aus ihrer zarten Kehle hervor, setzte ihre scheinbar über alle Widrigkeiten des Seins erhabene Gestalt so gekonnt in Szene, dass sogar Ravin einen leisen Hauch von Bewunderung durch seine Brust gleiten fühlte.

"Ja, ungestört. Das dürfte für alle hier das Beste sein."

"Du machst mich direkt neugierig, weißt du das?" Sie strich sich langsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht, verharrte mit ihrer makellosen Hand nur einen Moment lang an der porzellanfarbenen Haut ihrer Wange und senkte den Blick. Ein tiefer Atemzug stahl sich geräuschlos über ihre natürlich vollen Lippen und ließ eine ungewohnt nachdenkliche Aura um ihre zarte Gestalt herum entstehen. In dieser regungslosen Stille wirkte sie fast schon schutzbedürftig, auf eine seltsame Art und Weise verloren in dem kurzen weißen Kleid, das ihren perfekten Körper mehr oder weniger bedeckte und umspielte.

Dann blickte sie auf, ließ ihre ebenmäßigen Gesichtszüge einmal mehr im sanften Licht eines ganz und gar unaufdringlichen Lächelns erstrahlen und nickte.

"Und weißt du noch etwas? Mir ist gerade eben der perfekte Ort für ein kleines Rendezvous eingefallen. Du wirst es lieben, Ravin, das verspreche ich dir. Dabei gebe ich für gewöhnlich keine Versprechen... ach, aber diesen Ort musst du einfach sehen! Er ist bezaubernd..." Sie spitzte ihre Lippen, wie um einen ziellosen Kuss anzudeuten, dann wandte sie sich um und schlenderte in traumwandlerischer Eleganz den schwarz-weiß gefliesten Gang hinab, ohne sich dabei auch nur im Geringsten von den gut zehn Zentimeter hohen Absätzen ihrer schneeweißen High Heels stören zu lassen. Dann hielt sie noch einmal inne, wandte sich um und schlug ihre langen Wimpern nieder. "Genauso bezaubernd wie du!"

Mit einem letzten zuckersüßen Lachen warf sich der Sweet Slaughter die goldenen Wellen seines langen Haares über die Schulter, dann stöckelte er in scheinbar unerschütterlicher Ruhe voran, geradewegs auf die feindselig glänzenden Türen des großen Aufzuges zu, der Ravin vom Ende des riesenhaften Schachbrettes stumm und höhnisch entgegenlächelte.
 

Es waren genau zwei Knöpfe, die Ivy scheinbar leichtfertig und gedankenlos gedrückt hatte. Zwei kleine, rechteckige, in dezentem Gelb leuchtende Knöpfe, die sich vom Rest ihrer dienstfertigen Brüder eigentlich nur durch eine kleine, unscheinbare Zahl in der rechten unteren Ecke unterschieden. Oder besser gesagt: Sie unterschieden sich dadurch, dass sie eben keine Zahl, sondern schwarze Blockbuchstaben trugen, der eine ein R, der andere ein D.

Doch so grotesk, so lächerlich der Gedanke auch sein mochte: Es war niemand anderes als diese beiden Knöpfe, die alle weiteren Geschehnisse bestimmen sollten, gelb und unscheinbar, deshalb aber nicht weniger mächtig und bedeutsam. Ravin selbst hatte nicht weiter darauf geachtet, hatte seine Konzentration voll und ganz auf Mimik und Gestik des mörderischen Engels fixiert, der ihm sanft, kalt und selbstsicher entgegenlächelte. Ihr schneeweißes Kleidchen und ihre blonden Locken wurden von der mattierten Spiegelscheibe in ihrem Rücken merkwürdig verzerrt wiedergegeben, zerflossen zu einer Aura von Licht und Gold, die sich wie eine irritierende zweite Haut um den Körper der jungen Frau legte.

Sie senkte ihren Kopf, spitzte die Lippen und blickte erwartungsvoll aufreizend zu Ravin hinauf.

"Ich möchte keine langen Reden halten", begann dieser schließlich ruhig und frei von jeglicher störender, oder verräterischer Emotion zu sprechen, stets bemüht, seinen Blick direkt auf Ivys Gesicht ruhen zu lassen. Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn die konturlose Reflektion im Rücken der jungen Frau tat mit stetem Flackern und Vibrieren ihr Möglichstes, seine Sinne permanent zu verwirren, zu irritieren und abzulenken.

"Schade", flötete Ivy und formte ihre dezent geschminkten Lippen zu einem Schmollmund. "Langweilig wäre es mir mit dir sicher nicht geworden..."

"Nun, das ist Ansichtssache. Im Übrigen geht es hier ja auch gar nicht um mich und ich habe auch nicht vor, mit diesem ganzen Rumgerede hier noch länger meine Zeit zu verschwenden. Eigentlich möchte ich nur eine... ganz kurze, simple Frage an dich stellen: Warum..."

"Simpel? Aber nein!" Die Blonde fiel Ravin mit einer affektiert abwinkenden Geste ins Wort. Ihre Stimme klang so aufgesetzt belehrend wie die eines jener unerträglichen Kinder, die tagein, tagaus von den sadistischen Machern irgendeiner Fernsehwerbung dazu gezwungen wurden, ihre Eltern über Fruchtjoghurts, Schokoriegel, Frühstückscerealien oder andere als gesund und wachstumsfördernd zertifizierte Dinge aufzuklären, die sie selbst groß- und den Kunden das Geld aus den Taschen ziehen sollten. "Fragen sind nie simpel. Jede Frage ist bedeutsam. Liebst du mich? Willst du mich heiraten? Haben Sie ihre Frau umgebracht? Jede Frage ist ein Weg, dessen Ziel den Namen Antwort trägt. Wusstest du das etwa nicht? Unser ganzes Leben besteht aus Fragen! Man muss sie nur zu stellen wissen."

"Ja, aber..."

"Nein, kein aber. Und sieh mich nicht so finster an. Die Zeit wird uns schon nicht davonlaufen. Vergiss nicht, dieses Haus hat viele Stockwerke, sehr viele Stockwerke. Vielleicht zu viele. Gab es da nicht einmal solch eine uralte Geschichte von einem Turm, der dem Himmel zu nahe gekommen ist? Ich... habe tatsächlich vergessen, wie sie heißt! Ich weiß nur, dass sie kein schönes Ende hatte..."

"Ich bin nicht hier, um mir Geschichten anzuhören!"

"Aber natürlich nicht. Du willst mir eine Frage stellen und du drängst auf Antwort. Als ob wir uns jeden Moment fürchten müssten, dass die Seile dieses Aufzuges in tausend Stücke und uns mit sich in die Tiefe reißen würden... warum denn so eilig? Ich hasse Eile!" Sie ließ ihre hellen grünen Iriden betont langsam im Kreis wandern. "Von Eile bekommt man Falten und dabei ist Makellosigkeit doch unser Kapital! Also sieh einmal her, Ravin, sieh auf diese Tafel. Dort leuchten zwei Knöpfe. Ein R und ein D. Das R steht für Roof, sprich, wir fahren bis ganz nach oben. Dem sündigen Himmel entgegen, verstehst du? Das D steht für direct. Soll heißen: Keiner kann diesen Aufzug anhalten oder zu sich rufen, bevor er uns sicher an unser Ziel gebracht hat. Und was soll uns das alles sagen? Wir haben Zeit. Viel, viel Zeit."

"Mich interessiert nicht, wohin dieser Aufzug fährt. Ich möchte einfach nur eine einzige Frage stellen."

"Warum tust du es dann nicht?" Ivy schenkte Ravin ein bezauberndes Lächeln und klimperte betont unschuldig mit ihren langen schwarzen Wimpern. Dieser rollte nur einmal kurz mit seinen kalten Augen, bevor er zu einer von den Spielchen der jungen Frau vollkommen unbeeindruckten Antwort ansetzte.

"Ich habe nicht um Gegenfragen gebeten, sondern um eine Antwort." Er hielt kurz inne, und noch während sich in seinem Kopf die Puzzleteile für die richtige Formulierung dieses einzig wichtigen und so unvorstellbar fatalen Satzes nachdachte, schien sich ganz wie von selbst eine weitere dicke Eisschicht über das eisige Blau seines Blickes zu legen.

"Antwort - auf was?"

"Warum hast du sie getötet?"

Wie von einem inneren Blitzschlag namens Eingebung durchzuckt hatte Ravin sich für den direkten, den einfachsten und gleichzeitig auch gefährlichsten Weg entschieden. Gut - es war noch niemals in seiner Natur gelegen, länger als irgendwie notwendig über die Konsequenzen seines Handelns nachzudenken, ganz einfach deshalb, weil ihm diese Konsequenzen meist ohnehin vollkommen egal waren. In diesem Fall aber sollte ihm für gleich welche Art von Gedanken so oder so nicht allzu lange Zeit bleiben, denn noch während sich die Worte über seine Lippen stahlen, ging ein lähmender Ruck über Ivys Gesicht, ließ ihr maskenhaft liebreizendes Lächeln in all seiner Falschheit gefrieren und brachte nur für den rasenden Bruchteil einer Sekunde das kalte Feuer hinter ihren grünen Augen zum Lodern.

Dann löschte sie die Flammen mit einem Schlag ihrer Augenlieder, warf den Kopf in den Nacken und lachte.

"Getötet? Ich?" Sie strich sich mit einer schwungvollen Bewegung das Haar aus der Stirn und schenkte dem Weißhaarigen ein mildes Lächeln. "Sag, wen habe ich denn... getötet? Und wie? Jetzt möchte ich es aber doch wissen. Wo ich doch wieder einmal als Letzte merke, was für eine kaltblütige Mörderin ich doch bin!"

"Das tut mir leid", stellte Ravin ungerührt fest und ließ seinen Rücken gegen das kalte Metall der Aufzugwand sinken. Ein leiser Schauer schlich ihm über die Haut, gefolgt von einem steten Vibrieren. Er lehnte seinen Kopf zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, betont ruhig und entspannt, um auch nicht den geringsten Zweifel übrig zu lassen, dass von nun an er es war, der die Situation kontrollierte. "Aber ich wäre nicht hier, wenn ich keine Beweise hätte."

"Soso... Beweise..." Ivy stieß ein kurzes, kindlich anmutendes Kichern hervor und begann, eine ihrer goldfarbenen Locken in scheinbar grenzenloser Gleichgültigkeit um ihren Zeigefinger zu wickeln. In jedem einzelnen ihrer langsamen Augenaufschläge lag eine derart überhebliche Erheiterung, dass sich Ravin einmal mehr ein leises Gefühl der Bewunderung eingestehen musste, so unerschütterlich und unendlich schien die schauspielerisch überragende Kaltschnäuzigkeit dieser jungen Frau.

"Ja, Beweise", echote er nicht minder kaltschnäuzig, ohne seinen bohrenden Blick vom leblos schönen Gesicht der engelsgleichen Mörderin zu nehmen. "Einer davon befindet sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch in deiner Wohnung. Ich weiß nicht wo, aber das wird die Polizei schon herausfinden."

"Da bin ich aber gespannt."

"Epipremnum", sagte Ravin langsam, mit wahrhaft ungewohnter und gerade deshalb so eindringlicher Bedeutungsschwere, die auf jeder einzelnen Silbe lastete. "Mit dem Gift dieser Pflanze wurde Chastity Kramer ermordet. Mit welchen Giften du die übrigen Models umgebracht hast, weiß ich nicht. Noch nicht. Aber das ist auch nur eine Frage der Zeit."

"Die übrigen..." Ein kurzer Moment der Irritation lief durch Ivys Augenbrauen, dann jedoch entspannte sich ihr Gesicht aufs Neue und wich ihrem unvermeidbaren, undurchdringlichen Lächeln. "Aber Ravin, findest du das nicht ein klein wenig gewagt? Ich glaube, du könntest dir einige Unannehmlichkeiten einhandeln, wenn du jeden Liebhaber seltener Pflanzenarten als Mörder bezeichnest. Das ist nicht gut für den Ruf, weißt du? Und ein guter Ruf ist alles in diesem Geschäft, wirklich alles!"

"Ich glaube nicht, dass ich es bin, der sich um seinen Ruf zu sorgen hat..." Ravin reckte sein Kinn ganz unbewusst ein Stück weit in die Höhe und strich sich eine seiner langen weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Das sachte Ruckeln in seinem Rücken war mittlerweile verstummt, doch der junge Soldat fühlte trotzdem weder Hast noch Bedürfnis zur Eile in sich aufsteigen. Er war nun an dem Punkt angelangt, den er die ganze Zeit über angestrebt hatte, jener eine Punkt, an dem alle Fäden zusammenliefen, sich verwoben und versponnen und zu neuer Ordnung teilten, einer unbarmherzigen Ordnung, in der es keine Fassade, keine Lügen mehr gab.

Es war Zeit, die Karten offen zu legen und das Spiel für sich zu entscheiden.

"Ach nein? Das sehe ich anders. Du scheinst offenbar nicht zu wissen, wen du vor dir hast. Meine Eltern haben Einfluss, viel Einfluss, und was noch wichtiger ist - sie haben Geld. Connections. Alles, was man im Leben eben so braucht. Bislang fand ich deine Ausführungen ja eher belustigend, aber langsam stoße selbst ich an die Grenzen meiner Geduld. Ich hätte es dir zwar nicht zugetraut, aber du scheinst mir zu viele Krimis gesehen zu haben. Oder steigt dir dein Erfolg langsam zu Kopf?"

"Was hast du in dieser Tasche?"

"In meiner... wieso?" Auf Ivys Gesicht stahl sich eine Spur von Misstrauen. Dann lief ein leichter, kaum merkbarer Ruck durch ihren Körper, als ein melodischer Dreiklang den steril glänzenden Raum erfüllte und sich die mattsilbernen Türen mit einem leisen, sanften Schnurren auseinander schoben. Ohne den Blickkontakt zu der blonden Frau abzubrechen schob Ravin einen seiner Füße ein Stück weit nach Rechts, unmittelbar vor ein winziges rotes Lichtlein, das etwas zehn Zentimeter über dem Boden in die Innenseite der Aufzugpforten eingelassen war.

"Jetzt haben wir wirklich Zeit", sagte er langsam und kalt. Ivys grüne Augen glitten kurz über die blockierte Lichtschranke, dann stahl sich ein unwahrscheinlich entnervtes Seufzen über ihre Lippen und sie verschränkte beide Arme vor ihrer Brust.

"Du vielleicht. Ich wäre eigentlich gerne noch einmal meinen Auftritt durchgegangen. Immerhin habe ich nicht vor, nach der großen Show morgen schon heimfahren zu müssen."

"Heimfahren wirst du sowieso nicht."

"Was soll das nun wieder heißen?!"

"Weißt du, was eine Spurenanalyse ist?" Ravin lehnte seinen Kopf ein Stück weit zur Seite. "Es gibt da bei der Polizei eine ganze Abteilung, die macht eigentlich den ganzen Tag nichts anderes. Ich bin mir sicher, diese Abteilung würde sich sehr über deine Tasche freuen. Ich weiß zwar nicht, mit welcher Art von Stoff sie innen ausgekleidet ist, aber Reste dieses Stoffes werden sich bestimmt auch auf den Blättern finden, die du auf Taras Leiche hast fallen lassen. Warst du nicht unmittelbar vor ihr auf dem Laufsteg? Ich weiß, dass du deine Tasche bei den Proben bei dir hattest und dir ist danach unmöglich noch genug Zeit geblieben, um zurück auf dein Zimmer zu laufen, die Blätter zu holen und den Scheinwerfer hinunterfallen zu lassen. Oben bei der Beleuchtung kannst du die Blätter auch nicht versteckt haben, dort haben ja noch bis in die Proben hinein Handwerker gearbeitet. Die Blätter können also nur in dieser Tasche gewesen sein."

Zwischen den silbernen Wänden des Aufzuges war es still geworden. Ravin sah Ivy immer noch direkt in das Gesicht, jenes maskenhafte Kunstwerk, das nun voll und ganz in eine merkwürdige Starre verfallen war. Die Lippen der jungen Frau waren nur ganz leicht geöffnet, die Augen dafür umso weiter, eingefroren in vollkommener Ausdruckslosigkeit. Selbst die steten Atemzüge, die ihre weiß umhüllte Brust ruhig und selbstsicher gehoben hatten, schienen nun verstummt oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit hin verlangsamt worden zu sein.

"Efeutute. Efeublätter. Das ist so einfach, zu einfach, darum ist es mir auch nicht gleich aufgefallen. Ivy... warst du so stolz auf deine Taten, dass du unbedingt noch eine... Visitenkarte am Tatort zurücklassen musstest? Auf jeden Fall war es - ein Fehler."

Und dann, noch während Ravin dieses so schicksalhaft programmatische Wort über seine Lippen brachte, ging mit einem Mal alles ganz schnell.

Zu schnell, selbst für Ravin, war sein Bein doch durch die Blockade der Lichtschranke in eine äußerst unnatürliche und leider auch unpraktische Haltung gezwungen worden. Zudem hatte der stete, eisig kalte Blickkontakt, den er zu Ivy gehalten hatte, zwar auf eine Weise sein übriges getan, ihre Nerven zerrüttet und selbst die so unantastbar scheinenden Betonwälle ihrer architektonisch meisterhaft aufgebauten Fassade zum Einstürzen gebracht - leider hatte er aber auch die Aufmerksamkeit des jungen Weißhaarigen von jeglichem anderen Detail, jedem übrigen Vorgang abgelenkt, der sich in diesen bedeutungsvollen Sekunden in dem kleinen Raum abgespielt hatte.

So war ihm nicht einmal aufgefallen, dass Ivy unfassbar langsam, wie in sirupartigem Zeitlupentempo aus ihren schneeweißen Stöckelschuhen geschlüpft war, dass sie Halt auf dem klebrig warmen Gummiboden des Aufzuges gesucht und jeden einzelnen Muskel in ihrem zierlichen Körper angespannt hatte.

Er bemerkte den Fehler erst, als die junge Frau mit einem Satz zwischen den Türen hinaus ins Freie flüchtete, dem schon leicht rötlich angehauchtem Blau des endlos weiten Abendhimmels entgegen. Und auch als er mit einem kurzen Straucheln aus seiner misslichen Lage entkommen konnte, da legte sich zunächst noch eine lähmende, trügerische Sicherheit über sein Bewusstsein, raubte ihm die Kraft für den notwendigen Sprint, ließ ihn für den Blitzschlag eines einzigen Gedankens in der Bewegung verharren.

Sie waren auf dem Dach. Es gab keinen Ort, an den Ivy hätte flüchten können!

Und dann fiel ihm die Feuertreppe ein. Jene letzte stählerne Rettung, die nicht nur von den astronomischen Höhen ihres lasterhaften Turmes hinab zu den Schatten der Erde führte, sondern die zu allem Überfluss auch noch mit jedem einzelnen verfluchten Stockwerk des gesamten Evershine Theater Utopia Buildings verbunden war. Ravin wusste, wenn der Sweet Slaughter diese rettenden Planken erreichen würde, dann hatte er verloren, dann kam das bloße Vorhaben, dem Mörder noch sein blutiges Handwerk legen zu können, einem Ding der Unmöglichkeit zumindest verflucht nahe.

Leider stahl sich diese Erkenntnis um etliche höhnische Sekunden zu spät in sein Bewusstsein. Denn obwohl Ivy barfuß und das steinerne Dach des ETU doch verflucht rau war, so lief sie doch immer noch schnell, unwahrscheinlich schnell, und wie auch alles andere in dem Prunkbau war natürlich auch die Dachterrasse sehr, sehr groß... vielleicht zu groß, um sie noch einholen zu können.

Aber musste er das denn überhaupt?

Denn trotz aller Geschwindigkeit, trotz des nicht zu leugnenden Vorsprungs hatte Ivy in ihrem Wahn, in ihrer an und für sich recht unvorteilhaften Hast doch einen gewaltigen Fehler gemacht - sie war in einem eigentümlich weiten Bogen aus dem Elevator gelaufen, war dem schmalen Rand zwischen Stein und Himmel viel zu nahe gekommen und hatte so wertvolle Sekunden verschenkt. Das Wissen um diesen Fehler war der einzige Vorteil, den Ravin noch in seinen bleichen Händen hielt.

Er drückte sich mit aller Kraft von dem kalten Metall in seinen Rücken ab, sammelte alle Kraft, die er noch in den entlegensten Winkeln seines Körpers finden konnte - und begann zu rennen. Er rannte und rannte, setzte in halsbrecherischem Tempo einen Fuß vor dem anderen, bis er nur noch der Koordination seines Unterbewusstseins und vielleicht auch einer gehörigen Menge Glück verdanken konnte, dass er nicht einfach vornüber und der Länge nach auf die harte Steinmasse stürzte. Er lief und lief, immer den schmalen, von einer lachhaft dünnen Metallkette versperrten Fluchtweg im Blick, jenen stählern blitzenden Stufen, von Menschenhand erschaffen, um Leben zu retten, und nun im Begriff, so viele Leben auf grausamste Art und Weise davon zu werfen.

Und dann, als er das so unendlich weit entfernt scheinende Ziel seines halsbrecherischen Laufes fast schon in zumindest abschätzbarer Nähe wusste, da begriff er mit einem Mal, dass er noch einen Fehler gemacht hatte.

Er begriff es in dem Augenblick, als er - sei es zufällig oder von den undurchschaubaren Fäden jenes übermächtigen Marionettentheaters mit Namen Schicksal gelenkt - einen kurzen Blick über die Schulter warf, um die Chancen seines Feindes abschätzen zu können. Und da sah er, dass die junge Frau nicht etwa in seine Richtung rannte, um in der stillvollen Anonymität ihres Luxushotels untertauchen zu können. Vielmehr hatten ihre nackten Füße sie zu der etwa kniehohen Brüstung geführt, einer schmalen Mauer aus Beton, die jene weitläufige Dachterrasse auf überaus lächerliche Art und Weise einrahmte. Ravin wusste nicht, ob - wer auch immer dieses alles andere als ansehnliche Gebäude nun verbrochen hatte - man diese Mauer zu irgendeinem Sinn und Zweck erbaut hatte, vielleicht um Hunde und Kleinwüchsige vom Selbstmord abzuhalten, oder ob man das Dach aus Gründen einer Ästhetik, die sich ihm leider nicht ganz erschloss, einfach irgendwie hatte abschließen wollen...

In jedem Fall bot dieses Mäuerchen alles, nur keine Sicherheit.

Dummerweise schien das auch Ivy bemerkt zu haben. Denn während sich Ravin mit einem leisen Seufzer umwandte und auch noch das letzte bisschen an ruhigem Atem durch einen erneuten Lauf aus seinen geplagten Lungen trieb, da kam die blonde Frau fast unmittelbar vor dem dunklen Beton zum stehen, den ganzen Körper von heftigem Beben erfasst, und wandte ihren Blick starr auf den bizarren Urwald aus Straßen, Plätzen und mehr oder weniger hohen, mehr oder weniger hässlichen Hochhausbauten hinab, der sich (zumindest größtenteils) zu ihren Füßen erstreckte.

Im ersten Moment fürchtete Ravin, dass Ivy sich einfach umdrehen und mit süßlich gespitzten Lippen und einem letzten höhnischen Augenaufschlag zum rettenden Aufzug zurückstolzieren würde, um ihm schlicht und einfach vor der Nase davonzufahren. Und dass dieser Fluchtplan durchaus Erfolg versprechend war, das verriet dem jungen Weißhaarigen nicht nur die schlichte Tatsache, dass die blonde Frau einen deutlich kürzeren Weg zu besagtem Transportmittel zurückzulegen hatte, sondern auch jenes konstante Stechen, Ziehen und Hämmern in seiner Seite, das einen zweiten Sprint in beinahe unerreichbare Ferne rücken ließ.

Dann aber sah er, dass sich die silbernen Tore des Elevators mittlerweile wieder geschlossen hatten. Wahrscheinlich, schoss es ihm durch den Kopf, hatten tief, tief unter ihnen sowieso schon ganze Belegschaften von Models ihre durch menschenunwürdige Diäten, nächtelange Partys und den steten Konkurrenzdruck ohnehin schon zerrütteten Nerven beim langen Warten auf den Aufzug vollends verloren. Schon die bloße Fahrt zum Dach - die bloße direkte Fahrt zum Dach musste in den Augen eines unwissenden Wartenden um etliche Äonen zuviel gedauert haben, nicht zu vergessen ihre folgende Konversation auf dem Dach bei blockierter Türe... es war nur mehr als natürlich, dass der stählerne Fährmann ihres überaus fußgängerunfreundlichen Heimathochhauses nun endlich wieder an anderer Stelle gebraucht wurde.

Allerdings schien Ivy an diese Fluchtmöglichkeit ebenso wenig gedacht zu haben wie an die Feuertreppe, jedenfalls stand sie nur unverändert regungslos am steinernen Rande des Abgrunds und starrte in die Tiefe. Der in solch Schwindel erregenden Höhen wie auf der ETU-Dachterrasse unweigerlich herrschende Wind fuhr ihr durch Haare und Kleid, beraubte die schlanke Gestalt jeglicher klarer Kontur, verwandelte sie in ein bizarres Monument aus Bewegung, eine weiße, aber gleichzeitig finstere, tödliche Bewegung, die unweigerlich auf den Rand des Daches gerichtet zu sein schien...

Und als Ravin verstand... oder sich vielmehr endlich eingestehen konnte, dass Ivys Flucht die ganze Zeit über keine Flucht, seine Verfolgungsjagd nicht mehr als eine sinnlose Verschwendung s kostbarer Kräfte gewesen war, da wusste selbst er eine ganze Reihe von grauenhaften Sekunden lang nicht mehr, was er tun sollte. Er rannte nicht mehr, er lief nicht einmal mehr, er ging - ging langsam und bedächtig auf die junge Frau zu, während sich seine keuchenden Atemzüge auf äußerst unangenehme und schmerzhafte Art und Weise allmählich wieder beruhigten.

Er war gerade noch gute zehn Meter von ihr entfernt, als mit einem Mal ein heftiger Ruck durch die vormals so regungslose und doch gleichzeitig übermäßig bewegte Gestalt lief und sie mit einer derart raschen Drehung herumfuhr, dass Ravin einen Augenblick lang ernsthaft befürchtete, sie würde schlicht und einfach das Gleichgewicht verlieren und rückwärts in die Tiefe stürzen.

Zumindest diese eine Befürchtung sollte sich nicht bewahrheiten, denn Ivy kam zwar leicht schwankend, aber doch mehr oder weniger sicher wieder zum Stehen. Ihre Brust hob und senkte sich rasch. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, doch aus den vagen Schatten, die diese ganz und gar nicht unterwürfig anmutende Haltung auf ihr engelsgleiches Gesicht zauberte, stachen ihre hellgrünen Augen nur umso funkelnder hervor. Auch sonst war das Attribut engelsgleich jetzt vielleicht doch nicht mehr ganz so zutreffend, schien doch jeder einzelne ihrer hübschen Gesichtszüge von schier unbändigem Hass verzerrt, krampfhaft und bebend, nur mehr ein alptraumhaft deformiertes Abbild ihrer selbst. Über ihre Wangen liefen Tränen, die in der Maske aus tödlichem Zorn wie Fremdkörper wirkten, wie groteske Überbleibsel von Menschlichkeit, wo es keine Menschlichkeit mehr geben konnte.

"Hau ab!" Ihre Stimme klang schrill und misstönend, bei aller Hysterie aber dennoch nicht wahnsinnig - und genau das war es, was Ravin am meisten irritierte, was ihn tatsächlich einen Moment lang inne halten und fast gegen seinen Willen verharren ließ. "Komm keinen Schritt näher! Keinen Schritt näher oder ich... ich springe!"

Ravin sah Ivy geradewegs in die lodernden, feucht glänzenden Augen. Dann setzte er langsam, sehr langsam einen Fuß nach vorne.

"Nein! Bleib stehen! Bleib stehen! Ich... ich meine es ernst!!!"

"Du meinst es also ernst?" fragte er kalt, während er einen weiteren langsamen Schritt vorwärts machte. "Warum tust du es dann nicht? Wenn du es wirklich ernst meinst, dann wirst du eh springen, ganz egal ob ich nun stehen bleibe oder nicht. Also was soll dieses dramatische kleine Spielchen?"

Mit dieser Antwort hatte die blonde Frau ganz offensichtlich nicht gerechnet, denn ihre Augen weiteten sich sogar noch ein kleines Stückchen mehr und einige Momente lang verschwamm der verhärtete Ausdruck bloßen Hasses zu einem Stadium irgendwo zwischen Verwirrung und Entsetzen.

"Wie... wie kannst du das sagen? Ist es dir egal? Ist es dir egal, ja? Ich sterbe und du verziehst immer noch keine Miene! Wie... wie gefühllos bist du eigentlich?!"

"Da muss ich dir allerdings Recht geben, es ist mir egal." Ravin strich sich eine der langen weißen Haarsträhnen, die der Wind ihm vor das Gesicht geweht hatte, mit einer langsamen Bewegung hinter sein Ohr. Gleichzeitig legte er einen weiteren zeitlupenartigen Meter zurück. Ivy keuchte.

"Aber... aber..."

"Was aber? Soll ich etwa... Mitleid mit dir haben, wenn du hier vor einer anderen Strafe davonlaufen willst? Ich muss dich enttäuschen. Mitleid ist ein Gefühl, das ich überhaupt nicht kenne. Vielleicht hättest du dir einen anderen Zuschauer für dein kleines Selbstmordszenario hier aussuchen sollen. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich dein Mitleid für Tara und die anderen wohl auch eher in Grenzen gehalten hat."

"Na und?" Die blonde Frau stieß einen scharfen, misstönenden Laut aus, der nicht einmal im Mindesten dem höhnischen Lachen ähnelte, den er wohl hatte darstellen sollen. Ihre Lippen bebten wie die eines kleinen Kindes, das sich an einer vollkommen überfüllten Supermarktkasse mit der ganz und gar inakzeptablen Situation konfrontiert sah, ausnahmsweise einmal keine Süßigkeiten geschenkt zu bekommen. "Sie standen mir eben im Weg! Es war so widerlich, wie sie... wie sie alles getan haben, um den Preisrichtern zu gefallen! Kein Stil, kein Niveau, aber darum geht es hier ja offensichtlich auch gar nicht mehr. Sex sells, ja?! Was... was ist denn das für eine Gesellschaft?!?"

"Jetzt hör mir mal zu, mich interessiert das alles nicht. Warum du sie umgebracht hast, ist mir eigentlich genauso egal wie die Tatsache, dass du sie umgebracht hast. Die Sache ist nur leider so, dass ich beauftragt wurde, den so genannten Sweet Slaughter aufzuhalten, der auf diesem Wettbewerb hier sein Unwesen treibt. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du in den Tod springst, dann bist du genauso unschädlich gemacht wie hinter Gittern. Für mich macht das keinen Unterschied. Für dich wohl schon eher."

"Das tut es nicht!" Die Stimme der jungen Frau überschlug sich. "Es ist mir egal, ob ich tot bin! Es ist aus! Es ist alles aus!! Ich... ich wollte doch nur..." Ein leises, hilfloses Lachen drang über ihre Lippen, und mit einem Mal wich der eisige Hass in ihren Augen einer stummen, tiefen Verzweiflung. Das helle Grün begann zu flackern. "Weißt du, als ich noch ein Kind war, da habe ich immer die Models im Fernsehen angekuckt. Und sie waren so schön, so wunderschön. Und die Preise, die sie hatten, und die Kleider, alles hat geglitzert und jeder hat sie fotografiert. Dad hat mir doch immer gesagt, wie schön ich bin! Ich wollte doch nur gewinnen. Ich wollte, dass mein Name als letztes vorgelesen wird. Und dann... dann spielt immer diese Musik... und alle jubeln, jubeln nur für dich... nur für dich... das war mein Traum, hörst du? Er hat mir doch immer gesagt, wie schön ich bin..."

Ravin hatte in seinem halb erstarrten Tempo schon knapp mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sich Ivys bebender Körper mit einem Mal in Bewegung setzte. Es waren nicht mehr die hastigen, panischen Bewegungen, mit denen sie aus dem Aufzug gestürzt oder zu ihm herumgefahren war... sie waren nicht ruckartig, nicht abgehackt, nicht unnatürlich übersteigert... eigentlich hatten diese Bewegungen nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem Bild zu tun, das Ravin seit ihrer ersten schicksalhaften Begegnung von der jungen Frau gewonnen hatte. Und in dieser Fremdartigkeit lag etwas, das ihm unmissverständlich klar machte, dass jeder weitere Schritt überflüssig, jede Annäherung vergebens sein würde.

Irgendetwas lag in dieser plötzlichen, fließenden Veränderung, die vielleicht aber auch ganz einfach nur der letzte Fall der letzten Mauer gewesen war, die Ivy im Laufe ihres jungen Lebens so kunstvoll um sich errichtet hatte, das Ravins Körper lähmte, ihn mitten in der Schwebe zwischen zwei Schritten inne halten und stehen bleiben ließ, schweigend, die Augen wie durch eine unsichtbare Stahlkette an die Gestalt jener blonden Frau zwischen Mauer, Himmel und dem Wolkenkratzermeer Litonias kettete.

Diese setzte zunächst ihren linken Fuß auf die niedrige Mauer, drückte sich dann mit einer schnellen, spielerischen Bewegung in die Höhe und suchte mit ihrer zweiten nackten Fußsohle vorsichtig Halt auf dem rauen Mauerwerk. Dann hob sie langsam ihre Arme, breitete sie zu beiden Seiten ihres Körpers aus und machte vorsichtig zwei Schritte nach Rechts, und mit einem Mal wirkte sie fast so wie ein kleines Mädchen, das auf dem Weg zu ihrer Schule von der kindlichen Freude und der Lust am Leben übermannt auf einem Bordstein balancierte. Sie lächelte, aber obwohl es einmal mehr ein falsches, erzwungenes Lächeln war, lag nun anstatt der kalten, heuchlerischen Unschuld ein seltsamer Zug von Melancholie auf ihrem Gesicht.

"Ich hätte so gerne gewonnen..." flüsterte sie, und ihre Stimme wurde beinahe hinfort gerissen und verschluckt vom leisen Lied des Windes. Eine weitere Träne rollte über ihre Wange. Ivy hob die Hand, langsam und bedächtig, und wischte sie ab. "Was denkst du, Ravin? Meinst du, ich hätte eine Chance gehabt? Weißt du, ich bin froh... dass du es bist... dass du hier bist... du bist wunderschön, Ravin. Was ist denn nur geschehen, dass deine Augen so kalt geworden sind? Aber das ändert nichts, du bist perfekt. So wunderschön... ich wünsche dir, dass du gewinnst, Ravin. So ein wundervoller Pokal... glaubst du, dass ich es geschafft hätte?"

Sie schloss ihre grünen Augen, nur einen einzigen, kurzen Moment lang, bevor sie aufs neue und zum letzten Mal Ravins Blick mit dem ihren suchte. Wieder lächelte sie, und auf eine vollkommen absurde Art und Weise wirkte sie in diesem Moment fast schon ängstlich, schüchtern, mehr und mehr wie ein Kind im Körper eines vom Himmel herabgefallenen Engels.

"Was meinst du, Ravin... bin ich schön?"

Sie hatte kaum zuende gesprochen, als der Wind ganz plötzlich stärker wurde... oder vielleicht auch nur seine Richtung änderte, sodass Ravin ihn nun bewusster wahrnehmen konnte. Der Luftzug erfasste Ivys Kleid, ihr Haar, jedoch auf vollkommen andere Art und Weise wie noch wenige Minuten zuvor. Es war nicht mehr bloße, herrische Bewegung... es war mehr wie ein Spiel, ein leichtes, ausgelassenes Spiel, an dem sich mit einem Mal die gesamte Natur zu beteiligen schien.

Die Sonne, die ganz unbemerkt dem Horizont hinter der Skyline Litonias entgegengesunken war, verfing sich in jeder einzelnen Strähne von Ivys langem Haar, verwandelte die sanften Wellen in rötliches Gold, ließ sie fliegen und tanzen, schmiedete sie zu einem unvorstellbar wertvollen Rahmen für das hier und dort ganz, ganz leicht gerötete Porzellan ihres Gesichtes. Und dieses Gesicht war nun nicht mehr makellos, das Make up der Augen war ein wenig verlaufen, auf den Wangen und in den langen schwarzen Wimpern glänzten Spuren von Tränen... und trotzdem strahlte es, es strahlte auf eine ganz und gar unaufgeregte, sanfte Art und Weise, weich im Licht des Abendrots, das in weiter Ferne mit dem klaren Blau des Himmels verschwamm.

Vielleicht lag es an diesem Licht, vielleicht an der ungewohnten Perspektive oder auch daran, dass Ravins Augen vom Wind getrübt waren, doch mit einem Mal schien jeglicher Hass aus den Augen der jungen Frau gewichen zu sein. Sie lächelte, und ihre Augen lächelten mit, obwohl es ein trauriges Lächeln war... und das Grün war nun auch nicht mehr kalt, es glitzerte wie ein Edelstein, aber nicht mehr vor Hass, sondern... Ravin wusste es nicht. Er konnte die fast schon kindliche Emotion, die sich auf dem Gesicht der jungen Frau wiederspiegelte, weder lesen noch deuten, und trotzdem verstand er mit einem Mal, was ihn all die vergangenen Wochen über beschäftigt, irritiert und oft genug auch ganz gewaltig genervt hatte...

Als er Ivy auf dem schmalen Grat zwischen dem langsam erstrahlenden Grau der Hochhäuser und dem warmen Farbenspiel des Himmel balancieren sah, in dem schneeweißen Kleid, dem Spiel der rotgoldenen Haarsträhnen vor der sanft geröteten Haut ihrer makellosen Wangen... wie sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben lächelte, wirklich und wahrhaftig lächelte, die grünen Augen glänzend im sanften Nass ihrer Tränen, da begriff er mit einem Mal, was das Wort Schönheit wirklich bedeutete.

Und wie er so dastand, überwältigt und schockiert von dem Licht dieses plötzlichen Verstehens, da schien sein Körper die Gunst der Stunde und die merkwürdig lähmende Verwirrung ganz einfach auszunutzen, sich selbstständig zu machen - und zu nicken. Ravin nickte einfach, langsam und wortlos. Das war allerdings auch schon alles, was er noch an Bewegungen zustande bringen konnte, von einem seltenen Blinzeln hier und dort einmal abgesehen...

Er stand da und schwieg, während der tödliche Engel in dem weißen Gewand seine Augen schloss, den Kopf senkte und sich dann mit einem letzten befreiten Lächeln auf den Lippen ein weiteres Mal zur Erde fallen ließ, bis sein vollkommener Körper aus dem postkartengleichen Bildnis der abendlichen Großstadt verschwunden war.
 

"Ravin du bist toll! Du bist genial! Du bist großartig! Willst du mich heiraten?"

Es war ein kindliches, übermütiges Flackern, eine Art hysterisch-manisches Kichern, das jedem einzelnen von Ayas Worten anzuhaften schien - und das ihr auf eine ganz perfide Art und Weise eine äußerst beunruhigende Note verlieh, obwohl sie doch eigentlich nur Ausdruck von Anerkennung und Freude hatten sein sollen. Zugegeben - Ravin war nicht unbedingt ein Experte auf dem Gebiet von Anerkennung und Freude, doch selbst ihm entging nicht, dass da irgendetwas in Ayas Worten lag, etwas, das ihm beleibe nicht gefiel, das er aber ebenso wenig hätte benennen können.

Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass die strahlend helle Freude seiner Vorgesetzten nicht so recht zu dem finsteren Gesamtbild seiner momentanen Umgebung passen wollte.

"Aha", entgegnete er kurz und nichtssagend, ganz einfach deshalb, weil es ihm beim besten Willen nicht der Mühe wert erschien, sich auf Aya vollkommen überzogene Lobeshymne eine passende Antwort einfallen lassen zu müssen. Seine Augen vollführten eine reichlich entnervte Kreisbewegung, was Aya aber natürlich nicht sehen konnte, und so schien ihre gute Laune nicht im Mindesten getrübt, als sie erneut und in umso überschwänglicherer Redseligkeit das Wort ergriff.

"Ich meine... ich hab ja von Anfang an große Stücke auf dich gehalten. Man hat's vielleicht nicht immer so gemerkt, aber ich wusste einfach... du würdest es packen. Du würdest sie umhauen. Du würdest es mit jedem Gegner aufnehmen. Und was soll ich sagen? Du hast sie umgehauen! Und wie!"

"Aya, ich..."

"Nein - keine falsche Bescheidenheit! Du warst großartig!" Hätte Ravin auch nur den geringsten Funken Humor im Leibe gehabt, so wäre ihm spätestens bei diesen Worten die brennende und sicherlich auch nicht ganz unberechtigte Frage in den Sinn gekommen, ob Aya eigentlich wirklich meinte, was sie da eben ins Telefon trällerte, oder ob sie sich (vorsichtig ausgedrückt!) nur ganz einfach über ihn lustig machen wollte. Da dies nun aber leider nicht der Fall war, fragte er sich stattdessen, ob der jungen Frau innerhalb der letzten 24 Stunden eventuell der Verstand abhanden gekommen war - sprach diese Vermutung aber nicht aus. Denn trotz allem war und blieb Aya nun einmal seine Vorgesetzte.

Allerdings mit großem Abstand die seltsamste Vorgesetzte, die er jemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hatte.

"Großartig? Aya, ich weiß wirklich nicht, ob..."

"Ravin, vertrau mir. Weißt du... ich möchte ehrlich zu dir sein. Am Anfang hatte ich bedenken, ob du für diesen Auftrag hier der Richtige bist. Aber jetzt weiß ich, dass meine Entscheidung mehr als nur gut war. Du hast es wirklich toll gemacht, Ravin."

Ravin hielt sein tragbares Kommunikationsgerät ein Stück weit von seinem Gesicht weg, während sich ein tiefer, resignierter Seufzer über seine Lippen stahl. Natürlich konnte er Ayas Freude über den - zumindest von ihrem Standpunkt aus betrachtet - positiven Ausgang ihres ersten Falles verstehen. Ebenso die Erleichterung. Sie hatte eine große Verantwortung auf die eigenen Schultern geladen, war doch immerhin das Gelingen einer der größten und vor allem kostspieligsten Medienereignisse des gesamten Quadranten auf dem Spiel gestanden. Und nach den ersten Rück- und Fehlschlägen war es nun tatsächlich gelungen, dem Sweet Slaughter sein blutiges Handwerk zu legen. Nach eigener Aussage wollte Aya Venelle noch am nächsten Tag einen kleinen Überraschungsbesuch abstatten, ihm großmütig einen Drink spendieren und sämtliche Fakten bezüglich ihres streng geheimen und zu allem Überfluss auch noch erfolgreichen Planes genüsslich zwischen Cocktails und Aschenbechern auf dem gläsernen Tisch ausbreiten.

Sie hatte gesiegt. Hatte triumphiert. Und konnte jetzt die unwahrscheinlich süßen Früchte ihres Erfolges ernten, den Triumph, einem so großen, so mächtigen Mann (mit dem sie ja - wie gesagt - auf irgendeine mysteriöse Art und Weise schon einmal zu tun gehabt zu haben schien, aber über diese Sache wusste Ravin immer noch nichts genaueres zu sagen) auf eigene Faust und ohne dessen Hilfe, ja sogar ohne dessen Wissen aus einer schier aussichtslosen Situation geholfen zu haben. Und das Wissen um diesen Triumph, so schien es zumindest Ravin, war eigentlich das, was Aya mehr als alles andere glücklich und zufrieden stimmte. Mehr als jede Bezahlung, jedes noch so hohe Gehalt.

Und trotzdem wurde Ravin das leise, unbestimmte Gefühl nicht los, dass irgendetwas falsch war.

"Aya... du solltest dich vielleicht nicht zu früh freuen", sagte er, ohne weiter darauf zu achten, ob er seiner Chefin ins Wort fiel oder nicht. Tatsächlich hatte er ihrem Redefluss in den vergangenen Sekunden nicht einmal mehr die geringste Beachtung geschenkt, und so konnte er beim besten Willen nicht sagen, ob Aya zu Beginn seiner Rede nun geschwiegen oder gesprochen hatte.

"Zu früh?" echote die junge Wissenschaftlerin in hörbar irritiertem Tonfall. Zumindest schien sie seine letzten Worte verstanden zu haben, also ging Ravin kurzerhand davon aus, dass sie ohnehin auf eine Antwort von ihm gewartet hatte. Eine Antwort auf eine Frage, von der er nun wiederum nicht das Geringste hatte mitbekommen. Und die ihn eigentlich auch gar nicht weiter interessierte.

"Ja, zu früh. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas gefällt mir nicht an dieser Lösung."

"Das... verstehe ich nicht..." murmelte Aya, nun sogar noch ein wenig ratloser als zuvor. "Meinst du etwa... dass du es nicht verdient hast? Aber wieso denn? Du warst wirklich umwerfend, Ravin!"

"Dass ich es nicht... Aya, ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies hier wirklich unser Problem ist..." entgegnete Ravin, nun seinerseits dezent verwirrt von den doch recht rätselhaften Worten seiner ebenfalls äußerst rätselhaften Vorgesetzten. "Natürlich ist es gut, dass ich sie noch rechtzeitig vor Ende der Veranstaltung gefunden habe. Sonst hätten wir ja eventuell die Bezahlung gar nicht mehr bekommen. Das wäre sicherlich nicht in einem angemessenen Verhältnis im Vergleich zum Aufwand unserer Investigationen gestanden. Aber gerade deshalb wäre es nun falsch..."

"Ravin, wovon sprichst du eigentlich?"

"Ich bin mir selber nicht ganz sicher", antwortete der Weißhaarige und ließ seinen Blick über den Wald aus Metall und Schatten streifen, der ihn umfing. Es war kaum vorstellbar, dass hier, in der stockdunklen, vollkommen verlassenen Arena des Evershine Theater Utopia Buildings noch vor wenigen Stunden eine der größten Showereignisse vonstatten gegangen war, die seine mit rotem Samt bezogenen, schier endlosen Sitzreihen wohl jemals am eigenen, mehr oder minder gemütlichen Leibe hatten erfahren dürfen.

"Nimm es mir bitte nicht übel Ravin, aber den Eindruck habe ich auch. Sag bloß, dein Erfolg ist dir zu Kopf gestiegen?"

"Wieso?" Der junge Soldat legte auf überaus kritische Art und Weise seine Stirn in Falten, was Aya aber natürlich wieder einmal nicht sehen konnte. Dann strich er sich durch sein langes, offenes Haar und fuhr mit gewohnt emotionsloser Stimme fort zu sprechen. "Dies ist nicht der erste Auftrag, den ich erfolgreich beende. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob wir das eigentliche Ziel wirklich erreicht beziehungsweise die gesuchte Person wirklich schon gefunden haben. Irgendetwas ist nicht richtig daran."

"Was denn für eine Person?!" Langsam aber sicher mischte sich Verzweiflung in Ayas Stimme. "Ravin, ich kann dir nicht ganz fo... Moment mal. Du meinst den Sweet Slaughter?"

"Ähm - ja?" bestätigte Ravin, und die eben noch deutlich zu spürende Verwirrung seiner Vorgesetzten war nun voll und ganz auf seiner Seite.

"Ach so! Sag das doch gleich!" Wieder drang ein Lachen durch das kleine Kommunikationsgerät geradewegs an sein Ohr. "Ja, das hast du natürlich auch toll gemacht."

"Und was noch?"

"Na, ich rede vom Halbfinale! Ich... ich musste dich einfach gleich anrufen, du warst so unfassbar toll! Oooh, wie du in diesen Badesachen ausgesehen hast, das war einfach der Hammer! Haaaammer!!! Und dann dieser Fantasy-Look oder was das war, unglaublich! Du hast ausgesehn wie ein Prinz oder so, ach, ich kann mich immer noch nicht beruhigen! Du warst toll, toll, toll! Habe ich schon gesagt, dass du toll warst?!"

"Genau achtmal seit Beginn dieses Gespräches", erwiderte Ravin ungerührt. Und wunderte sich dabei selber, dass er Ayas Redefluss nicht schon viel früher unterbrochen hatte, war er doch eigentlich in eine Richtung gelenkt, die mit seinem wirklichen Anliegen nicht das Geringste zu tun hatte und ihn eigentlich nur wertvolle Minuten kostete, in denen sein Fehlen auf der gleichzeitig stattfindenden Aftershowparty hätte bemerkt werden können.

Vielleicht lag es ja ganz einfach daran, dass die Worte seiner jungen Chefin zumindest eine vage Erinnerung an den wieder einmal mehr als nur überwältigenden Adrenalinrausch in ihm wachriefen, der sein Bewusstsein in den vergangenen Stunden von jeglichem klaren Gedanken erfolgreich hatte abhalten können. Vielleicht war es das Strahlen in ihrer Stimme, das einen Hauch des Funkelns und Blitzens in die leeren, von nächtlichen Schatten durchtränkten Saal zurückzubringen schien. Vielleicht auch nur die (ihm übrigens immer noch unbegreifliche Tatsache), dass dieser Wettbewerb irgendetwas in ihm auszulösen schien, etwas, das seinen klaren Verstand ganz gewaltig störte und beeinträchtigte. Wahrscheinlich, schoss es ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf, war das Erste, was ihm nach Ende dieser ganzen Veranstaltung hier dringendst bevorstand, ein sehr langer, sehr gründlicher Arztbesuch.

Und zwar nicht bei Aya.

"Wow. Hab ich gar nicht bemerkt. Stimmt aber." Am anderen Ende der Leitung ertönte ein leises Geräusch, aus dem Ravin lesen konnte, dass seine junge Vorgesetzte zu Lächeln begonnen hatte. "Aber natürlich hast du Recht. Du siehst nicht nur umwerfend aus, kannst dich bewegen wie ein Profi und hast die Jury und das Publikum ganz offensichtlich wieder einmal umgehauen - du erledigst auch noch deine Arbeit, und zwar richtig gut. Ich hab die Leiche dieser... wie hieß sie doch gleich? So ein seltsamer Name..."

"Ivy", antwortete Ravin kurz und direkt.

"Richtig, Ivy. Ivy McAllison vom Allison Springs Konzern. Ihr Vater ist ein ziemlich hohes Tier. Nicht wirklich reich. Eher... stinkreich. Steinreich. Ganz unvorstellbar reich. Wie auch immer. Jetzt muss er sich wohl einen neuen Erben suchen." Aya atmete zwei-, vielleicht auch dreimal tief durch. Dann schluckte sie, räusperte sich und atmete sogar noch ein weiteres mal tief durch, ehe sie wieder das Wort ergriff. "Ich habe ihre Leiche bereits bekommen. Beziehungsweise das, was davon übrig geblieben ist. Nicht unbedingt viel, hätte aber noch schlimmer kommen können, wenn sie nicht geradewegs in ein offen stehendes Cabrio gestürzt wäre. Der Fahrer war zum Glück gerade nicht anwesend. Stand aber im Parkverbot. Mich würde ja schon irgendwie interessieren, ob er jetzt auch noch einen Strafzettel kriegt..."

"Ich habe sie nicht davon abhalten können", sagte Ravin, und seine Worte klangen weder bedauernd noch entschuldigend, mehr wie eine bloße, nüchterne Feststellung. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil sie zu keinem anderen Zweck gedacht worden waren. Der junge Weißhaarige hörte ein weiteres tiefes Schlucken am anderen Ende der Leitung, und da diesem Schlucken keine Antwort zu folgen schien, fuhr er eben seinerseits zu Sprechen fort. "Ich dachte erst, dass sie über die Feuerleiter fliehen wollte. Danach war sie schon am Rand des Daches. So oder so hat sich dieses Problem erledigt."

"Pro-Problem?"

"Ja, Problem. Der Mörder. Wir sollten ihn aufhalten, schon vergessen? Und wenn der Mörder tot ist, kann er schlecht möglich andere Menschen umbringen. Ich finde das logisch."

"Ja... ja, es ist auch logisch. Aber trotzdem... du sagst das so, als ob... ich meine... als ob's nix wär. Ich... ich hab ja erst schon befürchtet, du würdest nach dem ganzen unter Schock stehen oder so, aber..."

"Warum sollte ich?" fiel Ravin seiner Vorgesetzten in leicht desinteressiert anmutendem Tonfall ins Wort. "Es würde nichts ändern. Außerdem war sie eine Mörderin."

"Aber vollkommen kalt gelassen hat's dich auch nicht. Sonst würdest du ja jetzt nicht mehr darüber nachdenken. Und dass du das tust, hat mir unser kleines Missverständnis von vorhin sogar sehr deutlich bewiesen, also versuch erst gar nicht, zu leugnen..."

"Das ist etwas anderes", entgegnete der Weißhaarige - und wurde dann unfreiwillig unterbrochen, noch bevor er seinen Satz zuende bringen beziehungsweise wie geplant fortsetzen konnte. Denn obwohl er in der Dunkelheit seit jeher gut hatte sehen können, war er nun in einen Teil der Arena geraten, der das Wort Licht vollkommen fremd zu sein schien. Im Gegenteil - hinter dem tiefroten Vorhang, den er während seines gedanken- und ziellosen Spaziergangs in den Schatten des verlassenen Saales passiert hatte, schien die schwere, staubige Luft jegliche Andeutung von Helligkeit förmlich in sich aufzusaugen, um sie noch im Keim zu ersticken.

Es war hier nicht mehr finster. Es war schwarz.

Ravin fühlte etwas Hartes, Kaltes an seinem Fuß, verlor dann begleitet von einem dumpfen metallischen Geräusch sein Gleichgewicht und stolperte einige überaus unelegante Schritte nach vorne, geradewegs in die Mauer aus Schatten hinein. Er verdankte es mehr seinem Glück als seinen (trotz allem natürlich überragend gut geschulten!) Reflexen, dass er während dieser taumelnden Schlacht gegen den endgültigen Sturz nicht einfach gegen irgendein anderes Hindernis prallte oder gar einen plötzlich auftauchenden Abgrund hinabstürzte, um sich den Hals samt etlicher anderer Knochen zu brechen.

Mit leicht beschleunigtem Puls, ansonsten aber weitestgehend unbeschädigt kam Ravin schließlich wieder zum Stehen. Er nahm einige tiefe Züge der alles andere als erfrischenden Luft, blinzelte etliche Male, um seine Augen wenigstens ein kleines bisschen an die Dunkelheit zu gewöhnen und warf dann einen angespannten, argwöhnischen Blick über die Schulter zurück zu jenem Subjekt, das ihn so unsanft ins Schleudern gebracht hatte.

Es war ein Werkzeugkasten. Ein kleines, nun etwas schief dastehendes Viereck aus dunklem Metall, höchstwahrscheinlich Rot, angesichts des akuten Lichtmangels jedoch lediglich als finsterer, schwach schimmernder Fleck auszumachen. Ravin wandte seinen Blick von diesem wenig aufregenden, deswegen allerdings nicht weniger heimtückischen Hindernis ab und musterte so gut es eben ging seine Umgebung. Eine Umgebung, die ihm bislang völlig fremd und... fehl am Platze schien.
 

Er war in den Raum hinter der Bühne geraten. Allerdings nicht in die stilvollen, längst vom Blut ihres gefallenen Kontrahenten gereinigten Schmink- und Umkleideräumlichkeiten, in denen sich die Models ihre überaus knapp bemessene Zeit zwischen den Auftritten vertreiben mussten. Vielmehr hatte er sich geradewegs in das Herz des riesenhaften Gebäudes begeben, in die Schaltzentrale hinter allem Glamour, aller ohrenbetäubenden Musik, aller regenbogenfarbenen Lichteffekte, die den nicht in Worte zu fassenden Zauber, die einmalige Atmosphäre der gesamten Veranstaltung generierte und manipulierte.

Anders ausgedrückt: Ravin stand inmitten der so genannten Technik, einer Halle, die in ihren Ausmaßen denen der ETU-Arena durchaus gleichkam. Die allerdings ungleich gedrückter, zerstückelter, unübersichtlicher wirkte, ganz einfach deshalb, weil sie in erster Linie eines war: voll. Überall ragten Pfeiler aus dünnen metallischen Verstrebungen der Decke entgegen, welche man allerdings (ebenso wie sämtliche andere Begrenzungen des Raumes) nicht erkennen, ja nicht einmal erahnen konnte. Dies lag zum einen natürlich an der allgegenwärtigen Dunkelheit, zum anderen aber an einer wahrhaft labyrinthartigen Konstruktion aus schmalen, mit einem etwa konfettigroßen Lochmuster perforierten Metallplanken, die sich als regelrechtes Straßennetz gut drei Meter über seinem Kopf dahinzogen. Offensichtlich war dies der Weg, auf dem sich die Techniker, Pannenhelfer und auch Pyrotechniker schnell und unsichtbar bewegen konnten.

Dies war übrigens auch bitter nötig. Denn der Boden des riesenhaften Raumes war für so etwas wie Fortbewegung oder gar schnelle Fortbewegung in höchstem Maße ungeeignet. Denn vor allem anderen bestand er aus Kabeln, einzelnen Kabeln, gebündelten Kabeln, mit bunten Klebestreifen markierten Kabeln, sich verzweigenden Kabelsträngen... obwohl sich Ravins kalte Augen mittlerweile schon wieder einigermaßen an das Fehlen von Licht gewöhnt hatten, gestaltete sich der Weg durch die schwarzen Venen des ETU als ein alles andere als leicht zu vollbringendes Kunststück.

Dieses Kunststück, ebenso wie der gesamte bizarre Anblick der nächtlichen Schaltzentrale, fesselte Ravins Konzentration einige Momente lang mit derartiger Macht, dass er die Stimme, die mit wachsender Lautstärke an sein Ohr schallte, nahezu vergaß oder zumindest kaum mehr wahrnahm.

"Ravin? Ravin, was ist passiert? Was ist los mit dir? Bist du noch dran? Ravin, jetzt antworte doch! Antworte! Bitte!!"

Irgendetwas zerschnitt den fast schon tranceartigen Zustand, der kurzfristig von Ravins Sinnen Besitz ergriffen hatte, ließ ihn wie ein plötzlicher, überaus eindringlicher neuer Impuls auffahren, aufblicken - und auch aufhorchen. Die eisblauen Augen des jungen Soldaten glitten über die schwarze Szenerie, die ihn mittlerweile von allen Seiten umgab, das Wirrwarr aus herabhängenden Kabeln, tragenden Pfosten und merkwürdigen Apparaturen, deren mit Knöpfen und Hebeln übersäte Oberflächen in der Dunkelheit merkwürdig verformt und missgestaltet aussahen.

Hätte Ravin auch nur einen Deut mehr Fantasie besessen, als er es nun einmal tat, dann hätte er wahrscheinlich noch in derselben Sekunde auf dem Absatz kehrt gemacht, um verstört und verängstigt in die beruhigende Sicherheit menschlicher Gesellschaft zurückzulaufen. Aber natürlich tat er es nicht, ging stattdessen langsam und vorsichtig weiter voran, tauchte tiefer ein in den momentan außer Betrieb gesetzten Herzschrittmacher ihrer ganzen überzogenen Veranstaltung ein - immerhin fand er hier genau das, was er ursprünglich gesucht, was ihn in die einsam verlassene ETU-Arena zurückgetrieben hatte: seine Ruhe.

"Ja, ich bin noch dran, Aya", antwortete er schließlich auf die immer dringlicheren Aufforderungen seiner Vorgesetzten. Ein leises Echo folgte seinen Worten, mehr ein Nachhall, den Ravin der staubig schweren Luft eigentlich gar nicht zugetraut hatte. Vielmehr schien es, als wäre sie dazu imstande, jegliches Geräusch ebenso zu verschlucken wie das Halblicht, das noch im Zuschauerraum ihres Veranstaltungssaales geherrscht hatte. Offensichtlich ein Irrtum.

"Was war denn los? Du hast plötzlich nichts mehr gesagt!"

"Ich weiß." Ravin konnte sich ein weiteres Augenrollen nicht verkneifen. "Es ist nicht passiert. Ich bin nur gestolpert."

"Gestolpert? Worüber denn?" Am anderen Ende der Leitung erklang ein etwas blechern wiedergegebenes, deswegen aber nicht weniger missglücktes Lachen. "Über eine Leiche?"

"Nein, über einen Werkzeugkasten", verbesserte Ravin und enthielt sich schon mangels jeglicher Motivation in dieser Richtung eines Kommentars bezüglich Ayas reichlich misslungenem Versuch, einen Witz zu machen. Der selbstverständlich nicht lustig gewesen war. Und es auch dann nicht gewesen wäre, wenn Ravin sich überhaupt jemals zuvor in der Lage gefunden hätte, über gleich welchen Witz lachen zu können.

"Warum stolperst du über einen Werkzeugkasten?" hakte Aya in hörbar verwirrtem Tonfall nach.

"Weil es dunkel ist?"

"Weil es... nein, so habe ich das doch nicht gemeint! Bist du nicht auf deinem Zimmer? Was machst du eigentlich grade? Es ist so still bei dir..."

"Natürlich ist es still", erwiderte Ravin. "Um das Gebäude herum sind überall Reporter. Einige davon sogar genehmigterweise. Oben im Hotel ist eine dieser Partys. Da kann ich nicht ungestört reden. Und mein Zimmer ist belegt. Von meinem Zimmerpartner. Und einem der weiblichen Models."

"Verstehe..." murmelte Aya, und ihre Stimme klang mit einem Male wieder ehrlich erheitert. "Und wo bist du dann? Ich meine, wenn nicht im Freien, wenn nicht im Hotel, wo immer diese Partys sind, wenn nicht auf deinem Zimmer..."

"Ich bin in dem Raum mit der ganzen Technik. Unten, in der ETU-Arena. Da ist jetzt natürlich kein Mensch mehr. Wir brauchen also zumindest nicht zu befürchten, dass man dieses Gespräch belauscht."

"Gibt es denn einen Grund, das zu befürchten?" fragte die Wissenschaftlerin und lenkte das Gespräch so endlich wieder auf den Weg zurück, den Ravin an und für sich schon seit ihrem ersten Wortwechsel angestrebt hatte.

"Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich habe das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Ich meine, bezüglich dieser Morde."

"Aber wieso denn?" Ravin meinte, in Ayas Stimme einen ganz leichten Hauch von Unwilligkeit, ja fast schon Trotz erkennen zu können. Eine Reaktion, die ihn durchaus nicht überraschte, stand sie doch im direkten Gegensatz zu dem ausgelassenen Ausdruck sicher geglaubten Triumphs, der ihm noch zu Beginn ihres Gespräches aus dem kleinen Portable Transmitter entgegengestrahlt hatte. Und irgendetwas an diesem angedeuteten Stimmungswandel machte Ravin unmissverständlich klar, dass Aya eigentlich gar nicht wirklich wissen wollte, welchen Fehler Ravin denn nun begangen haben mochte.

Was diesen allerdings - wieder einmal - herzlich wenig interessierte.

"Irgendetwas stimmt nicht", fuhr er ohne jede Rücksicht auf die bislang noch äußerst gute Laune seiner jungen Chefin fort. Diese antwortete prompt mit einem unwilligen Grummeln.

"Das sagtest du bereits", murmelte sie auf mittlerweile reichlich ungeduldige Art und Weise in ihren Telefonhörer. "Aber so ganz langsam erwacht in mir dann doch die Frage, was genau es denn eigentlich sein soll, das da an der ganzen Sache aus irgendwelchen Gründen... nicht stimmt?!"

"Das Schema des Täters", antwortete Ravin und wich mit einem lautlosen Schritt einer großen, glanzlos grauen Kabelrolle aus, die sich nahezu unsichtbar in die Schatten eines metallenen Stützpfosten gedrängt hatte. Nur um auf irgendeinen kleinen, im fehlenden Licht tatsächlich nicht zu erkennenden Gegenstand zu treten, der sich mit erschrockenem Klappern und einem reichlich misslungenen Hechtsprung in die Finsternis des Raumes zu retten versuchte. Der Weißhaarige zuckte kurz zusammen, rief sich allerdings schon im nächsten Augenblick erfolgreich wieder zur Ruhe und ließ sich stattdessen in die Knie sinken, um den feigen Unruhestifter etwas näher unter die Lupe nehmen zu können.

"Was für ein Schema?" erkundigte sich eine ebenfalls nicht unbedingt zur allgemeinen Ruhe beitragende Stimme aus dem kleinen Plastikgerät an seinem Ohr und ließ den jungen Soldaten einige Sekunden lang inne halten. "Bist du jetzt unter die Profiler gegangen oder was ist los mit dir, Ravin?"

"Es passt nicht", antwortete er kurz, ohne dem letzten Teil von Ayas Worten auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Diese war mittlerweile aber sowieso mehr auf das dünne, mit silbernen Ornamenten verzierte Gebilde aus glänzend schwarzem Plastik gerichtet, das klein und unschuldig in seiner linken Hand ruhte. Noch bevor er den Silberdeckel mit einem leisen Klicken zurückschnappen ließ, begriff Ravin, dass es sich um ein Feuerzeug handeln musste - und zwar um ein nicht unbedingt billiges Modell. Jedenfalls keines von der Sorte, das man als Dreierpack im Supermarkt erstehen und gute zwei Wochen später schon wieder in die nächste Mülltonne oder Straßenecke werfen konnte.

"Was soll das heißen, es passt nicht? Was passt nicht? Und wozu passt was nicht?" Ein verzweifelter Seufzer durchdrang die staubig warme Stille des Technikraumes. "Ravin, du sprichst in Rätseln!"

"Im Regelfall hat jeder Mörder ein Motiv, oder?"

"Ausnahmen bestätigen zwar auch hier die Regel, aber egal... lassen wir das." Am anderen Ende der Leitung folgte eine kurze Pause, und es kostete Ravin nicht einmal mehr einen großen Aufwand an Fantasie, um seine Vorgesetzte zur stummen, wenn auch überflüssigen Antwort vor seinem inneren Auge nicken zu sehen. "Motiv und Gelegenheit, so heißt es doch immer. Aber ist denn das so schwer in dem Fall? Diese Ivy schien mir ziemlich besessen davon zu sein, den Wettbewerb gewinnen zu müssen..."

"Aber der Sweet Slaughter war... ist von Schönheit besessen."

"Na und? Da lässt sich doch der eine oder andere Querverweis ziehen, oder?" Aya seufzte erneut, diesmal klang es allerdings schon weitaus beherrschter als noch wenige Augenblicke zuvor. Als sie weitersprach, lag eine Sachlichkeit in ihrer Stimme, die bei der jungen Wissenschaftlerin beinahe schon... unpassend erschien. "Jetzt hör mal zu, Ravin. Ich habe D ins Maze geschickt, dass er dort ein paar Informationen über diese Mrs. McAllison suchen soll. Hat er übrigens auch gemacht. Und wenn man gewissen Gerüchten glauben schenken kann, lief da in ihrer hübschen kleinen Familie einiges nicht so, wie die schöne, nach Geld und Kreditkarten stinkende Fassade es einem vielleicht Glauben machen sollte."

"Soll heißen...?" erkundigte sich Ravin ohne wirkliches Interesse.

"Ganz einfach: Ihr wohlhabendes Väterchen muss ganz schön Dreck am Stecken haben. Stand zweimal wegen dem Verdacht auf Kindesmissbrauch vor Gericht. Hat sich zweimal erfolgreich freikaufen können. Und es heißt, dass er auch vor seinem eigen Fleisch und Blut nicht halt gemacht haben soll..."

"Du meinst..."

"Genau das meine ich. Was natürlich niemals bewiesen werden konnte. Aber die kleine Ivy soll schon immer etwas... wie soll man sagen... seltsam gewesen sein. Es heißt, dass sie ihren Highschool-Abschluss mehr auf dem Schreibtisch des Direx als über ihren eigenen Schulbüchern erarbeitet haben soll. Was aber auch - wie sollte es anders sein? - niemals bewiesen werden konnte. Oh, aber zumindest den Mord an Tara Melvin können wir ihr mittlerweile eindeutig nachweisen."

"Ich habe nie bestritten, dass sie diesen Mord begangen hat. Ebenso wenig den an Chastity Kramer. Aber..." Er stockte und sprach nicht aus, was ihm eben noch auf der Zunge gelegen hatte.

Aber wir müssen den Mord an Chastity Kramer vorerst einmal vollkommen aus unseren Gedanken streichen, wenn wir den Sweet Slaughter zur Strecke bringen wollen.

Ravin hatte die Worte des merkwürdigen Journalisten nicht vergessen. Ebenso wenig wie den Deal, den er mit dem Empathen geschlossen hatte - und der bestimmt zu allem, nur nicht für die Ohren seiner Vorgesetzten bestimmt war. Erstens verspürte der junge Weißhaarige nicht auch nur den geringsten Hauch von Lust, der Wissenschaftlerin diese neuen Umstände erklären zu müssen, zweitens ahnte er, dass für einen erfolgreichen, längerfristigen Handel mit Rafferty vor allem gegenseitige Verschwiegenheit von Nöten sein würde, ebenso wie die Fähigkeit, zu gleich welchen Ungereimtheiten keine Fragen zu stellen.

Beides waren Eigenschaften, die Ravin seiner jungen Chefin auf gar keinen Fall zutraute.

"Aber - was?!" hakte diese beinahe augenblicklich nach und bewies dem Weißhaarigen so wieder einmal auf äußerst eindringliche Art und Weise, dass sie schlicht und einfach nicht dazu imstande war, überhaupt irgendwelche Ungereimtheiten kommentarlos hinnehmen zu können.

"Aber ich habe auf dem Dach noch mit ihr sprechen können", brachte er seinen Satz stattdessen zu Ende.

"Du hast noch mit ihr sprechen können?" fügte Aya einmal mehr in gewohnt kritisch-analysierendem Tonfall hinzu und bekräftigte Ravin so bereits zum zweiten Mal binnen weniger Sekunden darin, über gewisse Angelegenheiten auch in Zukunft lieber Schweigen zu wahren. "Ich dachte, sie wäre plötzlich am Rand des Daches gewesen und gesprungen?"

"Sie hat sich rückwärts fallen gelassen", verbesserte er. "Und sie stand schon auf dem Dachsims, als ich mich ihr genähert habe. Hätte ich mich beeilt, wäre sie schon früher gesprungen."

"Jetzt ist es sowieso egal. Sag lieber, was hast du noch mit ihr besprochen, das dich so plötzlich an deinen hieb- und stichfesten Untersuchungsergebnissen zweifeln lässt?"

"Eigentlich hast du es doch selber schon gesagt", antwortete der junge Weißhaarige. "Sie war besessen davon, den Wettbewerb zu gewinnen. Und auf den ersten Blick ist das auch ein plausibles Motiv, Morde zu begehen. Aber in unserem Fall zeigen sich da deutliche Unstimmigkeiten."

"Und was für Unstimmigkeiten sollen das bitte sein? Ich weiß nicht, ob es dir Spaß macht, stundenlang um den heißen Brei herumzureden, aber... warte mal..."

Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille im dichten Netz der Schatten, das Ravin umfing. Er ließ einen weiteren prüfenden Blick über das Feuerzeug gleiten, das stumm und kühl in seiner Handinnenfläche ruhte, ganz einfach deshalb, weil angesichts der monotonen Dunkelheit seiner näheren Umgebung auch nicht sonderlich viele andere Dinge geblieben wären, die zu betrachten gelohnte hätte. Doch schon eine Sekunde später meinte er, ein äußerst wattstarkes Licht aufgehen zu sehen, allerdings nicht im verlassenen Technikraum, sondern just am anderen Ende der Telefonverbindung.

"Wie blöd bin ich eigentlich?!" ächzte es im Lautsprecher des Portable Transmitters und Ravin zog es vor, diese Frage lieber unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. "Natürlich passt das nicht, hinten und vorne passt das nicht! Wenn diese Ivy unbedingt gewinnen will und dafür sogar im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht..."

"...warum tötet sie dann ausgerechnet diesen Sean und einen weiteren jungen Mann, obwohl weder der eine noch der andere Konkurrenz für sie dargestellt hätte?" führte Ravin den Gedanken der jungen Wissenschaftlerin an deren Stelle zu Ende. "Das ergibt keinen Sinn. Außerdem kommt hinzu, dass die Morde auf vollkommen andere Weise ausgeführt wurden als die übrigen."

"Das stimmt allerdings!" Aya stieß geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen hervor. "Wenn wir uns wirklich mal an diese ganze Geschichte von wegen... Mord aus Schönheit halten wollen - und soweit ich dich richtig verstanden habe, wollen wir das -, dann passen die Morde wirklich nicht zusammen. Ich zumindest kann nicht unbedingt was Ästhetisches daran finden, jemanden von einem herabfallenden Scheinwerfer zermatschen zu lassen. Gut, ich finde auch abgezogene Gesichter und blutige Stahlkabel nur ganz bedingt... ähm... schön, aber auf so eine verdrehte Art und Weise passt es eben doch alles gut ins Bild."

"Eigentlich deutet alles darauf hin, dass es noch einen zweiten Täter gibt", sprach Ravin endlich aus, was er die ganze Zeit über hatte andeuten wollen. "Es ist... purer Zufall, dass die Morde an Tara und Chastity mit den Morden des echten Sweet Slaughter auf ein und dieselbe Veranstaltung fallen."

"Oder die übrigen Morde waren nur eine Art... Tarnung... oder Ablenkungsmanöver."

"Bliebe wieder die Frage nach dem... Schema." Aus irgendeinem Grund missfiel es dem jungen Weißhaarigen, dass er mittlerweile schon ganz automatisch in den Bahnen dachte, ja sogar die Wörter und Ausdrücke verwendete, die Rafferty ihm an jenem Abend ihrer ersten Begegnung vordiktiert hatte. Aber Ravins praktischer Verstand war nun einmal größer als jeder falsche Stolz, der ihn an der Beschreitung vorgegebener Wege verhindert hätten, zumal ihre Richtung mehr als jede andere dem eigentlich Ziel entgegenzuführen schien. "Die Möglichkeit besteht zwar, aber sie ist nicht sonderlich wahrscheinlich."

"Das denke ich eigentlich auch", stimmte Aya in nachdenklichem Tonfall zu, dessen sachliche Kühle jedoch immer noch nicht ganz den Schleier der Enttäuschung verbergen konnte, der sich über die heitere Stimme der jungen Wissenschaftlerin gelegt hatte wie eine einzige Regenwolke an einem sonnigen Nachmittag. "Leider. Aber du hast natürlich recht. Es könnte unter Umständen ein klein wenig problematisch werden, wenn ich morgen früh voll Stolz und Hohn in Venelles Zuhälterbude spaziere und ihm mit Siegesfanfaren meinen Triumph verkünde, nur um dann wenige Stunden später einer weiteren Leiche ins hautlose Gesicht blicken zu müssen."

Sie seufzte noch einmal (tiefer, resignierter noch als zuvor) und ein leises Atemholen verriet Ravin, dass sie wohl gerade zu einem weiteren niedergeschlagenen Monolog ansetzen wollte, als ihr mit einem Mal ein merkwürdiges Geräusch ins Wort fiel, das Ravin durch den Lautsprecher seines Transmitters hinweg nur als leises, wenig aussagekräftiges Surren ausmachen konnte.

"Oh, warte mal", hörte er die Wissenschaftlerin rufen, wobei er sich nicht ganz sicher war, ob die Worte ihm oder dem unbekannten (und höchst wahrscheinlich menschlichen) Wesen gegolten hatten, das jenes undefinierbare Geräusch verursachte hatte, in jedem Fall ließen sie ihn ganz instinktiv in der Bewegung verharren und stehen bleiben.

Eine Reaktion, die ihm mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben rettete.

Er begriff es nicht sofort, eigentlich sogar erst viel später, als der nadelfeine, kurz im gelblich weißen Neonlicht des Portable Transmitter-Displays aufblitzende Gegenstand schon längst an ihm vorbeigesurrt war, gute fünf Zentimeter von jener Stelle entfernt, an der sich nach den Gesetzen der Motorik sein Hals hätte befinden müssen, wäre er nicht unvermittelt zum Stillstand gekommen.

"Nicht auflegen, ja?" säuselte es auf leicht gehetzt anmutende Art und Weise in sein Ohr. "Ich bin sofort wieder da, Ravin."

Dann ertönte ein leises Klacken am anderen Ende der Leitung, gefolgt von einem seltsamen Rauschen, das sich nur mit viel Fantasie als weit entferntes Stimmengewirr ausmachen ließ.

Irgendwo in der Dunkelheit ertönten Schritte.

"Aya?" stieß Ravin mit flacher, möglichst leiser und dabei doch deutlicher Stimme in den Lautsprecher des kleinen Kommunikationsgerätes, wartete aber vergebens auf eine Antwort. Natürlich. Was erwartete er auch? Seine Vorgesetzte hatte den Hörer ganz offensichtlich beiseite gelegt, und die verschwommene Undeutlichkeit der Unterhaltung, die sie in nicht unbedingt leisem Tonfall zu führen schien, sprach Bände von der tatsächlichen Entfernung, die sie mittlerweile zu ihrer Telefonanlage gewonnen hatte.

Alles in allem keine gute Vorraussetzung, um sich Gehör zu verschaffen, und das wurde auch Ravin nur allzu schnell bewusst. So verzichtete er kurzerhand darauf, weitere kostbare Sekunden zu verschenken, in denen er orientierungs- und deckungslos in der Dunkelheit verharrte, nahm eine leicht geduckte Stellung ein und bewegte sich mit raschen, aber möglichst lautlosen Schritten auf einen nahe gelegenen, größeren Gegenstand zu, den er mit viel Mühe und gutem Willem als Schaltpult ausmachen konnte. Seine Oberfläche war rau, wie von quadratischen, unregelmäßig gezackten Pocken übersäht, die er im Näherkommen als eine ganze Armee von Schaltern und Knöpfen ausmachen konnte.

Er duckte sich hinter das sperrige schwarze Gestell und erfasste kurz und präzise seine Umgebung. Oder zumindest das, was sich angesichts der allgegenwärtigen Dunkelheit überhaupt noch davon erkennen ließ. Das war in erster Linie das Netz aus Stahlträgern, das sich in seinem schwachen metallischen Glanz deutlich von der konturlosen Schwärze der darüber liegenden Decke abhob und ein überaus hässliches Muster abgehackter, asymmetrischer Zacken in die nächtliche Finsternis riss. Ab und an war das durchstoßene Silber von schlingpflanzenartigen Kabelgeschwülsten befallen, die zusammen mit der bestenfalls zu erahnenden Landschaft aus missgeformten, schwebenden Straßen, nackten Metallpfeilern und einer dumpfen Skyline undefinierbarer Bauten und Auftürmungen mehr dem ewig nächtlichen Bild einer apokalyptischen Großstadt denn einem simplen Technikraum glichen.

Einem simplen, großen und vor allem ganz verflucht unübersichtlichen Technikraum, wie Ravin nur allzu bald feststellen musste.

Was er nicht sah, war auch nur die geringste Spur menschlichen Lebens - oder sonst irgendetwas, das Motiv und Gelegenheit dazu gehabt hätte, mit irgendwelchen surrenden, silbern blitzenden Gegenständen auf ihn zu schießen. Und trotzdem wusste er, dass er sich den rasenden Reflex nicht einfach nur eingebildet hatte. Ebenso wenig wie die verhaltenen Schritte, die er auch jetzt noch leise und ohne ihre Richtung ausmachen zu können wahrzunehmen glaubte...

Oder huschte da nicht ein Schatten über das kleine Lochmuster der Metallplatten, geradewegs über seinem Kopf?

Ravin hatte nicht vor, lange genug zu warten, um es am eigenen Leibe erfahren zu können. Er spannte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an, ging wieder in seine halb geduckte, aber immer noch äußerst bewegliche Körperhaltung über und drückte sich dann mit einem lautlosen Stoß von der pechschwarzen Wand ab. Er eilte um einen der Stahlträger herum, stets bemüht, ein möglichst dichtes Netz an Kabeln in seinem Rücken zu halten, das dem unsichtbaren Schützen das Zielen so weit wie nur irgend möglich erschweren sollte. Was diesen allerdings herzlich wenig interessierte, denn schon im nächsten Augenblick zerschnitt ein erneutes Surren die warme, schwere Nachtluft, und diesmal erschien es Ravin sogar noch ein bisschen näher als zuvor.

Trotzdem zwang er sich dazu, in seinen Bewegungen inne zu halten, um erst einmal nach jener Orientierung Ausschau zu halten, die er schon vor etlichen Minuten irgendwo in der Finsternis verloren hatte. Seine kalten Augen glitten durch die Alptraumlandschaft aus Schatten und missgebildeten, sinnlosen Konturen, doch jede Richtung schien wie die andere, frei von jeglicher verräterischer Spur, die den Eindruck eines Texturwechsels von Wand zu Vorhang angedeutet hätte - ja, wenn man es genau nahm, sogar frei von überhaupt irgendeinem Wechsel oder sonst etwas, anhand dessen er sich hätte zurechtfinden können.

Mit einem tiefen, lautlosen Atemzug warf Ravin den Gedanken einer planvollen Flucht kurzerhand über Bord und beschloss stattdessen, sich voll und ganz auf seine scharfen Sinne und jene merkwürdige Macht mit Namen Zufall zu verlassen. Wobei Ravin selbst überhaupt nicht an so etwas wie Zufall glauben konnte, war es doch nichts weiteres als ein krampfhaft mystifizierendes Wort, das die Menschheit der natürlichsten Sache der Welt zugedacht hatte: dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Jemand handelte und löste dadurch eine Reaktion aus, die seinem Handeln in logischem Maße entsprach. Da gab es keine höheren Mächte, kein übersinnliches Karma, kein Schicksal aber eben auch keinen Zufall.

Was geschah und warum es geschah, war nichts anderes als eine Kette von Vorgängen, von Milliarden kleinen Faktoren, die auf komplexeste Art und Weise zusammenspielten, und von deren Ergebnissen, die dann wiederum neue Prozesse in Gang setzten. Eines dieser unzähligen Zahnrädchen war er - ein anderes der Schatten, der sich nun deutlich langsamer über seinen Kopf hinwegbewegte, suchend, lauernd... Jäger und Gejagter, nur dass Ravin an diesem Abend seine gewohnte Rolle aufgeben und sich als Opfer durch die immerwährenden Triebfedern kämpfen musste, die das Leben in Gang hielten, es lenkten und hier und dort auch zum Stillstand brachten.

Von besagtem Stillstand war Ravin allerdings momentan noch meilenweit entfernt, auch wenn er sich so langsam, nahezu schleppend bewegte, als ob der Film seines Daseins in Zeitlupe geraten wäre, aus der er sich nun nicht mehr zu befreien wusste. Umso schneller ging jedoch sein Atem, ebenso wie der Schlag seines Herzens, der mit einem dröhnenden Vibrato in seinen eigenen Ohren widerhallte und ihm das Lauschen so auf unangenehme Art und Weise erschwerte. Dabei war es Ravin an und für sich überhaupt nicht gewohnt, Angst zu haben. Das Gefühl war ihm natürlich nicht fremd - die bloße Tatsache, am Leben zu sein, bedingte ja eigentlich schon, Angst verspüren zu können -, aber es hatte auf eine Art und Weise Überhand gewonnen, wie sie Ravin zutiefst beunruhigte, fast noch mehr als das Faktum, dass er fast blind und orientierungslos durch ein Meer aus Dunkelheit irrte.

Und den Sweet Slaughter sozusagen im Nacken sitzen hatte.

Denn dass es sich bei seinem Verfolger um keinen anderen handeln konnte, das war Ravin ebenso klar wie die äußerst unangenehmen Vorteile, die sein Jäger ihm voraus hatte. Da war natürlich einmal die Sache mit der Perspektive, oder anders ausgedrückt: Der Schlachter war über ihm, konnte auf ihn hinabblicken, hatte Übersicht (so weit man in der triefenden Finsternis überhaupt von so etwas wie Sicht sprechen konnte) und ein weit besseres Auge auf die Gesamtsituation. Und schien sich im Gegensatz zu Ravin auch nicht in der überaus misslichen Lage zu befinden, sich mit schneeweißen Haaren und fast ebenso heller Haut in einer Umgebung verbergen zu müssen, die eigentlich nur aus Schwarz zu bestehen schien.

Der junge Soldat wusste, dass er im Einheitsdunkel seiner Umgebung tatsächlich so etwas wie eine wandelnde Zielscheibe darstellte, während sich sein ungleicher Gegner sogar ganz ausgezeichnet zu verbergen wusste. Ab und an hörte er ein leises, aber wenig aussagekräftiges Rascheln, nahm einen Schatten wahr, und mühte sich, stets eine zu diesem Geräusch entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Der Kabelwald zu seinen Füßen machte die Sache nicht unbedingt einfacher, und so artete seine schleichende Flucht in einen absurden Balanceakt aus, der unter jeden anderen Umständen wahrscheinlich furchtbar lächerlich ausgesehen hätte.

Vorausgesetzt, man hätte überhaupt irgendetwas sehen können.

Was leider immer noch nur in nur äußerst begrenztem Maße der Fall war, so sehr Ravin seine Sinne auch anzustrengen versuchte. Er mühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen, einige Augenblicke sogar ganz verstummen zu lassen, und lauschte in die Dunkelheit hinein. Nichts. Dann ein leises Klappern von Rechts. Vielleicht Schuhe auf Metall. Vielleicht auch nur tückisches Trugbild seiner überreizten Wahrnehmung. In jedem Fall mehr, als er von jeder anderen Seite hätte erkennen können.

Ein Schritt nach Links, langsam, tastend, dann ein weiterer. Irgendetwas Weiches war unter der Sohle von Ravins Stiefeln, wurde prompt vom Gewicht seines Körpers zerquetscht und gab ein plastikartiges Knistern von sich. Eine Tüte? Eine Folie? Der Weißhaarige konnte es beim besten Willen nicht sagen, bemühte sich aber anschließend um einen noch vorsichtigeren Schritt, um die unerwartete Geräuschquelle nicht noch weiter zu strapazieren. Seine Hände waren prüfend vor den Körper ausgestreckt, suchten nach Hindernissen, nach Begrenzungen... nach dem rettenden Ausgang aus der Nacht, die ihn umfing...

Und stießen dann unvermittelt gegen etwas Hartes, Kaltes. Ravin fuhr prüfend mit seinen Fingerkuppen nach allen Seiten, konnte aber kein Ende der offensichtlich pechschwarzen Barriere ausmachen und stufte sie so kurzerhand als Wand ein. Dies konnte allerdings vieles bedeuten. Zum Beispiel eine erlösende Nähe zu dem Vorhang, der ihn überhaupt erst in diese missliche Lage geführt hatte. Oder die größtmögliche Entfernung zu selbigem Punkt der gigantischen Arena, nämlich die ihm exakt gegenüberliegende Mauer.

Ravin atmete tief durch und besann sich zur Ruhe. Vorhang hin oder her - auf jeden Fall hatte er eine Zimmerwand vor sich. Und Wände besaßen im Allgemeinen Türen. Die verschlossen sein konnten. Die aber zumindest schon einmal einen guten Ansatz boten, aus der pechschwarzen Hölle entkommen zu können, in die er sich höchstpersönlich manövriert hatte. So tastete sich der Weißhaarige langsam und vorsichtig an der glatten, im Vergleich zur Luft sogar angenehm kühlen Fläche entlang, suchte nach Unebenheiten, nach Metall, eben nach irgendetwas, das auf einen Ausgang gleich welcher Art hinweisen konnte.
 

Ein sicherlich gut durchdachter Schritt, der aber nach jenem uralten Gesetz von Ursache und Wirkung erstmals in eine vollkommen falsche Richtung führte.

Das sollte auch der junge Soldat schon sehr bald begreifen - allerdings auf eine Art und Weise, die er lieber gar nicht hatte kennen lernen wollen. Leider schien das seinen unsichtbaren Jäger herzlich wenig zu interessieren, denn dieser war mit einem Mal genau über ihm. Ravin sah seinen Schatten, er sah ihn sogar noch Sekundenbruchteile, bevor der rasende Schmerz in seinem Bein aufflammte, der ihn einen Augenblick lang im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie zwang. Doch dieses Erkennen nutzte ihm herzlich wenig, denn schon im nächsten Moment wurde sein ganzer Verstand, seine Konzentration, seine bis zum zerreißen gespannte Wahrnehmungsfähigkeit ergriffen und entflammt von einem wahren Sturm aus Flammen, der ihm wenige Sekunden lang die Luft zum Atmen raubte.

Er merkte kaum, wie er vornüber kippte, wie er hart auf dem Boden des Technikraumes aufschlug und sich zu allem Überfluss auch noch ein verhältnismäßig dünnes, dafür aber freundlicherweise noch von einer überaus scharfkantigen Plastikdichtung umschlossenes Kabel mitten in sein Knie bohrte. Der dumpfe Schmerz des Aufpralls wurde förmlich verschluckt von dem wahrhaft brutalen Stechen, das sich ihm wie eine ganze Armada glühender Dolchklingen in den Oberschenkel rammte. Es kostete Ravin unendlich viel Kraft und beinahe noch mehr Überwindung, den Blick zu senken, um den Herd dieser hinterhältigen Attacken zu analysieren, und im ersten Moment konnte er ohnehin nichts erkennen, da die plötzliche Bewegung ein derart hysterisches Flimmern vor seinen Augen wachgerufen hatte, dass ihn beinahe endgültig der Schwindel übermannte.

Ravin blinzelte tapfer und nahm schließlich einen erstaunlich kleinen, schneeweißen Gegenstand wahr, der aus dem schwarzen Stoff seiner Hose hervorragte. Er streckte seine Hand danach aus, schloss sie um das weiche Ende geheimnisvollen Schmerzensbringers und zog daran - eine Aktion, die er noch im selben Augenblick aus tiefstem Herzen bereute. Denn wenn schon das Eindringen des Geschosses schmerzhaft gewesen war, so war sein Entfernen nur noch mit dem Wort unerträglich zu beschreiben. Einen Moment lang rechnete der junge Soldat allen Ernstes damit, sein Bein schlicht und einfach explodieren sehen zu müssen und er sackte unweigerlich weiter in sich zusammen, unfähig, sein Gewicht noch länger mit den Armen abstützen zu können. Ein Zittern lief durch seine Muskeln, so heftig wie bei einem todbringenden Fieberschub, und für den Zeitraum einiger Sekunden musste er nicht nur beinahe, sondern tatsächlich das Bewusstsein verloren haben, denn als er langsam wieder zu Sinnen kam, da lag er auf dem Rücken, die Arme fest um den Körper geschlungen.

Von dem Schmerz war nicht mehr viel übrig geblieben.

Die Erkenntnis irritierte Ravin so sehr, dass er sich im ersten Augenblick sogar noch ungleich gelähmter fühlte als zuvor. Dann jedoch stemmte er beide Hände gegen den Boden und rappelte sich zwar unbeholfen, aber dennoch erfolgreich wieder auf. Ein unangenehmes Pochen war an jener Stelle übrig geblieben, an der ihn - ja was eigentlich? - getroffen hatte, das dann und wann auch noch zumindest in die Richtung des Stechens abglitt, als das es sein unseliges Dasein begonnen hatte. Doch es war trotz allem eines - erträglich. Es erlaubte Ravin zu denken, zu handeln und sich endlich nach jenem mysteriösen Etwas zu bücken, mit dem die ganze Leidensgeschichte überhaupt erst begonnen hatte.

Der Weißhaarige warf einen letzten, prüfenden Blick nach oben, doch sein tödlicher Schatten war nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich, schoss es ihm durch den Kopf, machte sich dieser gerade auf die Suche nach einer Möglichkeit zum Abstieg. Keine sonderlich beruhigenden Aussichten, und ein sehr überzeugendes Indiz mehr für die Tatsache, dass ihm langsam aber sicher die Zeit davonlief. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mit einer raschen Bewegung das tückische weiße Etwas aufzuheben, dessen Auswirkungen immer noch lebhaft mitten in seinem Oberschenkel hausten, um sich an seinem Fleisch gütlich zu tun.

Es war eine Feder. Oder zumindest etwas, das auf den ersten Blick einer Feder glich, auf den zweiten Blick jedoch vielmehr einer äußerst extravaganten Waffe, denn der Schaft des gebrechlichen Gebildes glänzte zweifellos metallisch, war gute zehn Zentimeter breit, aber hauchdünn, und roch merkwürdig. Obwohl Ravin nicht einmal die geringste Ahnung davon hatte, wie eine Feder denn eigentlich hätte riechen müssen, erschienen ihm die schwachen Ausdünstungen dieses reichlich unsympathischen Artenvertreters in jedem Fall... bemerkenswert. Und das auf eine ganz und gar unangenehme Art und Weise.

Von der zerbrechlich feinen Klinge des seltsamen Wurfgeschosses rannen dünne Fäden roten Blutes, über dessen Ursprung Ravin natürlich nicht lange nachdenken musste. Was ihn jedoch umso mehr verwunderte, das war ein fast schön bläulich schimmernder, zähflüssiger Schleim, der sich in einer derart dünnen Schicht um das silbrige Metall gelegt hatte, dass er dem jungen Soldaten überhaupt erst auf den zweiten Blick ins Auge fiel. Hier und dort, wo das weitaus dunklere Blut die blanke Oberfläche nicht in Beschlag genommen hatte, da blitzte die seltsame Flüssigkeit auf fast schon schüchterne Art und Weise hervor. Und nun, da er sie erst einmal bemerkt hatte, war sich Ravin mit einem Mal fast schon sicher, dass es ebendieser Hauch von Blau sein musste, der den seltsamen Geruch verströmte, den Ravin weder kannte noch einzuordnen vermochte.

Ihm blieb keine Zeit mehr, sich länger über dieses Mysterium den Kopf zu zerbrechen, denn noch in der nächsten Sekunde gesellte sich zu dem pochenden Schmerz in seinem Oberschenkel ein zweiter, der ihn diesmal geradewegs in die Schulter traf und der ihm beinahe noch brutaler erschien, als sein unliebsamer Vorgänger es bereits gewesen war. Der Weißhaarige keuchte, ließ sich von dem schneeweißen Angreifer jedoch keineswegs mehr überraschen oder überwältigen. Stattdessen fuhr er auf dem Absatz herum, straffte seinen Körper, so weit es eben noch möglich war, und stürzte dann humpelnden Schrittes geradewegs in die Dunkelheit hinein.

Es war ein Spießrutenlauf, wie er ihn selten zuvor in seinem Leben hatte ertragen müssen. Denn obwohl Ravin aus seinem Fehler gelernt und die zweite tödliche Feder in weiser Voraussicht an ihrem Platz zwischen Hals und Schulterblatt hatte ruhen lassen, war der halbseitig stark behinderte Lauf durch das Labyrinth aus halsbrecherischen Kabelsträngen, Pfosten, Pulten und Dunkelheit fast schon mehr, als er kräftemäßig bewältigen konnte. Was seine Aufgabe nicht unbedingt erleichterte war die ganz und gar unliebsame Tatsache, dass er dann und wann auch noch das Kunststück bewältigen musste, den Federgeschossen auszuweichen, die sich scheinbar von allen Seiten zu einer blutigen Hetzjagd zusammengeschlossen hatten.

Von wegen Suche nach einer Möglichkeit zum Abstieg, schoss es ihm durch den Kopf. Der Sweet Slaughter hatte seinen Posten hoch über Ravins Kopf keineswegs aufgegeben - im Gegenteil. Noch während er halb lief, halb humpelte, während er sich mit aller Kraft seines Willens dazu zwang, die Schmerzen in seinem Körper zu ignorieren, die sich mittlerweile von ihren Herden gelöst hatten und munter durch seine Arme und Beine bis in die Brust hinein wanderten, begriff er, dass er die ganze Zeit über nur einem grausamen Spiel gefolgt war, dessen Regeln der Schlachter höchstpersönlich bestimmt hatte. Er hatte sich blind und naiv in eine Ecke treiben lassen, hatte seinem Gegner Zeit gegeben, Zeit zu zielen - Zeit zum Angriff.

Nun war die eigentliche Jagd eröffnet worden, die Jagd auf ein angeschossenes, hilfloses Beutetier, das eigentlich überhaupt keine Chance mehr hatte. Das aber nichtsdestotrotz um sein Leben lief, obgleich seine Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden schienen, bis Ravin irgendwann wirklich und wahrhaftig meinte, dass sich seine Füße in tonnenschwere Gewichte verwandelt hatten und auf seinen Schultern prall gefüllte Sandsäcke lasten würden.

Eine Last, die zu tragen er zwar gerade noch imstande war - die aber wirklich schnelle Bewegungen zu einem Ding der Unmöglichkeit werden ließ, zumal der Weißhaarige ohnehin kaum noch die Konzentration aufzubringen vermochte, auf das schwarze Wirrwarr zu achten, das den Boden wie zentimeterdicke Spinnennetze bedeckte und ein sicheres Laufen schon unter normalen Umständen verwehrt hätte. Auch ohne zwei Wunden, deren fast schon lachhaft geringes Ausmaß einen ganz und gar unverhältnismäßigen Orkan von Schmerzen in ihm toben und wüten ließ.

Es war genau dieser Mangel an Reaktionsfähigkeit, der seiner Flucht ein rasches, aber unschönes Ende bereiten sollte. Denn obwohl er die Feder, die in einer schnurgeraden Bahn fast unmittelbar auf ihn zuraste, mehr intuitiv als wirklich mit Augen und Ohren wahrnehmen konnte, war er schlicht und einfach nicht mehr im Stande dazu, ihr noch ausweichen zu können. Alles, was Ravin in einer letzten Woge von Überlebenswillen noch zustande bringen konnte, war ein reichlich unbeholfener Schritt nach vorne - ein Schritt, der ihn gerade noch davor retten konnte, dass sich das harmlos surrende Geschoss tatsächlich in seinen Nacken bohren konnte.

Stattdessen traf es ihn in den Rücken. Und rief dabei eine Reaktion in ihm wach, die bei weitem über das Maß hinausging, als er ertragen konnte. Hatten die vorigen gefiederten Pfeile geschmerzt, sogar ganz unglaublich stark geschmerzt, so war ihnen doch zumindest ein gütiger Vorzug eigen gewesen - der Schmerz hatte sich zumindest mehr oder weniger auf den Punkt begrenzt, an dem sie die Haut des jungen Soldaten durchstoßen hatten. Gut, diese Grenzen waren später noch gehörig verwischt worden, aber bis dahin war das Pochen, das Stechen und Hämmern doch zumindest auf ein einigermaßen erträglichen Grad zurückgeschraubt worden.

Diesmal fühlte es sich so an, als ob Ravins gesamter Körper von der Mitte heraus zerreißen würde, auf einen Schlag und doch quälend langsam, in jedem Fall aber derart infernalisch, dass der Weißhaarige sich nicht mehr länger auf den Beinen halten konnte. Von seinem eigenen Schwung getrieben taumelte er noch zwei oder drei Schritte vorwärts, bevor schlichtweg vornüber kippte, mit der Schulter aufschlug (natürlich - wie hätte es auch anders sein können? - geradewegs mit der Schulter, in der es sich die zweite treffsichere Feder bequem gemacht hatte), eine unglückliche Rolle seitwärts vollführte und noch einige Meter über Kabel und Boden schlidderte, bis er schließlich an einem der stählernen Pfeiler zum Liegen kam.

Mehr oder weniger.

Denn der Schmerz, der immer noch durch jede einzelne Faser seines Körpers raste, war viel zu schlimm, als dass er ihm Ruhe und Benommenheit hätte gewähren können. Mit dem letzten Treffer war auch das fast schon krampfartige Zittern zurückgekehrt, diesmal jedoch von einer bislang unbekannten Hartnäckigkeit beseelt, die das überaus qualvolle Gesamtbild nicht unbedingt beschönigen wollte. Und so sehr er sich auch bemühte, nun wollte es Ravin nicht mehr gelingen, die Schmerzensschreie zurückzuhalten, die ihm heiß und unbarmherzig in der Kehle brannten, ohne wirklich Linderung bringen zu können.

Vermutlich wäre genau dieser Zustand sein sicherer Tod gewesen, hätten die trüben Augen des jungen Soldaten nicht in genau diesem Moment einen schwachen, aber doch unübersehbaren Lichtstreifen wahrgenommen, der gute drei Meter zu seiner Linken in das Schattennetz des Technikraumes sickerte. Zugegeben - es war ein mehr als nur kläglicher Leuchtstreifen am Horizont, aber er ließ Ravin nach einigen weiteren Sekunden der Lähmung doch zumindest eines begreifen: Wie nahe er dem Ausgang tatsächlich gekommen war.

Zwei, drei Meter... keine unbedingt große Distanz. Aber trotzdem mehr, als er jetzt auch nur in Gedanken bewältigen konnte. Seine Beine schienen wie gelähmt zu sein, waren vom Pulsrasen des Schmerzes in ein dumpfes Kribbeln hinübergeglitten. Der Rest seines Körpers fühlte sich in etwa so an, als ob man ihn mit Benzin übergossen und dann auf den Gipfel eines Scheiterhaufen gefesselt hätte - er brannte, stach ab und an, zeichnete sich aber in jedem Fall dadurch aus, dass er ganz verflucht weh tat.

Und trotzdem: Was waren schon zwei Meter? Kaum mehr als vier, vielleicht auch fünf seiner unbeholfenen Schritte. In seiner momentanen Verfassung immer noch ein schier unüberwindlicher Kraftakt, sicher... aber wirklich unmöglich? Nein, das konnte nicht sein, das konnte und durfte nicht sein, dass er sich von lächerlichen zwei oder drei Metern das Leben nehmen ließ! Die Chancen, dass er dem Sweet Slaughter überhaupt noch entkommen konnte, mochten nicht unbedingt zu seinen Gunsten ausfallen, soviel stand fest. Aber sie wurden ganz bestimmt nicht besser dadurch, dass er jetzt resignierte und mit samt seiner Schmerzen und der lähmenden Schwäche liegen blieb.

Ravin zwang sich zu einem tiefen Atemzug (der - wie nicht anders zu erwarten - in erster Linie dazu beitrug, das Messer, das ohnehin schon in seiner Lunge gesteckt hatte, noch das eine oder andere Mal im Kreise zu drehen), dann hob er mit einer nahezu unvorstellbaren Kraftanstrengung die Arme und schloss seine Hände fest um die metallenen Verstrebungen des Pfeilers, der seiner unsanften Schlitterpartie auf noch viel unsanftere Art und Weise ein Ende gesetzt hatte. Und obwohl es eine weitere Explosion durch seinen gesamten rechten Arm trieb, spannte er die Muskeln in beiden Schultern, zog sich Strebe um Strebe nach oben, bis er schließlich keuchend und am ganzen Körper zitternd auf die Füße kam.

Immerhin - er stand. So weit, so gut. Nun erwartete ihn der weitaus schwierigere Teil der Geschichte, das Kapitel mit dem unschönen Namen Fortbewegung, das zu lesen er eigentlich nicht einmal die geringste Lust verspürte. Das er aber leider Gottes auch nicht einfach überblättern konnte, und da ihm eben keine Wahl blieb, fügte er sich sogar erstaunlich schnell in sein Schicksal und setzte vorsichtig einen Fuß nach vorne.

Falsche Strategie.

Schon allein die Zeit, in der sich die eine Fußsohle im Schwebezustand zwischen Himmel und Erde befand, reichte beinahe aus, um ihn postwendend wieder zu Fall zu bringen. Und das unausweichlich folgende Aufsetzen des verletzten Beines, das sich erschrocken von der plötzlichen Last des Körpergewichtes bei aller Taubheit doch noch einmal zu einem empörten Schmerzensstich hinreißen ließ, gab ihm endgültig den Rest. Ravin hatte es einzig und allein der stützenden Anwesenheit besagten Pfeilers zu verdanken, dass er nicht mit sofortiger Wirkung wieder zusammenbrach - ein Sturz, der mit großer Gewissheit sein letzter gewesen wäre, denn noch einmal würde er die Kraft zum Aufstehen nicht mehr zusammentreiben können, das wusste er mit einer wahrhaft entsetzlichen Gewissheit.

Aus irgendeiner Richtung ertönte ein Geräusch. Ravin konnte es weder orten noch bestimmen, doch es tat sein übriges dazu, ihm die tödliche Gefahr ins Bewusstsein zurückzurufen, in der er immer noch in unverändertem Maße schwebte. Aber was sollte er tun? Selbst wenn es ihm gelingen würde, die Finsternis des Technikraumes hinter sich zu lassen, stand ihm immer noch der Weg aus der ETU-Arena samt anschließendem Fußmarsch auf die Siegesfeier bevor. Und dass er es nicht mehr fertig bringen würde, sich durch das Labyrinth der Lüftungsschächte hinaus ins Freie zu kämpfen, wenn er kaum zwei Schritte aufrecht zustande bringen konnte, das war mehr als nur einleuchtend.

Und trotzdem - irgendetwas in ihm pochte beharrlich darauf, dass die Situation doch einiges von ihrem Schrecken verlieren würde, wenn er seinen Feind nur endlich sah... wenn er wusste, mit wem er es denn eigentlich zu tun hatte. Denn das zumindest war ein Rätsel, das er vor seinem Tod noch in jedem Fall zu klären beabsichtigte. Allerdings konnte er das ganz bestimmt nicht erreichen, wenn er auch noch die nächsten Stunden damit zubrachte, sich um Gleichgewicht und Atem ringend an den ewig gleichen Stützpfeiler zu klammern, also riss er sich zusammen und tat das Einzige, was ihm in dieser ganzen absurden Lage überhaupt noch einfiel.

Er begann zu rennen.

In dem Moment, in dem Ravin begriffen hatte, dass ihn Vorsicht nicht weiterbringen konnte, schmiss er kurzerhand alle Bedenken und Zweifel über Bord und warf sich stolpernd vorwärts, geradewegs dem blassen, staubigen Lichtschein entgegen. Er wusste, dass er ganz unweigerlich stürzen musste, sobald er stehen blieb oder auch nur sein Tempo verlangsamte. Aber da er keines von beiden ernsthaft plante, kam der rettende Ausgang tatsächlich Schritt für Schritt näher, umhüllte ihn schließlich mit der drückenden Schwere seines Stoffes, nur um ihn dann in Gestalt eines Stromkabels mit neuerlicher Wucht aus der Bahn zu werfen.

Doch auch dieser letzte Angriff kam zu spät. Ravin überwand die magische Schranke zwischen Licht und Dunkelheit, taumelte noch einige Meter halt- und orientierungslos nach vorne und verlor dann endgültig das Gleichgewicht. Er hatte einen Punkt erreicht, an dem er mit völliger Sicherheit auf den Boden aufgeschlagen wäre, unfähig, sich noch mit Armen oder Beinen oder sonst wie abfangen zu können. Und doch tat er es nicht.

Noch bevor er dem spiegelnden Grund des Laufstegs, auf dem er sich mittlerweile wieder befand, auch nur Nahe kommen konnte, griffen zwei Hände unter seine Arme und zogen ihn mit einer kraftvollen Bewegung auf die Füße.
 

Im ersten Moment verspürte Ravin nicht einmal das Bedürfnis, sich zu wehren. Wieso auch? Da war jemand, der ihn aufgefangen, der ihn vor dem sicheren Fall und weiteren Schmerzen bewahrt hatte... jemand, der lebte, der atmete, der die Sicherheitskräfte und die Polizei und vielleicht am besten auch gleich noch einen Notarztwagen rufen konnte. Erst einige Sekunden später drang eine zweite Nachricht bis in das umnebelte Bewusstsein des jungen Soldaten vor, dass dieser jemand ihm eventuell auch Arme und Beine abhacken, ihm die Haut vom Körper ziehen und ihn im Schulmädchenoutfit auf dem Laufsteg kreuzigen konnte.

Diese überaus unangenehme Erkenntnis änderte jedoch nicht unbedingt viel daran, dass Ravin schlicht und einfach nicht mehr die Kraft dazu fand, sich aus dem Griff des Unbekannten befreien zu können. Das kribbelnde Taubheitsgefühl erklomm fröhlich weiter seinen Körper, zudem hatte er wieder zu zittern begonnen und beides zusammen war nicht unbedingt förderlich für eine gesunde Koordinationsfähigkeit. Langsam und mit größerer Mühe, als ihm lieb war, hob der Weißhaarige seinen Blick und sah-

Zunächst einmal gar nichts. Nur verschwommene Flecken undefinierbarer Farbe waberten vor seinem Blickfeld umher und es vergingen wiederum etliche Sekunden bis Ravin begriff, dass ihm nach seiner verlustreichen Schlacht gegen die Schmerzen in seinem Körper Tränen in den Augen standen. Er hob mit einer matten, kraftlosen Bewegung die Hand, um sie wegzuwischen, blinzelte einige Male - und war nun endlich dazu imstande, sein Gegenüber erkennen zu können.

Davon einmal abgesehen bot sich ihm die vielleicht einmalige Gelegenheit, geradewegs in das aalglatte Antlitz eines überaus entgeistert dreinblickenden Marque Venelles zu sehen, der ihn auf solch fassungslose Weise musterte, als ob ihm zur Sekunde der Geist seiner Großmutter in die Arme gestürzt wäre.

"Oh mein Gott, Ravin... was ist mit dir geschehen?"

Der Firmenbesitzer stammelte mehr, als dass er wirklich sprach, und auf seiner Stirn begannen sich einmal mehr dicke, selbst im fahlen Grau des verlassenen ETU noch glitzernde Schweißtropfen zu bilden. Ravin brachte es nicht mehr fertig, ihm noch eine Antwort geben zu können, und das lag keineswegs nur an seiner körperlichen Schwäche. Die Gedanken in seinem Kopf hatten zu rasen begonnen, drehten sich wieder und wieder im Kreis, ein Kreis, der ihn nicht weiterbringen konnte und wollte, der ihn förmlich zerriss zwischen zwei Polen, in die seine müden Geistesrungen zu streben versuchten.

Es war die brennende, wenngleich auch angesichts seiner allgemeinen Verfassung herzlich überflüssige Frage, was er von Venelles Anwesenheit zu halten hatte. Einerseits war es verdammt noch mal sehr, sehr unwahrscheinlich, dass sich ausgerechnet ein stinkreicher, partysüchtiger Konzernchef mitten in der Nacht rein zufällig in einen verlassenen Veranstaltungssaal verirrte. Und eigentlich hätte schon die bloße Anwesenheit jedes anderen Menschen voll und ganz ausgereicht, um ihn nicht nur spontan zum Hauptverdächtigen zu machen, sondern am besten gleich an Ort und Stelle als Sweet Slaughter zu identifizieren. Aber Venelle...

War es überhaupt möglich, dass ausgerechnet Venelle diese Mordserie begangen haben konnte? Er, der doch eigentlich den größten Schaden durch sie davontrug (von den Opfern einmal abgesehen, versteht sich), er, dessen gewinnträchtigste Veranstaltung und somit Haupteinnahmequelle auf dem Spiel stand, konnte dieser schmierig grinsende Mann es wirklich fertig bringen, sich das Messer so tief ins eigene Fleisch zu rammen? Ravin wusste, dass der Evershine New Diamonds Award bereits mehr als nur einmal Gefahr gelaufen war, schlicht und einfach zu platzen, und das wäre einer äußerst schwerwiegenden Katastrophe gleichgekommen. Bei all dem Geld, das Venelle in den Schönheitswettbewerb investiert hatte, war selbst ein Mann von seiner Kontogrößenordnung darauf angewiesen, ebenso auch wieder etwas zurückzubekommen.

War es tatsächlich möglich, dass Venelle die Firma und damit seine eigene sowie die Existenz Tausender anderer Menschen einfach so aufs Spiel setzte? Wahnsinn hin oder her, dies war doch ein reichlich gewagter Schritt für einen ökonomisch denkenden Mann, dem sich zudem im gesamten Universum etwa zehn Milliarden andere Gelegenheiten geboten hätten, nach Herzenslust und auf weit weniger selbstzerstörerische Art und Weise zu schlitzen und zu morden und zu häuten. Von der kleinen aber entscheidenden Tatsache einmal abgesehen, dass er es ja immerhin höchstpersönlich gewesen war, der Aya überhaupt erst auf den Fall aufmerksam gemacht hatte - und welcher Mörder setzte einen Bluthund auf die eigene Fährte an?

Es war absurd, es widersprach aus tiefstem Herzen einem objektiv sinnvollen Plan, es widersprach dem altbekannten Ursache und Wirkung ebenso sehr wie jedem anderen Gesetz der Logik, das Ravin jemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hatte. Und trotzdem täuschte es nicht über die anfängliche, immer wiederkehrende Frage hinweg, was um alles in der Welt Venelle in die an und für sich vollkommen menschenleere ETU-Arena geführt hatte, noch dazu zu einer Zeit, die für solch einen spontanen Überraschungsbesuch ja doch alles andere als üblich war. Warum hatte er die zweifellos immer noch - oder besser gesagt: die jetzt erst so richtig rauschende Party verlassen, seine Party, wo er sich ausgiebig an jenem Ort aufhalten konnte, der ihm wohl von allen Orten des gesamten Planetensystems mit großem Abstand am liebsten war: im Zentrum aller Aufmerksamkeit?

Von welcher Seite man das Problem auch betrachtete, es machte schlichtweg keinen Sinn, und so zog es Ravin nach einer kurzen, wenig erholsamen Atempause vor, sich erst einmal wieder aus dem Griff des Firmenbesitzers zu lösen und zwei unsichere Schritte nach hinten zu taumeln. Seine Augen waren starr und lauernd auf Venelles Gesicht gerichtet - oder sie versuchten es zumindest, denn es bereitete dem Weißhaarigen immer noch größte Mühe, überhaupt irgendeinen Punkt klar fixieren zu können. Und er war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob diese Schwierigkeiten wirklich nur von der Tatsache herrührten, dass sich sein Blick viel zu lange an die fast vollkommene Dunkelheit hatte anpassen müssen.

"Ravin, was ist passiert?" erkundigte sich Venelle ein zweites Mal und schien nun sogar noch ein kleines bisschen verwirrter zu sein als zuvor. "Mein Gott, du zitterst ja! Und... was machst du überhaupt hier?"

"Das - das Gleiche könnte ich sie fragen!" stieß Ravin mit einiger Mühe hervor. Es kostete ihn zunehmend Kraft, sich noch aufrecht auf den Beinen halten zu können, aber er spannte aller Schmerzen zum Trotz sämtliche Muskeln an, die zu erreichen er irgendwie noch imstande war und schaffte es so zumindest erfolgreich, den unvermeidlichen Zusammenbruch um etliche Momente nach hinten zu verlagern.

"Mich?" Die Frage des jungen Soldaten schien Venelle aus irgendeinem Grund unheimlich zu irritieren und er blickte ihn einige Momente lang stumm und unverwandt an, bevor er sich ein Lächeln auf die Lippen zauberte und in fast schon heiterem Tonfall antwortete. "Nun, im Gegensatz zu dir und allen anderen Models besitze ich einen Schlüssel zu diesem Teil des Gebäudes. Ist ja sozusagen mein Baby, du verstehst, und bei Babes sind die Ein- und Ausgänge ja generell das Wichtigste. Ich für meinen Teil bin noch einmal hergekommen, weil ich irgendwo in diesem großen, großen Zimmerchen hier mein Feuerzeug verloren haben muss. Vor der Show hat ich's nämlich noch und das Ding liegt mir verflucht noch mal am Herzen. Ich mag vielleicht nicht so aussehen, als ob ich mir aus Sentimentalitäts-Quatsch sonderlich viel machen würde, aber das ist ein Familienerbstück und ich möcht es doch zu gerne einmal irgendwann an Marque Venelle Junior weitergeben."

Ravin bemaß den schwarzhaarigen Firmenchef mit einem weiteren kritischen Blick, dann ließ er langsam und prüfend seine Hände in die Hosentaschen wandern. Erst in die Linke, dann in die Rechte, was sich vom Ergebnis her relativ gleich blieb - sie waren leer. Der Weißhaarige schloss einen Moment lang die Augen (wirklich nur einen Moment, da ihm ansonsten ganz unzweifelhaft endgültig der Gleichgewichtssinn abhanden gekommen wäre) und suchte nach der Erinnerung an jenen Moment, als Ayas Stimme in seinem Ohr erloschen war, als er zum ersten Mal von seinem Verfolger und seinen tödlichen Federn Notiz genommen hatte... als er seine Aufmerksamkeit von dem kleinen, silbern verzierten Gegenstand mit Namen Feuerzeug - Venelles Feuerzeug - auf eine ganze Reihe anderer, wichtigerer Dinge gelenkt und es dabei schlicht und einfach vergessen hatte.

Das Ergebnis dieser Suche war und blieb einmal mehr dasselbe: Keines, und so gab er sie kurzerhand auf und fand sich mit der Tatsache ab, dass Venelles kostbares Familienerbstück von einem bestimmten Punkt an schlicht und einfach aus seiner Wahrnehmung verschwunden zu sein schien. Ein trauriger Fakt, der ihn an und für sich nicht weiter bekümmerte oder interessierte. Und den er auch eigentlich nur deshalb wieder aufgriff, weil er in seinem inneren Krieg zwischen Misstrauen und Erleichterung immer noch nicht so recht wusste, was er sonst hätte sagen können.

"Das Feuerzeug liegt irgendwo dort hinten", sagte er mit einer vagen Kopfbewegung in Richtung des pechschwarzen Technikraumes, die sofort mit einem schmerzhaften Hieb mitten in seinen Nacken bestraft wurde. "Aber ich würde dort nicht hingehen. Es ist ziemlich dunkel."

"Na, dafür hat man ja schließlich den Lichtschalter erfunden", grinste Venelle und vollführte mit beiden Armen eine schwungvolle Bewegung, die Ravin aus irgendeinem Grund an jene ewig lächelnden Kreaturen erinnerte, wie sie auf den zahllosen Shoppingkanälen in den unendlichen Weiten des IV hausten, um ihre minderwertigen, völlig überteuerten, dafür aber mit einer Unzahl an Bonusbeigaben (wenn sie jetzt sofort anrufen...!) und Bonusbeigaben zu den Bonusbeigaben überladenen Produkte anzupreisen. Nicht, dass Ravin sich jemals für diese Art von Kanälen interessiert hätte. Aber angesichts ihres scheinbar unerschöpflichen Paarungs- und Reproduktionswillens war es mittlerweile ja fast schon zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden, das IV-Gerät auch nur für fünf Minuten in Betrieb zu nehmen, ohne nicht über mindestens vier, fünf dieser gut gelaunten Dauerwerbesendungsmoderatorenpärchen zu stolpern.

Was eigentlich momentan auch überhaupt nichts zur Sache tat, aber die zunehmende Schwäche, die sich Ravins Bewusstsein bemächtigt hatte, ließ seine Gedanken wie es schien bisweilen in rechts abstruse Richtungen abschweifen.

"Ich weiß nicht, wo die Lichtschalter sind", antwortete er kurz. "Der Raum ist sehr groß und es gibt einige Schalter dort. Von denen die meisten allerdings gar nicht in Betrieb zu sein schienen."

"Da kann man aber von Glück reden, dass ich mir hier auskenne wie in meiner Hosentasche", lachte der Firmenbesitzer und strich sich mit der Hand durch sein glänzend schwarzes Haar. Ein dünner, kaum wahrzunehmender Film schien auf seinen Fingern zurückzubleiben - und weckte dabei ungute Erinnerungen im zunehmend träger werdenden Verstand des jungen Soldaten.

Erinnerungen an zwei, drei Federn (über die genaue Anzahl konnte er beim besten Willen keine Prognose mehr stellen, da die Schmerzen in seinem Körper mittlerweile schlichtweg überall Quell und Nahrung zu finden schienen) zum Beispiel, die immer noch weiß und blutig in seiner Haut steckten. Und die Venelle aus irgendeinem mysteriösen Grund bislang entweder nicht bemerkt zu haben schien, oder sie einfach nicht für erwähnenswert genug gehalten hatte, um auch nur ein einziges Wort darüber verlieren zu müssen.

Ravin fühlte eine neuerliche Woge von Misstrauen in sich hochkochen, und mit einem Mal wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Der Firmenbesitzer war ganz offensichtlich drauf und dran, sich auf eigne Faust in das apokalyptische Labyrinth aus Stahl, Kabeln und Finsternis zu begeben, was in einem Fall seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Nämlich in dem Fall, wenn er tatsächlich nicht den Sweet Slaughter, sondern einfach nur einen latent sentimental veranlagten Menschen auf der Suche nach einem Familienerbstück vor sich hatte. In jedem anderen Fall war der sichere Tod dann wohl eher auf seiner eigenen Seite...

Der junge Soldat rang noch einige weitere Augenblicke mit sich selbst, bevor er zögerlich wieder das Wort ergriff.

"Ich... würde da trotzdem nicht reingehen."

"So", erwiderte Venelle in unangenehm verzeihendem Tonfall und zog seine glänzenden Brauen in die Höhe - eine Bewegung, die wohl jede andere Stirn in tiefe Falten hätte legen müssen, nicht aber die des Konzernchefs. Stattdessen machte er einen beschwörend langsamen Schritt in die Richtung des Weißhaarigen und hob wie in beruhigender Absicht die Hände. "Und warum sollte ich das nicht, tun, Ravin?"

"Sie müssen nicht so mit mir reden als ob ich verrückt wäre. Irgendjemand ist in diesem Raum. Er hat mich verfolgt. An Ihrer Stelle würde ich das Gebäude wirklich lieber verlassen."

"Du bist so verstört, Ravin, warum denn?" Der Blick seiner dunklen Augen fing den des jungen Soldaten auf merkwürdig beschwörende Art und Weise ab. Sein Atem ging ruhig, fast schon zu ruhig, als ob die gesamte Szenerie mit einem Mal in ein lähmendes Zeitlupentempo geraten wäre, in eine unnatürliche Stagnation, der sich Ravin beim besten Willen nicht mehr zu entziehen vermochte. "Vor was sollten wir denn davonlaufen, Ravin? Vor wem? Hier ist doch niemand außer uns..."

Der Weißhaarige konnte gerade noch feststellen, dass die letzten Worte des Firmenchefs ganz und gar nicht die beruhigende Wirkung erzielten, zu deren Zweck sie höchstwahrscheinlich gedacht worden waren.

Dann ging mit einem Mal alles ganz schnell.

Venelle machte einen erstaunlich kraftvollen Satz nach vorne, packte Ravin bei den Schultern und hatte ihn im nächsten Moment auch schon zu Boden gerissen. Aus einem glücklichen Umstand heraus, der in Anbetracht seiner momentanen Situation allerdings auch schon verflucht einsam dastand auf weiter Flur, bohrte sich dabei die stählerne Feder, die ihm immer noch fest im Rücken steckte, nicht einfach nur tiefer in sein Fleisch hinein, um bei dieser Gelegenheit mit Lunge, Herz und Co Bekanntschaft machen zu können, sondern knickte vielmehr zur Seite ab - was zwar nicht unbedingt weniger schmerzhaft, aber zumindest weit weniger gefährlich war. Allerdings blieb Ravin nicht lange Zeit darüber nachzudenken, wie nah er nun tatsächlich am Tode vorbeigeschrammt war, denn noch bevor er auch nur an eine adäquate Reaktion zu denken vermochte, hatte Venelle seine Arme mit den Knien fixiert, den Körper des jungen Soldaten unbarmherzig mit dem eigenen zu Boden gedrückt, das Gesicht bis auf wenige Zentimeter zu ihm hinabgesenkt.

Er lächelte noch immer. Allerdings war es nun ein Lächeln, das mit dem werbewirksamen Verziehen der Mundwinkel, wie es sich die IV-internen Verkaufsprofis wohlein Leben lang antrainiert hatten, nicht einmal mehr das Geringste gemeinsam - wenn man von einigen ganz speziellen, besonders erfahrenen Vertretern der Gattung einmal gnädig absah. Was Ravin nun in den Augen des Firmenbesitzers las, war Wahnsinn, nackter, reinster Wahnsinn, der sich wie ein stählerner Ring um seinen Hals legte, ihm Luft und Sprache verbat und ihn vielleicht zehn, zwanzig Sekunden lang sprichwörtlich lähmte.

"Diese Nacht gehört ganz allein uns, hörst du?" lächelte er, während seine Hände irgendetwas aus den Taschen seiner hellgrauen Anzughose hervorkramten. Wäre Ravin tatsächlich noch dazu imstande gewesen, seinen Kopf bewegen und den Blick drehen zu können, hätte er wohl trotz allem immer noch Probleme gehabt, besagten Gegenstand auch wirklich zu erkennen, denn Venelle hielt ihn fest von seinen gebräunten, über und über von goldenen Ringen blitzenden Fingern umschlossen und führte ihn dann mit einer derart raschen Bewegung an den Mund, dass selbst Ravins Iriden ihre liebe Mühe damit hatten, dieser noch folgen zu können.

Dann ließ der Firmenbesitzer das unbekannte Stück Glas fallen (zumindest schloss Ravin aus dem Geräusch, mit dem es auf dem Laufsteg aufprallte, dass es sich um Glas handeln musste), legte beide Hände an Ravins Wangen und beugte sich dann blitzartig nach vorne, um seine Lippen mit mehr als nur sanfter Gewalt auf die des Weißhaarigen zu pressen. Eine Handlung, mit der Ravin beim besten Willen nicht gerechnet hatte und die ihn deshalb umso mehr verwirrte, umso mehr paralysierte. Und umso mehr mit einem tiefen Gefühl von Abscheu und Ekel erfüllte, ohne dass er noch die Kraft besessen hätte, um sich ihr widersetzen zu können. Sein Körper schien mit jeder Sekunde schwächer zu werden, die er in Venelles erbarmungslosen Griff zu verbringen gezwungen war, ebenso wie sich dessen Gewicht zu verzehnfachen schien.

Der junge Soldat spürte, wie ihm irgendeine kühle, geschmacklose Flüssigkeit in den Mund hineinlief und presste ganz instinktiv seine Zunge gegen den Gaumen, um ihr den Weg hinab in die Speiseröhre verwehren zu können. Eine Reaktion, mit der Venelle bereits gerechnet zu haben schien, denn er platzierte nun seinerseits eine seiner immer noch leicht klebrigen, süßlich riechenden Pranken auf Ravins Gesicht und verschloss ihm mit dieser einen beiläufigen Geste auf derart effektive Weise sämtliche Atemwege, dass er sich früher oder später zu schlucken gezwungen sah. Und so ein Gefühl entfachte, als ob ihm der gesamte Hals von innen nach außen gefrieren würde, gleichermaßen eisig kalt wie auch brennend heiß, fast schon ätzend wie Säure, und trotz des Mangels an Geschmack ganz unzweifelhaft ekelhaft.

Er hustete, würgte, und spürte dann, wie sich sein Mund erneut mit Flüssigkeit füllte, die ihm nun allerdings reichlich warm über die Lippen hinweg die Wange hinablief und einen auch ganz und gar nicht mehr neutralen, sondern stark metallischen Geschmack mit sich brachte. Ravin bemerkte kaum, wie Venelle seinen Kopf zur Seite drehte, er war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen, was ihm einige Momente später auch tatsächlich wieder gelang. Das flimmernde Schneegestöber vor seinen Augen verblasste langsam und gewährte ihm einen Blick auf sein eigenes Gesicht, das ihm auf fast schon apathische Weise aus der spiegelnden Fläche des Laufsteges entgegenstarrte.

Zumindest aus dem Teil des Spiegelbodens, der nicht von einer kleinen, tiefroten Seenlandschaft und somit geblendet war. Flecken, deren Ursprung sich Ravin genau so lange nicht erklären konnte, bis sich sein Blick wieder vollständig geklärt hatte und er mit einem Mal realisierte, dass seine bleiche Haut keineswegs mehr so rein und makellos war wie gewohnt, sondern vor allem im unteren Teil des Gesichtes ebenfalls von einer dunklen Flüssigkeit befleckt war, deren genaue Farbe er im Halbdunkel des ETU nicht genau ausmachen konnte - die er allerdings auch gar nicht auszumachen brauchte, um sie dennoch zweifelsfrei als das zu identifizieren, was sie war.

"Wie kann solch ein kalter Mensch wie du nur so warmes Blut haben, Ravin", flüsterte Venelle mit einem fast schon manischen Zittern in der Stimme, das dem jungen Weißhaarigen die Gedanken sozusagen vorwegnahm. Dann begann er, mit dem hellen Stoff seines Jacketts nahezu behutsam über Ravins Gesicht zu streichen. Hielt kurz inne, musterte ihn kritisch und wiederholte dieselbe Prozedur dann von neuem, bis das geschäftige Zucken seines Kopfes schließlich in ein zufriedenes Nicken überging. "Das passt gar nicht zu dir, Ravin. Du sollst perfekt sein für das Fotoshooting, weißt du? Ach... du bist perfekt. So unglaublich perfekt... der Schönste von allen bist du."

"Foto-shooting?" stieß Ravin keuchend hervor und musste feststellen, dass ihm auch das Sprechen zunehmend Mühe breitete. Überhaupt schien das bislang nur als kribbelnde Taubheit vorherrschende Gefühl mit einem Mal überhand zu nehmen, seine Arme und Beine nach und nach regelrecht aufzufressen, bis nicht mehr auch nur das Geringste von ihnen zu spüren war. Dem Weißhaarigen war, als würde er schweben, eingehüllt in ein betäubendes Nichts, das jeglichen Reiz mit gnadenloser Vehemenz von seinen Sinnes- und Nervenzellen fernzuhalten wusste.

"Du bist mein Meisterwerk, Ravin", antwortete Venelle mit bebender, tiefster Ergriffenheit, und wieder begann es in dem dunklen Braun seiner Augen zu flackern, als ob sich eine ganze Wohngemeinschaft defekter Glühbirnen in der Schwärze seines Kopfes eingemietet hätte. "Dir gehört die letzte Seite meines Buches... ich habe lange gesucht, so lange, und nun endlich wird mein Lebenswerk vollkommen sein!"

"Was... was für ein... Buch?!"

"Mein Buch, Ravin, mein Buch", lächelte Venelle. "Und es ist ein ganz besonderes Buch. Es wird der Bestseller des Jahrhunderts, du wirst schon sehen. So viele Menschen gibt es auf dieser Welt, und sie alle wissen nicht, was Schönheit ist, was wahre Schönheit ist. Ich möchte es ihnen zeigen."

"Soll... soll das heißen..." Ravin musste sich zunehmend beherrschen, seinen Mund auch tatsächlich noch die Worte formen zu lassen, die er sich im Geiste zurechtgelegt hatte. Selbst sein Gesicht schien von jener plötzlichen Lähmung befallen worden zu sein, und mit einem Mal begriff der Weißhaarige, wie wenig Zeit ihm tatsächlich noch blieb. "Sie... haben sie... foto- fotografiert... für ein Buch... wollen... es... ver-veröffentlichen?"

Venelle nickte, langsam und bedeutungsschwer.

"Ich habe lange gesammelt, Ravin, sehr lange. Nicht alle Menschen haben es... dieses... dieses Leuchten... so ein Licht, das in ihnen ist. Und es ist versteckt, gut versteckt. Aber man kann es befreien. Ich kann es befreien. Du musst keine Angst haben, mein schöner Ravin, es wird dir nicht weh tun. Ich wollte dich nicht verletzen, aber du bist ja so schnell gerannt. Jetzt musst du nicht mehr davonlaufen, jetzt gebe ich dir Flügel. Und dann sollst du fliegen, Ravin. Solch ein Engel wie du muss fliegen."

Bei seinen letzten Worten hatte Venelle einen versunkenen Blick in den schwarzen Himmel über ihnen geworfen, hinauf zu dem Wald aus Metall, Scheinwerfern und Kabeln, und irgendetwas an diesem Blick wollte Ravin ganz und gar nicht gefallen. Gleichzeitig wusste er, dass er Venelle hilflos ausgeliefert war, unfähig, sich zu bewegen, ja auch nur zu schreien, selbst wenn ihn noch jemand hätte hören können... er konnte nichts tun, als dem seelenlosen Grinsen, der abstoßenden lächelnden Grimasse des Firmenbesitzers aus großen, aber ebenfalls langsam müde werdenden Augen entgegenzustarren und darauf zu hoffen, dass wenigstens die letzten Worte des professionellen Lügners der Wahrheit entsprochen hatten und was auch immer er nun mit ihm vorhatte tatsächlich... nicht weh tun würde.

So oder so: Es war vorbei.

"Mach dir keine Sorgen, Ravin, du wirst wundervoll aussehen." Venelles Tonfall schien zunehmend schleppender, abwesender zu werden, mehr zu sich selbst als an eine tatsächliches Gegenüber gerichtet. Ein entrücktes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Aber ganz lasse ich dich nicht gehen. Du bleibst bei mir, Ravin. Du bist mein Meisterwerk. Du wirst fliegen. Doch erst einmal hol ich mir dein Herz."

Er hatte seine Worte kaum ausgesprochen, da zauberte er auch schon einen zweiten Gegenstand aus seiner Tasche hervor, und diesen Gegenstand konnte Ravin im Gegensatz zu seinem Vorgänger sogar sehr gut erkennen, fast besser, als ihm selber lieb war. Es war ein Messer, allerdings ein recht altes Messer und nicht sehr groß obendrein. An und für sich also eine Waffe, die der junge Soldat wohl in keiner anderen Situation als wirklich bedrohlich oder gar Furcht einflößend erlebt hätte. Nur leider war dies keine... andere Situation und in seiner gegenwärtigen Lage hätte wohl keine noch so moderne, noch so präzise tötende Schusswaffe ein derartiges Grauen in seiner Brust wachrufen können, wie dieses rostige Messerchen es zustande brachte.

Falls es überhaupt Rost war, der an seiner Klinge haftete, verbesserte er sich noch im nächsten Augenblick in Gedanken. Und bereute es gleichzeitig zutiefst, denn diese neue Erkenntnis verlieh Venelles Schnittwerkzeug noch zusätzlich etwas durch und durch Alptraumhaftes, das es auf den ersten, ebenfalls schon erschreckenden Blick hin noch nicht besessen hatte. Die kleine Waffe musste sehr lange nicht mehr gereinigt worden sein, denn an ihrer ursprünglich metallischen, unregelmäßig geformten Schnittfläche klebte eine dicke, bräunlich rote Kruste, aus der hier und dort noch das eine oder andere Haar herausragte.

Venelle bedachte das schmutzige Mordinstrument mit einem fast schon liebevollen Blick, legte es dann noch einmal zur Seite und machte sich stattdessen daran, Ravin sein pechschwarzes Oberteil über den Kopf zu ziehen. Er musterte den Körper des jungen Soldaten, murmelte irgendetwas Unverständliches und lächelte dann wieder, noch ungleich entzückter und wahnsinniger als zuvor. Seine rechte Hand schloss sich um den hölzernen Griff seines Messers und verursachte ein leises Klacken, als das Gold der Ringe gegen den schäbigen, leicht abgewetzten Rundkörper prallte. Beinahe gleichzeitig fuhr er mit der linken Hand prüfend über Ravins Brust, hielt dann inne, als er fast unmittelbar über der Gegend seines Herzens angelangt war und setzte dann langsam und bedächtig die Klinge auf die bleiche Haut.

Dann legte er einen Finger auf das verkrustete Metall und drückte es nach unten.

Im gleichen Moment musste Ravin feststellen, dass er sich zumindest in einer Beziehung geirrt hatte: War er zunächst fälschlicherweise davon ausgegangen, dass jenes schartige kleine Messerchen weder spitz noch scharf sein konnte, so wurde er nun auf überaus schmerzhafte Art und Weise eines Besseren belehrt. Die Klinge grub sich nämlich nahezu augenblicklich und widerstandslos in sein Fleisch, nicht sonderlich tief, aber immer noch tief genug, um einen brennenden Schmerz über seinen Brustkorb jagen zu lassen. Ravin musste die Hände zu Fäusten ballen und die Zähne fest aufeinanderbeißen, um einen neuerlichen Schmerzenschrei unterdrücken zu können, denn diesen einen Triumph konnte und wollte er dem Sweet Slaughter ganz einfach nicht gönnen. Wie lange seine Beherrschung noch vorhalten würde, war jedoch eine ganz andere Frage, denn der erste Schnitt Venelles war ja wie schon erwähnt noch nicht einmal sonderlich tief gewesen, und ebenso wenig hatte er die Klinge bereits bewegt. Viel zu sehr schienen die Augen des Firmenbesitzers gefesselt zu sein von dem Anblick seines Opfers, wie es zitterte, wie es litt, wie es ihn mit stummen Blicken anflehte...

Wie es zitterte? Litt? Flehte?

Wie... wie es seine Hände zu Fäusten geballt hatte, um den glühenden Schmerz in seinem Körper ertragen zu können?

Ravin begriff den tieferen Sinn dieser Erkenntnisse erst, als es beinahe schon zu spät war. Und auch dann war er von ihnen mehrere Sekunden lang so überwältigt, dass er seinen so plötzlich und unerwartet errungenen Vorteil kaum für sich zu nutzen wusste und um ein Haar wieder verspielt hätte. Denn schon hatte Venelle seine Hand wieder fester um den Griff des Messers geschlossen, bereit zum nächsten Schnitt, der vielleicht schon der Letzte gewesen wäre. Oder zumindest der Letzte, den Ravin noch bewusst und lebendig wahrnehmen würde. Denn dass er wahrnahm, dass er fühlte, stand ganz außer Frage. Sein Körper fühlte sich immer noch an wie betäubt, aber keinesfalls mehr wie gelähmt.

Und er konnte sich bewegen.

Er konnte die Hände zu Fäusten ballen...

Was dann geschah, war weit mehr Reflex als willentlicher Akt, kostete aber gleichzeitig mehr Kraft, als Ravin jemals für möglich gehalten hatte. Eine Kraft, in deren Besitz er sich niemals gewähnt und die Ursprung wohl in nichts anderem als blanker Todesangst begründet hatte, begleitet von einem tiefen, mächtigen Überlebenswillen, der jedes andere Gefühl, jeden logischen Gedanken mit einer wahren Sturmflut von Adrenalin hinfort wischte. Und obwohl es sich so anfühlte, als ob kein Blut, sondern tonnenschwerer Stahl in seinen Adern zirkulieren würde, brachte der Weißhaarige es irgendwie fertig, seine Arme zu heben, seine Finger fest um Venelles Handgelenk zu schließen und dann die zugehörige Hand samt Messer von seinem Körper wegzureißen.

Eine Reaktion, die den Firmenbesitzer derart zu überwältigen schien, dass er einen Moment lang nichts anderes tat als mit offenem Mund und starrem Blick sozusagen in der Bewegung einzufrieren. Es mochten nur wenige Augenblicke sein, in denen er in dieser reichlich unvorteilhaften Pose erstarrt war, vielleicht Sekunden, vielleicht Sekundenbruchteile, aber es war Zeit genug für Ravin, um wieder zur Besinnung zu kommen. Obwohl es ihn immer noch unendlich viel Mühe kostete, jede Bewegung etwa zehnmal so anstrengend zu sein schien als gewohnt, sammelte er alle Kraft, die er nur irgendwie in seinem ganzen Körper finden konnte, und stieß Venelle dann mit einem unbeholfenen Ruck von sich. Zugegeben - es war kein unbedingt fester Stoß, und um Endeffekt kroch Ravin auch mehr unter dem Körper des Evershine Cosmetics-Inhabers hervor, als dass er sich wirklich von ihm befreite.

Der Effekt jedoch blieb derselbe. Zumindest für wenige Augenblicke war Ravin frei, frei vom unerbittlichen Griff des braun gebrannten Mannes, der nun mit einem reichlich verduzten Gesichtsausdruck auf dem Boden zu seinen Füßen saß, aber vor allem frei, sich zu bewegen. Und dies war eine Chance, die er in keinem Fall verstreichen lassen durfte. Mit zittrigen Fingern umfasste Ravin den spiegelglatten Bühnenrand und zog sich daran vorwärts, Stück für Stück, bis er irgendwann sogar wieder so viel Gefühl in seine Beine zurückgekehrt war, dass er ihnen die anspruchsvolle Aufgabe zutraute, sein eigenes Gewicht tragen zu können. Er stüzte sich mit beiden Armen auf dem kühlen Boden ab, sammelte noch einmal jedes Fünkchen Energie, das noch irgendwo in seinem geschunden Leib überlebt hatte, und stemmte sich dann mit aller Kraft hoch.

Das Manöver hätte vielleicht sogar funktioniert, wäre da nicht im selben Augenblick ein Blitz knapp über Ravins Knöchel in sein Bein eingeschlagen. Der Schmerz kam so plötzlich, so unerwartet, dass er nicht einmal mehr die Chance hatte, sich noch dagegen wappnen zu können. Er brach haltlos in sich zusammen und schlug hart auf dem spiegelnden Glas der Bühne auf, knapp zehn Zentimeter von ihrem Rand entfernt, von jenem Labyrinth aus Sitzen und Schatten, das ihm vielleicht sogar noch hätte Zuflucht gewähren können. Zumindest lange genug, um per Portable Transmitter um Hilfe zu rufen - vorausgesetzt, dass das Gerät nach seiner halsbrecherischen Odyssey überhaupt noch intakt war...

Doch all diese Bedenken und Pläne waren jetzt so oder so hinfällig, denn mit Ravins Fall stürzte gleichsam auch jenes brüchige Gerüst aus letzter Kraft und Lebenswillen in sich zusammen, das er mit so viele Mühe errichtet und das ihn doch letztlich nicht gerettet hatte. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, ließ ihn keuchend um Atem ringen - eine Anstrengung, die seine momentanen körperlichen Fähigkeiten ganz offensichtlich überstrapazierte, die ein trockenes Husten aus seinen Lungen trieb und ihn mehr als nur einen Moment fürchten ließ, er müsse hier und auf der Stelle einen ganz und gar unrühmlichen, dafür aber umso schmerzhafteren Erstickungstod sterben.

Eine Befürchtung, die sich zwar nicht bewahrheiten sollte, die seine ganze Situation aber auch kaum mehr hätte verschlimmern können. Denn Venelle war wieder auf die Beine gekommen, zog mit einer angedeuteten Drehbewegung sein verunstaltetes Messer aus Ravins Unterschenkel und war noch im nächsten Moment wieder über ihm, die Augen flackernd, die Lippen zu einem bizarren Grinsen verkrampft. Seine Gesichtsmuskeln waren von einem unkontrollierten Zucken ergriffen worden, in den Mundwinkeln des sonst so charmant-beherrschten Mannes hatte sich Speichel angesammelt, der bei jedem Atemzug winzige Blasen warf und ihn so im ganzen abstoßenden Gesamtbild mehr denn je als das entlarvte und darstellte, was er auch tatsächlich war: ein Wahnsinniger.

Ein leises Kichern passierte die Lippen des Firmenbesitzers.

"Du wirst doch nicht vor mir weglaufen, Ravin", stieß er mit seltsam verzerrten Stimme hervor, die mit seinem gewohnt selbstbewussten, einwickelnden Smalltalk nicht mehr auch nur die geringste Ähnlichkeit hatte. "Wie schön du bist, Ravin... so wunderschön..."

Seine Knie bohrten sich mit der unbarmherzigen Gewalt seines gesamten Körpergewichtes in Ravins Unterarme, während er in einer tranceartigen Bewegung die Hand hob und zärtlich über Ravins Wange strich, eine seiner endlos langen, schneeweißen Haarsträhnen zwischen seinen Fingern hindurchgleiten ließ. Dann schlossen sich seine Lippen, verwandelten sich vom Grinsen zum Lächeln, das jedoch gleichermaßen nur zur absurden, widerwärtigen Perversion eines positiven menschlichen Gefühlsausdrucks werden konnte, halb gierig, halb verzückt.

Dann riss er mit einer ruckartigen Bewegung sein Messer in die Höhe, schloss beide Hände um den zu diesem Zweck eigentlich viel zu kleinen Holzgriff und zielte geradewegs auf Ravins Kehle.

"Du gehörst mir, Ravin!"

Er spannte die Muskeln in seinen kräftigen, braungebrannten Armen an, riss seine dunklen Augen weit auf und ließ dann mit einer fließenden Bewegung die blutbefleckte Klinge hinabsausen.

Oder zumindest versuchte er es. Denn auf halben Wege, als das verkrustete Metall des Messers und Ravins Halsschlagader noch gute zwanzig oder dreißig Zentimeter voneinander entfernt waren, lief mit einem Mal ein Ruck durch den Körper des Mannes - und ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. Hatte er Ravin zuvor wenigstens noch auf eine irrsinnige Art und Weise fixiert, so trat nun mit einem Mal ein Ausdruck vollkommener Leere in seinen Blick. Venelles Mund öffnete sich ein kleines Stück weit, gerade genug, um einen tiefen, gurgelnden Laut von sich zu geben, gefolgt von einem feinen, hellroten Blutstropfen, der sich kaum von der gesunden Bräune seiner Haut abheben konnte. Auf dem hellen Grau seines Anzugs breitete sich in der oberen Mitte der Brust ein dunkler Fleck aus.

Im nächsten Moment erschlaffte sein ganzer Körper, sank kraftlos über Ravin zusammen und begrub ihn förmlich unter seinem erdrückenden Gewicht. Es kostete den jungen Soldaten einige Mühe, noch einmal den Kopf zu heben und über Venelles leblosen Leib hinweg zu blicken. Er sah, dass eine der Türen geöffnet, vielleicht sogar aufgebrochen worden war und fünf über und über in Schwarz gehüllten Gestalten mehr oder minder freiwilligen Einlass gewährt hatte. Doch von dieser sicherlich weder gewalt- noch geräuschlosen Aktion hatte Ravin ebenso wenig mitbekommen wie auch von dem Geräusch des Schusses, der sich aus der Waffe des vordersten Mannes gelöst hatte.

Ravin nahm gerade noch am Rande wahr, wie ebendieser Schütze nun den Kopf wandte und seinen ebenfalls bewaffneten und uniformierten Mitstreitern irgendetwas zurief, wie sich der gesamte Trupp in Bewegung setzte und eilig in seine Richtung lief.

Dann verlor er das Bewusstsein.
 

"And the Winners are..."

In dem bis unter die Decke mit Menschen angefüllten Saal herrschte vollkommene Stille. Die zahlreichen Klimaanlagen taten ihr bestes, die drückende Hitze wenigstens auf ein erträgliches Maß herunterzukühlen, doch es war ein aussichtsloser Kampf, in dem es keine rechten Gewinner geben wollte. Die Luft war und blieb verbraucht, dabei bestenfalls - lauwarm; in jedem Fall nicht sonderlich angenehm, aber das interessierte in diesem Augenblick wohl keinen der zahllosen Journalisten und sonstigen Besucher des ETU, die sich in jener warmen Sommernacht zusammengefunden hatten, um dem großen Finale des noch viel größeren Evershine New Diamonds Awards beizuwohnen.

Der Ansager auf der Bühne machte eine bedeutungsvolle Pause, dann verzog er seine dezent schimmernden Lippen zu einem süffisanten Grinsen.

"Das wüssten Sie jetzt wohl gerne, meine Damen und Herren und natürlich meine lieben Nachwuchsmodels. Und Sie werden es auch erfahren - aber erst nach einer kurzen Unterbrechung. Unsere sehr geschätzten Zuschauer vor den IV-Geräten bekommen jetzt exklusiv noch einmal die Gelegenheit, sich die neusten Verbraucherinformationen ansehen zu dürfen. Schalten Sie nicht um, es geht gleich weiter!"

Er grinste noch einmal, verneigte sich dann mit einer übertrieben altmodischen Geste und verließ beschwingten Schrittes die Bühne.

"So ein Lackaffe", kicherte Aya und nahm einen tiefen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die sie schon die gesamten zurückliegenden zweieinhalb Stunden in ihren Händen gehalten hatte - und deren perlende Frische sich mittlerweile auch dementsprechend in Grenzen hielt. Aber das kümmerte die junge Wissenschaftlerin herzlich wenig. Überhaupt war alles, was momentan wirklich zählte, die ganz unwahrscheinlich beflügelnde Tatsache, dass sie inmitten einer bunt gewürfelten Menschenmenge in einem der doch erstaunlich bequemen Sitze der Evershine Theater Utopia-Arena saß und mit eigenen Augen die wohl großartigste Veranstaltung bewundern durfte, die das unansehnliche Gebäude jemals in seinen steinernen Mauern hatte beheimaten dürfen.

"Also ich finde ihn doch ganz besonders sympathisch!" D schenkte ihr von ihrer Rechten aus ein breites Grinsen, bevor er sich mit einem wohligen Seufzer in den tiefroten Klappsitz zurücksinken ließ. "Und dass wir uns nun schon mehrere Stunden lang von seinem schüchternen Lächeln bezaubern lassen dürfen, das verdanken wir einzig und allein dir, meine liebste Chefin. Danke!"

"Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, in wie weit du das nun ernst meinst und in wie weit nicht, aber ich kann es mir doch denken und fühle mich jetzt einfach mal geschmeichelt!"

"Nur geschmeichelt?" meldete sich Ronin von der anderen Seite ihres Platzes zu Wort. "Aya, du darfst das nicht einfach so mit einem lapidaren ,Ich fühle mich geschmeichelt' abtun, was du getan hast, könnte man schon besten Wissens und Gewissens als Heldentat bezeichnen, und damit meine ich nicht nur die Tatsache, dass wir denk dir diese eigentlich schon seit Monaten ausverkauften Eintrittskarten ergattern und somit diese unglaublich überwältigende und schon allein von der Atmosphäre her ganz sicherlich einmalige Show sozusagen live und in Farbe bewundern dürfen, nein, und das ist natürlich noch viel, viel, viel wichtiger, du hast immerhin Ravin das Leben gerettet und... und..." Er hielt einen Moment inne und tat etwas, von dem Aya bislang nicht einmal für möglich gehalten hatte, dass er dazu überhaupt imstande war: er rang nach Worten.

"Und was?" lächelte sie ihn aufmunternd an.

"Und dafür, da bin ich dir wirklich dankbar, wirklich, wirklich, denn schon die Vorstellung, dass Ravin fast gestorben wäre und das eigentlich gleich zweimal in den letzten Wochen, die ist viel, viel zu schrecklich für mich, denn Ravin ist doch noch viel zu jung und viel zu schön, um zu sterben und ohne Ravin hätte doch meine ganze Arbeit gar keinen so rechten Sinn mehr!"

"Ich nehm das ganze jetzt einfach mal als so schmeichelhaft an, wie es wohl gemeint war, nicht so, wie es dann im Endeffekt geklungen hat - und freue mich darüber", lachte die junge Wissenschaftlerin, wurde aber im nächsten Moment sogar weitaus ernster, als sie es an diesem rauschenden Abend überhaupt irgendwie für möglich gehalten hatte. "Ehrlich gesagt, es hätte mich schon sehr belastet, wenn ich gleich bei meinem ersten Auftrag einen Mitarbeiter verloren hätte."

"Kann man nur vom Glück reden, dass du so schnell reagiert und die Polizei gerufen hast", fügte D mit einem bekräftigenden Nicken hinzu.

"Oh Gott, ich weiß eigentlich gar nicht mehr so recht, warum ich das überhaupt getan habe. Versteht mich jetzt nicht falsch... es war natürlich das einzig Richtige, aber... es war so... so wie eine... eine Eingebung. Als Ravin plötzlich nicht mehr geantwortet hat. Aber aufgelegt hatte er ja auch noch nicht, und dann kamen da nur so komische Geräusche aus dem Hörer..." Trotz der äußerst knapp um die Grenze des Erträglichen herumkriechenden Temperatur lief mit einem Mal ein kalter Schauer über Ayas Körper. "Ich darf mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sie nur eine Minute später eingetroffen wären..."

"Sind sie aber nicht, also lass es."

"Das sagst du so leicht, D! Aber Ravin... Ravin sah so schrecklich aus... überall Blut..."

"Aber jetzt ist er wieder auf den Beinen und sein größtes Problem ist wohl die Zeit, die diese schmierige Ansagertype da auf Teufel komm raus zu schinden versucht, um ein paar freundlichen IV-Sendern auch ja noch Gelegenheit zu verschaffen, sich noch um den einen oder anderen Credit bereichern zu können. Ich will nämlich gar nicht wissen, wie viel man da so pro Minute für einen Spot in diesem Werbeblock eigentlich blechen muss... so viel verdien ich im ganzen Jahr nicht, glaub mir!"

"Trotzdem... das muss so furchtbar für ihn gewesen sein! Und außerdem..." Aya hielt kurz inne und legte einen Finger an die Lippen, während sich ein unübersehbarer Hauch von Irritation in ihre dunklen Augen stahl. "Da gibt es eine Ungereimtheit in dem ganzen Fall, die mir einfach nicht einleuchten will..."

"Was denn?" erkundigte sich D mit einem neugierigen Grinsen, das nichts Gutes verheißen wollte. "Sag mal, vielleicht kann ich dir ja helfen!"

"Hm... das wage ich zwar aus... irgendeinem Grund zu bezweifeln, aber gut. Es geht um dieses Gift. Du weißt schon, das von wegen lächelnd sterben und so... ich habe Spuren davon in Ravins ebenso wie in Seans Körper gefunden... das war diese erste Leiche, die ich bekommen habe, weißt du noch? Jedenfalls steht es eigentlich mit hundertprozentiger Sicherheit fest, dass in beiden Fällen das gleiche Gift verwendet wurde. Es ist ein äußerst komplexes Nervengift und ich habe mir die Freiheit herausgenommen, es ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen... und deshalb ist das, was geschehen ist, eigentlich vollkommen unmöglich."

"Aya, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber du sprichst in Rätseln."

"Ich weiß", seufzte die Wissenschaftlerin und strich sich eine Strähne ihres langen Haares hinter das Ohr. "Aber die ganze Sache ist ja auch ein Rätsel. Und wenn sie es nicht wäre... ja, dann wäre Ravin jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben."

"Was tuschelt ihr da von wegen Ravin und nicht mehr am Leben?!" erkundigte sich eine halb besorgte, halb empörte Stimme hinters Ayas Rücken, der allerdings aller Besorgnis und Empörung zum Trotz keinerlei weitere Beachtung geschenkt wurde.

"Danke, aber jetzt bin ich immer noch nicht schlauer", fuhr D stattdessen in noch ein bisschen leiserem Tonfall fort.

"...was du auch niemals werden wirst, aber egal." Aya rang sich ein kurzes Lächeln ab, bevor sie in nachdenklichem Flüsterton weitersprach. "Dieses Gift, das Venelle verwendet hat, ist in gewissen Kreisen unter dem Namen Love Potion bekannt, weil es dort in deutlich geringerer Dosis dazu verwendet wird, um Menschen sozusagen... gefügig zu machen. Benutzt man es allerdings in einem Maße, wie es hier bei Ravin der Fall gewesen ist, lähmt es den menschlichen Körper zuverlässig binnen weniger Sekunden. Es lähmt ihn, und es hört auch nicht einfach nach ein paar Minuten wieder auf, ihn zu lähmen. Verstehst du, was ich meine, D? Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich, dass Ravin sich nach der Einnahme dieses Giftes noch bewegt hat!"

D antwortete nicht sofort, sondern begnügte sich stattdessen damit, einige Sekunden lang schweigend den ratlosen Blick der Wissenschaftlerin zu erwidern. Es mochten nicht viele Sekunden sein, aber sie reichten doch immerhin aus, um Aya etwas erkennen zu lassen, das zu finden sie nicht einmal zu hoffen gewagt hatte - und schon gar nicht an dem Ort, der ihr als mögliche Fundstelle wohl als Letztes in Sinn gekommen wäre: in den Augen ihres Schwarzhaarigen Mitarbeiters. Denn was sie dort sah, war ein stummes, aber unübersehbares Geständnis, das Geständnis, dass er ihr tatsächlich helfen konnte, weil er die Antwort auf ihre Frage längst schon kannte.

Und dass er dieses Wissen aus irgendeinem Grund keineswegs mit seiner Vorgesetzten zu teilen plante.

"Was ist los, D?" hakte sie in weitaus eindringlicherem Tonfall nach, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. "Was verschweigst du mir? Nein - versuch erst gar nicht, es zu leugnen! Ich sehe genau, dass du etwas weißt, das ich nicht weiß. Und ich hasse es, wenn andere Menschen Dinge wissen, die ich nicht weiß, vor allem dann, wenn ich diese Dinge eigentlich wissen möchte und..."

"Er ist kein Mensch."

"...und dann immer diese betretenen Blicke - oh, was sag ich jetzt, dass sie nicht merkt, dass ich ihr etwas verschweige? Weil wenn ich schweige, dann wäre es ja wieder auffällig und das darf es ja nicht sein und überhaupt - bitte was hast du gesagt?!"

"Ravin, er ist kein Mensch." D hielt seinen Blick gesenkt, sodass er mit einem Mal regelrecht... betreten wirkte. "Wahrscheinlich hat das Gift deshalb nicht so recht auf seinen Körper gewirkt. Oder zumindest hat es anders gewirkt. Was ja auch irgendwie wieder aufs Gleiche herauskommt."

"D... was soll das heißen, Ravin ist kein Mensch?" Zwischen Ayas Augenbrauen bildete sich ganz unweigerlich jene tiefe Falte, die wie so oft das Gefühl von Irritation entlarvte, das sich in ihrem Inneren eingenistet hatte und sich dort ganz offensichtlich äußerst wohl zu fühlen schien. "Was soll er denn sonst sein?"

"Und so etwas höre ich aus deinem Munde, Aya", entgegnete der Schwarzhaarige kopfschüttelnd und konnte sich ein spöttisches Zucken un seine Mundwinkeln nun doch nicht mehr ganz verkneifen. "Ich will ja nichts sagen, aber das ist wirklich peinlich. Oder, um es anders auszudrücken: ein echtes Armutszeugnis."

"Vielen Dank!" murmelte die junge Wissenschaftlerin finster, doch noch im gleichen Atemzuge stahl sich ein verräterischer Hauch von Röte auf ihre Wangen und sie ließ hastig den Blick in Richtung ihrer Wasserflasche sinken, die immer noch lauwarm und müde in ihrem Schoß vor sich hinsprudelte. Und glücklicherweise ihre beiden Hände so fest in Beschlag nahm, dass Aya schlicht und einfach gar nicht dazu imstande war, sich vor versammelter Mannschaft selbst ohrfeigen zu können, so gern sie es auch getan hätte. Denn mit einem Mal fügten sich zahlreiche Puzzleteile in ihrem Kopf zu einem simplen, aber dennoch erstaunlich sinnvollen Gesamtbild zusammen. Und nun, da sie dieses so einfache Ganze endlich erkennen konnte, da erschien es ihr mit einem Mal ganz und gar unbegreiflich, dass es ihr nicht eigentlich schon von Anfang an aufgefallen war. "Ravin ist... ein Cyborg?"

"Genau das", stimmte D überflüssigerweise zu.

"Schau nicht so belehrend", grummelte Aya und rückte sich mit einer entnervten Bewegung die Brille zurecht. "Ich habe so etwas eigentlich schon länger vermutet."

"Das hast du nicht", stellte der Schwarzhaarige ruhig und sachlich fest.

"Na schön, dann habe ich es eben nicht. Hätte ich aber eigentlich tun müssen. Das war so... einfach. Diese ganze Sache von wegen Alkohol, so eine Reaktion ist bei einem normalen Menschen ja doch recht... ungewöhnlich. Und dann sein Aussehen. So perfekt kann man doch eigentlich gar nicht mehr sein! Von seinem Verhalten will ich lieber gar nicht erst anfangen..."

"Musst du auch nicht, ich weiß nämlich auch so, was du meinst", grinste D und hob die Schultern. "Na ja, ich gebe zu, ich war auch erst ein bisschen erstaunt, als ich es erfahren habe. Man hat ja doch irgendwie immer noch diese Vorurteile, dass Cyborgs eben nicht so... menschlich wären wie wir Menschen. Und Ravin ist ja noch ein besonderes Exemplar, den meisten merkt man es ja heutzutage gar nicht mehr an. Aber Ravin... ich glaube, er kann einfach nicht anders." D rückte mit seinem Kopf ein wenig näher an das Ohr seiner Chefin heran, und als er weitersprach, war seine Stimme noch einmal deutlich gesenkter als zuvor. "Die haben irgendetwas mit ihm gemacht, weißt du? Ich kenne Ravin zwar nicht besonders gut... ich glaube, das tut eigentlich niemand... aber sein Verhalten ist wirklich nicht natürlich. Und ich bin mir fast sicher, dass INFERIA schon ganz genau wusste, wie und warum sie ihn so... ähm... gebaut haben..."

"Ach, eigentlich ist es gar nicht so unüblich, dass man Cyborgs irgendwelche Chips mit einbaut, um ihr Verhalten so in eine bestimmte Richtung zu lenken", gab Aya in nicht minder leisem Tonfall zurück. "Theoretisch weiß ich sogar sehr viel darüber. Aber wenn ich Ravin so ansehe und mir das vorstelle..."

D antwortete lediglich mit einem neuerlichen Schulterzucken, und mit einem Mal wusste die Wissenschaftlerin nicht mehr, was sie noch zu diesem Thema hätte sagen können. Denn obwohl sie im Laufe ihres Studiums eigentlich alle Eventualitäten und Untiefen der Humantechnologie kennen gelernt und erforscht hatte, fühlte sie sich nun doch... irritiert. Und es war ganz und gar kein angenehmes Gefühl, das sich da so schamlos in ihrer Brust hatte breit gemacht, in jedem Fall aber kein passender Begleiter für diesen zauberhaften Abend, und so nahm sie einen weiteren tiefen Zug von der abgestandenen Hallenluft, bevor sie mit lauterer Stimme neuerdings das Wort ergriff.

"Übrigens gibt es da noch so eine Sache, die mir einfach nicht einleuchten will."

"Soso?" grinste D und nahm einen Schluck aus seiner metallisch roten Coladose. "Bisschen viele Mysterien für einen einzigen Abend, meinst du nicht?"

"Ja, aber das ist wirklich merkwürdig!" entgegnete Aya, wobei sie sich ganz besonders um einen heiteren Grundton ihrer Stimmte bemühte, der ihr irgendwann im Laufe des vorangegangenen Gesprächs abhanden gekommen sein musste. "Hört mal zu: Wir wissen ja mittlerweile, dass Venelle unser Mörder gewesen ist. Man hat da auch scheinbar ein ganz schön makabres Fotoarchiv aus seinen Privatsachen zu Tage gefördert... sagt mal, würdet ihr euch eigentlich irgendwie seltsam vorkommen, wenn ihr erfahren würdet, dass euer ehemaliger Vorgesetzter ein psychopatischer Massenmörder gewesen ist? Das ist jetzt nicht meine eigentlich Frage, das fällt mir nur gerade so ein."

"Weißt du, Aya", antwortete D lächelnd, während er die junge Wissenschaftlerin einer kurzen, fast beiläufigen Musterung unterzog, "eigentlich würde mich diese Neuigkeit bei manchen Vorgesetzten gar nicht so sehr verwundern."

"Mich würde es allerdings auch nicht wundern, wenn man als dein Vorgesetzter zum Massenmörder mutiert", gab Aya in zuckersüßem Tonfall zurück. "Aber was mich eigentlich viel mehr interessiert ist, warum Venelle mich überhaupt um Hilfe gebeten hat... er hat mich ja quasi auf sich selbst angesetzt, statt einfach fröhlich und unerkannt weiter vor sich hinzumeucheln. Und das macht nun wirklich keinen Sinn!"

"Hm... na ja... das kommt ganz darauf an", entgegnete der Schwarzhaarige und grinste.

"Was kommt worauf an?"

"Auf den Standpunkt. Wie meistens eigentlich. Von deinem Standpunkt aus betrachtet macht diese ganze Aktion, von wegen dich rekrutieren und auf den Sweet Slaughter ansetzen wahrscheinlich wirklich keinen Sinn, da muss ich dir voll und ganz Zustimmen."

"Und von welchem Standpunkt aus müsste ich auf die Sache zurückblicken, um sie zumindest ansatzweise verstehen zu können? Jetzt bin ich aber wirklich gespannt!"

"Dann pass mal gut auf, Aya, und stell dir vor, ich wäre ein stinkreicher, psychopathischer Firmenbesitzer."

"Du siehst aber nicht so aus wie ein stinkreicher Firmenbesitzer, D", stellte Aya trocken fest und runzelte die Stirn. Der Schwarzhaarige winkte mit einer beiläufigen Geste ab, ohne das Grinsen auf seinem Gesicht zu verlieren.

"Und du verfügst über genauso viel Fantasie wie die meisten Akademiker, nämlich gar keine", konterte er mit einem Augenzwinkern. Dann ließ er seine Finger einige Male über die wenigstens noch ansatzweise kühle Oberfläche seiner Coladose gleiten, bis sich ein dünner Film von Kondenswasser auf seiner Haut gebildet hatte, und strich sich durch sein kurzes schwarzes Haar. "Siehst du, jetzt habe ich schon mal die passende Frisur. Also, weiter im Text. Gehen wir doch einmal davon aus, ich bin reich und möchte es auch bleiben, ebenso wie ich psychopatisch bin und das natürlich auch nur äußerst ungern ändern würde, wär ja auch irgendwie schade drum. Für beides benötige ich diesen großkotzigen Modelcontest hier, immerhin brauch ich ja Frischfleisch für die Fotos und dazu noch ein bisschen Kohle, da sag ich doch auch nicht nein."

"Soweit kann ich dir folgen. Aber wie weiter?"

"Tja, du kannst dir vielleicht denken, dass meine schöne kleine Mordserie beim Management, bei diversen Co-Veranstaltern, Firmen- und Werbepartnern et cetera natürlich nicht unbedingt gut ankommt. Oder anders ausgedrückt: Mir wird von allen Seiten mächtig aufs Dach gestiegen, also bin ich förmlich dazu gezwungen, irgendjemanden einzuschalten, der sich der Sache annimmt. Sonst laufe ich ja Gefahr, dass mein Goldeselchen mir ins Wasser fällt und ertrinkt."

"Ja, aber warum hat er denn dann nicht einfach die Polizei gerufen, sondern mich?"

"Diese Frage solltest du dir vielleicht lieber selber beantworten", gab D mit einem noch ungleich breiten Grinsen auf dem Gesicht zurück. "Und dann eventuell auch mal den einen oder anderen Gedanken daran verschwenden, ob der Ruf, der dir vorauseilt, wirklich der ist, für den du ihn hältst."

Aya bekam noch am Rande mit, wie ihr langsam aber sicher die Kinnlade nach unten sank, während sich inmitten ihres Kopfes eine grausame, aber unumgängliche Wahrheit zurechtzulegen begann, die ihre Laune wahrscheinlich binnen weniger Sekundenbruchteile bis auf den Grund eines siebenstöckigen Kellergebäudes hinabgerissen hätte - wäre nicht im selben Moment das Licht auf der Bühne zu neuem Leben erwacht, um die geschniegelte Gestalt eines anzugtragenden Mannes auszuspucken, der mit einem Mikro in der Hand und einer gehörigen Portion Gel in den Haaren lächelnd vor die Massen des Publikums trat.

"Und da sind wir wieder, meine Damen und Herren", säuselte er begleitet von einer raumgreifenden untermalenden Geste in sein Mikrofon, nachdem er sich noch einige Augenblicke lang im Applaus und in den Schreien der Menge gesonnt hatte. "Jetzt geht es ums Ganze, jetzt geht es darum, wer die neuen Gesichter des Hauses Evershine im Jahre 7395 werden - jetzt geht es um den Sieger und die Siegerin des Evershine New Diamonds Awards! Aber bevor ich die Namen der beiden glücklichen Gewinner verkünde, bitte ich noch mal um einen tosenden Beifall für unsere Zweit- und Drittplatzierten!"

Er vollführte eine geschmeidige Kopfbewegung in Richtung eines mit Schärpen und Blumensträußen bewaffneten Häufchens junger Männer und Frauen, die alle nicht so recht zu wissen schienen, ob sie nun glücklich oder enttäuscht dreinblicken sollten. Dann räusperte er sich und winkte einer jungen, klapperdürren Blondine in einem signalroten Paillettenkleid zu, die sich prompt in Bewegung setzte und mit einem kurzen entzückenden Lächeln in das gesichtslose Grau der Massen einen goldenen Umschlag hinter ihrem Rücken hervorzauberte. Der Ansager nahm ihr das metallisch schimmernde Stück Papier bedeutungsvoll nickend aus der Hand und machte sich dann in fast schon unverschämter Langsamkeit daran, die Lasche zurückzuklappen, um ein mattsilbernes Kärtchen hervorzuzaubern.

Dann zog er beide Augenbrauen hoch, bemühte sich um einen anerkennend-überraschten Blick und sandte dann ein letztes Grinsen zu dem momentan eher bemitleidenswert als glamourös anmutenden Rest der wartenden Models, der sich in seinem Rücken zu einer bildschönen, wenn auch nicht sonderlich stabil erscheinenden Mauer aufgereiht hatte. Ein weiteres Räuspern, gefolgt von einem tiefen, sicherlich vollkommen überflüssigen Atemzug - dann ließ er den Umschlag samt Kärtchen sinken und hob stattdessen das Mikrofon an seinen Mund.

"Und jetzt ist es soweit, der Evershine New Diamonds Award ist entschieden - und die Gewinner sind Li-Anh Shaozu und Ravin Lancis!"

Der Sturm, der in den folgenden Minuten im überhitzten Halbdunkel des ETU losbrach, war schlicht und einfach nicht mehr in Worte zu fassen. Eigentlich war es auch überhaupt nicht mehr dunkel, denn überall flackerten grelle Blitzlichter auf, durchschnitt ein infernalisches Kreischen, Klatschen und Johlen die Luft, dass es beinahe schon in den Ohren schmerzte. Doch das war Aya so egal wie selten zuvor etwas in ihrem Leben, hatte sie selbst doch keinesfalls vor, hinter dem Jubel der Massen zurückstecken zu müssen. Der schmierige Ansager hatte seine Worte kaum über die Lippen gebracht, als es sie schon nicht mehr auf ihrem Sitz gehalten hatte, und jetzt fiel sie in den Rausch des Beifalls, des Schreiens und Lachens ein, so als ob sie nicht im Publikum eines Schönheitswettbewerbs, sondern um knappe vierzehn Jahre verjüngt in der zweiten Zuschauerreihe auf dem Konzertes einer höchst angesagten Boygroup befände.

Und es kümmerte sie nicht auch nur das kleinste bisschen, ob sie am nächsten Tag nun heiser und gehörlos sein würde, ob sie sich vor versammelter Mannschaft zum Affen machte oder ihren Mitarbeitern just in diesem Augenblick auch noch das letzte bisschen Respekt vor ihrer Person raubte, das diese wohl sowieso niemals wirklich besessen hatte. Es war, als ob irgendeine höhere Macht kurzerhand jene Lampe abgeschaltet hatte, die ansonsten in vierundzwanzigstündigem Dauerbetrieb ihr fahles, unheilvoll blasses Licht auf die Schatten der Vergangenheit gerichtet hielt, um sie präsent und lebendig zu halten. Und nun, ohne diese gewohnte Last auf ihren Schultern, fühlte sie sich so frei und losgelöst wie schon lange nicht mehr.

Was hätte sie auch daran hindern sollen? An diesem einen überwältigenden Abend schien eigentlich jeder einzelne im gesamten gigantischen Saal in einer Art übermütig heiteren Feierlaune zu schweben, ganz gleich ob Teenager, Banker, Mutter, Anwalt oder Geschäftsmann, irgendwie war doch alles, einfach alles nur eine einzige Party, eine Party, an der ein halber Quadrant Anteil hatte. Und dieser Gedanke allein war weiß Gott ein verflucht berauschendes Gefühl.

Die Menge beruhigte sich erst wieder, als die strahlende Li-Anh mit Krönchen, Blumen und einer blau-silbernen Schärpe bedacht worden war und nun ein Mikrofon in die Hand gedrückt bekam, um sich unter Tränen und auf rührendste Art und Weise bei Freunden, Familie und Jury zu bedanken - überhaupt bei allem, ohne die ihr Sieg niemals möglich gewesen wäre und die von Anfang an immer zu ihr gehalten und an sie geglaubt hatten. Ein letzter Handkuss ins Publikum, dann nahm der Ansager der jungen Frau das Mikrofon wieder aus der Hand und gab es mit einem anerkennenden Nicken an Ravin weiter.

Was gleichzeitig jenen Moment einläutete, von dem Aya nicht nur den ganzen Morgen über, sondern mindesten schon anderthalb Wochen lang Tag und Nacht geträumt hatte.

"Ich möchte mich bei der Jury und dem Publikum bedanken", begann der Weißhaarige zu sprechen und rang sich ein Lächeln ab, das zwar unbestreitbar umwerfend war, das aber dennoch nicht so recht zu der Kälte in seiner Stimme passen wollte. Eine Tatsache, die außer Aya allerdings niemand so recht zu bemerken schien, stattdessen wurde von einigen Seiten her ein fast schon an Hyperventilation grenzendes Kreischkonzert im Publikum laut, was ganz unweigerlich wieder die Erinnerung an den Auftritt einer gewissen Boygroup in der jungen Wissenschaftlerin weckte. Sie schüttelte den Kopf, rief sich gewaltsam in die stickige ETU-Arena zurück und harrte mit einem verzückten Lächeln auf den Lippen jenem schönsten aller Augenblicke, der sie an diesem ganzen Abend und überhaupt noch erwarten sollte.

"Am allermeisten möchte ich mich aber bei meiner Chefin bedanken, Dr. Aya Mitsuyuki von INFERIA Technologies", fuhr Ravin mit einem weiteren, sogar noch ein wenig überzeugenderen Lächeln auf den Lippen fort und veranlasste deren Herz spontan zu einigen Salti rückwärts bis knapp in die Halsgegend hinauf. "Sie hat mich überhaupt erst auf diesen Wettbewerb aufmerksam gemacht und ohne ihre Unterstützung wäre ich sicherlich nicht so weit gekommen!"

Besagte Aya war gerade noch damit beschäftigt auszuprobieren, wie weit sie ihre Mundwinkel nach oben verziehen konnte, als sie mit einem Mal ein unsanfter Stoß in die Seite traf.

"Du solltest dich was schämen, Aya", raunte ihr D mit vorwurfsvoller Miene zu, die sie jedoch lediglich mit einem weiteren Lächeln quittierte. "Dazu hast du ihn gezwungen!"

"Ich habe ihn darum gebeten", verbesserte sie sanft und schlug ihre langen Wimpern einige Male auf und nieder. "Oder kannst du mir vielleicht eine bessere, günstigere und vor allem weitreichendere Werbung verraten? Und die haben wir uns meiner Meinung nach nun wirklich verdient, wo doch unser erster Klient schon gleich nicht mehr... zahlungsfähig ist."

"Und als nächstes lässt du ihn deine Telefonnummer verkünden und Visitenkarten ins Publikum schmeißen, oder was?" Er rümpfte die Nase und bedachte seine Vorgesetzte mit einem gespielt verächtlichen Kopfschütteln. "Dass du dir für so was nicht zu schade bist... aber halt, gerade fällt mir noch so eine Ungereimtheit auf: Wer veranstaltet eigentlich diesen ganzen Zirkus hier, jetzt, da Venelle nicht mehr unter den Lebenden weilt?"

"So weit ich weiß wurde der Evershine-Konzern von einer der führenden Firmen aus dem Alpha-Quadranten aufgekauft, dem... Mesaya-Konzern, wenn ich mich nicht irre. Die haben ihren Hauptsitz auf der Erde und strecken jetzt ihre Fühler nach neuen Ecken des Universums aus. Das ist auch eine Form von Vermarktungsstrategie, weißt du? Aber von solchen Dingen scheinst du ja nicht sonderlich viel Ahnung zu haben, mein lieber D."

Der Schwarzhaarige sparte sich eine Antwort, vielleicht ganz einfach deshalb, weil ihm keine mehr einfiel, die amüsant oder schlagfertig genüg gewesen wäre, und nach einigen Augenblicken tat Aya es ihm gleich und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer in ihren samtroten Sitz zurücksinken. Die junge Wissenschaftlerin nahm einen tiefen Schluck von ihrem abgestandenen Mineralwasser, das mit einem Mal eigentlich gar nicht mehr so schlecht zu schmecken schien.

Dann wandte sie ihren Blick aufs Neue dem wunderschönen Paar auf dem Laufsteg zu und betrachtete mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit die beiden makellosen Gestalten, bis diese irgendwann im Flackern der Blitzlichter vor ihren Augen verblassten.
 

Akte 3c/ Ende
 

PS: Viele Grüße an Yoko-chan... wie war das, du errätst nie, wer der Täter ist? ^_____^

Akte 4a/ Das Studium

Auf... einfachen Wunsch hab ich mich endlich dazu aufgerafft, das neue Levi-Kapitel hochzuladen, dass schon seit Ewigkeiten fertig und nun schon seit etwa einer Woche komplett verbessert und überarbeitet auf meinen PC vor sich hindümpelt. Was tut man nicht alles, um nicht fürs mündliche Abi arbeiten zu müssen? Aber hey, nach anderthalt unglaublich fleißigen Tagen darf ich mir das gewiss auch mal erlauben. ^_~

Dies ist ein merkwürdiges Kapitel. Es ist nicht so sehr handlungsbetont, aber man erfährt eine Menge über gewisse Charaktere, genauer gesagt über Ronin und Aya. Dinge, die manche vielleicht so nicht erwartet hätten. Hehe. Ich bin gespannt, was ihr dazu sagt. ^____^ Außerdem taucht jetzt endlich mein Lieblingschara auf, den ich sogar fast noch ein bisschen lieber hab als Ravin, und das will schon was heißen! Ich würde mich sehr, sehr, sehr über ein allgemeines Meinungsbild freuen und wünsche allen viel Spaß beim Lesen!

PS: Extra für animexx hab ich ein paar mehr (überflüssige) Absätze reingepackt - bitte nicht dran stören! - und mich außerdem an FF-Codes versucht... für Letztere übernehm ich keine Haftung. ^^;
 

Aya war verwirrt. Ein bisschen verloren, ein bisschen hilflos, in erster Linie aber eben ganz einfach nur verwirrt, zutiefst verwirrt, um genau zu sein, tiefer noch als in jeder anderen Situation, an die sie sich lebhaft genug erinnern konnte, um solch ein für gewöhnlich recht flüchtiges Gefühl wie die menschliche Verwirrung zurück in ihr stets aufs Höchste gefordertes Gedächtnis rufen zu können. Momentan war besagtes Gefühl auch keineswegs flüchtig, scheinbar nicht einmal mehr vergänglich, sondern hatte sich vielmehr inmitten ihrer Brust ein Apartment gemietet (vielleicht das Herz, mit romantischem Blick auf Lungen und Milz und Bademöglichkeiten im Meer der roten Blutkörperchen, ganzjährig beheizt) und es schien sich an diesem Ort auch so unwahrscheinlich wohl zu fühlen, dass es die drohende Abreise mit stoischer Gelassenheit weiter und weiter hinauszögerte.

Es mochte ganz einfach nur daran liegen, dass die junge Wissenschaftlerin in dem doch nicht unbedingt langen Zeitraum der zurückliegenden vierundzwanzig Stunden (abzüglich Schlafenszeiten) einfach viel zu viele Dinge erlebt hatten, die wie eine sintflutartige Sturmwoge über all ihre Sinne hereingebrochen waren. Sie hatte das Paradies gesehen. Einen Menschen getroffen, der durch den Tod gegangen und wieder auferstanden war. War zweimal binnen fünf Minuten von derselben und doch nicht derselben Person an den Rand eines Herzinfarkts getrieben worden. Hatte D geheiratet. Und schließlich war sie einem leibhaftigen Engel begegnet, dem absurdesten, wahnsinnigsten Engel, den sich der unergründliche Geist von Mutter Natur wohl jemals hatte zusammenreimen können. Ganz zu schweigen davon, dass ihr ohnehin schon alles andere als rosarot verklärtes Weltbild bereits seit den frühen Morgenstunden noch einen weiteren, unangenehm tiefen Riss zu verzeichnen hatte...

Jetzt, wo sie auf dem schwarzen, von knapp einem Zentimeter tiefen Linien überzogenen Kunststoffsitz der Kinderschaukel saß und gedankenverloren ein ums andere Mal vor und wieder zurück wippte, erschien ihr alles so... fern. Dabei waren kaum fünfunddreißig Minuten vergangen, seit sie die Türe ihres vorläufig neuen Eigenheimes fest hinter sich verschlossen und vor Gott und der Welt in das knapp zwanzig mal zehn Meter große Viereck ihres rückwärtigen Gartens zurückgezogen hatte. Hohe Buchsbaumhecken sollten sie vor jeglichen neugierigen Blicken abschirmen, doch die oberen Fenster der Nachbarhäuser lagen hoch genug, um selbst diesen treuen, sattgrünen Sichtschutz wieder zunichte zu machen.

Was aber im Grunde genommen alles miteinander sowieso vollkommen hinfällig war - die Hecken ebenso wie die darüber erhabenen Fenster, denn trotz der noch gar nicht einmal so weit fortgeschrittenen Abendstunde brannte hinter keinem einzigen der gläsernen Vierecke mehr Licht. Weder in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft noch in sonst irgendeinem Haus jener breiten, schnurgeraden Straße mit dem schönen Namen Fitzgerald Avenue, ja, im Grunde genommen lag nahezu die gesamte verfluchte Siedlung auf dem gesamten verfluchten Ecliptica-Trabanten in einem Brei milchigen Zwielichts, in dem die warm erleuchteten Fenster von Ayas eigenem Haus ganz seltsam und fast schon ein klein wenig unheimlich verloren wirkten.

Dies lag nicht etwa daran, dass die Bevölkerung des kleinen Planetenanhängsels von irgendeinem kollektiven Schönheits- oder Gesundheitswahn befallen worden war, der die gesamte Einwohnerzahl bereits mit dem ersten Grauschleier der Abenddämmerung zuverlässig ins ergonomisch geformte Bettchen trieb. Ebenso wenig an einem trabantenweiten Stromausfall oder gar an irgendwelchen obskuren bis mysteriösen Umständen, die jedem auch nur ansatzweise phantasiebegabten Menschen ganz unweigerlich ins Bewusstsein treten mussten. Es war nur ganz einfach so, dass sich, während Aya mit gesenktem Kopf und müden Augen in ihrem Garten auf der Kinderschaukel saß, in keinem einzigen der umliegenden Häuser Menschen aufhielten.

Schuld an diesem Zustand vollkommener Isolation war allerdings keine todbringende Seuche, auch kein drohender Krieg oder Meteoriteneinschlag, sondern schlicht und einfach die wenig weltbewegende Tatsache, dass einmal mehr der Sommer über unseren kleinen Trabanten hereingebrochen war und den ausnahmslos gut betuchten Bewohnern (zu knapp 84% Angehörige der gehobenen Mittelklasse, größtenteils Familien) mit dem zarten Lockruf seiner warmen Strahlen ein Lied von Urlaub und Ferien vorgeträllert hatte. Und wenn auf beziehungsweise in Merrywood Ville - Trabant und Stadt trugen nämlich den gleichen Namen - der Sommer lockte, dann gab es für besagte Einwohner kein langes Halten mehr.

So wie sich nämlich in einem weit entfernten Quadranten ein Planet namens Erde fortwährend um einen Stern namens Sonne drehte und wie jeden Abend pünktlich um 18.00 Uhr auf Attrayas wohl beliebtestem IV-Informationssender, INFERIA's Daily Explorer for Attraya, kurz: IDEA, mit dem schon seit knapp 145 Jahren ewig gleichen Gongschlag die Tagesnachrichten eingeläutet wurden, so war es auch auf Merrywood Ville eine Art ungeschriebenes Naturgesetz, dass in der warmen Jahreszeit nahezu alles Leben gen Süden zog. Wer das nicht tat, der fiel automatisch auf. Und aufzufallen, das war für die Bewohner Merrywood Villes in etwa gleichbedeutend mit Pest, Cholera, Milzbrand oder einem atomaren Kriegszustand zwischen INFERIAs militärischer Sondereinheit MATRIX und dem als besonders kaltblütig bis brutal eingestuften Grenzschutzkommando Border Secure des angrenzenden Rho-Quadranten.

Nun ergab sich also aus dem grotesken Diorama dieses vollkommen wolkenlos blauen Grinsehimmels, dieser endlosen Reihen schneeweißer Häuser, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, und der allgegenwärtigen vollkommenen Verlassenheit ein Bildnis von wahrhaft unvergleichlicher Tristesse, die einem allerdings auf den ersten Blick noch voll und ganz verborgen blieb. Ja, zunächst einmal war alles wunderschön, unfassbar schön, und erst nach und nach enthüllte sich das unterschwellige Grauen, das hinter einer blendend weißen Fassade sorgsam verborgen lag. Es drang in die Adern ein wie ein schleichendes Gift und breitete sich dann langsam aber sicher im ganzen Körper aus, ohne dass der Todgeweihte überhaupt Notiz davon nehmen konnte.

Und mit jeder Sekunde, die es dort zwischen Organen und Knochen und Bindegewebe verbrachte, entfaltete es unbemerkt seine zerstörerische Wirkung, wurde schwerer und schwerer, bis es schließlich seinen hilflosen Wirt wie Zentner von Blei zu Boden zerrte. Kurzum: Alles schien mit einem Mal bedrückend, die an und für sich recht freundlichen Dinge noch ungleich mehr als die offensichtlich hässlichen und trostlosen, und Aya war blindlings in diesen Strudel aus Finsternis hinabgetaumelt. Jetzt saß sie da, gefangen in einem Sog, dem sie sich nicht mehr entziehen konnte, und scharrte mit ihren nackten Füßen (die neuen weißen Stilettos hatte sie ausgezogen und neben dem hölzernen Gestell der Schaukel im Gras abgestellt) sinnlose Linien in die sandige Erde, ohne wirklich Notiz davon zu nehmen, dass sie es tat.

Ein einziger Tag, nur ein einziger Tag, und es war soviel passiert, dass sie keine Scheu davor hatte, von einem der ereignisreichsten Tage in ihrem ganzen Leben zu sprechen. Wenn sie all das, was im Endeffekt geschehen war, schon am frühen Morgen und in dem Augenblick geahnt hätte, als ihr Wecker sie mit seinem immer gleichen Piepston aus ihren vergleichsweise langweiligen Träumen gerissen hatte, vielleicht wäre sie ganz einfach liegen geblieben und gar nicht erst aufgestanden. Aber natürlich war sie zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen ahnungslos gewesen, und im Grunde genommen war es ja fast schon wieder lächerlich.

Es hatte alles so harmlos angefangen...
 

Die Luft war kühl gewesen an diesem Morgen, angenehm kühl. Was sich im Laufe des Tages natürlich noch ganz gewaltig ändern sollte, aber wen kümmerte das schon? Es war ein schöner Morgen. Ein Morgen, an dem sich Sonnenstrahlen zwischen den silbergrauen Metallstreben der Jalousien hindurchschlichen und wunderschöne Muster aus tanzendem Licht in die Staubteilchen der Schlafzimmerluft zeichneten. Ein Morgen, an dem das IV-Gerät ausnahmslos Lieblingslieder spielte und an dem das Zimtcappuccino-Instantpulver ausnahmsweise einmal keine Klümpchen in der warmen Milch bildete.

Beim Duschen hatte Aya auf Anhieb eine angenehme Wassertemperatur erwischt, auf dem Weg zur Arbeit war sie mit ihrem Gleiter in keinen einzigen Stau geraten (nicht einmal auf dem Northern Loop-Overdrive) und sie hatte auch - oh Wunder! - nach nur anderthalb Minuten einen Parkplatz im firmeninternen Parkhaus finden können, ohne sich an einer der zahlreichen tückischen Ecken und Biegungen den Lack ihres treuen Gefährts und Gefährten abzuschleifen. Und zur gelungenen Krönung dieses filterkaffeewerbungshaften Supermorgens hatte D sie dann schließlich nicht nur mit einem strahlenden Lächeln, sondern auch noch mit einer überquellend dicken Akte in der Hand empfangen und mit diesem sicherlich nicht ganz leichten Ungetüm ein ums andere Mal in seiner weltvergessenen Euphorie fast unmittelbar vor Ayas Gesicht herumgewedelt.

Um einen ganz unwahrscheinlich tollen Auftrag sollte es sich da handeln, nicht zu vergleichen mit allem bisher da Gewesenen, mehr mit einer dieser nicht ganz unblutigen 22.15 Uhr-Mistery-Serien, die gerade insbesondere unter der jugendlichen, aber auch der jüngeren arbeitenden Bevölkerung solch ein beispielloses Revival erlebten. Die dunklen Augen des jungen Mannes hatten fortwährend geblitzt und gefunkelt und nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch der überschwänglich begeisterte Tonfall seines Redeflusses hatten Aya mehr als nur einmal daran zweifeln lassen, ob sie nicht tatsächlich einen überaus gut verkleideten Ronin vor sich stehen hatte.

Trotz allem war die ohnehin schon unbändige, grenzenlose Neugierde der Wissenschaftlerin nicht zuletzt durch dieses selbst für Ds Verhältnisse noch ungewöhnlich übersteigerte Ausmaß an guter Laune nur zusätzlich angefacht worden, und so hatte sie sich bei der erstbesten Gelegenheit mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Käsekuchen aus der Mitarbeiterkantine bewaffnet samt Akte auf eine einsame Bank im an die INFERIA-Tower anschließenden Park zurückgezogen. Mittlerweile war es wärmer geworden, deutlich wärmer, aber doch immer noch nicht unangenehm heiß, und nachdem Aya sich die Ärmel ihres schneeweißen Laborkittels zurückgekrempelt und kurzerhand die drei obersten Knöpfe ihrer hellblauen Bluse geöffnet hatte, da begann sie sogar, sich an ihrem Platz zwischen Hecken, Metallmüllkörben und künstlichen Rasenflächen so richtig herrlich wohl zu fühlen, obwohl der Kaffee ihrer Meinung nach zu sehr nach Milchpulver und der Kuchen wie üblich ein bisschen trocken schmeckte.

Nachdenklich musterte sie die glänzend schwarze Oberfläche der Akte, die ihr auf solch feierlich vergnügte Weise überreicht worden war. Der Einband sah recht teuer aus, war aber durch die rücksichtslose Überstrapazierung des zur Verfügung stehenden Innenraumes ausgebeult und zerfleddert worden, wodurch das ganze Gebilde einen einerseits recht trostlosen, aber doch gleichzeitig auch irgendwie sympathisch unordentlichen Eindruck machte. Aya fuhr ein-, zweimal mit ihren dunkelrot lackierten Fingernägeln über das glatte Material, dann stellte sie ihren Kaffeebecher und den Kuchenteller neben sich auf die weißen Kunstholzstreben der Parkbank und nahm die Akte zur Hand.

Es fiel ihr zunächst einmal alles andere als leicht, sich inmitten der zahllosen, nicht unbedingt pedantisch sortieren Blätter zurechtzufinden, von denen zu allem Überfluss auch noch mindestens jedes zweite per Büroklammer mit irgendeinem oder auch mehreren Anhängseln versehen worden war. Mehr als nur einmal flogen ihr kleine Fotos und Zettelchen entgegen, die man scheinbar einfach lose zwischen die Seiten gesteckt hatte, und etliche von ihnen zeigten ihr ein Haus, wieder und wieder dasselbe Haus, an dem sich von Bild zu Bild bestenfalls noch bedeutungslose Kleinigkeiten veränderten. Erst auf den dritten, vierten Blick fiel ihr auf, dass die Häuser unterschiedliche Hausnummern trugen und sich ganz einfach nur verflucht ähnlich sahen, wobei das Wort ähnlich bereits deutlich mehr Individualität zum Ausdruck brachte, als es im Angesicht dieser wahrhaftigen Zwillingsbauten noch gerechtfertigt gewesen wäre.
 

Aya war gerade damit beschäftigt, sich über eine kleine Horde von Gartenzwergen zu amüsieren, die zwischen dem schneeweißen Zaun eines Vorgartens und der makellos weißen Front des zugehörigen Hauses eher wie eine grotesk deformierte Kolonie von Strafgefangenen aussah, die sich mit Schaufel, Schubkarre und Spitzhacke zum Ausbruch aus ihrem suburbanen Gefängnis aufgemacht hatten, als sie mit einem Mal ein leises, vergnügtes Kichern vernahm und aufblickte. Knapp einen Meter vor ihr stand Ronin. Seine dünnen Beinchen endeten in schweren grauen Schnürstiefeln und waren ansonsten in eine knielange schwarze Hose gehüllt, die von sage und schreibe drei Nietengürteln geziert wurde. Außerdem trug der Weißhaarige ein bauch- und ärmelfreies, dunkelgraues Kapuzenshirt mit einem Reisverschluss und einem neongelben Kanji auf einer Tasche unmittelbar über seinem Herzen. Seine bleichen Hände steckten in fingerlosen Handschuhen, die mit Nähten desselben leuchtenden Gelbs verziert, größtenteils aber in Schwarz gehalten waren.

"Tag, Aya", grinste er und fuchtelte mit seiner Rechten vor dem Kopf der jungen Wissenschaftlerin herum, was wohl ein ganz besonders fröhliches Winken darstellen sollte. "Cool, ich seh grad, dass du die Akte ja schon gekriegt hast. Weißt du, ich hab das Ding nämlich heute Morgen samt Auftrag überreicht bekommen und ich war ja soooooo unvorstellbar aufgeregt, weil immerhin ist das ja auch der allerallererste Auftrag, den ich überhaupt jemals bekommen habe, ich meine so ganz persönlich und in die eigenen Hände und somit auch zumindest in einem moralischen Sinne in meine eigene Verantwortung, was jetzt natürlich nicht heißen soll, dass ich für die anderen Aufträge, von denen du mir nur erzählt hast, nicht in gleichem Maße verantwortlich gewesen wäre, und du erzählst ja auch ganz ausnehmend gut und lebendig und witzig, aber ich fand das eben einfach nur so toll und so aufregend und... hast du's dir schon durchgelesen?"

"Ähm - was?" Aya blinzelte Ronin etliche Male fragend an, während ihre Gedanken sich redlich bemühten, seinem wieder einmal ganz besonders reißend schnellen Redefluss wenigstens im Nachhinein noch folgen zu können. Was ihr natürlich nicht gelang, weshalb sie sich auch rasch auf eine andere Taktik besann, um wenigstens ein klein wenig Zeit zu gewinnen. Sie stellte ihr karges Frühstück mit einer betont zuvorkommenden Geste auf dem sandigen Boden zu ihren Füßen ab, zauberte sich ihr strahlendstes Lächeln auf die tiefrot geschminkten Lippen und klopfte in vollkommen übertriebener Weise auf den freien Platz zu ihrer Linken.

"Jetzt setz dich doch erst einmal. Ich finde das immer so furchtbar ungemütlich, wenn bei einer Unterhaltung der eine steht und der andere sitzt... man kann sich auch nicht so recht in die Augen sehen, und außerdem komme ich mir da immer ganz furchtbar unhöflich vor. Das ist wie in der Metro. Ich habe selber gerade die Nacht im Labor hier verbracht, habe bis in die frühsten Strahlen der Morgensonne hinein gearbeitet - die ich dort unten freilich nicht sehen konnte - und danach packte mich auch noch der Shoppingdämon und ich trage mindestens fünfzig Einkaufstüten nach Hause und meine Füße sind halb tot und meine Arme und meine Schultern und mein Rücken und ich selbst eigentlich auch. Und dann kommt da so ein altes Großmütterchen hineingeschlurft und ich sehe sie und sofort fühl ich mich schlecht, weil ich sitze und sie... schlurft. Natürlich stehe ich dann trotzdem nicht auf, ich bin ja keine barmherzige Nonnenschwester oder so etwas, aber... du verstehst was ich dir sagen möchte, oder?"

Ronin machte eine Kopfbewegung, die so ziemlich alles und nichts hätte heißen können, und ließ sich dann mit einem tiefen Seufzer neben der etwas gequält lächelnden Aya auf das helle Kunstholz sinken. Sein schulterlanges weißes Haar trug er zu einem höchstwahrscheinlich bewusst auf unordentlich getrimmten Pferdeschwanz zusammengebunden. Er streckte seine immer wieder erschreckend dünnen Beine weit von sich, ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und schloss seine blutroten Augen. In dieser durch und durch entspannten Position verharrte er etliche Momente, dann hob sich seine Brust in einem tiefen Atemzug und er wandte mit sichtlicher Mühe seinen Kopf in Ayas Richtung.

"Entschuldige, aber mit mir ist grad irgendwie noch nicht allzu viel anzufangen, fürchte ich... ich bin nämlich so ein ganz kleines bisschen müde, weißt du? Also gut, ich gestehe, eigentlich ist es sogar ein ziemlich sehr großes bisschen und ich bin ja auch ganz objektiv betrachtet wieder mal selber schuld an dem ganzen Unglück, das doch im Übrigen eigentlich und genau genommen überhaupt keines war, da ich nämlich trotz allem viel Spaß hatte letzte Nacht, und die schönen Erinnerungen habe ich mir ja bis heute behalten können, die kann mir auch niemand mehr wegnehmen und außerdem bin ich jung, vielleicht nicht so jung, wie ich aussehe, aber immer noch jung genug um das Recht zu haben, ab und an um die Häuser zu ziehen, man kann ja auch nicht immer nur schlafen, wobei so gute anderthalb Stunden dann wohl doch auch für mich ganz entschieden zu wenig waren... ein Fehler, ein ganz schlimmer Fehler..."

"Anderthalb Stunden?" Aya zog beide Augenbrauen hoch und musterte eingehend das Gesicht des kindlichen Weißhaarigen, das ihr zwar ein klein wenig erschöpft und so bleich wie immer, aber in keinem Fall außergewöhnlich mitgenommen entgegenstrahlte. Natürlich fanden sich da zwei unschöne Schatten unter den blutfarbenen Augen, aber die waren eigentlich immer da, ebenso wie die auffallend schmalen Wangen und die ganz leicht hängenden Augenlider. "Himmel, wie machst du das? Ich meine... du siehst jetzt nicht wirklich nach nur anderthalb Stunden Schlaf aus... gut, du siehst ja im Grunde genommen immer nach nur anderthalb Stunden Schlaf samt mörderischem Kater aus, aber du siehst heute eben nicht mehr als sonst nach nur anderthalb Stunden Schlaf samt mörderischem Kater aus... ich wiederhole mich."

"Stimmt, aber Kater habe ich trotzdem keinen, auch wenn du's gleich zweimal hintereinander sagst!" Ronin lachte. "Das klingt jetzt vielleicht ein wenig seltsam und irgendwie großkotzig, aber ich war eigentlich überhaupt noch nie in meinem ganzen Leben auch nur ansatzweise verkatert oder betrunken, und mit diesen Worten möchte ich auch überhaupt nicht den Eindruck von mir erwecken, dass ich ganz einfach keinen Tropfen Alkohol anrühren würde und deshalb überhaupt nicht weiß, was ein Rausch ist oder wie man dieses Wort denn eigentlich buchstabiert, wobei Letzteres ja nun doch nicht unbedingt zu den allergrößten Geistesanstrengungen zählt, aber zu Ersterem muss ich jetzt mal ganz offen und ehrlich gestehen, dass ich ab und an doch ein kleines bisschen zu tief ins Gläschen blicke, viel zu tief, vielleicht tiefer und öfter als die meisten anderen Menschen es so im Allgemeinen zu tun pflegen, und manchmal mache ich auch noch Schlimmeres, auf das ich aber lieber erst gar nicht eingehen möchte, sondern... oh, ich glaub, jetzt hab ich den Faden verloren."

Aya runzelte die Stirn, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie davon eines nahenden Tages unschöne Falten zurückbehalten würde, und unterzog den kindlichen Weißhaarigen einer kritischen Musterung.

"Du sprachst gerade von Alkohol und seinen Auswirkungen auf dich. Beziehungsweise seinen Nicht-Auswirkungen. Was auch immer."

"Oh... ja klar... was ich damit eigentlich sagen wollte, ist, dass ich... aus irgendeinem Grund von allen negativen Auswirkungen sämtlicher legaler und illegaler Drogen gnädigerweise verschont bleibe, egal wie viel von dem Zeug ich meinem armen Körper zumute. Das soll jetzt nicht heißen, dass ich schon alle legalen und illegalen Drogen ausprobiert hätte, nur eben ein paar... legale, meine ich, legale!!! Ich bekomme dann auch immer ganz ungemein gute Laune und es ist echt toll, aber das Leiden am nächsten Morgen... oder gar ein Suchtproblem... nein, das kenne ich nicht."

Die junge Wissenschaftlerin blickte ihrem grinsenden Mitarbeiter etliche Sekunden lang schweigend in die blitzenden Augen. Sie fühlte sich ein bisschen so, als ob ihr Kopf immer noch in hohlen, lichtdurchfluteten Tagträumen schweben würde, während ihr Körper unveränderterweise auf der nicht einmal wirklich bequemen Bank am Fuße ihres architektonisch sicherlich einzigartigen Arbeitsplatzes weilte und blöde lächelnd in eine belebte Leere starrte, die eigentlich überhaupt nicht existierte. Es war ja auch im Grunde genommen gar nicht so, als ob sie sich über das tatsächlich Alter ihres weißhaarigen Mitarbeiters nicht längst schon im Klaren gewesen wäre, aber...

Aber aus irgendeinem Grund hatte sie den Rotäugigen nach getaner Arbeit im Geiste doch immer in irgendein kitschig verspieltes Apartment hüpfen sehen, ein Kinderlied und ein strahlendes Lächeln auf den farblosen Lippen. Sein Bett teilte er mit einer ganzen Armee von Plüschtieren, die Bettdecke war wahlweise mit quietschgelben Entchen oder kindisch vereinfachten Raumstationen und Astronautenbildchen übersäht und an der niedrigen Decke über ihm hing ein putziges kleines Mobile, um sanft rotierend über den süßen Schlaf des müden, müden Ronin wachen zu können.

Natürlich war das nicht unbedingt eine ganz lebensnah realistische Vorstellung von dem Lebensstil eines zweiundzwanzigjährigen jungen Mannes, aber es gab eben doch noch das eine oder andere Gebiet, auf dem Aya überhaupt nicht lebensnah und realistisch sein wollte. Ronin gehörte dazu. Und die bloße Vorstellung, dass sich dieses manchmal zwar unbestrittenerweise fürchterlich nervtötende, aber doch trotz allem - oder gerade deswegen? - so unendlich putzige kleine Kerlchen auch nur in die nächste Nähe eines so profan erwachsenen Undings wie Alkohol wagen konnte, das erschien zumindest ihr persönlich nicht sehr viel weniger erschütternd als der Anblick eines grinsenden Ravins, der mit einer Dose Bier in der einen und einem Barbecuespieß in der anderen Hand gemeinsam mit D auf irgendeiner Grillparty schweinische Zoten zum Besten gab.

"Du machst Witze", war alles, was sie überhaupt noch irgendwie hervorbringen konnte. Ronin machte große Augen und legte sich einen Finger an seine Lippen.

"Hm... eigentlich... nein. Wenn ich einen Witz auf deine Kosten machen wollte, dann würde ich es wohl eher mit irgendeinem lustigen Sprachspiel versuchen, so was finde ich einfach toll und ich hab das auch erst kürzlich wieder mal gemacht, musst du wissen, da ging es aber um D und ich habe diesen Gleichklang von D und die, also einmal ,D' als Name und einmal ,die' als bestimmten Artikel ausgenutzt, aber irgendwie hat dann außer mir keiner so recht gelacht und da kam ich mir ein wenig dumm vor und habe deshalb gleich wieder vergessen, wieso ich überhaupt auf dieses Wortspiel gekommen bin und..."

"Ronin - es ist gut." Aya hob abwehrend beide Hände, wie um sich vor dem scheinbar gar nicht mehr enden wollenden Wortschwall zu schützen, der da aus Ronins bleichem Mund über sie hereinprasselte. Sie stieß einen leisen Seufzer aus und rückte leicht nervös ihre Brille zurecht, bevor sie in unüberhörbar resigniertem Tonfall weitersprach. "Ich glaube dir ja! Aber bitte lass mich das alles noch einmal kurz überdenken, eine alte Aya ist ja immerhin kein Hochgeschwindigkeitsexpress. Habe ich richtig verstanden, dass du trinken kannst, soviel und was auch immer du willst, ohne in den anschließenden Genuss eines Vollrausches oder Katers zu kommen? Aber wieso denn auch? Meine Güte, es gibt ja so viele überflüssige Reaktionen des menschlichen Körpers, ich denke da nur mal an Seitenstechen oder gar an diese nervige Vorrichtung namens Atmung, die es uns doch tatsächlich zu verbieten wagt, bis in alle Ewigkeiten unter Wasser zu bleiben. Brauchen wir so was? Nein! Ich sage - weg damit!"

Die Wissenschaftlerin seufzte erneut, allerdings deutlich unwilliger als zuvor, als sie das Lächeln auf Ronins Gesicht bemerkte, mit dem er ihren Redefluss schweigend, nur gelegentlich amüsiert nickend verfolgt hatte. Er antwortete nicht sofort, und als er es tat, da vergaß Aya sogar, sich noch länger über die ekelhaft gnädige Milde in seinen roten Augen aufzuregen. In der Stimme, aber auch in der gesamten Mimik ihres kindlichen Mitarbeiters lag mit einem Mal etwas ganz und gar ungewohnt Ruhiges, Unaufgeregtes, das Aya trotz seiner unveränderten Fröhlichkeit auf seltsame Weise erschreckte.

"Aya, du bist immer so lustig, wenn du anfängst, dich aufzuregen!", lachte er, ohne dabei übermütig zu klingen, und in seinem Blick lag nun eine ganz und gar nicht mehr kindische Wärme. "Aber ich habe schon so viel von dir gelesen, früher, und jetzt kenn ich dich ja mittlerweile persönlich auch schon einigermaßen gut, wenigstens gut genug, um zu wissen, dass du nicht nur unheimlich Stil und tolle Beine hast, sondern dass du auch wahnsinnig intelligent und ja sozusagen eine Koryphäe auf mehr als nur Gebiet bist und deshalb... hältst du mich wirklich noch für einen ganz normalen Menschen? Echt jetzt?"

"Ich..." Aya schluckte, und mit einem Mal wusste sie nicht mehr so recht, was sie sagen sollte. Der Tag, an dem sie sich mit D über Ravin und sein Dasein als Cyborg unterhalten hatte, lag noch nicht allzu lange zurück, und immer noch erwachte solch ein überaus seltsames Gefühl in ihrer Brust, wenn sie in die eisig kalten Augen des jungen Soldaten blickte und sich dann einen gewissen Satz ins Gedächtnis zurückrief, der bei ihr wahrscheinlich einen vollkommen anderen Eindruck hinterlassen hatte, als es eigentlich in Ds Absicht gelegen hatte.
 

Die haben irgendetwas mit ihm gemacht, weißt du?
 

Irgendetwas...

Aya hatte viel zu lange und mit viel zu großem Erfolg Humantechnologie studiert, um diesem Satz noch in irgendeiner Weise naiv und verharmlosend gegenüberstehen zu können, und vielleicht war auch das der Grund, warum sie mit einem Mal überhaupt nicht mehr erfahren wollte, durch was genau sich Ronin denn nun eigentlich von jenem gewöhnlichen Menschen unterschied, für den sie ihn sowieso niemals wirklich gehalten hatte. Merkwürdigerweise hatte sie sich ausgerechnet bei dem viel zu perfekten, viel zu schönen, viel zu gefühllosen Ravin in eine wohl mehr gleichgültige als wirklich verblendete Irre leiten lassen, die ihr in Ronins Fall von Anfang an verwehrt geblieben war.

Natürlich war ihr der merkwürdige Weißhaarige, der nicht nur für das ungeübte Auge immer noch mehr wie ein Kind als wie ein erwachsener Mann aussah, von Anfang an irgendwie verdächtig gewesen, lange bevor Ravin sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Es war nur ganz einfach so, dass es ihr angesichts der unzweifelhaft herausragenden Fähigkeiten, über die Ronin nun einmal verfügte, eigentlich vollkommen egal war, ob es sich in seinem Fall nun um einen ganz normalen Menschen handelte oder eben nicht. Im Gegenteil: Wenn irgendetwas mit Ronin nicht stimmte, dann sollte dieses irgendetwas eben nicht stimmen und es damit bitteschön auch gut sein lassen, denn sie für ihren Teil wollte es nicht wissen, sie wollte es einfach nicht wissen, obwohl oder gerade weil Ronin sie bei seinen Worten so unentwegt harmlos angelächelt hatte.

"Nein, das habe ich nicht", antwortete sie schließlich wahrheitsgemäß, und bemühte sich dabei um einen neutralen Tonfall, um nicht nur möglichst wenig, sondern vor allem nicht gerade genau das Falsche auszudrücken. "Aber ich bin auch Wissenschaftlerin genug, um zu wissen, wie viele Gendefekte es im menschlichen Organismus doch geben kann... auch solche, die ohne irgendwelche merkwürdigen Störungen im Alkoholabbau vonstatten gehen, über die ja scheinbar seit Neustem jeder in meiner näheren Umgebung zu verfügen scheint. Ravin bringt sich mit ein, zwei Schlucken gleich beinahe unter die Erde und du merkst von dem ganzen Spaß ja scheinbar... überhaupt nichts. Ich frage mich, was passiert, wenn D sich einmal betrinken möchte. Möglicherweise läuft er purpurfarben an und ihm springen dann kleine grüne Erdmännchen aus den Ohren oder so etwas Ähnliches..."

Ronin schlug sich eine Hand vor den Mund und prustete im nächsten Moment auch schon lautstark los.

"Erdmännchen!", stieß er kichernd hervor, und kicherte und kicherte dann immer weiter, bis irgendwann Tränen in seinen großen roten Triefaugen standen. Er schnappte nach Luft, räusperte sich und klopfte sich zweimal mit der flachen Hand auf die Brust, bevor er seine Fassung wieder einigermaßen zurückerobern konnte. "Aya", keuchte er dann, "ich möchte wissen, woher du immer diese Ideen nimmst, die sind... wirklich phänomenal...eigentlich ja vollkommen bescheuert und so, aber gerade deshalb könnte ich mich darüber totlachen, gerade weil ich so wenig geschlafen habe und mich eh so ein bisschen dusslig im Kopf fühle und ich jetzt, wie ich glaube, über so ziemlich alles lachen könnte... was nicht heißen soll, dass deine Witze, sofern man sie überhaupt als Witze bezeichnen kann, weil sie ja keine gezielt pointierten, zur Erheiterung konstruierten Anekdoten, sondern mehr spontane und meist recht sarkastische Anmerkungen und Einwürfe sind, deswegen in irgendeiner Art und Weise weniger genial wären, als sie ganz unbestreitbar sind."

"Oh... danke..." murmelte Aya und rang sich ein Lächeln ab, das auch prompt erwidert wurde. Allerdings auf eine ungleich strahlendere, ausgelassenere Art und Weise, als sie es angesichts ihrer momentanen Situation, der doch noch recht frühen Morgenstunde und der letzten trockenen Kuchenbrösel, die noch irgendwo in ihrer Mundhöhle hängen geblieben waren, um sich dort mit dem schalen Nachgeschmack des Automatenkaffees zu einer doch eher verhaltenen Gaumenfreude zu vereinigen, wohl jemals zustande gebracht hätte. Irgendetwas an diesem Lächeln und überhaupt an dem ganzen Ausdruck auf Ronins Gesicht machte der jungen Wissenschaftlerin ganz unmissverständlich klar, dass er soeben wortlos das Thema gewechselt hatte, was ihr selbst auch alles andere als unrecht war, all ihrer ungebrochenen, scheinbar auch unbezwingbaren Neugierde zum Trotz.

"Bitte, bitte, ich finde, Komplimente muss man immer genau in dem Augenblick aussprechen, in dem sie einem auf die Zunge kommen, sonst wirken sie nämlich unecht, aufgesetzt, verkünstelt und somit nicht mehr als die schmeichelnden, das Ego des anderen auf ehrliche Weise stärkenden Worte, als die sie gedacht worden waren", verkündigte Ronin mit erhobenem Zeigefinger und schlug sich noch im nächsten Moment erneut eine Hand vor den Mund, als sich sein Gesicht zu einem ausgiebigen Gähnen verzog.

"Na? Müde?", lächelte Aya auf boshaft zuckersüße Weise und stieß dem Kleineren leicht mit ihrem Ellenbogen in die Seite. "Man zieht aber auch nicht bis... ungefähr Sechs Uhr morgens um die Häuser, wenn man am nächsten Tag einen unvorstellbar wichtigen Job zu erledigen hat, weißt du?"

"Gar nicht bis Sechs Uhr morgens", grummelte der Weißhaarige, während er sich erneut die Tränen aus seinen großen roten Augen wischte, die diesmal allerdings von Müdigkeit, nicht von Heiterkeit hervorgerufen worden waren. "Es war gerade Mal halb Drei!"

"Halb Drei?", echote Aya ungläubig. "Meine Güte, wann stehst du auf?"

"Wie... wann steh ich auf? Ich... wohn nich weit von hier und deshalb stell ich meinen Wecker immer auf Acht. Acht ist eine schöne Zahl und ich könnte dir einiges darüber erzählen, da ich mich zufällig in den letzten Jahren meines Lebens unter anderem auch mit der faszinierenden Wissenschaft der Numerologie beschäftigt habe, aber auch ohne langen Vortrag sehe ich auf gar keinen Fall auch nur einen einzigen triftigen Grund, sich von einer Zahl wie der Acht derart erschüttern zu lassen wie du in diesem Augenblick, vorausgesetzt ich deute deinen Blick gerade richtig, und außerdem fällt mir auf, dass du, als du begonnen hast, mich mit einer derartigen Entgeisterung in den Augen anzustarren, noch gar nicht mal gewusst hast, dass ich jeden Tag um Acht Uhr aufstehe, was ja auch logisch ist, wenn man bedenkt, dass du sonst, wenn du es denn nun gewusst hättest, dich wohl nicht extra noch danach erkundigt hättest... entschuldige. Mein Fehler!"

"Aber... Ronin, ich bin mir nicht ganz sicher, welche Zeitskala du da gerade eben verwendest hast, aber von halb Drei bis Acht, das sind nicht anderthalb Stunden... oder was hast du so lange noch gemacht? Ich dachte, du wärst um die Häuser gezogen?"

"Bin ich auch."

"Ja... und dann?"

"Ach... jetzt versteh ich!" Der Weißhaarige schüttelte seinen Kopf und stieß ein helles, befreites Lachen aus. "Es ist aber auch faszinierend, wie sehr man aneinander vorbeireden kann! Nein, ich bin heimgekommen und danach natürlich nicht sofort ins Bett gegangen, das wäre ja auch ziemlich unhöflich gewesen, immerhin war ich nicht allein, und bevor es zu weiteren Missverständnissen kommt, mein Besuch ist auch eigentlich gar nicht die ganze Nacht geblieben, denn ich wusste ja, dass ich nicht frei habe heute und ich besitze doch immerhin auch so etwas wie ein Verantwortungsbewusstsein, aber ich hatte einfach keine Lust, auf dem Sofa zu schlafen, denn mein Sofa ist unbequem und ich habe jedes Mal Nacken- und Rückenschmerzen, wenn ich wieder aufwache, also hat es mich eben noch einmal mindestens eine Stunde gekostet, um mein Bett neu zu beziehen und ich musste dann auch noch das Wachs so ein bisschen von dem alten Laken abkratzen, das geht sonst nämlich niemals wieder ab, wenn man's einfach so in die Waschmaschine schmeißt, und das Fleckenmuster sieht zwar unter Umständen eigentlich ganz hübsch aus, aber es ist leider furchtbar ungemütlich auf der Haut und ich hab mir auf diese Weise mal eine ganz neue Seidenbettwäsche ruiniert und das war total ärgerlich."

"Na gut, dann sei es dir noch ein allerletztes Mal verziehen, ausnahmsweise nicht vierundzwanzig Stunden am Tag an nichts anderes als deine Arbeit gedacht zu haben", lachte Aya kopfschüttelnd. "Wobei ich solch eine... doch nicht unbedingt vor Witz und kultiviertem Esprit vor sich hinsprühende Art der Ausrede eigentlich eher von D als von dir erwartet hätte... aber irgendwie macht ihr heute ja andauernd irgendwelche Sachen, die ich ganz spontan wohl erst einmal dem jeweils anderen zugeschrieben hätte. Kerzenwachs! Waren vielleicht auch noch Lederpeitsche und Handschellen im Spiel?"

Schon die bloße Vorstellung von Ronin, der kindlichen Domina, entlockte Ayas Brust ein weiteres übermütiges Kichern - ein Kichern, das ihr allerdings bereits im nächsten Augenblick gründlichst im Hals stecken blieb, als sie mit einem Mal den zarten Hauch von Dunkelrot bemerkte, der sich auf die mehr als schneeweißen Wangen ihres kindlichen Mitarbeiters gelegt hatte. Seine Finger nestelten nervös an dem hinteren Teil seiner Handschuhe herum, und einen Augenblick lang meinte Aya, an seinen dünnen Handgelenken merkwürdige Druckstellen, ja sogar eine winzige Schürfwunde erkennen zu können, was aber natürlich auch ganz einfach nur auf eine seltsame optische Täuschung oder irgendwelche Halluzinationen zurückzuführen sein konnte, verursacht durch den Genuss von unsachgemäß und über einen viel zu langen Zeitraum gelagertem Automatenkaffeemilchpulver.

Sie schluckte, und noch während das warmherzig spöttelnde Lächeln auf ihrem schönen Gesicht langsam aber sicher erstarb, so wie die Funken eines Feuerwerkskörpers, die nach der beeindruckend bunten, farbensprühenden Explosion im grau verrauchten Nachthimmel verglühten, gelang es ihr mit einiger Mühe, den gesenkten Blick des Weißhaarigen wieder aufzufangen und eine gewisse Unbefangenheit in ihre Stimme zurückzuzwingen.

"Das... war kein Witz, oder?"

"Eigentlich... nein...", murmelte Ronin und schenkte seiner jungen Vorgesetzten ein derart unschuldig-verlegenes Lächeln, dass diese augenblicklich wieder an ihrer gerade erst gewonnenen, ohnehin schon ganz und gar unvergleichlich absurden Einsicht zu zweifeln begann. "Aber warum denn auch nicht? Ich muss darauf hinweisen, dass ich in knapp zwei Monaten dreiundzwanzig Jahre alt werde und somit, wie gesagt, nicht nur alt genug, sondern auch gleichzeitig noch jung genug bin, um so etwas... ähm... auszuprobieren, nur, dass er dann im Endeffekt fast doppelt so alt gewesen sein soll wie ich (was man ihm übrigens überhaupt nicht so recht angesehen hat, denn es gibt ja auch weitaus jüngere Menschen, die schon graue Haare haben, und ich fand seine kleinen Fältchen hier und dort auch eigentlich eher interessant und attraktiv), das hat mich dann doch ein klein wenig, sagen wir, überrascht, und dass er verheiratet ist, das hab ich doch auch nicht ahnen können, bis ihm dann beim Abschied der Ehering aus seiner Manteltasche gefallen ist, und... oh... entschuldige, das wolltest du jetzt wahrscheinlich gar nicht hören. Aber er war Arzt, genauso wie du!"

"Oh... das ist ja... toll!" Aya verzog ihre Lippen zu einem zuckrig falschen Grinsen, das nicht ansatzweise seiner Bestimmung gerecht werden konnte, ihre innere Verwirrung doch zumindest ein ganz kleines bisschen überspielen zu können. Dann atmete sie tief durch, atmete gleich noch einmal tief durch und bückte sich hastig nach den kärglichen Überresten ihres noch viel kärglicheren Frühstücks, nur, um überhaupt irgendetwas zu machen.

"Hm... wir sollten vielleicht hineingehen und dann... also, ich wär euch ja schon sehr verbunden, wenn doch vielleicht einmal irgendein Anwesender, ob nun Mensch oder nicht ist mir in diesem Falle eigentlich mehr oder weniger gleichgültig, erklären könnte, worum es bei diesem ach so großartigen Auftrag - denn ich nehme einfach mal an, dass es sich hierbei um einen Auftrag handeln muss, sonst wäre das ganze Aufhebens darum doch irgendwie sinnlos - eigentlich geht, ich verstehe momentan nämlich noch überhaupt nichts. Diese Akte hier", und sie riss das angefledderte Ungetüm mit einer wenig liebevollen Bewegung nach oben und streckte es Ronin geradewegs unter die Nase, "sieht nämlich ganz genau so aus, als ob sie von D geordnet worden wäre, wenn du verstehst, was ich meine..."

"Natürlich tut sie das", entgegnete Ronin schulterzuckend. "Das könnte zum Beispiel auch daran liegen, dass sie tatsächlich von D geordnet worden ist, zumindest mehr oder weniger, sie ist ihm nämlich runtergefallen und war danach wohl ein klein wenig durcheinander geraten und da hat er alles wieder einsortiert, zumindest nannte er das so, reinquetschen würde ich dazu sagen, und ich hoffe jetzt, dass du D auch nicht allzu sehr böse bist, ich hätte dir das nämlich eigentlich gar nicht sagen sollen, er hat mich extra darum gebeten, genau das nicht zu tun, da, wie er meinte, du ihm dafür gleich den Kopf von den Schultern reißen würdest, was ich aber im Gegensatz zu ihm eigentlich nicht so recht glaube, das würde dich auch wahrscheinlich deine Stelle kosten, außerdem werde ich immer so furchtbar redselig, wenn ich müde bin, und momentan bin ich ja, wie ich aber wahrscheinlich schon ein- oder zweimal erwähnt habe, doch immer noch irgendwie müde und... tut mir leid..."

"Entschuldige dich nicht bei mir", entgegnete die dunkelhaarige Wissenschaftlerin und legte missmutig ihre Stirn in Falten. "Entschuldige dich bei der bei der Putzfrau, wenn sie nachher das wegmachen muss, was von D noch übrig geblieben ist..."

Ein leises, unangenehm helles Quietschen ertönte, als die langen Fingernägel der jungen Frau genüsslich über die glatte Oberfläche des Akteneinbandes glitten.

"Aber Aya... ich hab's ihm doch versprochen!", gab Ronin in einem halb verzweifelten, halb weinerlichen Tonfall von sich, und als er sie dann auch noch mit seinen blutroten Triefaugen anstarrte, die riesengroß und flehend in seinem Kindergesicht lagen, als er bittend seine kleinen Hände faltete, deren zugehörige Handgelenke nun, da sie dem Sonnenlicht vollständig ausgesetzt waren, ganz eindeutig Druckstellen und Schürfwunden aufwiesen, da begann im Geiste der jungen Wissenschaftlerin zum ersten Mal der leise Verdacht zu erwachen, dass es ein sehr, sehr absurder Tag sein würde, der da noch so jungfräulich vor ihr lag.
 

Ein Flackern erfüllte den Raum, ähnlich hysterisch wie ein Feuerschein, aber von der Farbe kalten Blaus... eigentlich eher ein blaustichiges Türkis, das darüber hinaus auch nicht etwa natürlichen Ursprungs war, sondern von einem kleinen Projektor stammte, der inmitten des Raumes errichtet worden war und ein riesengroßes Viereck besagter Farbe auf eine ansonsten schneeweiße Leinwand projizierte. Das Gerät war uralt - Aya hatte es in ihren Studententagen auf einem kuriosen Flohmarkt im Universitätsviertel Litonias erstanden - und wäre wohl ohne die liebevolle Pflege seiner Besitzerin längst schon zu Staub zerfallen, doch die dunkelhaarige Frau hatte nun einmal einen Narren an der eigentlich enorm unpraktischen Antiquität gefressen und ließ sie so bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zum Einsatz kommen.

Momentan war es Ronin, der die Befehlsgewalt über das elektronische Relikt aus längst vergangenen Zeiten inne hatte, und es bereitete dem kleinen Weißhaarigen sichtliches Vergnügen, sich neben der momentan noch leeren Leinwand aufzubauen und in bedeutsames Schweigen gehüllt den Moment der größten Spannung abzuwarten, um dann endlich mit seinem Vortrag beginnen zu können. Er ließ seinen Blick über die lichten Reihen seiner Zuschauer gleiten (drei Personen, von denen zumindest eine alles andere als einen interessierten Eindruck machte, die aber dafür das kleine Publikum auf überaus angenehme Art und Weise schon allein durch ihre bloße Erscheinung bereicherte). Strich sich eine seiner Haarsträhnen aus dem Gesicht, die offensichtlich andere Pläne hatte, als sich in die strengen Reihen seines Pferdeschwanzes einzugliedern. Und hob dann endlich das schwarze Rechteck der Projektorfernbedienung, die sage und schreibe genau zwei Knöpfe beheimatete - einen zum Weiterschalten der Bilder, einen, um wieder zu einem früheren Bild zurückkehren zu können, und wenn man beide gleichzeitig betätigte, so ließ sich das Gerät an- oder ausschalten, je nachdem, in welchem Zustand es sich gerade eben befand.

"Kommen wir nun zu unserem heutigen Fall", verkündete Ronin schließlich mit wichtiger Miene und betätigte im gleichen Augenblick zum ersten Mal den Vorwärts-Knopf, was das Bild eines kleinen Planeten oder, was angesichts seiner mangelnden Größe sogar noch um einiges wahrscheinlicher war, Trabanten auf das flimmernde Blau der Leinwand zauberte. "Was wir sehen, meine lieben Zuschauer, ist der Ecliptica-Trabant Merrywood Ville. Ein seltsamer Name, weil es dort nämlich gar keinen Merrywood, geschweige denn überhaupt irgendeinen Wald gibt, sondern nur Häuser. Und zwar..."

Er drückte erneut auf den hellgrauen Knopf und ließ eines der Häuser einblenden, von denen Aya auf ihren ziellosen Streifzügen durch das Chaos der Akte ja schon mehr als genug hatte mit ansehen dürfen. Sie konnte allerdings beim besten Willen nicht mehr sagen, ob das momentan im Großformat auf die Wand projizierte Exemplar ebenfalls unter den zahlreichen Fotografien gewesen war, die sie bereits begutachtet hatte. Gartenzwerge konnte sie jedenfalls keine erkennen und ansonsten lief der Anblick aller Häuser schließlich mehr oder weniger aufs Gleiche heraus.

"...genau solche. Ja, die sehen wirklich alle genau so aus, wie man's immer in diesen Filmen sieht, oft sind das Horrorfilme oder Krimis oder so, weil es ja auch irgendwie was Unheimliches an sich hat, diese vollkommene Konformität und diese immer gleichen, makellos weißen Gartenzäune und Garageneinfahrten, und dann am Bürgersteig, neben dem Zaun und vor der Garageneinfahrt, stehen dann immer diese großen silbernen Briefkästen, die vorne so eine Klappe haben, und die Klappe kann man mit einem Hebel öffnen und die Hebel, die sehen eigentlich auch alle gleich aus. Ich finde, das hat immer was von Fassade, von den Häusern sieht man ja auch nur die blendend weiße Front, und dann fragt man sich doch ganz unweigerlich, was wohl dahinter stecken mag, und genau das ist es dann, was so unheimlich wirkt, aber vielleicht liegt es ja auch doch nur daran, dass es eben all diese Filme und Serien gibt und die Siedlungen sind eigentlich vollkommen unschuldig und tun keiner Menschenseele was zu Leide."

Der Weißhaarige schnappte kurz nach Luft, als sein Redefluss zunehmend in eine Geschwindigkeit geriet, die selbst für seine Verhältnisse offensichtlich zu schnell war. Dann zwang er sich mit sichtlicher und hörbarer Mühe in seinen bedeutungsvollen Tonfall zurück, der jeder Grabesrede eines depressiv verstimmten, achtundsiebzigjährigen Pastors ohne größere Probleme Konkurrenz gemacht hätte.

"So oder so, ich zeige diese Bilder hier natürlich nicht grundlos - kein Mensch legt grundlos solch eine Akte an! - sondern weil es der Schauplatz des Verbrechens ist, um das wir uns kümmern sollen. Und, ich muss betonen, es ist ein großer Fisch, der da an unserer Angel zappelt, ein sehr großer Fisch, und ich gebe auch ganz unverblümt zu, dass es mich stolz macht, dass dieser Fall hier ausgerechnet in unsere Hände gelegt worden ist. Nach dem Schönheitswettbewerb ist unser Team zwar allgemein so richtig populär geworden, aber es gibt doch immer noch solche Klienten und solche Klienten, und unser jetziger Auftraggeber gehört eindeutig zu solchen Klienten, wenn ihr versteht, was ich meine..."

"Eigentlich schon, aber eigentlich auch nicht", seufzte Aya und wickelte einmal mehr eine Strähne ihres langen dunklen Haares um den rechten Zeigefinger. "Weißt du, Ronin, ich habe mir ja schon beinahe gedacht, dass hier nicht alle Welt so einen Trubel um diesen... diesen Fall hier veranstalten würde, wenn es nur darum gehen würde, dass der seit dreieinviertel Jahren arbeitslose Ehemann der Fleischwarenfachverkäuferin vom Supermarkt um die Ecke nicht mehr vom Zigarettenholen zurückgekommen ist!"

"Scharfsinnig wie immer", grinste D und stieß dann im nächsten Augenblick einen dumpfen Schmerzenslaut aus, als Aya eines der Räder ihres Drehstuhles wie zufällig den Weg seines kleinen Zehs kreuzen ließ.

"An diesem Punkt muss ich dazu sagen", fuhr Ronin in von den Nebenhandlungen seiner Zuschauer nicht im Geringsten beeindruckten Tonfall fort, "dass die Frau unseres letzten Opfers leider keine Fleischwarenfachverkäuferin ist, sondern ein berühmtes Fotomodell. Aber bevor ich euch noch weiter im Dunkeln tappen lasse, bitteschön, seht und staunt selbst, mit wem wir es hier leider nicht mehr höchstpersönlich zu tun haben, weil er ja tot ist, aber wer uns zumindest mit etwas Glück ein wunderhübsches Honorar einbringen könnte."

Ein leises Klicken ertönte, als er einmal mehr den Abzug seiner momentan wohl ganz persönlichen Lieblingswaffe betätigte, beziehungsweise herunterdrückte, und dieses Geräusch blieb trotz seiner Kürze nur umso prägnanter im Raum hängen, da ihm erst einmal nichts als vollkommene Stille folgte. Natürlich surrte der laufende Projektor ungerührt weiter, er schnurrte wie ein kleines Kätzchen, und auch der Kaffeeautomat war im Hintergrund fleißig mit Gurgeln und Zischen beschäftigt. Das war aber auch schon alles, denn die Anwesenden schwiegen. Als Aya dann endlich wieder das Wort ergreifen wollte, musste sie feststellen, dass das erst einmal überhaupt nicht möglich war, denn ihre Kinnlade war buchstäblich heruntergeklappt und so brachte sie als wenig intellektuellen Prolog zu ihrer geplanten Rede lediglich ein trockenes Ächzen zustande.

"Das... das ist doch...", stammelte sie, hustete leise und nahm dann rasch einen Schluck von ihrem glücklicherweise in unmittelbarer Nähe stehenden Wasserbecher, bevor sie mit etwas weniger brüchiger Stimme weitersprechen wollte. Wozu ihr allerdings keine Gelegenheit mehr blieb.

"Das ist Francesco de la Stada, letztjähriger Gewinner des interplanetaren Nobelpreises der Biologie, einer der jüngsten Nobelpreisgewinner aller Zeiten, 25 Jahre alt, um genau zu sein, Erschaffer des variablen Impfstoffes, der sich auf Mutationen bestimmter Krankheitserreger einstellen kann, ganz recht, Aya."

Ronin schwieg einige Momente lang und schenkte Aya so genügend Zeit, um das leicht unscharfe Bild des jungen Mannes noch einmal eingehender zu begutachten. Er hatte dunkelblondes Haar, das ihm in wirren Strähnen über seine blitzenden hellblauen Augen hing, und der Ansatz eines Dreitagebarts gab seinem Gesicht diesen typischen Charme eines dezent verrückten Akademikers, was die etwas schief auf seiner Nase sitzende Brille auch nicht unbedingt besser machte. Er lächelte, ein bisschen schüchtern, ein bisschen zerstreut, und aus irgendeinem Grund stimmte es Aya mit einem Mal wehmütig, als sie an die zahllosen Zeitungsmeldungen und IV-Berichte dachte, in denen sie ebendieses Foto in den letzten Wochen weit mehr als nur einmal hatte auftauchen sehen.

"Und... das ist unser Klient?", erkundigte sie sich hastig, bevor ihr altbekannter Freund namens Weltschmerz einmal öfter von ihr Besitz ergreifen konnte.

"Nein", verbesserte Ronin sie mit einem breiten Grinsen auf den wie immer ein bisschen bläulich angelaufenen Lippen, "nicht er, weil er ja bekanntermaßen nicht mehr unter den Lebenden weilt, sondern tatsächlich seine Frau, Anita de la Stada, das derzeit wohl gefragteste Top-Model des Alpha-Quadranten."

"Ja, aber was hat das jetzt mit diesem... diesem merkwürdigen Merryville, oder wie das Ding auch immer geheißen hat, zu tun? Ich dachte, man hätte de la Stada auf dem Weg von der Kennedy Drive-Einkaufsmeile zu seinem Hotel erschlagen! Ich meine... an diese Raubmordgeschichte habe ich ja noch nie so recht geglaubt, aber ich hielt es eben für eine Tat aus... nun ja, beruflichen Gründen. Ein Gegner seiner Arbeit, vielleicht eine dieser militanten Naturschutzgruppen, oder die Konkurrenz aus den eigenen Reihen... wer weiß?"

"Und genau das ist der punctum saliens dieser ganzen Geschichte: Lügen. Medienlügen, um es noch genauer auszudrücken, oder Politikerlügen, je nachdem. Ich war nämlich so frei, ein klein wenig nachzuforschen, und in der Akte steht auch schon so einiges drin. Misses Anita hat ganze Vorarbeit geleistet, Kompliment, die Frau hat wirklich was auf dem Kasten! Scheinbar hat der Bürgermeister von Merrywood Ville, so war nämlich der Name dieses, wie du es nanntest, Dings (ich würde eher Stadt oder Trabant dazu sagen, je nachdem), eine horrende Summe gezahlt, dass in keinem einzigen Mordbericht der Name seiner sauberen kleinen Spießbürgersiedlung auftaucht. Auch sonst wurde hier und dort gekonnt ein wenig herumgepfuscht, Hauptsache es fällt auch bloß kein schlechtes Licht auf Merrywood Ville."

"Oh Vorfreude, das klingt ja schon mal wirklich nach dem optimalen Nährboden für erfolgreiche und fruchtbare Ermittlungen... aber red nur weiter, ich will dich nicht stören."

"Du störst nicht im Geringsten, Aya, und natürlich hast du wieder einmal vollkommen Recht, hinter so eine Mauer des Schweigens zu blicken ist nicht einfach, ganz besonders, wenn man auch noch ausnehmend gut dafür bezahlt wird, es nicht zu tun. Deswegen ist der Fall auch mehr oder weniger ungeklärt ad acta gelegt worden, und man kann sich denken, dass es für die Ehefrau des Opfers nicht unbedingt schön war, dass der Tod ihres Mannes so einfach sang- und klanglos unter den Teppich gekehrt wurde. Wie man sieht, ist die gute Misses de la Stada ja auch nicht bereit dazu, sich mit dieser haarsträubenden Ungerechtigkeit einfach so abfinden zu müssen, und genau das ruft uns auf den Plan."

"Sprich: Wir werden im Gegensatz zu den zuständigen Sicherheitsbeamten nicht etwa dafür besto... bezahlt, die Mauer des Schweigens eine Mauer des Schweigens sein zu lassen und uns ganz brav von ihr fernzuhalten, sondern, im Gegenteil, sie zu durchbrechen und den Schuldigen zu finden, der dieses... Genie umgebracht hat, was ich übrigens immer noch sehr bedauere, denn ich habe de la Stada schon lange sehr bewundert. Wer tut das nicht? Aber jetzt verrate uns doch bitte endlich, wie genau das alles nun mit diesem hübschen kleinen Vorstadtsiedlungsplaneten hier zusammenhängt."

"Dafür bin ich doch hier, teuerste Aya, dafür und aus keinem anderen Grund, außer vielleicht, um dein unbeschreiblich bezauberndes neues Schuhwerk bewundern zu können... Kompliment. Wie auch immer, ich habe ja bereits angedeutet, dass die Leiche eigentlich nicht in irgendwelchen Straßenschluchten von Neo-Midgard gefunden worden ist, sondern tatsächlich auf besagtem Trabanten, der von nun an Ziel unserer ganzen Aufmerksamkeit sein soll. De la Stada ist nämlich keineswegs das erste Opfer, das man zwischen den weißen Gartenzäunen von Merrywood Ville gefunden hat. Ungefähr zwei Wochen zuvor verschwand ein renommierter Professor der Victor-Haley-Universität in Neo-Midgard. Gefunden wurde er auf Merrywood Ville. Nur drei Tage zuvor, ein weiterer - nein, eigentlich eine weitere Tote, Caroline Tannor, renommierte Atomphysikerin, und wieder neun Tage vor diesem Ereignis Emilia Sommer, der momentane Shootingstar in der medizinischen Forschung, die sich von der Erde aus einen Namen im ganzen Universum gemacht hat. Ich habe mit Ds Hilfe einige Nachforschungen angestellt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass..."

"Nein - sag's nicht!" Die junge Wissenschaftlerin verzog ihre Lippen zu einem halb resignierten, halb ungläubigen Lächeln. "Lass mich raten: Die Leichen wurde allesamt in diesem Bilderbuchstädtchen hier gefunden, richtig? Du möchtest mir doch allen Ernstes gerade eben begreiflich machen, dass sämtliche Aufsehen erregenden Morde und Vermisstenfälle, die sich innerhalb der letzten vier Wochen in der wissenschaftlichen Top-Liga ereignet haben, ausnahmslos mit diesem todeskitschigen kleinen Trabanten namens... Merrywood Ville... in Verbindung stehen?"

"Ganz genau. Und das ändert sich leider auch nicht dadurch, dass du den armen kleinen Trabanten kitschig findest und seinen Namen so betont verächtlich aussprichst. Ich habe doch gesagt, das hier ist was Großes, was ganz Großes, ein Spiel mit dem Feuer, sozusagen, und wir können da noch viel mehr aufklären als das, wofür wir bezahlt werden, entgegen aller Falschheit und Korruption."

"Moment", mischte sich nun erstmals Ravin ein, wobei seine Stimme so kalt und gleichgültig klang wie eh und je. "Wieso seid ihr euch so sicher, dass alle diese Morde zusammenhängen? Natürlich liegt es nahe, wenn ihre Leichen tatsächlich alle in derselben Stadt aufgefunden worden sind, aber deswegen ist es noch keineswegs bereits erwiesen."

"Selbstverständlich nicht, und ganz sicher werden wir uns in dieser Beziehung wohl auch gar nicht mehr sein können, bis wir diesen Fall vollständig aufgerollt und -geklärt haben. Aber die Vermutung liegt doch zumindest überaus nahe, da sämtliche Opfer auf exakt dieselbe Weise getötet wurden und allesamt gewisse... wie soll ich sagen... doch sehr charakteristische Verletzungen aufwiesen, die ihnen wohl kaum zufällig auf dieselbe Weise von zwei verschiedenen Tätern zugefügt worden sind."

"Auf dieselbe Weise?", hakte Aya nach. "Aber ich dachte, de la Stada wäre erschlagen und... Tannor, so weit ich mich richtig erinnere, erschossen worden... Sommer ist nie wieder aufgetaucht und bei diesem Professor... sein Name war James Aberdayle, wenn ich mich nicht irre... war immer von einem Gleiterunfall die Rede..."

"Lügen, Lügen, alles Lügen!", entgegnete Ronin in abfälligem Tonfall. "Diese Menschen wurden weder erschlagen noch erschossen noch vom Gleiter überfahren, und gefunden wurden sie erst recht, sonst hätte ich ja nicht diese Bilder in die Hände bekommen können, die ich euch jetzt gleich zeigen werde."
 

Das mittlerweile schon altbekannte leisen Klicken beim Wechseln des Bildes ertönte ein weiteres Mal, und im nächsten Moment erschienen zwei überdimensional große Handgelenke auf der Leinwand. Sie waren, wenn man das unnatürliche Format einmal außer Acht ließ, verhältnismäßig zierlich und mussten wohl irgendwann einmal zart, weiß und hübsch anzusehen gewesen sein, doch diese ehemalige weibliche Schönheit war von breiten, blutigen Striemen, höchstwahrscheinlich Fesselmalen, vernichtet, ja förmlich zerfetzt worden. Gegen ihren Willen spürte Aya, wie ihr bei diesem Anblick das Blut in die Wangen schoss, und sie war mit einem Mal heilfroh, dass das Licht in dem Raum verhältnismäßig schlecht war und keiner der Anwesenden von ihr Notiz zu nehmen schien.

"Das ist Emilia Sommer", verkündete Ronin mit Grabesmiene und zeichnete mit seiner rechten Hand samt Fernbedienung die rotbraunen Stigmata an den zarten Armen der, wie Aya von einigen Bildern her wusste, einstmals wunderschönen jungen Frau auf vollkommen nichts sagende, fahrige Art und Weise nach. "Beziehungsweise ihre Handgelenke, fotografiert unmittelbar nach dem Fund der Leiche. Die anderen Leichen wiesen exakt dieselben Abschürfungen auf, und jetzt dürft ihr alle dreimal raten, worauf uns diese hübschen kleinen Bildchen hier hinweisen wollen. Ganz genau - die Opfer müssen vom Täter offensichtlich gefesselt worden sein, und ich glaube kaum, dass so etwas bei einem Raubmord, bei einem Schuss aus über zwei Metern Entfernung und schon gar nicht bei einem Verkehrsunfall aufgetreten wäre. Es sei denn, da wäre irgendein Wahnsinniger, der unseren armen Prof so sehr gehasst hat, dass er ihm die Arme zusammengebunden und sozusagen nach umgekehrter Art von Hector und Achill hinter seinem 45er Rattlesnake Cabrio-Gleiter über den Highway geschleift hat. Aber diese Möglichkeit können wir, denke ich, so gut wie ausschließen."

"Also schön, die Meldungen waren falsch, aber das hattest du ja auch schon vorher gesagt", fuhr Ravin in von Ronins Ausführungen wenig beeindruckter Art und Weise fort. "Es ist nicht ungewöhnlich, dass Opfer während eines Verbrechens gefesselt und geknebelt werden und lässt meiner Meinung nach noch immer nicht auf einen einzigen Serientäter schließen."

"Ganz richtig, vom Punkt dieses momentanen Wissensstandes aus betrachtet könnten wir solch eine Schlussfolgerung noch nicht ziehen, da muss ich dir uneingeschränkt Recht geben und sehe übrigens auch gar keinen Grund, überhaupt erst einmal widersprechen zu wollen. Es ist natürlich in keiner Weise ungewöhnlich oder auffällig, dass all unsere Opfer gefesselt und, wie du bereits richtig vermutet hast, auch geknebelt worden waren. Was hingegen höchst ungewöhnlich ist", lächelte Ronin auf beunruhigend sachliche Art und Weise, während durch seine blutroten Augen ein vorfreudiges Blitzen zuckte, "ist, dass man ihnen erwiesenermaßen bei lebendigem Leibe die Schädeldecke aufgeschnitten und das Gehirn entfernt hat, wie wir ganz besonders schön auf diesem Foto hier erkennen können!"

Er drückte erneut den wohl bedeutungsvollsten Knopf des gesamten Morgens und tauchte noch im Gleichen Moment das gesamte Laborzimmerchen in eine Flut von aggressivem Rot. Selbst Aya musste beim Anblick des neuerlich eingeblendeten Bildes zweimal schlucken, und das lag nicht einmal so sehr an der unzweifelhaft durch und durch widerwärtigen Blutrünstigkeit des Tatortes, der sich wohl ohne größere Schwierigkeiten in jeden indizierten FSK 18-Splattermovie hätte einfügen lassen. Sie hatte in ihrer mittlerweile doch schon langjährigen Laufbahn als Medizinerin und Wissenschaftlerin schon weit mehr Leichen obduzieren müssen, als dass sie sich von dem Anblick von Blut und Organfetzen in gleich welchem Ausmaß noch hätte abschrecken lassen (im Gegenteil, manchmal musste sie sich sogar zu ihrem eigenen Schrecken eingestehen, dass die ekelhaftesten, angefaultesten und brechreizerregendsten Leichen sie am allermeisten in ihren abscheulich morbiden Bann zogen).

Es waren vielmehr die Gesichter der Toten, die ihr eisige Schauer über den Rücken jagten - oder eben das, was noch von den Gesichtern noch übrig geblieben war.

Zumindest bei zweien der Opfer wusste Aya, dass es sich um einstmals sehr attraktive Menschen gehandelt hatte, doch davon war nicht mehr auch nur das Geringste zu erahnen, so sehr war jeder einzelne Muskel ihres Gesichtes im Tode bis zur Unkenntlichkeit verzerrt worden. Ihre Augen waren weit aus den Höhlen hervorgetreten, so weit, als ob sie jede Sekunde zerplatzen wollten, und hinter den breiten Stoffstreifen der Knebel (die wohl einstmals weiß gewesen waren, nun allerdings die Farbe von tiefem Rot trugen) zeigten sich Münder und Wangen, verzerrt zu krampfhaften Fratzen, die mit menschlichen Gesichtern nicht mehr allzu viel gemeinsam hatten.

Verstärkt wurde dieser grauenerregende Eindruck des Unmenschlichen nicht zuletzt durch die groteske Verkürzung des Schädels, dessen oberer Teil ganz schlicht und einfach fehlte. Stattdessen breitete sich etwas mehr als zwanzig Zentimeter tiefer auf dem Asphalt der Straße eine abstoßend zähflüssige, bräunlich rote Lache aus, gespickt mit Haarbüscheln, kleinen weißen Splitterchen und dem einen oder anderen breiigen Haufen, die Aya als Reste von Gehirnmasse identifizierte.

"Falls ihr euch nicht mehr so gut daran erinnert, wie unser lieber Francesco de la Stada früher einmal ausgesehen hat, könnt ihr ihn euch hier unten rechts übrigens gerne noch mal anschauen. Er sieht nur jetzt ein kleines bisschen anders aus, finde ich, aber er ist es wirklich. Ich habe noch ein anderes Foto von ihm, aber das finde ich persönlich jetzt doch irgendwie so ein ganz klein wenig makaber. Möglich, dass es euch da anders geht, aber ich... na gut, seht selbst."

Er ließ das nächste Bild in Übergröße auf der Leinwand erscheinen, und das Licht im Zimmer behielt seine blutig flackernde Farbe, ja, es wurde beinahe sogar noch ein klein wenig roter als zuvor. Die neue Fotografie war ein bisschen unscharf, und so musste Aya tatsächlich erst einige Sekunden lang angestrengt auf das leicht zerfließende Viereck starren, bis sie begriff, was sie da eigentlich gerade vor sich hatte. Es war aber auch nicht ganz einfach zu erkennen vor lauter Rot, Rot und wieder Rot, alles irgendwie schleimig, was allerdings auch genauso gut an der schlechten Qualität der Aufnahme hätte liegen können.

Tat es aber nicht.

Das Bild zeigte vielmehr, wie Aya feststellte, nichts anderes als einen menschlichen Körper aus der Vogelperspektive, den Querschnitt von oben betrachtet (ihr fielen noch etliche andere Bezeichnungen ein, aber die verdrängte sie lieber ganz schnell wieder, da sie entweder ausnehmend unreif, pietätlos, der Situation nicht angemessen oder einfach gleich alles zusammen waren). Mit der kleinen aber entscheidenden Besonderheit, dass der ansonsten eher störende obere Abschluss der Schädeldecke samt Haar und Scheitel fehlte, ebenso das Gehirn, und so der Weg der Kamera frei war für einen herrlichen Ausblick geradewegs in den Schlund und auf den schwärzlich toten Klumpen der Zunge hinab.

Aya hörte D neben sich leise schlucken, und tatsächlich musste auch sie sich eingestehen, dass Ronin mit der Bezeichnung ein ganz klein wenig makaber doch nicht unbedingt übertrieben hatte. Trotz allem stellte sie fest, dass dieses neue Bild sie immer noch weitaus weniger erschütterte als das Vorangegangene, und beinahe war sie sogar ein ganz klein wenig froh darüber, nicht länger jene starre Maske blanken Entsetzens und Schmerzes mit ansehen zu müssen, die sie sicherlich noch in der einen oder anderen zukünftigen Nacht besuchen kommen würde.

Das Gesicht eines Menschen, dem bei lebendigem Leibe die Schädeldecke geöffnet und das Gehirn entfernt worden war...

Die Dunkelhaarige presste ihre Lippen fest aufeinander und verfluchte mit einem Mal ihr leider allzu genaues Wissen darüber, dass in etlichen Laboren derartige Praktiken quasi an der Tagesordnung waren, da sich bestimmte Stoffe und Produkte des menschlichen Gehirnes eben nur in lebendigem Zustand, oder unter dem Einfluss höchster Erregung, höchsten Schmerzes und höchster Angst gewinnen ließen. Allerdings, wie gesagt, in Laboren, und nicht irgendwo an der Straßenecke eines zuckersüßen kleinen Ecliptica-Trabanten mit dem widerlich klangvollen, penetrant gut gelaunten Namen Merrywood Ville.

"Hm", machte Ravin und strich sich eine seiner schneeweißen, im Licht des Projektors allerdings ebenfalls leicht rötlich schimmernden Haarsträhnen hinter das Ohr. "Ich denke, das hier könnte wirklich ein Indiz für ein und denselben Täter sein."

"Denke ich doch auch", nickte Ronin, und ein stolzes Lächeln huschte über sein kindliches Gesicht. "Und ich muss sagen, im Falle dieses Falls ist uns auch tatsächlich etwas zu Hilfe bekommen, was man wohl ganz banal mit den Worten glücklicher Zufall bezeichnen könnte, vorausgesetzt man glaubt nicht an Schicksal oder an gleich welchen Gott, aber natürlich lässt sich dieser Zufall, um einmal bei diesem Wort zu bleiben, das hier hoffentlich keiner falsch auslegen wird, auch ganz einfach nur mit unserer guten alten Kausalität erklären, wobei wir als Ursache für unsere Wirkung jetzt einfach mal die wunderschöne Tatsache begrüßen wollen, dass Sommer ist."

"Sommer?", wiederholte Aya zweifelnd und runzelte die Stirn. "OK - jetzt sei so gut und hilf mir mal eben kurz auf die Sprünge. Vielleicht liegt es ja nur an einem gewissen Mangel an Abstraktionsvermögen oder dieser angeblich doch so typisch weiblichen Schwäche, die Dinge logisch ins Auge zu fassen - was mir beides zwar noch nicht ein einziges Mal in meinem ganzen Leben bescheinigt wurde, eher im Gegenteil, aber egal - aber mir will gerade aus irgendeinem Grund doch nicht so vollkommen einleuchten, was genau denn nun jene warme und strahlende und freundliche Jahreszeit namens Sommer mit vier hirn- und schädeldeckenlosen Leichen zu tun hat..."

"Das ist eigentlich viel, viel einfacher, als man auf den ersten Blick so ganz spontan mal meinen könnte", erklärte Ronin begeistert, wobei sein Grinsen sich mittlerweile ungefähr vom einem Ohr bis zum anderen erstreckte.

Aya machte große Augen und bedachte ihren kindlichen Mitarbeiter mit einem entgeisterten Blick.

"Was?", keuchte sie und schlug sich eine Hand vor den Mund, "noch einfacher? Ja gibt's denn so was?"

"Doch, echt!", strahlte der Weißhaarige. "Aber dazu sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass in Neo-Midgard und somit auch auf Merrywood Ville vor noch gar nicht so langer Zeit die Sommerferien angefangen haben, sprich: Unsere letzten beiden Morde fallen bereits in die Ferienzeit, und genau das ist unser unvorstellbar großes Glück."

"Jetzt wird mir einiges klar", verkündete Aya, obwohl sie Ronins offensichtlicher Begeisterung über eine scheinbar vollkommenen themenfremde Tatsache immer noch unveränderter Weise ratlos gegenüber stand. Sie war sich nicht ganz sicher, ob dem Weißhaarige das nun auffiel oder nicht, in jedem Fall schien es ihn herzlich wenig zu interessieren, viel zu sehr gefiel er sich in der Rolle des kriminalistischen Dozenten, der seinen gebannten Zuhörern die haarsträubenden Fakten einer ganz besonders blutrünstigen Mordserie näher bringen durfte.

"Merrywood Ville ist natürlich alles andere als ein großer Trabant", erklärte er mit einer jedem kriminalistischem Dozenten durch und durch würdigen Professorenmiene, "hat aber mit seinen bis auf den letzten Rentner und Neugeborenen genau 4372 Einwohnern immer noch mehr als genügend potentielle Massenmörder zu bieten. Die Neugeborenen vielleicht mal ausgenommen. Bliebe also die Frage: Wo fängt man da an zu suchen? Zumal diese ganzen Spießbürger ja bekanntermaßen ganz besonders gut darin sind, diese bereits erwähnte hübsche kleine weiß gekachelte Mauer um sich herum zu errichten, um auch ja keinen mehr in ihre Angelegenheiten blicken zu lassen."

"So weit, so gut, aber bislang kann ich da nichts von einem glücklichen Zufall heraushören..."

"Nur Geduld, Aya, nur Geduld! Dazu muss man nämlich wissen, dass es auf Merrywood Ville so eine krankhafte Art von Tradition oder Brauchtum gibt, und genau da können wir ansetzen. Es ist nämlich so, dass es alle Jahre wieder zur Sommerferienzeit die gut betuchten Einwohnerlein unseres hübschen kleinen Trabanten ausnahmslos in fremde Gefilde zieht, und wenn ich sage ausnahmslos, dann meine ich das auch verflucht noch mal so. Es ist fast schon eine Art... ungeschriebenes Gesetz dort, dass man in der sonnigen Zeit des Jahres ganz einfach wegfahren muss, und ich schwöre, wenn sich einer von denen das nicht leisten könnte, er würde sich lieber selbst vergiften, in irgendeine Provinzklinik eines Feriengebietes einweisen lassen und von dort aus gut gelaunte Ansichtskarten verschicken, als zuhause zu bleiben!"

"Dann befindet sich dieser ganze Planet also quasi momentan in einem... Zustand freiwilliger Evakuierung, hab ich das richtig verstanden?" Aya stieß geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen hervor. "Das, meine lieben Mitarbeiter, nenne ich krank... wirklich krank."

"Ja", stimmte Ronin lächelnd zu, "ein klein wenig zwanghaft ist es schon, was aber trotz allem nichts daran ändert, dass dieser Trabant aktuell so gut wie leer ist und sich dementsprechend der Kreis der Verdächtigen plötzlich ganz extrem einschränkt. Weitaus extremer, als man im Allgemeinen so zu hoffen wagen darf, möchte ich dazusagen. Die Familien pilgern zu irgendwelchen Urlaubsplaneten in die Spaßbäder oder Nostalgie-Bauernhöfe, der christliche Jugendverein macht sich zu einer Wanderfreizeit durch die schönsten Gebirgsketten des Epsilon-Quadranten auf und die Seniorenresidenz ,Wolkenblick' hat es an die klimatisch begünstigten Strände Lacoonias verschlagen..."

"Soll heißen?"

"Du meinst, ob ich weiß, wie viele mögliche Täter im Endeffekt noch übrig bleiben?", erkundigte sich der Weißhaarige und Aya nickte. "Du wirst es kaum glauben, aber summa summarum, abzüglich derer, die in den letzten anderthalb Wochen leider Gottes noch verstorben sind, blieben da exakt... sieben."
 

Aya verharrte etliche Sekunden lang in gespanntem Schweigen, in der selbstverständlichen Erwartung, dass der Sieben noch weitere Ziffern angehängt würden, dass sie es im Endeffekt vielleicht mit Siebenhunderteinundvierzig, oder auch im besten Fall nur mit Siebenunddreißig Merrywood Ville-Bewohnern zu tun haben würden. Doch was folgte war lediglich ein stummes Lächeln und ein zufriedenes Blitzen in zwei blutroten Augen, das der jungen Wissenschaftlerin auf ganz unmissverständliche Art und Weise klar machte, dass ihr Gesicht momentan exakt den Ausdruck inne haben musste, den Ronin von Anfang darauf an zu sehen erhofft hatte. Sie schluckte hastig, rang sich ein betont sachlich zustimmendes Nicken ab und rückte sich zudem ihre Brille zurecht - eine Geste, in die sie mittlerweile eine durchaus beachtliche Menge an Autorität zu legen verstand.

"Sieben also", wiederholte sie mit bedeutungsvoller Miene. "Wissen wir auch, welche Sieben das sind? Also Wohnort... halt, das ist ja hinfällig... ich meine Adresse, ungefährer Teil des Planeten, Lebensumstände, Alter, et cetera..."

"Noch nicht", grinste der Weißhaarige und vollführte eine beiläufige Kopfbewegung in Richtung D, der immer noch mit einem geheimnisvoll selbstzufriedenen Gesichtsausdruck gut anderthalb Meter von ihnen entfernt gegen die spiegelnd silberne Fläche der Wand gelehnt stand. Sein rechter Zeigefinger vollführte nun bereits die mindestens fünfunddreißigste Runde um den dunkelgrauen gläsernen Rand des kreisrunden Aschenbechers, der aus unerfindlichen Gründen (niemand aus Ayas Team war Raucher) auf der Ablagefläche des Schreibtisches platziert worden war, wo er einer nicht ganz ausbildungsgerechten Arbeit als Briefbeschwerer nachging. "Aber während du dieses hübsche Relikt hier in die 3 - 19 bringst, wird der da drüben sich noch ein kleines bisschen im Maze umsehn und schaun, was sich da alles rausfinden lässt."

Noch während er sprach, zauberte er ein kleines Tütchen aus dem Blätterchaos der Akte hervor und drückte es Aya in die wie immer perfekt manikürte Hand. In dem zerknitterten Plastikbehältnis purzelten einige weiße, ovalrunde Kügelchen über- und durcheinander, doch die Dunkelhaarige schenkte ihnen lediglich einen verhältnismäßig kurzen Augenblick der Aufmerksamkeit, bevor sie sich wieder Ronin zuwandte und selbigen mit einem ratlos fragenden Blick bedachte.

"Was... ist das?"

Ronin lachte.

"Das ist eine lustige Frage, Aya, denn immerhin habe ich dir doch gerade eben erst gesagt, dass du diese Tüte, die im Übrigen an einem der Tatorte gefunden wurde, bei der Tannor, wenn ich mich nicht irre, in das Labor 3 - 19 bringen sollst, und es ist ja eigentlich nicht so wirklich üblich, irgendeinen Gegenstand gleich welcher Art, in unserem Fall eben diese Tüte, in irgendein Labor zu bringen und dort untersuchen zu lassen, wenn man doch im Grunde genommen eh schon weiß, was drin ist."

"Ach ja... ich vergaß..." Die junge Frau zog beide Augenbrauen hoch und presste ihre dunkelrot geschminkten Lippen ein wenig fester aufeinander, sodass für einige Momente ein regelrechter Schmollmund auf ihr Gesicht gezaubert wurde. "Es ist hier ja so üblich, jedes Fundstück unbekannten Inhalts gleich in irgendwelche Nachbarlabore tragen und dort untersuchen zu lassen. Warum auch nicht? Hier gibt es ja immerhin keine Mediziner oder Wissenschaftler, die solch eine unvorstellbar komplexe Aufgabe zu übernehmen verstünden..."

"Mylady, ich sehe ich mich durchaus genötigt, Euch in diesem Falle voll und ganz Recht geben zu müssen", säuselte D ihr von Links ins Ohr und deutete einen Knicks an. "In diesem Labor wird es in wenigen Stunden tatsächlich weder Ärzte noch Wissenschaftler noch sonst irgendetwas geben, da sich Hochwürden samt treu ergebener Dienerschaft um genau 15.37 Uhr des heutigen Tages am Manolith Gate-Raumhafen einfinden und auf einen in den vergangenen Minuten doch schon ein-, zwei-, drei- oder auch siebenundvierzigmal erwähnten Ecliptica-Trabanten reisen wird, um - na, wer kommt drauf? - vor Ort Ermittlungen an einer gewissen Mordserie zu unternehmen, die, wenn mich nicht alles täuscht, heute auch schon irgendwann einmal zur Sprache gekommen sein dürfte..."

"Aha, wird sie das?", fuhr Aya in derselben, ansatzweise trotzig verstimmten Tonlage vor, in der sie bereits Augenblicke zuvor ihren letzten Satz beendet hatte. "Das find ich aber schön, dass ich doch noch ganze dreieinviertel Sunden vor der Abreise auch mal erfahren darf, dass ich heute einen Ausflug auf irgendeinen mordlüsternen Einfamilienhausplaneten unternehmen werde! Nicht, dass ich auch noch in irgendeiner Art und Weise packen oder mich gar bei meinen Vorgesetzten abmelden müsste... nein, wozu denn auch? Ich werde ja verreisen. Freude, Freude, nur... D, wenn du das nächste Mal planst, einen derartig langen Bandwurmsatz heranzuzüchten, dass er sich sogar als potentieller natürlicher Feind von Ronins bislang evolutionstechnisch unübertroffenen Mörderkreaturen entpuppen könnte...bitte, lass es dir einen Abend vorher einfallen, und zwar am Telefon, dann würde mir ja vielleicht eventuell auch noch genügend Zeit dazu bleiben, an so etwas wie Vorbereitungen überhaupt erst mal denken zu können!"

"Ach komm, Aya, wir waren doch auch ein bisschen überrumpelt, als uns diese Wissenschaftlerwitwe so plötzlich vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Aber INFERIA scheint sehr daran interessiert zu sein, dass wir diesen Fall übernehmen - da läuten die Prestige-Glocken! - und die arme Frau muss auch derart verzweifelt gewesen sein, dass sie schon für so gut wie sämtliche... wie du es so schön ausdrückst... Vorbereitungen gesorgt hat, außer deine Koffer zu packen natürlich. Aber dafür dürfte selbst dir noch genügend Zeit bleiben, wenn du dich ein klein wenig beeilst."

"So etwas kannst auch nur du sagen, D", grummelte die junge Wissenschaftlerin und ließ einen abschätzigen Blick ihrer dunklen Augen über die hellblaue, hier und dort etwas abgewetzte Jeans ihres Angestellten gleiten. "Du hast einfach keine Ahnung von Frauen, schon gar nicht von mir, und das ist auch der Grund, warum du wohl irgendwann einmal als Junggeselle sterben wirst."

"Werde ich nicht!"

"Wirst du doch! Und außerdem... was ist denn das überhaupt für ein minderwertiger Plan, den sich dieses Möchtegernfilmsternchen und Titelbildgrinsekätzchen da zurechtgelegt hat? War nicht eben noch von... von den vergeblichen Ermittlungen der Sicherheitskräfte und einer gewissen Mauer des Schweigens die Rede? Was meint ihr wohl, wie diese eingeschworene, wenn auch mittlerweile leicht dezimierte Gartenzwerggesellschaft reagieren wird, wenn mitten im tiefsten Sommerloch urplötzlich eine Crew von INFERIA-Mitarbeitern auf der Matte steht, um bei Kaffee und Kuchen über so lauschige Dinge wie verschollene Kernforscherinnen und geöffnete Schädeldecken zu plaudern?"

"Was ist denn das für ein elender Pessimismus, den du da heute an den Tag legst, meine liebe Aya? Glaubst du etwa wirklich, wir würden solch eine einzigartige Chance zur Aufklärung eines derart unvergleichbar medienwirksamen Mordfalles mit ein paar lieblos zusammengeschusterten Stop-and-go-Verhören zum Teufel jagen? Nein, nein, wir werden die Sache im ganz großen Stil angehen und den Feind sozusagen von innen heraus vernichten. Die de la Stada kennt nämlich rein zufällig jemanden, der in nur zwei Monaten nach Merrywood Ville übersiedeln möchte und sein Haus bereits wohnlich eingerichtet hat. Und ebendieses Haus, oh gnädige Herrin, wird Euch beziehungsweise uns von nun an zur freien Verfügung stehen."

"Ach so.." Aya ließ so langsam sie nur irgendwie konnte ihre rechte Augenbraue - und nur die rechte! - kritisch-zweifelnd in die Höhe wandern. "Dann hab ich also wieder mal vorschnell geurteilt. Wir sollen überhaupt nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern heimlich, still und leise durch die Hintertüre hineinschleichen. Oder, um die hübschen Metaphern einmal sorgsam wegzulassen: Wir tun so, als wie wenn wir ja eigentlich nur einziehn und da wohnen wollten, aber in Wahrheit schleichen wir herum und stellen unerkannt verdeckte Ermittlungen an, richtig?"

"Genau das!", strahlte D.

Aya rollte mit den Augen.

"Das ist der dilettantischste Plan, von dem ich jemals in meinem ganzen Leben gehört habe!", entgegnete sie mit Grabesmiene. "Ich meine... mitten in der tiefsten Urlaubszeit, wo dieses Nest ja quasi ausgestorben ist, ziehen urplötzlich vier nicht gerade unauffällige Gestalten in so eine mehr als spießbürgerliche und konservative... Familiensiedlung ein und verbarrikadieren sich dann in irgendeinem dieser Traumhäuschen, um von dort aus ach so unauffällig in der Gegend herumzuschnüffeln. D - ich bitte dich!"

"Worum denn?" Der junge Hacker schenkte seiner Vorgesetzten ein vergnügtes Augenzwinkern. "Um eine perfekte Tarnung vielleicht? Kein Problem - die können wir bieten. Misses de la Stada ist nämlich zufällig auch mit den Nachbarn unserer zukünftigen Traumvilla mit Straßenblick befreundet, und, was soll ich sagen? Wir haben hochoffiziell die Erlaubnis bekommen, uns auf diese beiden Häuser aufzuteilen, was ja wohl schon mal um einiges unverdächtiger ist. Darüber hinaus sind wir eben einfach ein klein wenig schüchtern und wollen uns erst einmal richtig einleben, bevor der große Ansturm an Willkommensgrüßen und Housewarming-Partys uns plattrollt."

"Oh ja, das nenne ich Tarnung! Dann ziehen eben zwei mal zwei nicht gerade unauffällige Gestalten in so eine trotzdem mehr als spießbürgerliche und konservative Familiensiedlung ein, verbarrikadieren sich in zweien dieser Traumhäuser und schnüffeln von dort aus pseudo-unauffällig in der Gegend rum. Sag mir, D - macht es das besser? Macht es das wirklich besser?"

"Aya, ich bitte dich! Wer um alles in der Welt würde zwei nette, freundliche Ehepaare guten Gewissens der Spionage bezichtigen können!"

"Zwei... bitte was?!"

"Du hast ganz richtig gehört, Aya", nickte D, trat einen Schritt zurück und ließ sich dann mit einer einzigen fließenden Bewegung vor der jungen Wissenschaftlerin auf die Knie fallen. Seine Finger glitten in die Tasche seiner sogar ganz furchtbar ausgetragenen Hose und zauberten ein kleines, mit schwarzblauem Samt überzogenes Kästchen hervor, das sich auf Knopfdruck mit einem leisen Klicken öffnete und den Blick auf zwei schlichte goldene Ringe Preis gab, die in roséfarbenem Kunststoff eingebettet waren.

"D... was zum..."

"Aya", stieß der Schwarzhaarige mit tiefster Inbrunst hervor, und mit einem Mal breitete sich ein Grinsen über die gesamte Distanz seiner beiden Wangen aus, und hätte sich wohl auch noch weiter ausgebreitete, wären ihm da nicht zwei störende Ohren in die Quere gekommen. "Willst du mich heiraten?!"
 

Irgendetwas in dem Gang hatte sich verändert, ganz heimlich, still und leise und ohne dass Aya diese Veränderung hätte definieren, geschweige denn aufhalten können. Das Licht war immer noch kalt und hart, aber auf eine vollkommen andere Art und Weise als noch knapp eine Stunde zuvor, als die junge Wissenschaftlerin den von edelstählernen Wänden gesäumten Korridor zum ersten Mal an diesem Tag durchschritten hatte. Es war weißer geworden, heller, dabei jedoch keinesfalls blendend, mehr grell, unangenehm grell und dabei durch und durch steril.

Auch das graue Linoleum des Bodenbelages schien unter dem Einfluss dieser sublim neuartigen Lichtverhältnisse um ein Geringes aufgeweicht zu sein, was sich allerdings weniger in der Tatsache äußerte, dass es nun unter jedem einzelnen Schritt um knapp ein bis zwei Millimeter mehr nachgab als zuvor, sondern vielmehr in dem Geräusch, das es bei jeglichem Kontakt mit den brandneuen Stilettos der Dunkelhaarigen von sich gab. Es quietschte, aber nicht genau so, wie es an jedem anderen Tag zu quietschen pflegte, sondern irgendwie schriller und, ja, lebendiger.

Diese misstönenden Schmerzenslaute des pedantisch genau ausgekleideten Flurbodens waren ja an sich schon abstoßend genug, wurden aber tatsächlich noch von dem grausamen Mienenspiel übertroffen, das sich die Türen des Laborkorridors der dritten Unteretage des INFERIA-Tower-Komplexes zum mittäglichen Zeitvertreib hatten einfallen lassen. Sie zeigten die Reflexion jedes Vorbeigehenden in gewohnt flirrender Unschärfe, mehr eine Anhäufung abstrakter Farbflecken als tatsächlich menschliche Konturen, aber während sich ansonsten in diesen Farbflecken doch zumindest eine immer gleiche, merkwürdige Symmetrie erkennen ließ, schienen sie nun jeglicher Ordnung und Logik zu entbehren.

Aya erkannte sich selbst nicht wieder in diesem hysterischen Chaos von Licht und Farbe, eigentlich erkannte sie überhaupt nichts mehr und vielleicht war ja auch gerade das der Stein des Anstoßes, der, wie Ronin es ausdrücken würde, punctum saliens, ihre eigene Verwirrung, die sogar noch all jene altvertrauten Dinge verändert erscheinen ließ, selbst oder gerade dann, wenn sie eigentlich überhaupt nicht verändert waren. Höchstwahrscheinlich war das Licht der besonders stromsparendenden und langlebigen Neonröhren nicht heller und nicht dunkler und schon gar nicht greller als an jedem anderen Tag des Jahres, ebenso wenig hatte sich das Geräusch ihrer Schritte auf dem Linoleumboden in irgendeiner Weise verändert oder war die Zerrachse ihres Spiegelbildes auf den leicht mattierten Labortüren in eine neue Dimension ungekannter Absurdität hinübergeglitten.

Nein, es war mit Sicherheit rein äußerlich alles beim Alten geblieben - ein Korridor, so steril, so kalt, so gesichtslos und langweilig wie eh und je, schon allein deshalb, weil an einem ausschließlich zweckmäßig konzipierten Ort wie diesem hier doch wahrscheinlich bis zum nicht unbedingt in näherer Aussicht stehenden Zusammenbruch des gesamten Gebäudekomplexes niemals mehr auch nur die kleinste Kleinigkeit verändert werden würde. Aber was denn auch? Was sollte denn an grauen Linoleumfußböden, weißen Hartplastikdecken- und wänden, vollkommen schmucklosen Edelstahltüren und farblosen Neonstrahlern schon groß verändert oder gar verschönert werden?

Hinzu kam, dass es sich bei besagter Räumlichkeit nun einmal nicht um die stylishe Lounge eines neu eröffneten Trend-Coffeeshops, sondern eben leider nur um einen simplen Gang handelte, der eine Verbindung zwischen den Türen mehrere Labore herstellte, und diese waren ja ohnehin nicht unbedingt für ihre Wohnlichkeit bekannt, sondern vielmehr für ihre... für ihre... für eigentlich überhaupt nichts, außer eben dafür, dass man mit ihrer Hilfe Verbindungen zwischen den Türen mehrerer Labore herstellen konnte. Und genau diesen ungemein prosaischen Zweck gedachte Aya, all ihrer Verwirrung zum Trotz, für ihre eigenen Ziele zu nutzen, so unklar ihr diese momentan auch noch erscheinen mochten.

Dabei hatte sie es, vorsichtig ausgedrückt, gar nicht einmal so weit, wie es ihr höchstpersönlich vorkam. Tatsächlich lag das Labor mit der Nummer 3 - 19 nämlich exakt neben ihrem eigenen kleinen Reich (alle Labore mit ungeraden Nummern waren auf der linken, alle mit geraden Nummern auf der rechten Seite des Korridors untergebracht), aber leider Gottes war es eben mit der persönlichen Wahrnehmung so eine Sache und im Grunde genommen legte es Aya auch überhaupt nicht darauf an, möglichst schnell von Punkt A zu Punkt B zu gelangen. Ganz einfach deshalb, weil sie und vor allem ihre Gedanken eine kleine Verschnaufpause mehr als nur nötig hatten.

Was war es nur, das ihr an dem möglicherweise etwas unorthodoxen, aber doch eigentlich recht soliden Plan, den D und Ronin ihr mit derartiger Begeisterung sozusagen auf dem mit Diamanten besetzten und mit einer Gold-Titanium-Legierung überzogenen Silbertablett präsentiert hatten, so sehr missfiel? Im Vergleich zu ihrem letzten großen Fall, den Ermittlungen auf dem Evershine New Diamonds Award, war der Kreis der Verdächtigen doch deutlich eingeschränkt und selbst unerwünschte Neuankömmlinge waren auf Merrywood Ville nicht mehr zu erwarten, da pünktlich zur Urlaubszeit der Raumschiffverkehr, der ansonsten die zahlreichen Pendler zu ihren Arbeitsplätzen nach Ecliptica brachte, vollkommen eingestellt wurde.

Zur Aufrechterhaltung ihrer Tarnung war es diesmal nicht etwa hinderlich, sondern im Gegenteil sogar unabkömmlich, zu viert aufzutreten und geschlossen zusammenzuarbeiten, was ja an und für sich jedes äußere Risiko von vornherein senkte, ihre Erfolgsaussichten hingegen enorm steigerte und überhaupt... eigentlich war da nichts, was ausdrücklich gegen sie gesprochen hätte. Wie gesagt - eigentlich. Denn aus irgendeinem Grund, den sie aber nicht kannte, fühlte Aya, dass da eben doch irgendetwas war, irgendetwas vollkommen Diffuses und doch furchtbar Hartnäckiges, etwas, das sie abstieß, sie mit einer furchtbar ungeordneten Nervosität erfüllte und das sie trotz größter Anstrengungen einfach nicht wieder loswerden konnte.

Dabei war Aya nun wirklich in keiner Weise romantisch veranlagt - im Gegenteil. Sie war eine Wissenschaftlerin durch und durch, gesegnet mit einer fast schon unverschämt rationalen Denkweise, und darüber konnte auch nicht die schier grenzenlose Leidenschaft hinwegtäuschen, die sie für ihre Arbeit empfand. Aya klammerte sich nicht an irgendwelche längst überholten Wertvorstellungen, da sie aus eigener Kraft schon gut genug im Strom des Lebens schwimmen konnte, sie war weder konservativ noch moralisierend und schon gar nicht prüde, aber trotzdem...

Manchmal, nur manchmal, wenn Aya ganz allein in ihrer Zweizimmerwohnung saß und auf das vielfarbige Lichtermeer der Großstadt hinabblickte, dann meldete sich doch irgendwo ganz tief in ihr der leise, wehmütig zaghafte Wunsch zu Wort, dass irgendein Prinz oder doch zumindest ein attraktiver Geschäftsmann in seinem schneeweißen Cabriogleiter vor ihrem Fenstersims vorfahren und sie in ein fernes Land auf einem fernen Planeten entführen würde, um in seiner märchenhaften Penthousewohnung reich und glücklich zusammenzuleben bis ans Ende ihrer gemeinsamen Tage. Doch dann, wenn die Lichter im Morgennebel verblasst waren und von ihrer traumhaft duftenden Vanillecapuccino- oder White-Chocolate-Macchiato-Tasse nicht mehr als ein vertrockneter Bodensatz übrig geblieben war, gewann Ayas naturgegebener Realismus überaus schnell wieder die emotionale Oberhand in ihrem Inneren.

Aya war keineswegs eingebildet, aber ihre nüchterne Sicht der Dinge verbat ihr jegliches schüchtern-sympathische Understatement, was die Einschätzung ihrer eigenen Person anbelangte. Sie wusste, dass sie bei ihrer ganz persönlichen Schöpfungsgeschichte nicht unbedingt sonderlich schlecht weggekommen war. Sie sah gut aus, sehr gut sogar, sie betrachtete die Welt aus zwar kurzsichtigen, aber deshalb nicht weniger faszinierenden, von langen Wimpern eingerahmten und beinahe schwarzen Katzenaugen, auf ihrem langen, dunkelbraunen Haar lag ein wunderbar geheimnisvoller Schimmer und auch der Rest ihres schlanken Körpers musste sich mit seinen unglaublich langen Beinen und den wohlproportionierten weiblichen Rundungen vor keinem noch so sehr verehrten Filmsternchen verstecken.

Allerdings war Aya nicht nur schön, sondern auch intelligent, hochintelligent. Sie besaß mehr technisches Verständnis, als es sich die meisten Herren der Schöpfung auch nur ansatzweise hätten erträumen können und neben ihrer gelegentlich doch recht sarkastischen Ader besaß sie obendrein auch noch eine ganze Menge Humor und Begeisterungsfähigkeit. Sie hatte Stil, ohne sich permanent selbst inszenieren zu müssen, und wenn sie in der richtigen Stimmung war, dann schreckte sie auch vor den verrücktesten Einfällen nicht zurück. Aber gerade das war ihr Fehler: Aya war zwar ein Mensch, der problemlos die Hauptrolle in irgendeiner zweitklassigen Frauenrunden-Spätabend-Kultserie hätte besetzen können, aber eben leider Gottes ganz und gar nicht solch einer, dessen Namen sich der durchschnittliche männliche Attraya-Bewohner nebst seinem eigenen im Gold eines Ringes an seiner rechten Hand verewigt wünschte.

Kurzum: Den meisten Männern war Aya eben irgendwie suspekt, was dann entweder dazu führte, dass sie sich gar nicht erst in ihre Nähe trauten, oder eben dazu, dass sie in ihr bestenfalls noch ein gefährliches Abenteuer, eine hart umkämpfte Trophäe sahen, die es gekonnt zu erobern galt. Ersteres bescherte Aya leider nicht mehr als bewundernd schmachtende Blicke, Letzteres unter günstigsten Umständen noch die eine oder andere unterhaltsame Nacht, und beides war zwar amüsant und erbaulich, aber eben doch kein langfristiges Glück von wahrlich märchenhafter Haltbarkeitsdauer.

Vielleicht waren es ja tatsächlich ihre tief verborgenen Wünsche und Sehnsüchte, die ihr die ganze Angelegenheit nun in einem derart negativen Licht erscheinen ließen. Im Grunde genommen war es ja auch vollkommen irrational: Warum sollte es denn bitteschön Unglück bringen, dass sie den definitiv ersten und möglicherweise letzten Heiratsantrag ihres jungen Lebens vor dem Hintergrund einer fragwürdigen Tarnungsaktion bei der Jagd nach einem Gehirne bei lebendigem Leib amputierenden Mörders erhalten hatte? Was war denn eigentlich so ungewöhnlich daran, dass sich Ronin mit seiner unnachahmlich kindlichen Euphorie dazu bereit erklärt hatte, (ausgerechnet!) Ravins Ehe frau zu mimen, da alles andere im doch recht konservativen Merrywood Ville wohl auf nicht allzu viel Gegenliebe stoßen würde?

Es war doch im Endeffekt alles nur ein Auftrag, nicht mehr und nicht weniger als ein ganz gewöhnlicher, ja sogar noch ganz besonders lohnenswerter Auftrag, der ihnen zudem noch einen sicherlich nicht allzu unangenehmen Aufenthalt in zwei großen, geräumigen, wohnlichen Einfamilienhäusern samt Gartenzaun und Garageneinfahrt gewähren würde. Fast schon ein bisschen so etwas wie bezahlter Urlaub, kostenloses Gruselentertainment inklusive, in jedem Fall aber eine schöne Abwechslung von ihrem großstädtischen Alltagsleben, die ihr ja nun wirklich mehr als gelegen kommen sollte. Alles in allem kein Grund zur Besorgnis, eher zur Freude oder zumindest zu etwas sehr ähnlichem, und so beschloss die junge Wissenschaftlerin, ihre ganz private innere Philosophiestunde auf dem Gang zwischen Edelstahl und Neonlicht vorerst einmal zu beenden und ihrer Pflicht nachzukommen, die sie nach wie vor in ihr Nachbarlabor mit dem wenig romantischen Namen 3 - 19 führte.

Schließlich hatte sie es trotz allem immer noch eilig.
 

Schon ihr Empfang im bislang noch unerforschten Territorium des benachbarten Labors war, vorsichtig ausgedrückt, doch ein ganz klein wenig unorthodox gewesen. Zunächst hatte Aya es auf dem konventionellen Wege versucht und den kleinen weißen Klingelknopf gedrückt, der inmitten eines quadratischen Plastikvierecks in etwa auf Brusthöhe neben der Eingangstüre angebracht war. Hatte ungefähr dreißig Sekunden lang gewartet - vergeblich, versteht sich - und dann dieselbe Prozedur in einem ähnlichen Zeitrhythmus noch zwei- oder dreimal wiederholt.

Aya wollte gerade erneut ihren Finger heben und den ihr mittlerweile überaus unsympathisch gewordenen Mechanismus betätigen, als ihr mit einem Mal auffiel, dass sie nach all den unterschwelligen Veränderungen der vergangenen Minuten eine an und für sich ganz offensichtliche Abweichung vom Gewohnten prompt übersehen hatte. Neben dem Einheits-Zahlenfeld, das sich in der gleichen mattsilbernen Ausführung neben jeder einzelnen Labortüre auf dem gesamten Korridor (und, wie Aya vermutete, auch auf jedem anderen Korridor in dem wahrlich nicht gerade kleinen Labortrakt der INFERIA-Tower) finden ließ, hatte ein Lämpchen zu blinken begonnen. Es war klein, fast schon winzig, und auch dementsprechend unscheinbar, eine schmucklose Halbkugel aus Plexiglas, die in regelmäßigen Abständen ein kränklich grünes Leuchten von sich gab.

Als wäre das nicht schon ungewöhnlich genug gewesen befand sich neben dem Lichtlein außerdem eine zusätzliche Taste, eine Taste, die Aya aus dem Eingangsbereich ihres eigenen Herrschaftsterritorium gänzlich unbekannt war und die ihr deshalb umso störender ins Auge fiel. Ebenso wie ihr leuchtendes Brüderlein war auch besagte Taste nicht sonderlich groß, außerdem von einer überaus geschmacklosen Farbe, die Aya mit viel Wohlwollen und noch mehr Euphemismus im Geiste als Naturweiß betitelte. Eine träge, von Geburt an schmutzig vergilbte Farbe, die sich mit dem zeitlos eleganten Silber des Eingabefeldes gar nicht störender hätte beißen können, quasi ein architektonischer Fashion-Fauxpas der übelsten Sorte, und dennoch...

Wenn da ein Lämpchen war, ganz offensichtlich auf irgendeine Weise mit dem Klingelmechanismus verbunden, und wenn sich neben diesem Lämpchen zusätzlich eine Taste befand, dann konnte das im Endeffekt nur genau eine einzige Sache bedeuten: Wer auch immer hinter der schmucklos uniformen Edelstahltüre des Labors Nr. 3 - 19 nun hausen mochte, dieser jemand zeichnete sich doch zumindest durch eine einzige Sache aus, durch ein technisches Novum, das sich Ayas Kenntnis bislang erfolgreich entzogen hatte.

Und vor allem: Das Aya selbst nicht besaß.

Aber wieso eigentlich nicht? Auch sie war Inhaberin eines Labors auf der dritten Kellerebene des INFERIA-Laborkomplexes, eine überaus fähige Wissenschaftlerin, die selbst die gefährlichsten, morschesten Stufen auf der glitschig steilen Karriereleiter nicht zu erklimmen scheute. Sie hatte INFERIA Technologies eine der wirksamsten und dazu noch preisgünstigsten (weil kostenlosen) Werbekampagnen der letzten Jahre, wenn nicht der letzten Jahrzehnte beschert.

Was also um alles in der Welt berechtigte den impertinenten Besitzer dieses höhnischerweise auch noch benachbarten Labors also dazu, solch ein provokant blinkendes Ding an seinem serienmäßig hergestellten Einheitszahlenfeld zu montieren? Je weiter die junge Frau diesen Gedanken verfolgte, desto steiler wurde der Winkel, in dem ihr sämtliche Haare am Körper zu Berge standen. Seit Beginn ihrer Arbeit, an der sie bislang eigentlich noch gar nicht so viel auszusetzen hatte, störte sie neben den viel zu häufigen Funktionsstörungen des lebensspendenden Kaffeeautomaten nämlich vor allem eines: Dieses grell-blecherne und darüber hinaus noch ohrenbetäubend laute Kreischen ihrer Laborklingel, die sie bereits mehr als nur einmal gefährlich nahe an den Rand eines Herzinfarktes getrieben hatte.

Während sie also regelmäßig Gefahr lief, vor lauter Schreck tödliche bis hochexplosive Chemikalien fallen zu lassen oder auch einfach nur ihre beiden Trommelfelle bei der spontanen Implosion beobachten zu dürfen, begann hier, nur wenige Meter von diesem akustischen Terror entfernt, eine Lampe zu blinken. Eine Lampe neben einer Taste, und obwohl Aya von keinem der beiden Dinge auch nur die geringste Ahnung hatte, was genau sie wohl zu bedeuten hatten - und vor allem was der Druck auf jenes kettenraucherzahngelbe Mini-Monstrum nun eigentlich auslösen würde - war sie sich doch mit einer unerschütterlichen Gewissheit im Klaren darüber, dass sie diese Konstruktion besitzen wollte. Musste. Allem Stilbruch zum Trotz wünschte sich Aya zumindest etwas mehr als eine Minute lang nichts sehnlicher, als auch solch ein kaum merklich blinkendes Lichtlein und ganz genau so eine hässliche, farblich vollkommen unpassende Taste im Zahlenfeld vor ihrem Labor ihr Eigen nennen zu dürfen.

Dann fiel ihr auf, dass dies eigentlich überhaupt nicht der Grund ihres Kommens gewesen war, und sie ließ in einer fast schon beschämten Geste ihre Fingerkuppe auf das kleine Plastikviereck niedersausen.

Der Effekt war anders, als Aya es vermutet hatte, wobei die ja an und für sich recht nahe liegende Tätigkeit, Vermutungen über die Funktionsweise des ihr unbekannten Mechanismus anzustellen, angesichts ihrer Woge von Neid aufgrund der bloßen Existenz dieser vollkommen unrechtmäßigen Privilegierung bislang sowieso eher zu kurz gekommen war. Zunächst einmal geschah jedenfalls nichts weiter als das, was sie auch von ihrem eigenen Labor, dort allerdings erst nach Eingabe des richtigen Zahlencodes gewohnt war: Ein mehr oder minder unauffällig im Edelstahlviereck verborgenes Türchen schob sich begleitet von einem leisen Surren zur Seite und gab den Blick auf ein schwarzes, von einem grün leuchtendem Raster überzogenes Feld von der etwaigen Größe eines Streichholzheftchens frei.

Und was dann geschah, ließ die junge Wissenschaftlerin erst einmal mehrere Sekunden lang in vollkommener Bewegungslosigkeit verharren, ganz und gar gefangen von dem Gefühl erstaunten Unglaubens, das von ihrem ganzen Körper, ebenso wie von ihrem Geist Besitz ergriffen hatte.

Das Zahlenfeld begann zu sprechen.

"Guten Tag", schnurrte es ihr in einer typisch monoton elektronischen Stimmlage entgegen, "bitte geben Sie sich zu erkennen."

Aya blinzelte und schenkte ihrem silber-naturweißen Gesprächspartner einen fragenden, dezent hilflosen Blick, den dieser allerdings nicht so recht zu bemerken schien. Seine Antwort bestand auch zunächst einmal nur aus Schweigen, bevor er dann in unnachahmlich maschinell genau reproduzierter Weise wiederholte:

"Bitte geben Sie sich zu erkennen."

"Ähm... ja, entschuldige", lächelte sie, deutete eine Verbeugung an und platzierte dann hastig ihren rechten Daumen auf der schwarzgrünen Fläche des Fingerprint-Scanners.

"M. Jaentschuldige ist keine gültige Namensbezeichnung", blökte ihr die einem Anrufbeantworter durchaus nicht unähnliche Tonbandstimme vorwurfsvoll entgegen. "Gast unbekannt. Zutritt verweigert."

Aya konnte gerade noch ihren Daumen zurückziehen, bevor die Silberklappe mit einem beunruhigenden Surren und einer ganz und gar nicht alltäglichen Geschwindigkeit wieder an ihren Platz zurückschnappte und noch zur gleichen Sekunde auch das tapfer blinkende Lämplein erlosch. In genau dieser Position - die rechte Hand fest mit der linken umschlossen und an die Brust gedrückt, die Augen groß und den Mund auf nicht unbedingt vorteilhafte Weise halb offen stehend - verbrachte Aya dann auch erst einmal einige Momente, bevor die erste Perplexität ihren Körper wieder verlassen hatte und sie sich endlich zu weiteren Folgehandlungen imstande sah.

Sie betätigte aufs Neue die Klingel, drückte und drückte in immer wütenderer Weise das kleine runde Plastik tief in seine Fassung hinein, doch der erwünschte Erfolg blieb aus. Das Blinklicht schwieg, auch das Betätigen der nebenstehenden Taste zog keinerlei Konsequenzen mehr nach sich, und erst nach geschlagenen zehn Minuten, in denen Aya mehr als nur einmal haarscharf an einem wutentbrannten Aufgeben vorbeigeschlittert war, zeigte sich endlich wieder eine positive Reaktion auf ihre verzweifelten Kontaktbemühungen. Das Lämpchen erstrahlte in altgewohntem Nicht-Glanz, das Scanfeld öffnete sich brav infolge eines sanften Drucks auf Mr. Naturweiß, und dann, als ob niemals etwas gewesen wäre, schnarrte ihr die mittlerweile schon durchaus vertraute Computerstimme entgegen:

"Guten Tag. Bitte geben Sie sich zu erkennen."

"A-ya Mi-tsu-yu-ki", antwortete die Dunkelhaarige nach einem kurzen Atemzug mit einer möglichst lauten, deutlichen, eindringlichen Stimme, fast ein bisschen so, als ob sie einem trotzigen Kind an der Supermarktkasse erklären wollte, dass es sich durch unkontrollierte und von sirenenhaftem Geplärre untermalte Wälzorgien auf dem schmutzigen Plastikboden auch nicht in den ersehnten Besitz der zum Greifen nahe stehenden Schokoriegel und Kaugummizigaretten bringen würde. Das Zahlenfeld hüllte sich daraufhin zunächst einmal in bloßes Schweigen, was zwar auf jeden Fall schon einmal besser war als ein erneuter Protest mit gerade soviel Vorwurf in der Stimme, wie es eine blechern monotone Bandansage eben zustandebringen konnte, aber immer noch nicht wirklich zu Ayas endgültiger Beruhigung beitragen wollte.

Das kurze, angesichts ihrer unverändert vorherrschenden Verwirrung jedoch leider nur enttäuschend oberflächliche Aufatmen folgte erst, als ein neongrüner Leuchtbalken von oben nach unten über das vormals noch schlafende Scanfeld des Fingerabdruck-Erkenners lief und ihr neuster kleiner Maschinenfreund in seinem nicht unbedingt herzlicher gewordenen Anrufbeantwortertonfall einmal mehr das Wort ergriff:

"Gast erkannt. Dr. ,A-ya Mi-tsu-yu-ki' (und an dieser Stelle wurde ihre eigene Stimme in den ohnehin eher trägen bis stockenden Redefluss des eigensinnigen Sicherheitsprogramms eingeblendet, was sich zu einer ungemein grotesk lächerlichen Toncollage zusammenfügte) wird erwartet. Bitte platzieren Sie ihren rechten Daumen auf dem dafür vorgesehenen Einlesefeld."

Aya tat wie ihr geheißen, brachte anschließend noch den obligatorischen Retina-Scan hinter sich und stand dann endlich - sie wagte kaum mehr daran zu glauben! - vor einer großen, hässlichen, schmucklosen Edelstahltüre, die sich von allen anderen großen, hässlichen, schmucklosen Edelstahltüren auf ihrem Korridor in erster und bedeutsamster Linie dadurch unterschied, dass sie nicht stumm und lethargisch an ihrem Platz zwischen den auch nicht gerade heimelig ansehnlichen weißen Wänden verharrte, sondern sich vielmehr leise summend zur Seite schob und somit den Weg in völlige Finsternis freigab.
 

Tatsächlich war von dem Labor auf der anderen Seite des hart umkämpften Tores nicht unbedingt viel mehr zu sehen als Schwarz, Schwarz und nochmals Schwarz, allerdings Schwarz in seiner bedrückendsten, staubigsten Form. Der Raum besaß - zumindest auf den ersten Blick - keinerlei feste Konturen, keine Wände, Ecken, Kanten, Möbel oder Maschinen, an denen man gleich welche Erkenntnisse über die Maße oder auch den Zweck besagter Räumlichkeit hätte treffen können. Alles versank in der Finsternis, schweigend, leblos, ohne jeglichen Versuch der Gegenwehr.

Aya schluckte.

Von ihrer sonstigen Affinität zu fremden Laboren, insbesondere solchen, die ihr noch gänzlich unbekannt waren und die es somit erst noch zu erobern galt, konnte sie momentan nicht auch nur den geringsten Anflug in sich wahrnehmen oder aufspüren. Sie sah die Schwärze und sie fühlte sich nicht wohl, wollte umdrehen, zurückkehren in ihr eigenes, behagliches Reich und dort schlicht und einfach behaupten, niemanden in den düsteren Hallen von 3 - 19 angetroffen zu haben. Eine einfache, vollkommen simple Lüge, zumal sie als Inhaberin und Chefin ihres eigenen Labors ja immer noch den Status einer gewissen Immunität innehatte, die sie vor unangenehmen Fragen und Vorwürfen recht zuverlässig schützen würde.

Trotzdem kehrte sie nicht um, sondern schritt langsam, mit nahezu angehaltenem Atem und großen, wachen Augen in das lichtlose Nichts hinein. Vielleicht lag es daran, dass ihr Stolz und nicht zuletzt auch ihr Pflichtbewusstsein es ganz einfach nicht zuließen, sich aus vollkommen nichtigen, mit keinerlei logischen Erklärungen zu rechtfertigenden Gründen vor solch einer essentiell wichtigen Aufgabe zu drücken - vielleicht war auch einfach nur die Angst, der lauernd schwarzen Gefahr den Rücken zuzukehren sogar noch ein bisschen größer als die, ihr todesmutig entgegenzutreten, jedenfalls setzte sie vorsichtig tastend einen Fuß vor den anderen, bis sie schließlich vollkommen in die Dunkelheit eingetaucht war.

Ein Letztes "Eintritt gewährt. Schicherheitsmodus wird zurückgefahren", begleitete ihren unsicheren Weg, dann schob sich die Türe auf ähnlich elegant surrende Art und Weise an ihren alten Platz zurück und nahm Aya so auch noch das letzte bisschen Neonlicht, das vom Gang aus zu ihr hereingedrungen war. Die Stille lastete nun umso bedrückender auf ihren schmalen Schultern, da auch alle anderen, möglicherweise Ablenkung versprechenden Sinnesreize verstummt waren. Sie spitzte ihre Lippen und begann eine leise Melodie vor sich hinzupfeifen, die sie irgendwann einmal gehört hatte und die ihr aus irgendwelchen Gründen im Gedächtnis haften geblieben war (sie meinte sich zu erinnern, das es in einem Film gewesen war, den sie erst vor kurzem gesehen hatte), aber auch das wollte nicht die rechte Erleichterung schaffen.

Glücklicherweise zog sich ihre kleine Odyssey durch die Finsternis des unbekannten Labors kaum mehr als drei Minuten hin, und selbst das auch nur, weil sie sich den eigentlich gar nicht mehr vorhandenen Sichtverhältnissen durch eine entsprechende Verlangsamung ihrer Schrittgeschwindigkeit anpasste. Der schwarze Raum konnte kaum mehr als fünf mal fünf Meter messen und war darüber hinaus auch vollkommen leer - zumindest in den Passagen die Aya mit weit nach vorne gestreckten Händen und ihrem sehnsuchtsvoll schwermütigem Liedchen auf den Lippen durchstreifte. Ihre kleine sensorische Erkundungstour endete somit auch schon sehr bald, was ihr aber durchaus Recht war, und zwar an der kühlen, glatten, nur minimal strukturierten Fläche einer Wand.

Aya tastete prüfend nach links und rechts, und tatsächlich gelang es ihr auf Anhieb, die vermeintlichen Umrisse einer Türe auszumachen. Ihre schlanken Finger fuhren suchend an beiden Seiten des metallisch kalten, momentan noch geschlossenen Portals entlang und ertasteten schon nach kurzer Zeit ein aus der Wand hervorstehendes Plastikviereck, in dessen Mitte sich eine kleine zylindrische Fläche abhob. Die junge Wissenschaftlerin übte vorsichtig leichten Druck auf diesen vermeintlichen Schalter aus, und tatsächlich schob sich die Metalltüre daraufhin ohne großes Murren zur Seite und gab den Blick auf den, wie Aya messerscharf schlussfolgerte, eigentlich nützlichen Teil des Labors frei.

Wobei man in diesem Fall auch tatsächlich wieder von einem Blick reden konnte, denn im vor ihr liegenden Raum herrschte nicht mehr länger Königin Finsternis über ein Reich von ungewissen Ausmaßen, nein, es war sogar alles mehr oder weniger gut erkennbar, wenn auch nicht wirklich und wahrhaftig hell im eigentlichen Sinne des Wortes. Vielmehr herrschte in dem überraschend großen Labor eine Art türkisgrün flackerndes Halblicht, das von sechs deckenhohen, etwa einen halben Meter durchmessenden Glasröhren herstammte, die mit einer klaren Flüssigkeit von bereits erwähnter Farbe angefüllt waren, durch die nur ab und an ein übermütig verspieltes Sprudeln lief.

Ansonsten waren die Röhren leer - ein Zustand, mit dem sie in der gut genutzten Weite des Raumes mehr oder minder alleine dastanden. Die Regale, die sich über die gesamte Wand zu ihrer Rechten erstreckten, waren so sehr mit Akten, Ordnern, lose zusammengehefteten Papieren und sonstigen Dokumenten, vor allem aber auch mit einer wahren Unzahl an Büchern vollgestopft, dass die junge Wissenschaftlerin ganz automatisch einen gewissen Sicherheitsabstand dazu einnahm (denn die Gesetze der Schwerkraft waren grausam und unbestechlich!), obgleich sie die meisten der Werke doch durchaus interessiert hätten.

Die andere Seitenwand des Labors war von langen Reihen gläserner Schränke überzogen, höchstwahrscheinlich Kühlschränke, in denen sich eine Petrischale an die Nächste reihte, ebenso Kolben, Reagenzgläser und Fläschchen, angefüllt mit vielfarbigen Flüssigkeiten, Körnchen, Salzen und anderen undefinierbaren Dingen, die jedoch aus irgendeinem Grund auch nur äußerst bedingt dazu einluden, in näheren Kontakt mit ihnen treten zu wollen. Sicherlich hätte Aya auch dieses medizinisch-chemische Eldorado gern einmal gründlicher und eingehender untersucht, aber da ihr dazu momentan eben leider Gottes der sterile Schutzanzug, die garantiert unkaputtbaren Gummihandschuhe und die zwar grauenvoll unansehnlichen, aber immerhin strahlungsimmunen, säurebeständigen und noch dazu ganz unwahrscheinlich bequemen Hochsicherheitsstiefel fehlten, hielt sich die junge Wissenschaftlerin auch von diesem überaus faszinierenden Teil des Mobiliars erst einmal vorsorglich fern.

Sie durchschritt den im steten Wechselspiel aus grellem Türkis und unsauber konturierten Schatten liegenden Mittelweg des Raumes, an den Licht spendenden Säulen vorbei und geradewegs auf den Altar, auf das Herzstück dieser andächtig flackernden heiligen Hallen zu. Einmal abgesehen davon, dass Aya für Religion im Allgemeinen nicht sonderlich viel übrig hatte und sie somit alle Labore guten Gewissens als irgendwie heilig betitulieren konnte, lag über diesem Exemplar hier eine ganz besondere Atmosphäre, die doch tatsächlich etwas... andächtig Bedeutungsschweres an sich hatte.

Vielleicht lag es ja nur am besonderen Aufbau des Labors, der tatsächlich entfernt an eine Kirche erinnerte, vielleicht an der verwirrend schnell über sie hereingebrochenen delikaten Wichtigkeit ihrer neusten Mission, oder auch schlicht und einfach nur daran, dass sie für solch optisch ansprechende Reize wie das lebendige Glühen der Wassersäulen, noch dazu in solch einer wundervollen Farbe wie Türkisgrün, eben ganz besonders empfänglich war. In jedem Fall aber schien etwas unwahrscheinlich Gewichtiges in der abgestanden desinfizierten Laborluft zu liegen, das sie auf ihrem kleinen Marsch durch das schöne Zwielicht begleitete, und so achtete Aya zunächst einmal gar nicht so sehr darauf, was genau es denn eigentlich war, dem sie sich derart feierlich dahinschreitend näherte.

Als sie es dann schließlich doch tat, da kam ihr als Allererstes und beinahe gegen ihren Willen der Gedanke in den Sinn, dass sie mit der Bezeichnung ,Altar' vielleicht gar nicht einmal so falsch gelegen hatte. Allerdings handelte es sich in diesem Fall wohl weniger um einen Altar im Sinne von christlichen Kathedralen, von Engelsprunk und Marienleiden, sondern vielmehr um etwas ungleich... Älteres. Blutigeres. Dunkleres. Etwas, das seinen Namen bestenfalls noch in einem außerordentlich makabren Sinne verdiente.

Was Aya sah, das war eine Opferstätte, eine chromblitzende, vollkommen sterile Opferstätte, eingewebt in ein Spinnennetz von Kabeln und Sonden, und in ihrem Zentrum lag eine reglose Gestalt.

Oder vielmehr das, was von dieser Gestalt noch übrig geblieben war. Beine und Arme fehlten nämlich komplett, und auf den zweiten Blick konnte Aya erkennen, dass selbst das letzte kümmerliche Stückchen Torso aufgeschnitten worden war und nun von langen hervorstehenden Klammern in diesem unnatürlichen Zustand gehalten wurde. Der Kopf war kahl geschoren, die Augen geöffnet, aber vollkommen leer und ausdruckslos, das Gesicht merkwürdig anonym und frei von jeglichen hervorstechenden Besonderheiten, maskenhaft, aber gerade deswegen durchaus nicht unattraktiv, sofern man angesichts des sonstigen Körperzustandes überhaupt noch von irgendwelchen positiven Reizen sprechen konnte.

Aya keuchte. Obwohl sie den Anblick der zahllosen Instrumente, der Skalpelle, Spritzen, Nadeln, Klammern und Spreizer an und für sich ja schon seit mehreren Jahren so sehr gewohnt war, dass sie für gewöhnlich nicht einmal mehr einen leisen Grusel oder gar Abscheu in ihr wachrufen konnten, erschreckte es sie doch, diesen lieblos zurückgelassenen Körper in einem so präzise auseinandergenommenen Zustand vorfinden zu müssen. Es genügte kaum mehr als ein flüchtiger Blick, um mit Sicherheit sagen zu können, dass es sich bei der Leiche oder Halbleiche gewiss nicht um einen Menschen handelte, aber gerade deshalb wurde sich die junge Wissenschaftlerin einmal mehr jener Gedanken bewusst, die sie in den vergangenen Tagen schon weitaus öfter verfolgt hatten, als ihr das lieb gewesen war.

Vor allem dachte sie an Ravin, an dieses merkwürdige, als makel- und gefühllos erschaffene Wesen, und wie sie es vor noch gar nicht mal allzu langer Zeit wie tot in den bleichen Laken eines Krankenhausbetts hatte liegen sehen. Die Tote auf dem Altar hatte die Augen geöffnet und irgendetwas sagte Aya, dass man ihr ganz gewiss nicht im schlafenden, betäubten oder gar bereits verstorbenen Zustand den Leib aufgeschnitten hatte. Und außerdem war es doch eigentlich überhaupt nicht zulässig, hier in diesem Labortrakt Lebendexperimente an Menschen oder Cyborgs durchzuführen, sozusagen Tür an Tür mit ihr selbst! Warum um alles in der Welt sollte INFERIA also ein derart hohes Risiko eingehen, von den ortsansässigen Aufsichtsbehörden bei diesen längst schon per Interplanetarer Verfassung verbotenen Praktiken erwischt zu werden, wo sich doch in nächster Nähe sicherlich eine ganze Unzahl winziger Trabanten finden ließ, die mindestens ebenso viele unregistrierte Labore und Lagerhallen beheimateten?

Außerdem war sie sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob sie den Besitzer, Erschaffer und Bearbeiter dieses grausigen Altares auch tatsächlich kennen lernen wollte.

Die junge Wissenschaftlerin wich hastig zwei Schritte nach hinten zurück und wollte sich gerade wieder herumdrehen, um dem rettenden Ausgang entgegenzueilen, als sie mit einem Mal gegen irgendetwas prallte, das hinter ihr stand. Etwas, das nur wenige Minuten zuvor ganz gewiss noch nicht dort gewesen war, denn der Weg zwischen den leuchtenden Pfeilern hindurch war doch breit und vor allem auch leer genug, um keinerlei unliebsame Kollisionen fürchten zu müssen. Dann jedoch fühlte Aya, wie ein flüchtiger, warmer Lufthauch ihre Wange streifte, hörte noch in der nächsten Sekunde auch die zugehörigen Atemgeräusche und begriff dann endlich und mit einem gewissen Anflug von Entsetzen, dass es ja eigentlich gar nicht wirklich irgendetwas war, mit dem ihr Rücken da eben auf so unsanfte Weise Bekanntschaft hatte machen dürfen, sondern vielmehr... irgendjemand.

"Willkommen auf unserer verrückten kleinen Teeparty", flötete ihr eine Stimme ins Ohr, gefolgt von einem Lachen, und noch während Aya herumfuhr, begriff sie, dass es ein Fehler gewesen war, auch nur einen einzigen Fuß in dieses vermaledeite Labor zu setzen, ein Fehler durch und durch und von Anfang an. Nun jedoch war es zu spät, denn zwischen ihr und dem Ausgang stand nun ein Engel, der sprichwörtliche Engel mit dem flammenden Schwert und den flammenden Augen und Haaren und überhaupt, der ihr mit einem tödlichen Lächeln auf den Lippen den verheißungsvollen Pfad zum Tor des Paradieses verwehrte.
 

Gut, vielleicht war dieses Paradies ja auch einfach nur jener unbeschreiblich langweilige Korridor, den sie Tag für Tag durchquerte, ohne wirklich groß Notiz von ihm zu nehmen. Vielleicht war das flammende Schwert doch eigentlich vielmehr ein länglich ovales Silbertablett, auf dem zwei filigrane Tässchen und eine mit altmodisch zartem Rosendekor verzierte Teekanne thronten, von der bestenfalls noch seichte, sanft gekräuselte Rauchschwaden, in gar keinem Fall aber tödliche Flammen aufstiegen. Und vielleicht war der Engel auch überhaupt kein wirklicher Engel, sondern ganz einfach nur ein Mensch, ein Wissenschaftler, um genau zu sein, wobei letztere Erkenntnis ihrer ersten Theorie schon mal ganz definitiv widersprach.

Das alles änderte jedoch nichts daran, dass der Fremde ganz unzweifelhaft so aussah wie der Prototyp eines jeden himmlischen Boten, und zunächst einmal war sich Aya auch gar nicht so sicher, ob sie nun einen Mann oder eine Frau vor sich stehen hatte. Die Stimme und auch die Statur der merkwürdigen Erscheinung ließen sie zwar letztlich doch auf ein männliches Wesen schließen, aber völlig sicher war sie sich trotz allem nicht. Das Gesicht des vermeintlichen Engels war nämlich beispiellos androgyn, ja beinahe eher feminin geschnitten, sehr schmal, mit schönen, klassischen Gesichtszügen und hellbraunen Augen, die hinter zwei runden Brillengläsern hervorblitzten. Irgendetwas an diesen Augen war seltsam, anders als bei allen anderen Augen, in die Aya jemals zuvor gesehen hatte, aber sie konnte diesen unübersehbaren Unterschied beim besten Willen nicht definieren, was sie wohl nicht zuletzt auch den unnatürlichen Lichtverhältnissen zuschreiben konnte.

Um das engelsgleiche Bildnis komplett zu machen durfte ihr Gegenüber auch noch goldblondes, leicht welliges Haar sein Eigen nennen, das ihm zu einem langen Zopf geflochten über die Schulter hinabfiel. Unten wurde dieser Zopf von einem dunkelblauen Schleifchen zusammengehalten, wirkte jedoch alles in allem recht lose, fast ein wenig unordentlich, und etliche kürzere Strähnen hatten sich daraus gelöst und fielen dem vermeintlichen Engel vor das porzellanfarbene Gesicht. Unter seinem weißen Laborkittel, in dem er mit seiner schlanken Statur ein ganz klein wenig verloren wirkte, trug er einen engen schwarzen Rollkragenpullover aus glattem Stoff, etwas abgenutzte Jeans und ein silbernes Kreuz um den Hals.

Der einzige Stilbruch im himmlischen Gesamtbild seines unbestreitbar anziehenden Äußeren war das Lächeln auf seinen Lippen, dieses unbefangene, keineswegs aufgesetzt anmutende Lächeln, dem doch aus irgendeinem Grund so eine gewisse Spur von Wahnsinn anhaftete, die nicht so recht zu dem Idealbild eines Engels passen wollte.

"Sie sind Aya Mitsuyuki, habe ich Recht?", erkundigte sich der Wissenschaftler mit einem einladenden Nicken und streckte ihr seine Hand mit dem Teeservice ein Stückchen weiter entgegen. "Ich habe schon gehört, Sie würden kommen, was mich natürlich sehr freut, insbesondere deshalb, weil wir ja quasi Nachbarn sind. Ein lustiger Gedanke, finden Sie nicht? Da lebt man Tag für Tag Tür an Tür miteinander, ohne überhaupt das Gesicht des anderen zu kennen! Wie in Hochhäusern, da hört man ja auch immer diese Geschichten, dass alte Frauen sterben und erst nach Jahren gefunden werden, wenn sie schon ganz verwest und von Würmern aufgefressen worden sind..." Er kicherte. "Ob uns das hier wohl auch passieren könnte? Nehmen Sie doch, nehmen Sie doch, hab ich extra für Sie gemacht!"

Der plötzliche Wechsel von Labornachbarschaften zu verwesenden Rentnerinnen und wieder zurück zur dampfenden Teekanne kam selbst für Ayas wachen Verstand ein klein wenig unerwartet sprunghaft, und so zögerte sie mehr als nur einen Augenblick lang, dem großzügigen Angebot des seltsamen Engels auch wirklich nachzukommen. Dann jedoch umfasste sie vorsichtig den Porzellangriff des nostalgisch wertvollen Gefäßes und ließ seinen scharlachroten Inhalt langsam in eines der Tässchen plätschern. Ein herrlich süßer Duft von Vanille stieg ihr in die Nase, begleitet von etwas anderem, das sie nach einigem Überlegen als Himbeeraroma ausmachen konnte.

"Na also", lächelte der Blonde ihr sichtlich zufrieden entgegen, stellte sein Tablett dann neben der Tastatur eines großen, momentan offensichtlich nicht in Betrieb genommenen Computers ab, der wie einige andere Dinge im Labor auch merkwürdig altmodisch anmutete, und goss sich ebenfalls eine Tasse des wundervoll warmen Getränkes ein. "Und nun, da ich Ihnen mein kleines Präsent hier überreicht habe, erzählen beziehungsweise zeigen Sie mir doch bitte das Ihrige. Was haben Sie mir denn für ein Geschenkchen mitgebracht, meine liebe Weise aus dem Morgenland?"

"Ähm - das hier", murmelte Aya reichlich konsterniert, während sie das kleine Plastiktütchen aus der Tasche ihres wie gewohnt recht kurzen weißen Rockes zog, jenes schicksalhafte Relikt eines blutigen Abends, das überhaupt erst ihr Freifahrtschein in dieses ansprechend beleuchtete Irrenhaus gewesen war. "Ich weiß nicht, inwiefern Sie mit den Hintergründen der Tat vertraut sind, aber man hat dies hier am Tatort gefunden und der Täter scheint es verloren zu haben. Keine Ahnung, was genau es nun eigentlich sein soll, aber um Gold, Weihrauch und Myrrhe wird es sich dabei wohl nicht unbedingt handeln. Wobei - man weiß nie."

Der kitteltragende Engel sah sie einen Moment lang mit großen Augen an, dann blinzelte er, neigte seinen Kopf ein Stück weit zur Seite und blinzelte erneut.

Und dann brach er ganz plötzlich in ein schallendes Lachen aus - ein ganz und gar unbeschreiblich hysterisches Lachen, das einmal mehr diesen gewissen Hauch von Wahnsinn mit sich brachte, der in diesem Fall jedoch eigentlich schon gar kein Hauch mehr war, sondern ein Wirbelsturm von wahrhaft brachialen Ausmaßen. Ein Wirbelsturm, der überhaupt nicht mehr enden wollte, denn der blonde Wissenschaftler lachte und lachte unentwegt, prustete, schnappte nach Luft und hielt dann inne. Schloss seine dunklen Augen, atmete etliche Male tief durch, bevor er seinen Blick erneut auf Ayas Gesicht zu richten wagte. Und wurde dann prompt von einer weiteren Sturmflut des Lachens mitgerissen, klopfte sich noch ab und an mit der rechten Hand auf den rechten Oberschenkel, während er ansonsten scheinbar schon mehr als genug damit zu tun hatte, gleichzeitig zu lachen und nicht an diesem Lachen ersticken zu müssen.

Aya sah diesem plötzlichen Ausbruch unerwarteter Heiterkeit knapp fünf Minuten lang schweigend zu, dann räusperte sie sich etliche Male, und als auch diese Versuche, die Aufmerksamkeit ihres ewig lachenden Gegenübers endlich wieder auf ihre Person zu lenken, kläglich scheiterten, legte sie stattdessen zögerlich eine Hand an dessen Schulter und rüttelte vorsichtig daran, wie um einen Schlafenden auf sanfte Weise in die harte Realität zurückzuholen. Selbst durch den Laborkittel und den Stoff des Pullovers hindurch konnte sie fühlen, dass der junge Mann wirklich sehr schlank sein musste, ungewöhnlich schlank, und irgendetwas an dieser Erkenntnis, gepaart mit dem ganz unwahrscheinlich irrsinnigen Gelächter erschreckte sie so sehr, dass sie ihre Hand doch weitaus schneller wieder zurückzog, als es noch höflich gewesen wäre.

"Wa-was?", stieß der Blondschopf keuchend hervor, hob seine Brille ein Stück weit an und wischte sich kopfschüttelnd die Tränen aus den Augen. "Also, das... das ist doch wirklich eine ganz absurde Vorstellung, finden Sie nicht? Da ziehen die heiligen drei Könige, die übrigens eigentlich gar keine Könige waren, so weit ich mich recht erinnere, sondern Gelehrte, durch die Straßen der Stadt und berauben die Menschen ihrer Gehirne, um sie dem Jesus-Kind als Geschenke vorzubringen. Und verlieren dabei ausgerechnet ihren Weihrauchbeutel, getarnt als Extasy-Pillen... wobei, umgekehrterweise soll das tatsächlich sogar schon öfters mal vorgekommen sein, Drogen getarnt als Kirchenutensilien, Weihrauch und Oblaten, und dann hat man die Päckchen verwechselt und eine ganze Kirche voll rechtschaffener alter Menschen wurde high und der geldgierige Pfarrer wegen vermeintlichen Betruges von seinen Auftraggebern erschossen... glaubt man das? Ich finde diese Geschichte so unheimlich lustig, lustig, aber vor allem absurd, es ist alles so wundervoll absurd..."

"Ja... das soll es ja geben, solche absurden Dinge", stimmte Aya mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen zu und ließ dabei wie zufällig einen Blick über ihr Gegenüber schweifen, was dieses allerdings nicht zu bemerken schien. "Gerüchteweise."

"Das ganze Leben ist absurd, und der Tod noch vielmehr", nickte der seltsame Engel stattdessen. Dann plötzlich stockte er jedoch und blinzelte erneut, sodass Aya einige grausige Sekunden lang einen weiteren Lachanfall zu befürchten hatte und spontan einen halben Schritt nach hinten zurückwich. Weiter kam sie nicht mehr, denn noch im nächsten Augenblick hatte der Wissenschaftler auch schon ihre Hand gepackt und begann nun auf reichlich unsanft-euphorische Weise, diese ein ums andere Mal auf- und abzuschütteln. "Ach, wissen Sie, da hab ich doch tatsächlich schon die ganze Zeit lang hin- und her- und wieder zurücküberlegt, ob ich nicht doch irgendetwas unwahrscheinlich Wichtiges vergessen habe, etwas sehr Wichtiges sogar, ja, und sehen Sie, da fällt es mir doch auch glatt wieder ein. Ich habe mich nämlich noch gar nicht vorgestellt, glaube ich. Oder doch? Also, das ist wirklich zum Verzweifeln! Man sagte mir ja schon das eine oder andere Mal nach, so ein kleines bisschen zerstreut zu sein, und wenn man sich das hier mal so ansieht, ach, man könnte glatt damit anfangen, dran zu glauben. Allerdings glaub ich ja prinzipiell nicht - ich weiß nur."

"Hey, das... sage ich auch immer", entgegnete die Wissenschaftlerin, während ihre Augen kurz und sehnsuchtsvoll zum metallenen Rechteck der Ausgangstüre hinüberglitten. "Und um auf die andere Frage zurückzukommen: Nein, haben Sie noch nicht."

"Was habe ich noch nicht?", fragte der junge Mann mit einem Ausdruck perfekter Ahnungslosigkeit auf dem schönen Gesicht, während seine Hand in unverändert abgehackter Gewaltsamkeit damit fortfuhr, Ayas vollkommen hilflose und mittlerweile auch schon halb zerdrückte Finger in einer reichlich missglückten Begrüßungsgeste umherzureißen. Die Dunkelhaarige stieß einen leisen, verzweifelten Seufzer hervor, während sie sich weiterhin zu so etwas ähnlichem wie einem positiven Gesichtsausdruck zwang.

"Sich vorgestellt", antwortete sie möglichst kurz und möglichst desinteressiert, um einem längeren Gespräch nach Leibeskräften aus dem Weg zu gehen, was ihr aber offensichtlich nicht gelang.

"Oh, tatsächlich nicht?" Der Blondschopf machte große Augen und schüttelte Ayas Linke spontan noch ein kleines bisschen gewaltsamer umher.

"Nein, tatsächlich nicht", gab sie in einem derart trockenen Tonfall zurück, dass die letzten Überreste des Tees, den sie immer noch in ihrer rechten Hand hielt, augenblicklich zu tausend roten Krümeln verklebten und sich auf jene unnachahmlich hartnäckige Weise, wie sie eben nur Teebodensätze beherrschten, an das weiße Porzellan im Inneren der Tasse zu heften begannen. "Aber man muss ja auch zu Ihrer Entschuldigung anmerken, dass sie nun schon seit geschlagenen vier bis sieben Minuten damit beschäftigt sind, mir die Hand zu reichen. Wer könnte es Ihnen da noch verübeln, wenn Sie andere Dinge stattdessen eben doch ein kleines bisschen zu kurz kommen lassen?"

"Ich... oh." Der Wissenschaftler stieß Ayas Hand mehr von sich, als dass er sie losließ, so schlagartig und entgeistert, als ob es sich dabei um einen radioaktiv verseuchten Waschlappen und nicht einfach nur um menschliches Fleisch handeln würde. Er schloss die Finger der linken Hand fest um seine Rechte und presste beide an seine Brust, während sich ein äußerst verlegenes Lächeln auf sein engelsgleiches Gesicht stahl. "Das habe ich ja ganz vergessen. Wundern Sie sich nicht, so etwas passiert mir öfters. Und ich heiße Kagami, Kagami Mizuhara, aber ich habe nichts dagegen, wenn Sie mich einfach nur Kagami nennen."

"Kagami Mizuhara?" Nun war es Aya, die ihrerseits große Augen machte. " Sie sind Kagami Mizuhara?"

"Ja. Wieso?"

"Mein Gott... ich hatte ja keine Ahnung, dass ausgerechnet Sie genau an meiner Seite arbeiten! Ich... ich habe ihre letzte Abhandlung gelesen, über das Zusammenspiel von verschleppten Grippekrankheiten mit den neuerdings auftretenden Mutationsformen des Somnia-Virus. Das war... beeindruckend, wirklich. Und auch die vorherigen Werke, ich... habe wirklich selten jemand derart treffend und präzise über Krankheitserreger schreiben sehen!"

"Oh, das freut mich natürlich ganz besonders!" Auf Kagamis Gesicht breitete sich ein umso strahlenderes Lächeln aus. "Vor allem, da ohne diesen... wundervollen Raum hier... vielleicht keines meiner Werke überhaupt erst in Druck gegangen wäre. Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber wenn es sein muss, bin ich sehr, sehr selbstkritisch. Ich würde nie im Leben auch nur eine einzige Zeile veröffentlichen, wenn ich sie nicht vorher meinen Kindern vorgelesen habe und ich merke, dass sie damit auch einverstanden sind."

"Aha", machte Aya, während sie sich krampfhaft darum bemühte, das heiß und fordernd in ihren Muskeln brennende Stirnrunzeln niederzukämpfen. In ihrem Geiste erwachte die Vision einer Meute von wahnsinnigen blondhaarigen Mini-Engeln, die mit Reagenzgläsern in der einen und Kettensägen in der anderen Hand durch eine chaotisch altmodische Wohnung tollten, um dort nicht viel mehr als eine Trümmerlandschaft aus Schutt und Asche übrig zu lassen, wahrhaft apokalyptisch in ihren Ausmaßen und ein Bildnis derart radikaler Zerstörung, dass es selbst der jungen Wissenschaftlerin einen kalten Schauer über ihren Rücken hinabjagte. "Das ist ja schön. Ich... wusste überhaupt nicht, dass Sie Kinder haben."

"Doch, ganz viele", nickte der Blondschopf. Aya schluckte. "Aber wo wir schon einmal von ihnen reden, warum sagen Sie nicht gleich Hallo zu ihnen? Meine Kinderchen werden Sie lieben!"

Er nahm Aya die Teetasse aus der Hand und stellte sie neben seiner eigenen auf dem Tablett ab, dann beschrieb er einen träumerisch tänzelnden Bogen quer durch das meeresfarbene Flackern des Labors hindurch und kam vor der gläsernen Schrankwand zum Stehen. Und da, ganz plötzlich, ging eine merkwürdige Veränderung mit seinem Lächeln vor, die schwer in Worte zu fassen oder auch nur irgendwie sinnvoll zu deuten war. Es erschien mit einem Mal... leiser, ruhiger, introvertierter, fast schon ein bisschen geistesabwesend, und seine Lider sanken um wenige Millimeter nach unten. Die weißen Finger des Mannes strichen behutsam... liebevoll über das Glas der großen Türen, und obwohl Aya lediglich sein schönes Profil sehen konnte, erkannte sie doch mit einem Mal eine tiefe, aufrichtige Wärme in den braunen Augen, die zuvor noch nicht dort gewesen war.

"Na", murmelte er, wobei er vielmehr zu sich selbst als tatsächlich zu der jungen Wissenschaftlerin zu sprechen schien, "wie geht es meinen kleinen Lieblingen denn heute? Darf ich vorstellen? Das hier ist die Tante Aya!"

"Das sind also... Ihre... Kinder?" Aya zog beide Augenbrauen hoch und bedachte die väterlich stolze Miene, ebenso wie die zärtlichen Streicheleinheiten des mittlerweile schon ganz, ganz tief in die große Schublade mit der leuchtend roten Aufschrift ,Vorsicht! Wahnsinnig!' gesteckten Engels mit einem ungemein kritischen Blick. "Entschuldigen Sie bitte meine Dummheit, aber einen Moment lang habe ich doch glatt gemeint, das wären Krankheitserreger. Wie bin ich nur darauf gekommen?"

"Ach, machen Sie sich da mal keine Gedanken, das glauben viele", winkte Kagami hastig ab und schenkte der Dunkelhaarigen ein milde verzeihendes Lächeln. "Sie nehmen das einem auch gar nicht übel, es sind brave Kinder. Dabei haben manche von ihnen schon so viel mitgemacht! Sehen Sie hier, die Pest, und daneben Cholera, beides arme Weisenkinder, die ganz allein auf der Welt sind und kaum mehr Brüderchen und Schwesterchen haben. Und dort, die Tuberkulose. Das Arcacia-Virus, gegen das ich erst vor kurzem selbst einen Impfstoff entwickelt habe. Oder Polio, das mag ich ganz besonders. Ich sage immer Poli dazu, oder Poli-chan, wenn es mal besonders lieb ist..."

"Also, das ist ja nett!", entgegnete Aya mit einem derart erzwungen falschen Lächeln auf ihrem Gesicht, dass sie tatsächlich leise protestierende Schmerzensschreie aus der Richtung ihrer Mundwinkel zu vernehmen glaubte. "Und lassen Sie mich raten, Ihre Kindchen haben hier auch einen netten kleinen Spielplatz gefunden", fügte sie mit einem bezeichnenden Seitenblick auf den mit chirurgischer Präzision zerstückelten Frauenkörper hinzu.

Kagami kicherte.

"Den habe ich extra für sie gebaut", verkündete er, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme. Dann blinzelte er, nestelte kurz an seiner Brille herum und sah die dunkelhaarige Frau mit großen, fragenden Augen an. "Sie haben doch wohl nicht geglaubt, dies wäre ein Mensch? Oder gar ein Cyborg? Nein... nein, es ist nur ein Modell, allerdings ein vollkommen realistisches, an dem ich jede Auswirkung von meinen Kleinen auf den menschlichen Organismus simulieren und analysieren kann. Es wird alles aufgezeichnet, ausgewertet und eingespeichert, ganz so, als ob der Erkrankte ein Mensch wäre, was er aber natürlich nicht ist. Immerhin ist das ja verboten!"

Aya nickte nur, aber aus irgendeinem Grund wollte sie der lapidar hinzugefügte Nachsatz des blonden Wissenschaftlers doch nicht uneingeschränkt beruhigen. Es mochte an dem allzu sachlichen Tonfall Kagamis gelegen haben, mit dem er diese Erklärung so beiläufig in den Raum gestellt hatte, vielleicht auch an dem dann und wann im Ausdruck schwankenden, aber doch niemals vollständig schwinden wollenden Lächeln auf seinem Gesicht oder ganz einfach nur an Ayas dezent überspannten Nerven. Aber mit einem Mal wurden die Fluchtfantasien in ihrem Inneren allzu übermächtig, die Last auf ihrer Brust und ihren Schultern hingegen unerträglich schwer, erdrückend schwer, sodass sie fürchtete zu ersticken, wenn ihr nicht endlich ein kurzes, rettendes Nach-Luft-Schnappen gewährt werden würde.

"Ja", lächelte sie krampfhaft, "mit den Pflichten und Verboten ist es eben so eine Sache. Und wo wir schon einmal davon sprechen: Mir fällt gerade auf, wie spät es bereits geworden ist, dabei habe ich es doch so eilig! Immerhin geht bald mein Flug, packen muss ich ja auch noch, und so leid es mir tut, ich fürchte, wir werden diese Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen müssen."

"Ich freue mich schon darauf! Und es ist auch überhaupt nicht schlimm, wissen Sie, ich habe ja auch noch so viel zu tun. Erst vor kurzem habe ich doch dieses biologische Nervengift entwickelt, Red Eve, und jetzt möchte mein süßer Liebling unbedingt noch Spazieren geführt werden, und, ach, ich kann der Kleinen einfach keinen Wunsch abschlagen! Außerdem bliebe da ja noch Ihr nettes kleines Fundstück, das ich natürlich auch so bald wie möglich analysieren werde. Ich gebe Ihnen dann Bescheid, wenn ich mehr darüber weiß. Ihnen wünsche ich dann erst einmal viel Glück bei Ihrem Auftrag, und - nicht den Kopf verlieren, ja?"

Eine neuerliche Lachsalve brach über Kagamis weiße Lippen hervor, und sofort hatte es Aya sogar noch ein kleines bisschen eiliger, das fahle Flackerlicht des merkwürdigen Labors endlich wieder hinter sich lassen zu können. Sie hatte mehr als genug von Kindern namens Pest und Poli-chan, sie hatte genug von widerwärtigen Infektions-Simulatoren und hysterisch kichernden Engeln, im Grunde genommen hatte sie ganz einfach genug von der ganzen Welt und sie sehnte sich nach ihrer Badewanne und einer heißen, duftenden Tasse Latte Macchiato (jetzt ganz neu mit dem Aroma gebrannter Mandeln!), so sehr wie sie sich selten zuvor danach gesehnt hatte.

Gebannt von all diesen unerfüllbaren Wunschträumen konnte Aya später gar nicht mehr so genau sagen, warum sie sich dann doch noch einmal umgedreht und einen kurzen Blick über die Schulter zurückgeworfen hatte. Sie wusste auch nicht, ob es ihr sofort oder doch erst mehrere Stunden später, im Raumgleiter oder gar auf der Schaukel im Zwielicht des Abends aufgefallen war, aber kaum, da sie es bemerkt hatte, fühlte sie doch überdeutlich die subtile Gewichtigkeit dieser denkwürdigen Erkenntnis.

Als ihre Augen nämlich den kleinen Chromtisch mit dem Flatscreen und der Computertastatur streiften, da konnte sie dort eben lediglich noch besagten Tisch, besagten Flatscreen und besagte Computertastatur erkennen, nicht mehr und nicht weniger und schon gar kein altmodisch niedliches Teeservice, das zart bemalt und heimelig dampfend sein beschauliches Leben inmitten von Hightech und tödlichen Krankheitserregern fristete. Das Tablett samt seiner puppenstubenhaften Last war schlicht und einfach nicht mehr da. Kagami stand immer noch lachend und winkend an seinem Platz zwischen den deckenhohen Kühlschränken und der aufgeschnittenen Leiche, die eigentlich überhaupt keine aufgeschnittene Leiche war, und Aya war sich eigentlich auch vollkommen sicher, dass während ihres Gespräches niemand den Raum betreten oder verlassen hatte. Und trotzdem war es so, wie es nun einmal war:

Das Teeservice war und blieb verschwunden.
 

"D!!!!!!"

Ayas Ruf hallte laut und bebend durch die Zimmer und Flure ihres kleinen Labors, brachte Wände, Gläser und Computerbildschirme zum Erzittern und trieb in seiner alles vernichtenden Vehemenz ganz spontan auch ein leises Kratzen durch ihren eigenen Hals. Sie hustete kurz und trocken, stemmte sich dann nur umso wütender beide Hände in die Seiten und stapfte mit zornesroten Wangen auf die wie erstarrt vor dem Kaffeeautomaten stehende, schwarzhaarige Gestalt zu. Diese wandte sich langsam, sehr, sehr langsam zu ihr herum, und auf ihrem Gesicht lag ein derart unschuldig flehendes Grinsen, dass es der Dunkelhaarigen spontan in den langen, schlanken Fingern zu jucken begann.

"D, was hast du dir dabei gedacht?!", stieß sie mit vernichtendem Groll in der Stimme hervor und funkelte dem jungen Mann mit ihren dunklen Augen todbringend düster entgegen. "Reicht es nicht, dass du gemeinsam mit deinem perversen kleinen Freundchen einfach so und ohne mich zu fragen irgendwelche Verträge aushandelst und Aufträge nicht nur annimmst, sondern sie auch gleich noch nach deinen fragwürdigen Ideen und Plänchen zu designen beginnst?! Nein, jetzt lässt du mich auch noch mutwillig mitten ins Messer laufen und, lass mich raten, du hattest deinen Spaß dabei!"

"Aya", entgegnete D, und auf sein eben noch stumm um Gnade bittendes Gesicht trat spontan ein feierlich ernster Ausdruck, "ich schwöre, ich habe keinerlei Ahnung, wovon du sprichst."

" Tante Aya, wenn ich bitten darf!" Die junge Wissenschaftlerin bleckte die Zähne. "Und, um es mal mit deinen Worten auszudrücken, ich schwöre, ich habe keinerlei Ahnung, auf welche Weise ich nun deinen Kopf von deinem Körper abtrennen werde, aber glaube mir, es wird mir noch einfallen, eher, als du denkst!"

"Findest du das jetzt nicht ein... ganz klein wenig martialisch?"

"Nein, ich finde es gnädig!", schnaubte Aya und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. "Ich meine... du hättest es doch einfach nur erwähnen... ja, wenigstens andeuten können, dass ich hier Tag für Tag und Nacht für Nacht mit solch einem... einem Psychopathen sondergleichen sozusagen in bester Nachbarschaft meinen Dienst verrichte! Aber nein, nein, warum auch? Schicken wir doch lieber die dumme, unwürdige Aya ohne auch nur ein einziges Wort der Vorwarnung geradewegs in dessen bluttriefende Klauen, auf dass er mich zerreißen und seiner Virenkollektion zum Fraß vorwerfen kann!"

"So etwas nennt man Empirie", verkündete D und strahlte über das ganze Gesicht. "Darauf stehst du doch so sehr, dachte ich!"

"So etwas nennt man Sadismus", gab die Dunkelhaarige grummelnd zurück. "Da drüben geht es doch weiß Gott nicht mit rechten Dingen zu, schon gar nicht in dem seinem Kopf!"

"Ist doch schön, dass ihr Wissenschaftlergenies euch endlich mal kennen gelernt habt", grinste der junge Hacker nur umso breiter. "Ich dachte mir schon, dass ihr euch bestimmt gut verstehen würdet."

"Oh ja, und wie!" Aya rollte mit den Augen. "Ich würde ihn ja am liebsten hier und auf der Stelle heiraten, aber ich möchte doch den armen Kinderchen nicht ihren lieben Papa wegnehmen..."

"Wie großmütig von dir."

"Genau, großmütig. Aber weißt du, D, selbst meine Großmut kennt ihre Grenzen, und diesen Grenzen bist du heute leider ein klein wenig zu nahe gekommen, weshalb ich dir..."

Just in diesem Augenblick fiel der dunkelhaarigen Frau das tropfenartig monotone Gedudel ihres laborinternen Telefonläutens ins Wort und setzte ihrer bedrohlichen Standpauke so ein überaus rasches, wenig melodisches Ende.

"Aya, Telefon!", verkündete D auch prompt mit einem halb schadenfrohen, halb erleichterten Lächeln auf seinen Lippen, und so rang sich Aya lediglich noch ein resigniertes Seufzen ab, bevor sie sich notgedrungen in ihr Schicksal fügte und mit hängenden Schultern zu dem nervenzerfetzend penetrant um Aufmerksamkeit ringenden Plastikgerät trottete, den Hörer abnahm und mit erstaunlich gekonnt aufgesetzter Fröhlichkeit in den Lautsprecher säuselte:

"Guten Tag, Dr. Aya Mitsuyuki von INFERIA Technologies am Telefon, was kann ich für Sie tun?"

"Dr. Aya Mitsuyuki?", antwortete eine warme, angenehm tiefe Männerstimme am anderen Ende der Leitung. "Was für ein Glück, dass ich Sie direkt erreiche, ich hab schon gar nicht mehr damit gerechnet, es geht mir nämlich selten so."

Ein kurzes Lachen ertönte, auf das dann erst einmal nichts als beharrliches Schweigen folgte.

Aya räusperte sich.

"Ähm... wie genau kann ich Ihnen helfen? Mit wem spreche ich denn überhaupt?"

"Wer ich bin und was ich möchte tut nichts zur Sache, aber betrachten Sie mich als einen Freund. Und seien Sie bitte froh darüber, Sie werden nämlich bald nicht mehr sonderlich viele davon haben, wenn Sie so weitermachen. Falls Sie aber unbedingt einen Namen brauchen, nennen Sie mich eXinfernis."

"Wie bitte? Ex infernis?"

"Ich sagte doch, es tut nichts zur Sache, und ich hoffe auch, dass wir nicht noch einmal miteinander sprechen müssen. Hören Sie mir gut zu, Aya Mitsuyuki: Bleiben Sie weg. Egal, was Sie vorhaben, lassen Sie es sein. Es gibt viele reiche Menschen in diesem Quadranten, gehen Sie zu denen, da bekommen Sie auch Ihren Ruhm und Ihren Reichtum. Nur bleiben Sie weg von hier..."

Aya keuchte. Obwohl sie es vor jedem anderen Menschen außer sich selbst wohl um nicht in der Welt hätte zugeben wollen, aber auch sie brauchte ab und an so etwas wie vollkommen anspruchslose, ihre emsigen kleinen Gehirnzellen nicht auch nur im Geringsten anstrengende und vor allem möglichste niveaulose Unterhaltung und in diesen schwachen Momenten hatte selbst sie sich bereits dem zweifelhaften Genuss des einen oder anderen Teenie-Horrorstreifens hingegeben. Sie kannte die Bilder von schwer atmenden, nur mit einem unschuldig weißen Bademantel bekleideten Mädchen, die sich zitternd und schluchzend mit ihrem Telefonhörer in der einen und einem Küchenmesser in der anderen Hand stets nur in den obersten Stockwerken ihrer hübschen kleinen Häuschen verschanzten, gefangen in jener grausam hilflosen Gewissheit, ununterbrochen und von irgendwoher beobachtet zu werden.

Obwohl die kühl denkende Wissenschaftlerin das meist nicht unbedingt von Intelligenz und logischem Sachverstand geprägte Verhalten der bildhübschen Protagonistinnen stets milde-herablassend belächelt hätte, so musste sie sich nun ganz plötzlich und von einer Sekunde auf die nächste eingestehen, dass sie jedes einzelne dieser nervigen Dinger aus tiefstem Herzen verstehen konnte. Das Plastik des Telefonhörers ruhte schwer und klebrig in ihrer Hand, und das leise Atmen am anderen Ende der Leitung schien doch eigentlich vielmehr ihren Nacken zu streifen.

Irgendjemand starrte sie an.

Ayas dunkle Katzenaugen glitten nervös über die mittlerweile doch schon recht vertraute, mit einem Mal aber ganz ungewohnt und beunruhigend... abweisende Umgebung ihres Labors, aber natürlich war da niemand außer D. Einigen Maschinen. Türen. Vielleicht auch zwei, drei verborgenen Überwachungskameras, die sie nicht sehen konnte, die aber ohne jeden Zweifel nur in irgendwelche Spitzelzimmer vierzehn oder fünfzehn Etagen weiter oben führen konnten.

Aber trotzdem wurde sie das widerliche Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, und als sie endlich wieder den Atem zum Sprechen fand, da klang ihre Stimme zu ihrem größten Missfallen nicht halb so wütend und selbstsicher, wie sie das gerne gehabt hätte.

"Was... was um alles in der Welt wollen Sie von mir? Sagen Sie mir endlich Ihren Namen und woher Sie diese Nummer und diese Informationen haben!"

"Ich weiß mehr über Sie, als Sie ahnen. Sie sind eine bewundernswerte Frau, aber bitte lassen Sie sich nicht von Ihrem falschen Stolz den Blick vernebeln. Sie sollten lieber lernen, einen Rat zu befolgen können, wenn er gut gemeint ist. Hören Sie auf. Wenn Sie hier herkommen, haben Sie verloren. Also retten Sie sich, bevor es zu spät ist!"

Und mit diesen Worten legte er auf.
 

Akte 4a/ Ende

Akte 4b/ Das Studium

So, nach unendlich langer Zeit und nachdem ich fast ein Jahr lang ausschließlich an Equinox oder juristischen Hausarbeiten gesessen bin, hier endlich die Fortsetzung von Levitation. Erinnert sich noch jemand an diese Geschichte? Also, es geht um eine junge Wissenschaftlerin namens Aya, die...

Nein, im Ernst, ich weiß, es ist ewig her, auch wenn es mir vorkommt, als ob ich Akte 4a erst gestern geschrieben hätte. Es war schön, mal wieder ein bisschen schreiben zu können, und ich bin mit dem Ergebnis viel zufriedener, als ich zunächst befürchtet hatte. Ich finde das Kapitel jetzt wirklich toll, ich liebe die Atmosphäre und die Dialoge und das Ende und überhaupt. Ich wünsche jedem viel Spaß beim Weiterlesen und Mitraten. ^_^
 

„Und du hast… ich meine… du hast wirklich…“

„Ja, D, ich habe wirklich…“

„Ganz ehrlich?“

„Ganz ehrlich!“

„Mit… mit eXinfernis… also… ich meine… mit dem eXinfernis?“

„Ich weiß ja nicht, wie viele von der Sorte es noch gibt, aber… ja, mit dem eXinfernis.“

„Und er hat wirklich mit dir… also… so richtig und am Telefon?“

„D…“ Aya sah ihrem schwarzhaarigen Mitarbeiter tief in die dunkelbraunen Augen. „Das hast du bereits gefragt. Sogar mehrmals. Genau genommen fragst du überhaupt nichts anderes mehr, seit unser Raumgleiter Illythia verlassen hat und ich dir davon erzählt habe.“

„Ja, aber… aber Aya… ich meine… der eXinfernis!“

„Ja, D, der eXinfernis!“, schnaubte die junge Wissenschaftlerin und kratzte nervös mit ihren langen Fingernägeln über das Hochsicherheitsglas des Fensters zu ihrer Rechten. Hinter dem unzerstörbaren Kunststoff breitete sich ein perfekter Sommerhimmel aus, ein atemberaubendes Bildnis von strahlendem Azurblau und dem idyllischsten Fleckchen Erde, das wohl überhaupt von Menschenhand geschaffen werden konnte. Tief unter ihrem komfortablen Gefährt erstreckte sich ein bunter Flickenteppich in leuchtendem Weiß und saftigem Grün, und selbst die hellgrauen Linien dazwischen wirkten keineswegs kühl und trostlos, sondern einfach nur angenehm hell und freundlich und wie mit dem Lineal gezogen, was dem gut gelaunten Gesamtkunstwerk klare Konturen und eine gewisse geometrische Eleganz verlieh.

Trotzdem war Aya nicht annähernd so zufrieden, wie sie das ganz ohne jeden Zweifel hätte sein können. Dies lag zum einen daran, dass ihr Magen unwillig knurrte (sie hatte sich für Raumgleiterfood noch nie sonderlich begeistern können), und zum anderen an der Tatsache, dass sie zur Sekunde bereits den ersten, aber ganz bestimmt nicht den letzten Streit ihrer noch so jungen Ehe durchleben musste. Und das fand sie weder amüsant noch unterhaltsam, obwohl sie sich doch im Allgemeinen sehr für Streit und Diskussionen jeder Art begeistern konnte. Das Problem war nur, dass sich eine der beiden Parteien dieser unliebsamen Meinungsverschiedenheit gar nicht so recht bewusst zu sein schien.

Besagte Partei saß nämlich gut gelaunt auf dem grau und blau gemusterten Samt des leidlich bequemen Gleitersitzes, kaute zufrieden auf einem der kaugummiartigen Sandwichbrötchen der im Preis mit inbegriffenen Boardverpflegung herum und frönte pausenlos und auf die denkbar schwachsinnigste Art und Weise einer Begeisterung, die Aya beim besten Willen nicht teilen konnte. Schlimmer noch – die sie nicht einmal mehr verstand, und wenn die junge Wissenschaftlerin eines auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann war es bei einem Thema nicht mitreden oder bei einem Insiderwitz nicht ins allgemeine Gröhlen und Lachen einstimmen zu können.

In Ayas Augen war das nämlich nichts anderes als Freiheitsberaubung der gemeinsten Sorte, denn sie fühlte sich zwar nicht ein-, aber sehr wohl ausgesperrt, und laut ihrem Verständnis von subjektiver Wahrnehmung kam das mehr oder weniger aufs Gleiche heraus. Da saß sie nun also mit knurrendem Magen und zwei schmerzlich unprofessionell gepackten Koffern im Gepäckraum wenige Meter unter ihren Füßen, und anstatt für diese unermesslichen Qualen oder auch für die drei, vier Traumata des vergangenen Morgens bemitleidet zu werden, strahlte ihr Nebensitzer wie ein angetrunkenes Honigkuchenpferd und entblödete sich auch noch permanent, mit seinem unzusammenhängendem Herumgestammel auf ihren ohnehin schon überstrapazierten Nerven Tango zu tanzen.

„Mann“, grinste er ihr in unnachahmlich fassungslos debiler Weise entgegen, „du bist echt der glücklichste Mensch auf dem ganzen Planeten.“

„Und du bist die größte Nervensäge im gesamten Universum!“ Aya nahm dem Schwarzhaarigen sein Plastiksandwich aus den Händen, mehr aus Trotz und Verzweiflung als aus wirklichem Appetit, und zwang sich einen demonstrativ großen Bissen in den Mund hinein. Ohne auf den lauten Protest ihrer Geschmacksnerven und Kaumuskeln zu achten, würgte sie das durch und durch künstlich schmeckende Stück Brot in Rekordtempo herunter und bedachte D mit einem vorwurfsvollen Blick. „Aber jetzt hör mir mal gut zu, ich habe nämlich einen Vorschlag für dich, verstanden?“

„Aya, das ist mein Brot“, protestierte der junge Hacker, aber da er auch bei diesen Worten nach wie vor grinste, beschloss Aya kurzerhand, ihn zu ignorieren.

„Das freut mich, D, also hör gut zu: Wie wäre es denn zum Beispiel, wenn du mir erst einmal erklären würdest, warum du dich über den merkwürdigen Drohanruf eines auf Kumpel machenden Psycho-Stalkers plötzlich genauso freust wie über einen Millionengewinn bei der staatlichen Lotterie? Ich meine… wer um alles in der Welt ist dieser ominöse… eXinfernis, der ja scheinbar jedem außer mir ein Begriff zu sein scheint?!“

D machte große Augen und hätte wohl tatsächlich sein Mittagessen fallen gelassen, wenn er es denn noch in der Hand gehalten hätte.

„Bitte was? Aya… Aya… du willst mir nicht ernsthaft sagen, dass du… ich meine… dass du…“

„Doch“, entgegnete sie nun ernstlich verstimmt und schob sich trotzig den letzten Bissen des scheußlichen Pappbrötchens in den Mund. „Will ich. Bitte entschuldige, dass ich ob meiner grenzenlosen Ignoranz nicht gleich noch vor dir auf die Knie falle, aber der Platz hier ist mir entschieden zu beschränkt dafür. Und mein Stolz hat auch keine große Lust darauf, verzeih.“

„Ja, aber… eXinfernis, also… der eXinfernis!“

Welcher eXinfernis, verdammt noch mal?!“

„In Hackerkreisen ist der Mann eine Legende! Ach, was sage ich?! Ein Gott! Er ist der Erste und Einzige, der es jemals geschafft hat, die Todeszone zu durchqueren!“

„Das klingt mir eher nach einem Survivalexperten als nach einem Hacker“, grummelte Aya missmutig und hob dann hastig ihre Hand, bevor D zu einer Antwort ansetzen konnte. „Nein – sag nichts. Selbst ich als verlorene Heidin kann mir mittlerweile denken, dass es sich da wieder mal um euren tollen Hackerslang handeln muss, habe ich Recht?“

„Du hast doch immer Recht, Boss!“, zwinkerte D der Dunkelhaarigen zu und bewies so wieder einmal überaus anschaulich, dass selbst ein Elefant im Porzellanladen neben ihm wie die feinfühligste Kreatur der gesamten Schöpfung aussehen musste. „ Die Todeszone ist ein äußerst treffender Spitzname für die Firewall des Aijou-Konzerns. Wenn du einmal versucht hast, die zu knacken, dann wirst du verdammt noch mal wissen, was es heißt, zu versagen!“

„Das muss ich unbedingt einmal ausprobieren“, entgegnete die junge Wissenschaftlerin so desinteressiert wie nur irgendwie möglich, was D aber nicht weiter zu bekümmern schien.

„Oh, glaub mir, das haben viele!“, fuhr er in unverändert euphorisch belehrendem Tonfall fort. „Aber nur er hat’s überlebt, und das ist von der Jesus-Nummer damals wirklich gar nicht mehr so weit entfernt.“

„Der hat mir ins Ohr geatmet!“, empörte sich Aya, jedoch ohne dabei auf Gehör zu stoßen. „Wie einer dieser peinlichen Abschlachter aus den Teenie-Splattern, die man tausendmal überfahren kann und die einen trotzdem noch mitten in der Nacht anrufen und beobachten und dann abstechen, genau so hat er mir ins Ohr geatmet! Und du machst hier einen auf Gott und Jesus und überhaupt… er hat uns bedroht! Er hat uns ganz eindeutig bedroht, D, verstehst du das eigentlich?!“

„Ach komm… jetzt sieh doch nicht immer alles so negativ!“

„Stimmt. Vielleicht ist es ja gar nicht mal so übel, abgestochen zu werden.“

„Aya!“ D legte seinen treusten, in dieser Situation nur leider ganz und gar nicht angebrachten Hundeblick auf. „Er ist mein Held! Begreif es doch – jemand, der lebendig durch die Todeszone gegangen ist, der schneidet keinen anderen Menschen den Kopf auf. Der hat das auch gar nicht nötig. Der ist… wie so ein weiser Mönch, der in sich ruht, so von wegen Harmonie und Gleichgewicht und Yin und Yang, sonst schafft er so was ja auch überhaupt nicht. Das wär wie ein Drogenjunkie beim Iron Man-Marathon! Das geht nicht!“

„Ach? Und würdest du mir dann bitte mal erklären, was der ganze Spaß zu bedeuten hatte? Er wird sich ja wohl nicht zufällig verwählt und mich dann aus Jux an der Freude ein wenig veralbert haben!“

„Schon mal daran gedacht, dass er uns ja vielleicht echt nur warnen wollte? Der Mann lebt anscheinend auf dem Trabanten und ich nehme an, dass er sich die Informationen über den Fall bei den Sicherheitskräften und vor allem bei der guten Misses de la Stada geholt hat. Bei INFERIA kommt selbst der nicht rein, das ist nämlich wirklich unmöglich. Vielleicht weiß er ja, wer der Mörder ist? Vielleicht will er einfach nicht, dass wir bei der ganzen Sache draufgehen, wie wär’s denn damit?“

„Hm“, machte Aya wenig überzeugt und wandte ihren Blick lieber wieder dem kleinen Fenster zu. „Wenn er den Mörder tatsächlich kennt, dann kann er uns ja gerne auch ein wenig bei der ganzen Sache hier zur Hand gehen…“

D antwortete nicht mehr, da im gleichen Augenblick der Gleiter zum Landeanflug ansetzte und mit einem penetrant blinkenden und piepsenden Display seine spärliche Insassenschaft zum pflichtgemäßen Anlegen der Sicherheitsgurte aufforderte. Eine süßlich liebreizende Frauenstimme schallte durch den Passagierraum und hieß die Reisenden in Merrywood Ville herzlichst willkommen, während draußen hinter der Scheibe ein wolkenloser Sommerhimmel mit dem makellosen Weiß eines kleinen Flughafengebäudes um die Wette strahlte.

Im nächsten Moment öffneten sich die Türen und die Reise war zuende.
 

Der Empfang in der durch und durch idyllischen Stadt war zwar reichlich merkwürdig, aber doch in gewissem Sinne mehr als einfach nur warm und herzlich gewesen. Die Straßen war wie leergefegt, es fuhren keine Gleiter und es hetzten keine Menschen zwischen den einladenden Geschäften und Wohnhäusern umher. Die Ampeln leuchteten nicht, selbst die von fröhlich bunten Werbebannern geschmückten Türen des vorstädtisch kleinen Supermarktes schlummerten reglos in ihren Scharnieren.

Absurderweise war gerade diese allgemeine Leere so freundlich, so offen und so wohltuend harmonisch, dass sie sich beinahe augenblicklich wie ein lindernder Balsam auf Ayas Sinne legte und diese zumindest ein kleines bisschen für die pausenlose Reizüberflutung der Großstadt entschädigte. Natürlich gab es auch hier zahlreiche Nebengeräusche, aber die waren keineswegs störend, sondern unbeschreiblich entspannend. Vogelgezwitscher zum Beispiel. Die junge Wissenschaftlerin wusste nicht, wann sie das letzte Mal wirklich Vogelgezwitscher wahrgenommen hatte, und zwar ganz ohne den gewohnten Klangteppich von Gleitersurren und Menschenstimmen und Werbejingles und Hupkonzerten im Hintergrund. Außerdem sang der Wind, nur ganz leise, und das Gras und die Bäume in den Gärten raschelten sanft dazu.

Aya wusste nicht, ob sie sich das vielleicht nur einbildete, aber sogar das Sonnenlicht erschien ihr sehr viel wärmer als auf Attraya, und es ließ die weißen Fassaden der Häuser besonders hell, aber doch nicht zu hell strahlen. Alle Farben waren klar – der Himmel herrlich türkisblau, der Rasen grün und die Blumen leuchtend bunt. Bei näherer Betrachtung glichen sich die Häuser auch gar nicht mehr so sehr oder wenigstens nicht vollkommen, denn überall gab es verspielte Details und liebevolle Dekorationen zu entdecken, die auf einem Foto freilich nicht auffallen konnten.

Die Gardinen, beispielsweise. Mal waren sie blau, mal rot, mal weiß, mal mit oder ohne Spitze, mal mit Blümchen und mal mit kleinen Vögeln verziert. Auch die Eingangsschilder waren fantasievoll gestaltet, ebenso die Hausmatten und natürlich die stets gut gepflegten Blumenbeete, die lebendige Farbenspiele in die verschlafene Vorstadtidylle brachten. Als Aya dann endlich vor ihren – wenigstens vorläufig – eigenen vier Wänden zum stehen kam, da lag ein Lächeln auf ihren Lippen.

Die Eingangstüre war eine gelungene Verbindung von weißem Holz und goldenen Akzenten, zu deren Füßen eine indigoblaue Matte mit der leuchtend roten Aufschrift „Home sweet home“ ruhte. Obwohl es seit Tagen nicht mehr geregnet haben konnte und die Straßen somit vollkommen trocken waren, wischte sich Aya doch pflichtbewusst die Schuhsohlen ab und drehte dann mit vorfreudig bebenden Fingern den goldenen Schlüssel im Schloss herum. Ein freundlich heller Flur empfing sie, dessen niedriges Schuhregal und Garderobe ebenfalls in Weiß gehalten, allerdings mit üppig blühenden Blumen geschmückt waren. Die Tür am Ende des Eingangsraumes stand offen, und dahinter lag das Paradies.

Oder, anders ausgedrückt: Ein riesiger Wohnraum, wie ihn Aya bislang nur aus Katalogen und IV-Serien kannte. Es gab eine Sofagarnitur aus naturweißem Leder, einen Kamin, dessen Sims über und über mit Familienfotos vollgestellt war, es gab weiße, luftige Vorhänge, Blumenkästen und einen Tisch aus sehr hellem Holz. Außerdem gab es eine Glastüre, die ebenfalls offen stand und die in einen Garten hinausführte, wie ihn die junge Wissenschaftlerin sich nicht schöner hätte erträumen können. Wie in Trance durchquerte sie das unbeschreiblich heimelige Wohnzimmer und trat auf die rötlichen Steinplatten hinaus, die etwa zwei Meter weit in die grüne Oase hinausführten.

Rechts von ihr stand eine weiße Garnitur von Gartenmöbeln mit bunt gemusterten Kissen, daneben ein mannshoher Feuerofen aus mattem Gusseisen. An der Wand dahinter stapelten sich Holzscheite, auf denen muntere braune Vögelchen umhersprangen und emsig nach Futter suchten. Hinter der Gartenterrasse leuchtete eine kurz geschnittene, hellgrüne Rasenfläche, in der sich eine Holzschaukel dicht neben einen großen viereckigen Sandkasten drängte. Eine dichte, tiefgrüne Hecke umrahmte schützend den kleinen Garten, und davor waren niedrige Beete angelegt, in denen vielfarbige Blumen in ihre filigranen Hütchen und Krönchen und Köpfchen der Nachmittagssonne entgegenreckten.

„Mein Gott… D, das ist ja fantastisch!“, lachte die Dunkelhaarige und drehte sich schwungvoll herum – blickte jedoch statt in das ebenso überwältigte Gesicht ihres Mitarbeiters und Teilzeitehemanns lediglich in einen großen, hellen, unbeschreiblich schönen aber leider auch vollkommen menschenleeren Raum. Aya zog die Augenbrauen hoch und machte einige Schritte zurück in das Innere ihres gemeinsamen Traumhauses. „D? D, sag mal was! Bist du hier irgendwo?“

Niemand antwortete, aber stattdessen ertönte ein leises Rauschen hinter einer unauffällig weißen Türe, die unmittelbar neben der Garderobe lag und ihr vor lauter Begeisterung über das ja auch viel, viel interessantere Wohnzimmer bislang noch nicht einmal aufgefallen war. Die junge Wissenschaftlerin lächelte wissend und nahm mit einem leisen, zufriedenen Seufzer auf der Rückenlehne des Sofas platz. Die Eingangstüre stand immer noch offen, aber eigentlich konnte ihr das auch nur ganz recht sein, denn ein angenehm warmer Luftzug drang von draußen zu ihr hinein und wiegte die zarten Vorhangsbahnen sanft hin und her.

Ein dezenter, wunderbar süßer Blumenduft erfüllte das Wohnzimmer. Aya beugte sich ein bisschen herunter, um einen Blick aus der Türe hinaus erhaschen zu können. Ihr gegenüber lag ein Haus, das aus der Ferne betrachtet ihrem eigenen durchaus nicht unähnlich war (genau genommen sah es sogar exakt und vollkommen gleich aus), aber diese oberflächliche Gleichheit beunruhigte sie nun nicht einmal mehr im Geringsten. Im Gegenteil – sie hätte viel darum gegeben, hinter mehr dieser freundlich weißen Fassaden blicken zu dürfen und mehr dieser auf eine vollkommen unaufgeregte Art und Weise wundersamen Dinge zu entdecken, von denen sie zuvor nicht einmal geahnt hatte, dass sie sich nach ihnen sehnte.

Aya musste schmunzeln, als sie die kleine Silhouette eines Gartenzwerges zwischen den saftig grünen Grashalmen entdeckte. Ein bleicher, zierlicher Arm baumelte ins Bild, und die Dunkelhaarige hätte eigentlich gar nicht erst zur Seite rutschen und nachsehen brauchen, um zu wissen, dass dieses Körperteil ja eigentlich nur zu Ronin gehören konnte. Wider Erwarten unterhielt sich dieser allerdings nicht nur mit seinem frisch angetrauten Ehegatten, sondern mit einem gewissen schwarzhaarigen Mann, den sie bis vor kurzen noch so nah an ihrer Seite vermutet hatte. Sie wusste zwar nicht, was D schon wieder auf der anderen Straßenseite bei ihrer zukünftigen Nachbarin verloren hatte (vielleicht konnte er ja einfach nicht treu sein?), aber wenigstens war nun endlich auch das Rätsel um sein Verschwinden gelöst und sie konnte sich beruhigt zurücklehnen und auf ein warmes Schaumbad in der zweifellos auch irgendwo vorhandenen Keramikwanne freuen.

Die weiße Tür im Flur öffnete sich.

Im ersten Moment war Aya so perplex, dass sie weder denken noch handeln noch atmen konnte. Sie begriff nicht ganz, was da eigentlich geschah – bestenfalls noch, dass es nicht wirklich hätte geschehen sollen – und dann plötzlich sprang sie auf und hechtete mit zwei oder drei Schritten zum Fuß der hölzernen Treppe hin, die ins bislang noch wenig beachtete Obergeschoss des Hauses führte. Das Blut in ihren Adern schien gefroren, jedenfalls war es eisig kalt und ließ ihren Körper mehr als nur einmal heftig erschaudern, während sie so leise wie möglich und auf allen Vieren geduckt die blank polierten Stufen hinaufeilte.

Ihr Herzschlag dröhnte derart heftig durch ihren Kopf, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Irgendjemand war in ihrem Haus – jemand, der definitiv nicht dort hätte sein dürfen und auch überhaupt nicht hätte sein können, denn immerhin war die Türe bei ihrer Ankunft ja fest verschlossen gewesen. Sicher, sie hatte den Eingang danach noch etwa zwei oder drei Minuten lang unbeaufsichtigt offen stehen gelassen, aber sie traute doch wenigstens Ravin zu, von einem unliebsamen Eindringling auf der anderen Straßenseite Notiz zu nehmen. Also wie um alles in der Welt war dann wer auch immer in dieses Haus gelangt?

Auf Händen und Füßen schob sich Aya mit angehaltenem Atem über die hellen Holzdielen hinweg und spähte durch die Geländerstreben in den Wohnraum hinab. Unweit des Kamins stand eine verhältnismäßig kleine Gestalt – ein Junge mit pechschwarzen Haaren und einer großen runden Brille von jener Sorte, die eigentlich noch niemals so recht in Mode gewesen war. Er trug dunkelblaue Jeans und ein einfaches rotes T-Shirt und die Art, wie er sich nach allen Seiten umsah, verriet der jungen Wissenschaftlerin ganz unmissverständlich, dass er von ihrer Präsenz ebenso Notiz genommen haben musste wie sie von der seinen. Eigentlich sah er nicht aus wie ein Einbrecher, er machte auch keinen sonderlich kräftigen, geschweige denn einen irgendwie gefährlichen Eindruck, und trotzdem…

Der Anblick dieses etwa Vierzehnjährigen ließ Aya frieren, und sie rutschte instinktiv wieder vom Geländer zurück, um sich aus seinem Sichtfeld zu begeben. Der Gang, in dem sie nun saß, war schattiger als das Wohnzimmer und der Eingangsbereich, und die Wände waren weiß wie Schnee, da die zukünftigen Inhaber des Traumhauses offenbar noch keine Zeit dazu gehabt hatten, auch das Obergeschoss mit Bildern und Fotografien zu schmücken. Vielleicht gefiel ihnen ja auch einfach nur dieses puristisch schöne Design, Aya wusste es nicht, und sie dachte auch nicht länger als eine halbe Minute darüber nach. Dann nämlich spürte sie, wie ihr Rücken gegen etwas Dünnes und Warmes stieß, das sie aus irgendeinem Grund sofort als ein menschliches Bein erkannte.

Jemand stand hinter ihr und starrte sie an.

Aya stieß ein ersticktes Keuchen aus und wirbelte herum, und noch in derselben hektischen Bewegung kam sie auch wieder auf die Beine. Wenigstens vorerst einmal, denn der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie um ein Haar postwendend wieder zu Boden gehen. Sie wich zurück, und das Holz unter ihren Füßen war plötzlich ganz merkwürdig glatt, mehr wie Eis, aber vielleicht lag das ja auch nur an der Taubheit in ihren Knien. Die Dunkelhaarige blinzelte, rieb sich vorsichtig die Augen hinter ihren Brillengläsern und blinzelte wieder, aber das Bild, das sich ihr bot, veränderte sich nicht.

Sie sah nach wie vor einen schmächtigen Jungen mit schwarzen Haaren und dunkelblauer Jeans, mit einem rotem T-Shirt und mit viel zu großen Brillengläsern, der sie mit seinen dunklen Augen unverwandt und misstrauisch fixierte. Einen Jungen, der doch eben noch unten im Wohnzimmer gestanden war und der sowieso eigentlich überhaupt nicht in dieses Haus gekommen sein konnte. Einen Jungen, der sein grässlich bleiches und ausdrucksloses Gesicht nun langsam wieder von ihr abwandte, der dann seinen Mund öffnete und mit einer unangenehm schrillen Kinderstimme zu schreien begann:

„Len, da ist irgendwer im Haus!“

„Ja, aber…“ Aya stockte und fühlte trotz ihres immer noch heftig pochenden Herzens doch einen Anflug von Erleichterung in sich aufsteigen, als die kleine Gestalt ihr endlich das Profil zuwandte und sie einen kurzen Pferdeschwanz an ihrem Hinterkopf erkennen konnte. Offensichtlich, verbesserte sie sich in Gedanken, hatte sie es hier überhaupt nicht mit einem Jungen, sondern vielmehr mit einem Mädchen zu tun. Und als sie dann auch noch Schritte auf der Treppe hörte und schon bald einen zweiten brillenbewehrten Kopf hinter der Wand zu ihrer linken auftauchen sah, da wandelte sich auch noch das letzte bisschen Schrecken in ihrer Brust sogar überaus rasch zu einer nicht viel angenehmeren Mischung aus Scham und Wut, die ihr ein tiefes Rot auf die Wangen trieb.

„Was ist passiert, Len?“, erkundigte sich Rothemd Nummer Zwei und trat dann mit seltsam unbewegter Miene neben seine Schwester – seine Zwillings schwester, die Aya immer noch mit eisigen Blicken durchbohrte, als ob sie sie auf diese Weise in Schach halten könnte, was übrigens auch ganz gut funktionierte. „Die Tür ist offen. Das hab ich unten grad gesehen.“

„Da ist eine Frau“, antwortete das Mädchen spitz. „Eine aus der Stadt. Mit einem kurzen Rock. Mit einem großen Ausschnitt. Und mit hohen Schuhen.“

„Eine Frau aus der Stadt“, echote der Junge ungläubig und musterte Aya wie die brandneue Hauptattraktion einer ganz besonders grauenvollen Freakshow.

„Ja, eine Frau aus der Stadt“, grummelte diese und verschränkte die Arme auf eine vielfach erprobte Weise vor der Brust, dass selbige nur ein wenig nach oben gepresst wurde und dadurch sogar noch ein bisschen größer und schöner wirkte. „Und würdet ihr mir bitte auch mal verraten, was zum Teufel ihr hier in meinem Haus zu suchen habt?!“

„In… ihrem Haus?“ Beide, Junge und Mädchen, tauschten zunächst einen raschen Blick und starrten Aya dann wieder synchron mit diesen schwarzen Löchern an, die sie selbst wohl Augen nannten. Dann räusperte sich das Mädchen, trat einen Schritt nach vorne und strich sich mit einer leicht fahrigen Bewegung das Haar aus ihrer bleichen Stirn. Sie wirkte dabei weder verlegen noch schuldbewusst, aber trotz ihres Zornes ahnte Aya, dass man ihr dafür keinen Vorwurf machen konnte. Ihr gesamtes Erscheinungsbild machte jede menschliche Regung gekonnt zunichte, doch gerade dieses Problem war der jungen Wissenschaftlerin viel zu vertraut, als dass sie es hätte verurteilen können. Vielleicht war es ja doch so, dass man eine Vergangenheit als Streberkind trotz filmreifer Metamorphose vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan niemals völlig loswurde.

„Ja, in meinem Haus“, bestätigte sie in etwas weniger vernichtendem, aber nach wie vor strengem Tonfall. Die Schwarzhaarige unterzog Aya einer kurzen, kritischen Musterung, wodurch sie sich beinahe schon wieder sämtliche Sympathien verspielte, dann atmete sie tief durch, rang sich ein etwas steifes Lächeln ab und streckte der Dunkelhaarigen ihr bleiches Händchen entgegen.

„Es tut mir leid, wenn wir sie erschreckt haben“, erklärte sie auf ihre seltsam emotionsarme Weise. „Mein Name ist Ellen und das ist mein Bruder Lennart. Wir sind von der Nachbarschaftshilfe und gießen die Blumen, weil doch alle verreist sind.“

„Nachbarschaftshilfe, ja?“ Aya zögerte noch einen kurzen Moment, dann nahm sie die kleine Hand des Mädchens und schüttelte sie. Sie war immer noch verwirrt, merkwürdig alarmiert, und plötzlich ging ihr durch den Kopf, wie wenig dieser Name, Ellen, doch zu einem Mädchen wie diesem passte. Ellen klang nach einer Frau, nach einer schönen, selbstbewussten Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hatte. Aya zweifelte daran, dass aus diesem seltsamen Kind jemals eine solche Frau werden würde. „Und da spaziert ihr einfach so in alle Häuser hinein?“

„Wir… haben einen Generalschlüssel“, kam der Junge seiner Schwester zu Hilfe. Jetzt, wo er sprach, bemerkte Aya, dass sich die Geschwister doch nicht so vollkommen ähnlich waren, wie sie zunächst vermutet hatte. Der kleine Schwarzhaarige hatte etwas Verschüchtertes, fast schon Gehetztes in seiner Stimme, das seiner Schwester fehlte, eine Unsicherheit, die ihn verletzlich wirken ließ. Er sah der Wissenschaftlerin auch nicht genau in die Augen, und ganz kurz zweifelte sie daran, ob er auch tatsächlich mit ihr und nicht einfach nur zu sich selbst sprach. „Damit kommen wir in alle Häuser. Wir wollen nichts klauen. Hier klaut niemand etwas, Misses.“

„Aya“, verbesserte sie rasch. „Aya Mitsuyuki. Und da draußen auf der Straße, das ist mein Mann, D. Scheint, als hätten wir uns genau die richtige Wohngegend ausgesucht.“

„Dee?“, hakte der Junge nach, und ganz kurz lief ein Leuchten durch das Dunkel seiner Augen. „So wie der Popstar?“

„Ähm… ja, genau“, erwiderte Aya und lächelte. Lennart lächelte noch einmal, und auch im Blick seiner Schwester lag ein unerwarteter Anflug von Begeisterung, obwohl sie nichts sagte.

Also doch nur Kinder, stellte die Dunkelhaarige fest, während ihr Herzschlag sich langsam wieder beruhigte. Kinder, denen man bedenkenlos einen Generalschlüssel für sämtliche Häuser dieses Refugiums der Reichen und wenigstens noch Wohlhabenden überlassen hatte. Die zu jeder schneeweißen Tür in jedes schneeweiße Haus spazieren konnten, wie es ihnen beliebte, und zwar nicht, um hier und dort ein bisschen Geld oder das eine oder andere RE-Game mitgehen zu lassen. Nein – sie gossen Blumen. Fütterten Tiere. Machten vielleicht hier oder dort ein wenig sauber.

Aya spürte einen leisen Stich in ihrer Brust.

Verdammt, dachte sie, was war eigentlich aus der Menschheit fernab von Merrywood Ville geworden? Und wieso um alles in der Welt war ihr das zuvor noch niemals störend aufgefallen?
 

Das Erste, was Aya bemerkte, war der Geruch.

Es war die Sehnsucht nach der Sonne, die sie hinaus ins Freie getrieben hatte, die Sehnsucht nach wohliger Wärme, die sie einhüllte, ihr die letzten Fetzen klammen Schreckens aus den Knochen jagte und ihr versicherte, dass alles gut war in ihrem Leben. Oder wenigstens nicht wert, ihre Gedanken daran zu verschwenden, schon gar nicht an solch einem wunderschönen Nachmittag. Die weißen Häuser waren in ein goldenes Licht getaucht und der Himmel hatte die Farbe von Karamell und Honig. Der Anblick war so beruhigend, dass der jungen Wissenschaftlerin stetig wohlige Seufzer entwichen, während sie so durch die Straßen schlenderte. Die Häuserreihen schienen kein Ende zu nehmen, und der gleichmäßige Takt ihrer Schritte brachte sie in einen wunderbaren Einklang mit sich selbst.

Dann plötzlich nahm der Takt ein jähes Ende, und als Aya aufblickte, stellte sie fest, dass sie stehen geblieben war.

Die Garageneinfahrt, vor der sie stand, sah im Grunde genommen nicht anders aus als jede andere, die sie seit ihrer Ankunft und zuvor auf den Fotographien gesehen hatte. Die Auffahrt war sauber, das Tor so weiß wie frisch gestrichen, der anschließende Rasen perfekt gestutzt und leuchtend grün, und Aya wollte sich gerade wieder ans Seufzen und weiterschlendern machen, als ihr auffiel, dass irgendetwas anders war. Sie trat näher an die hellen Streben des Gartenzaunes heran, ließ ihren Blick über die zarten Blütenreihen schweifen, zwischen denen kleine Hündchen und Kätzchen mit blitzenden Kunstharzaugen hervorlugten.

In diesem Augenblick begriff die junge Wissenschaftlerin, dass es der süße Duft der Blumen war, den sie vermisste. Sie nahm ihn durchaus wahr, aber nur ganz schwach, verborgen unter dem Teppich eines strengen, fremdartigen Geruches, wie ihn Aya noch nie zuvor gerochen hatte. Je länger sie sich darauf konzentrierte, desto mehr fiel ihr eine unangenehm süßliche Note auf, die sie gleichsam abstieß und beunruhigte und die absolut allem widersprach, was sie mit diesem paradiesischen kleinen Trabanten verband.

Aya blickte verstohlen nach rechts und links, dann öffnete sie die Gartentür und bewegte sich so schleichend wie nur möglich über den hellen Kieselsteinweg, der zur Eingangstür hinführte. Sie wollte gerade diesen vorgeschriebenen Pfad verlassen, um durch die Fenster ins Innere des Hauses zu spähen, als sie eine Bewegung an einer der Gardinen sah. Die Dunkelhaarige kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas hinter der weißen Spitze zu erkennen, doch die Sonne hatte die Fensterscheiben in Spiegel verwandelt, und so besann sich Aya kurzerhand zur Flucht nach vorne, schlenderte weiter auf die Türe zu und klingelte.

Aus irgendeinem Grund rechnete sie nicht mit einer Reaktion. Da gab es höchstens sieben Häuser auf diesem zugegebenermaßen kuschelig kleinen, aber eben doch noch nicht so kleinen Trabanten, und sie sollte ausgerechnet jetzt rein zufällig von einem dieser bewohnten Traumhäuser quasi… gerufen worden sein? Da schlenderte sie weltvergessen durch die warmen Goldfluten der Abendsonne, bis urplötzlich ihre Schritte stockten, um sie Auge in Auge mit einem kaltblütigen Mörder zurückzulassen. Ein Mörder, verborgen hinter dem Spiegel eines weißen Fensters, das statt seinem eigenen leeren Antlitz die freundlich lächelnde Fassade des gegenüberliegenden Hauses zeigte. Ein Mörder, der einem Krebsgeschwür gleich inmitten eines perfekten Körpers wucherte, umringt von verstümmelten Leichen, die mit dem Todeshauch ihrer verwesenden Körper die Sinfonie von Blumendüften verpestete. Die Vorstellung war so kitschig, dass sie Aya bestenfalls noch in den Kreis des Lächerlichen, in keinem Fall aber in den Kreis des Möglichen aufgenommen hätte!

Dann jedoch öffnete sich die Türe, und Aya musste sich beherrschen, nicht die Hände vor den Mund zu schlagen, um den Schrei zu unterdrücken, der ihr in der Kehle brannte.

Wobei sich die Türe natürlich in Wahrheit gar nicht öffnete, sondern geöffnet wurde, und zwar von einer kleinen Frau, die aber vielleicht auch nur deshalb so klein war, weil ihr Körper eine seltsam gekrümmte Haltung einnahm. Dies und die zahlreichen weißen Strähnen in ihrem strohigen, wie ein zerrupftes Vogelnest auf ihrem Kopf festgesteckten Haar ließen sie älter wirken, als sie vermutlich war, und ihre Kleidung tat ihr Übriges. Das verwaschene Dunkelblau ihrer Kittelschürze war von kleinen Blumen verunziert, ihre Füße steckten in graubraunen Pantoffeln, ihre Haut war von ungesunder Farbe und der Blick ihrer wasserblauen Augen stechend, misstrauisch, aber auch von einer eigentümlich ursprünglichen Art von Intelligenz erfüllt. Sie war die Karikatur einer Hausfrau, und sie starrte Aya lange, beunruhigend lange an, bevor sie endlich mit rauer, herrischer Stimme zu sprechen begann:

„Ja?“

„Ich… ich bin neu hier“, antwortete Aya zugegebenermaßen auch nicht viel wortgewandter als ihr Gegenüber und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, das ihr ebenso falsch wie sinnlos erschien. Was sollte so ein krampfhaftes Verziehen der Mundwinkel schon ausrichten, wenn demgegenüber ihre Schuhe, ihr Rock, ihr Dekolletee, ja sogar noch die Farbe ihres Lippenstiftes und das teure Gestell ihrer Brille und erst recht die noch sehr viel teureren Ohrringe sie wie eine leuchtend grelle Neonreklame als das, aber auch wirklich genau das auswiesen, was dieses geduckte Hausmütterchen doch einfach hassen musste?

„Hätt ich mir ja denken können“, brummelte die scheinbare Alte vor sich hin, und ihr Blick wurde noch ein bisschen verächtlicher. „Sie kennen sich noch nicht aus, Kindchen. Das wird man Ihnen verzeihen.“

„Was wird man mir verzeihen?“, hakte Aya nach, wobei ihr das Lächeln nun, da ihre unermüdliche Neugier sich ein weiteres Mal in ihrer Brust regte, doch schlagartig deutlich leichter fiel. „Ich glaube, ich verstehe nicht ganz…“

„Aber nein, wie sollten Sie auch?“ Die Frau verzog ihre farblosen Lippen zu einer höhnischen Grimasse, die Aya nicht einmal im Geiste als Lächeln bezeichnen wollte. „Sie sind ja gerade erst eingezogen. Sie kennen die Regeln noch nicht.“

„Regeln?“, entgegnete die junge Wissenschaftlerin in möglichst beiläufigem Tonfall, obwohl ihr noch so kurzer Wortwechsel bereits eine seltsame… Schwere, eine Ernsthaftigkeit gewonnen hatte, die nicht zu der schläfrigen Wärme der letzten und wohl auch schönsten Sonnenstrahlen des Tages passen wollte. „Ich hatte mich hier eigentlich auf ein ruhiges Leben eingestellt. Ich komme nämlich aus der Großstadt, wissen Sie?“

„Ach nein, tatsächlich?“, bemerkte die Alte spöttisch und hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen, wofür sie in Ayas Achtung übrigens spontan um mehrere Grade stieg. „Aber wissen Sie, Kindchen, das werden Sie sich schnell abgewöhnen. Die Großstadt. Die Hölle. Auch meiner Meinung nach, aber aus anderen Gründen. Es ist schon alles ganz ruhig, wenn Sie sich an die Regeln halten. Und den Regeln nach dürften Sie jetzt nicht hier sein. Schon gar nicht… so. Sie sind doch hoffentlich wenigstens verheiratet?“

„Ja, natürlich“, versicherte Aya überzeugend naiv, ohne dem beißenden Sarkasmus in der Stimme der Frau Beachtung zu schenken. Diese verwitterte Person legte bei aller offensichtlichen Verbitterung eine Art an den Tag, die der Wissenschaftlerin ganz unbestreitbar sympathisch war, eine resignierte, aber doch irgendwo stilvolle Rebellion gegen was auch immer, begleitet von einem Zynismus, den Aya diesem vermeintlichen Hausmütterchen um nichts in der Welt zugetraut hätte. Dennoch beließ sie es dabei, freilich nicht ohne eine Spur von Bedauern, ganz in der Rolle des naiven Dummchens aus dem Sodom und Gomorrha der Großstadt, das es nicht einmal mehr zur Blondine geschafft hatte, aufzugehen. Es eröffnete ihr Möglichkeiten, die schwerer wogen als ihr Stolz, und wenn dieser frustrierte Mittfünfzigerin ihre Aura des Intellektes ob langer Beine und tiefem Ausschnitt verborgen blieb, bitte, warum sollte sie dann nicht davon profitieren?

„Kinder?“, hakte die Alte nach.

„Nein, leider nicht – noch nicht. Aber es ist doch eine sehr nette Nachbarschaft, nicht wahr? Neben uns ist auch ein ganz reizendes Paar eingezogen. Wir möchten eine kleine Willkommensfeier geben, mit Kaffee und Kuchen und Tee, aber es sind ja so wenig Menschen hier, ich bin schon ganz erschrocken. Deshalb habe ich auch bei Ihnen geklingelt. Haben Sie nicht Lust, zu kommen?“

„Hah!“, machte die Frau und wollte offensichtlich gerade zu einer Antwort ansetzen, als plötzlich ein Bellen aus dem Raum neben der Eingangstüre erklang. Diesem einen Bellen folgte ein weiteres und dann noch eines, wobei das letzte deutlich hysterischer, heller klang als die anderen.

„Oh, Sie haben Hunde?“, fragte Aya süßlich, was die Verachtung im Blick der Alten zu etwas werden ließ, das einer boshaften Art von Mitleid doch wenigstens sehr nahe kam.

„Wissen Sie, Kindchen, ich bin lieber von ehrlichen Geschöpfen umgeben. Bleiben Sie ruhig unter Ihresgleichen, sie werden es schon noch lernen. Und bleiben Sie mir fern, um ihrer selbst Willen.“

„Also wollen Sie nicht zu meiner Willkommensfeier kommen?“

„Haben Sie mir nicht zugehört, Kindchen?“, erwiderte die Alte scharf, und in ihren Augen blitzte eine Wut auf, die Aya aus irgendeinem Grund nicht eigentlich gegen sie selbst gerichtet zu sein schien. „Wenn Ihnen wirklich was an mir liegt und an dem, was ich will, dann hören Sie mir jetzt mal ein bisschen besser zu, was ich Ihnen zu sagen habe: Laufen Sie, laufen Sie so schnell Sie können! Weg mit den Schühchen und ab durch die Mitte, bevor die mit Ihrer Gehirnwäsche auch noch Sie bekommen!“

Und mit diesen Worten wandte sie sich ab, bevor Aya noch etwas erwidern konnte, und ließ geräuschvoll die schneeweiße Tür ins Schloss fallen.
 

Auf dem Heimweg machte Aya eine seltsame Entdeckung. Die Sonne war immer noch herrlich warm, aber trotzdem fröstelte es sie dann und wann, und so schritt sie deutlich schneller aus als zuvor. Und achtete weniger auf ihre Umgebung. Und war sowieso in Gedanken versunken. Und… ach, ihr wären sicherlich noch etwa fünfundachzig weitere Entschuldigen eingefallen, die letztlich zu dem führten, was nun einmal geschah, und mindestens die Hälfte davon hätten sogar sie selbst auch wirklich überzeugt, was schon etwas heißen wollte. Was aber eben leider Gottes nichts daran änderte, dass sie am Ende mit knurrendem Magen und schmerzenden Fußsohlen durch die Dämmerung stapfte, bis sie sich letztlich frustriert eingestehen musste, dass sie sich verlaufen hatte.

Don’t get lost in heaven, kreiste es wieder und wieder durch ihren Kopf, und sie versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, woher dieser Satz stammte. Sie verstand auch nicht, wie es möglich war, dass hier eine Straße der nächsten glich, fast so, als ob sie gar nicht wirklich vom Fleck kommen würde. Wo waren denn nur die Schulen, die Geschäfte, das Altenheim und all diese anderen Bastionen des wirklichen Lebens, die ein bisschen Alltag in das Paradies brachten, wie Leuchttürme in einem Meer perfekter Schönheit und Harmonie? Don’t get lost in heaven, , ja, aber dazu war es schon zu spät, sie hatte jegliche Orientierung verloren und ein Haus war so bezaubernd und so still wie das Nächste, hell und weiß, aber mit schwarzen Löchern hintern den blitzsauberen Fensterscheiben, und plötzlich musste die junge Wissenschaftlerin wieder an geöffnete Schädeldecken denken, die den Worten menschliche Abgründe eine völlig neue Bedeutung verliehen.

Aya ging noch ein bisschen schneller.

Das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, kroch mit klammen Fingern in ihr hoch. Jedes einzelne schwarze Fenster in jedem einzelnen perfekten Einfamilienhaus schrie nach vollkommener Einsamkeit, aber Aya fühlte Blicke, die ihren Rücken durchbohrten, fast so, als ob es eigentlich Messer wären. Die junge Wissenschaftlerin seufzte leise und entschuldigte sich stumm bei ihrem rationalen Verstand. Sie war Kummer gewohnt, natürlich, sie hatte schon viel erlebt, viel gesehen… viel gerochen und gespürt, aber Gehirnraub, Zwangshochzeiten und infantile Masochisten waren doch entschieden zuviel Unterhaltung für einen einzigen Tag. War es noch verwunderlich, wenn sie langsam aber sicher Gespenster sah?

Sie hatte diesen Satz kaum zuende gedacht, da fiel ihr Blick auf einen der Vorgärten, die das helle, saubere Betonband der Straße einrahmten, und sie sah genau das: Ein Gespenst. Es war der Geist eines Mädchens, der im Dunkeln förmlich zu leuchten schien. Die Haut des zierlichen Geschöpfes war schneeweiß, das Haar lang und silbrig blond, der Körper in ein flatterndes weißes Kleidchen gehüllt, und sie flog. Sie flog auf und ab, und manchmal lachte sie dabei ein glockenhelles Lachen, das die ganze Szenerie nur noch ungleich unwirklicher erscheinen ließ.

Aya näherte sich langsam der geisterhaften Gestalt, unfähig, ihre Augen von dem spielerischen Lufttanz abzuwenden. Ihre Umgebung hatte etwas Traumhaftes gewonnen, das über die harmonisch paradiesische Atmosphäre dieser perfekten kleinen Vorstadtsiedlung hinausging, das mehr war als die an sich schon bezaubernde Schönheit der kleinen Gärten und weißen Zäune. Sie wusste nicht mehr, ob sie wachte oder träumte, aber dann sah sie einen Baum neben und über dem Geistermädchen, sie sah die Schaukel, die an ebendiesem Baum hing und sie sah eine dunkel gekleidete Gestalt, die hinter der jungen Frau stand und sie anschubste.

In einem Zustand merkwürdiger Erstarrung wartete Aya darauf, dass die Entzauberung des Spukphänomens ein wenig Realität in die Abendstimmung zurückbringen würde, doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Sie wandelte weiterhin wie im Schlaf, und als der Gefährte des Mädchens den Kopf in ihre Richtung wandte und sie anlächelte, erschien ihr das so selbstverständlich, dass sie sich nicht einmal mehr dafür schämte, ihm unverwandt ins Gesicht zu starren.

„Hallo“, begrüßte sie der Mann, und Aya antwortete mit einem Nicken. Trotz seiner schwarzen Kleidung, die in einem zugegebenermaßen klischeehaften, aber trotzdem ungemein wirkungsvollen Kontrast zu dem flatternden Weiß des Mädchens stand, wirkte er nicht im Geringsten bedrohlich. Sein Lächeln war offen und sympathisch, sein Gesicht durchaus attraktiv, und hinter seinen Brillengläsern blickten Aya zwei warme grüne Augen entgegen. Sein Haar war ebenso schwarz wie seine Kleidung und fiel ihm bis auf die Schultern hinab. Er war groß, ungewöhnlich groß, was die junge Wissenschaftlerin insbesondere aufgrund seiner asiatischen Gesichtszüge verwunderte. Ein bisschen wirkte er auf sie wie ein Ritter, der einer schönen Prinzessin zur Seite stand – einer Geisterprinzessin, um genau zu sein.

Diese bemaß Aya nur mit einem kurzen Blick und hüllte sich Schweigen.

„Um diese Uhrzeit ist normalerweise niemand mehr auf den Straßen“, lächelte der Schwarzhaarige, ohne von seiner eigentlichen Beschäftigung, nämlich dem Geistermädchen Flügel zu verleihen, abzulassen. „Schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Aber das werden Sie ja schon selber gemerkt haben.“

„Wer… wer sind Sie?“, fragte Aya und bekräftigte die These des Fremden gleichzeitig mit einem bedächtigen Nicken. „Ich bin neu hier, wissen Sie, und ich habe bislang…“

„Ja, ich weiß“, fiel ihr der schwarze Ritter ins Wort, ohne dabei auch nur im Geringsten unverschämt zu wirken. „Sie sind heute erst angekommen, mit dem Flug um 16.39 Uhr am Madison Airport. Nein, es war 16.47 Uhr, der Flug hatte ja Verspätung. Sie müssen entschuldigen, ich… ich bin ab und an etwas vergesslich, gerade wenn es um Details geht. Und bevor ich auch das noch vergesse: Mein Name ist Isamiya, Shiro Isamiya.“

„Er ist mein Lehrer“, fügte das Mädchen hinzu, und ihre Stimme war so hell und so klar, wie Aya das erwartet hatte, auch wenn eine Art von Provokation in ihren Worten mitschwang, die der ganzen Szene eine vollkommen neue Bedeutung verlieh. Sie konnte noch keine achtzehn Jahre alt sein, während ihr Gefährte – Isamiya – Anfang dreißig sein musste und vielleicht auch nur jünger wirkte, als er tatsächlich war. Ihr Lehrer. Aya wiederholte dieses Wort in Gedanken, während sie feststellte, wie locker der dünne weiße Stoff des kurzen Kleidchens die Schultern des Mädchens umspielte, und wie wenig er dabei verhüllte.

„In Chemie, Informatik und Mathematik, um genau zu sein. Ist doch schön, so haben meine Schüler in all ihren Lieblingsfächern denselben Lehrer.“

„Ich habe diese Fächer gemocht“, erwiderte Aya, um wenigstens irgendetwas zu sagen, und bemerkte erst dann, dass sie angesichts der unterschwellig lasziven Worte des Mädchens die vorangegangenen Worte des Lehrers beinahe vollkommen vergessen hatte. Sie zog die Augenbrauen hoch und bemühte sich um einen misstrauischen Tonfall, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte. „Woher wissen Sie eigentlich, wann ich hier angekommen bin?“

„Es kommen selten Menschen hierher, wenn es Sommer ist, das fällt nun einmal auf“, erwiderte er, ohne sich das Lächeln nehmen zu lassen.

„Warum?“, erwiderte Aya und konnte nicht umhin, ein wenig trotzig zu klingen. „Weil es gegen die Regeln ist?“

Isamiya hielt inne, schien dabei sogar seine Geisterprinzessin einen Augenblick lang zu vergessen, und sah Aya auf eine beunruhigend… wissende Art und Weise an, die sie trotz der Wärme auf seinem Gesicht beunruhigte, sogar fast ein wenig erschreckte.

„Sie sollten nicht so abfällig über die Regeln sprechen, Dr. Mitsuyuki“, sagte er ganz ruhig, deshalb aber nicht weniger eindringlich. „Eine Frau wie Sie, die selbst Metall zum Leben erwecken kann, ist an Grenzen und Schranken natürlich nicht gewohnt. Aber hier gelten andere Gesetze, wissen Sie? Sie hätten Merrywood Ville niemals betreten sollen.“

„Wo-woher kennen Sie…“

„Das tut nichts zur Sache“, lächelte der schwarze Ritter, der ihr mit einem Mal nicht mehr nur edel und tapfer erschien, und strich sich eine Strähne seines dunkel schimmernden Haares aus dem Gesicht. „Ich bin Ihr Freund, vergessen Sie das nicht. Gehen Sie einfach davon aus, dass ich alles weiß, dann kann ich Sie wenigstens nicht mehr erschüttern. Wenn Sie jetzt eines brauchen, dann ist es ein klarer Kopf.“

„Das sagen ausgerechnet Sie, Isamiya-sensei“, flötete das Mädchen in einem zuckersüßen Tonfall, der zugleich etwas unbeschreiblich Abgründiges an sich hatte, und absurderweise sah sie bei diesen Worten nicht ihren Lehrer, sondern Aya an. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre feinen, blassen Lippen, als sie auf deren Gesicht scheinbar irgendetwas entdeckte, das sie dort hatte entdecken wollen, und sie legte den Kopf in den Nacken und lachte leise, beinahe lautlos.

„Sie werden mir jetzt sofort sagen, woher Sie meinen Namen kennen!“, wiederholte die junge Wissenschaftlerin so resolut wie nur irgendwie möglich, während sich ein beklemmender Ring um ihre Brust legte. Wieder war ihr, als ob irgendjemand sie anstarren würde, aber als sie einen flüchtigen Blick über die Schulter warf, sah sie nur die leeren schwarzen Augenhöhlen eines weißen Traumhauses, von ein paar feisten Gartenzwergen einmal abgesehen, die durch die Gitterstäbe des Gartenzaunes blicklos die trügerische Freiheit beobachteten.

„Ich bin immerhin Ihr Freund, haben Sie das schon vergessen?“ Aya zuckte unweigerlich zusammen, als sie erneut die Stimme des Mannes hörte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sich sein Lächeln tatsächlich verändert hatte oder ob es nur wieder ihre nervösen Sinne waren, die ihr einen Streich nach dem anderen spielten. Sie schluckte und wollte irgendetwas sagen, aber Isamiya kam ihr zuvor. „Und als Ihr Freund fühle ich mich auch dazu verpflichtet, Ihnen einen guten Rat zu geben: Laufen Sie, Dr. Mitsuyuki, laufen Sie so schnell und so weit sie können, bevor es dazu zu spät ist.“

In einem kurzen Moment überwältigender Erstarrung war der schwarze Ritter an den Zaun getreten, ohne dass Aya es bemerkt hatte, und erst jetzt begriff sie, wie groß er wirklich war. Dies war übrigens auch ihre letzte Erkenntnis, bevor irgendetwas in ihrem Kopf einfach aussetzte. Später erinnerte sie sich düster daran, durch das blaugraue Zwielicht der perfekt symmetrischen Straßen zu irren, sie erinnerte sich an das helle Lachen des Geistermädchens, das eigentlich gar keines war, und sie erinnerte sich daran, dass sie irgendwann im Flur ihres Traumhauses gestanden hatte, aber alles andere war mehr weniger verschwommen. Sie konnte nicht mehr sagen, ob sie gerannt, gegangen, geschlichen oder gekrochen war, obwohl ihr Atem doch deutlich beschleunigt ging, sie konnte vor allem nicht mehr sagen, ob sie noch einziges weiteres Wort mit Isamiya gewechselt hatte oder nicht, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie irgendetwas davon wirklich wissen wollte.

Laufen Sie, schoss es ihr durch den Kopf, wieder und wieder bis ihr schwindlig wurde, laufen Sie, so schnell Sie können.

Ayas Füße schmerzten in den hochhackigen Schuhen und so wollte sie erschöpft und verwirrt zu dem einladenden Sofa humpeln, doch dieser eine merkwürdige Satz ließ sie nicht los und vor allem nicht zur Ruhe kommen. Die Luft in dem Wohnzimmer kam ihr unangenehm stickig vor, und so taumelte sie hinaus in den Garten, wo sie sich mit einem erstickten Seufzer auf die niedrige Schaukel sinken ließ. Warmes Plastik presste sich an ihre nur dürftig von Stoff verhüllten Beine, und Aya wusste nicht, ob sie es angenehm oder furchtbar finden sollte. Sie quälte sich aus ihren Stilettos und vergrub ihre Zehen in dem Sand zu ihren Füßen, um wenigstens ein bisschen Kontakt zum Boden wiederzugewinnen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht mehr los. Verschlagene blaue und wissende grüne Augen schienen sie von allen Seiten her anzustarren, und wieder jagte dieser Satz durch ihren Kopf und ihren ganzen Körper.

Laufen Sie, so schnell Sie nur können.

Was zum Henker wurde hier eigentlich gespielt?
 

Es verstrichen zahlreichen Minuten, in denen Aya da auf ihrer Schaukel saß und nichts begriff, außer vielleicht… dass sie eben auf einer Schaukel saß und nichts begriff, bis sich irgendwann die gläserne Tür zum Inneren des Hauses öffnete (hatte sie die Tür wirklich hinter sich geschlossen?) und ihr Name gerufen wurde. Aya blickte auf und war erstens überrascht, dass während ihrer uferlosen Grübelei nicht schon längst der nächste Morgen angebrochen war, und zweitens, dass es nicht ihr treusorgender Ehemann D, sondern Ronin war, der auf den steinernen Platten stand und neben dem gusseisernen Ofen noch ein bisschen kleiner und zerbrechlicher wirkte, als er das sowieso schon tat.

„Hey, Chefin“, grinste er und winkte ihr ganz ungerührt zu. „Deine drei Engel für Aya warten auf Anweisungen von oben. Ravin und D sitzen drinnen auf der Couch und Kuchen gibt es übrigens auch.“

„Es gibt Kuchen?“, fragte Aya zweifelnd und stellte erst im nächsten Augenblick fest, dass das nicht unbedingt der Punkt war, auf den sie eigentlich hinauswollte. „Eine Besprechung?“, fügte sie deshalb rasch hinzu, ohne auf Antwort zu warten. „Heute noch? Warum das denn?“

„Was ist denn das für eine Arbeitsmoral?“, fragte Ronin tadelnd. „Du bist immerhin unser Vorbild, Aya-sama, und du solltest dich was schämen.“

„Ich geh ja schon in die Ecke“, grummelte Aya und erhob sich von dem mittlerweile irgendwie lieb gewonnenen Plastik, dass zwar warm und schwitzig an ihrer Haut klebte, das aber gerade dadurch eine Art von Realität vermittelte, die nicht schonungslos genug war, um sie noch weiter zu überfordern. Sie angelte nach ihrem Schuhwerk und stapfte dann barfuß durch das angenehm kühle Gras, an Ronin vorbei und hinein in den weiten Wohnraum.

Eine warme, honigfarbene Helligkeit empfing sie, die sie augenblicklich mit einer tiefen, einer unnatürlich tiefen Ruhe erfüllte. Ihre Schritte kamen ihr viel zu leicht vor, und als sie sich auf das Sofa sinken ließ, sank sie auch prompt ein wenig tiefer ein, als sie sich das gewünscht hatte. Prinzipiell war daran nichts auszusetzen – sie saß wie auf Wolken, aber gerade danach sehnte sie sich jetzt nicht mehr. Sie wollte nicht schweben, sie wollte Kontakt zum Erdboden, doch die betäubende Tranquilizerwirkung ihres Traumhauses ließ die Realität einmal mehr gute zwei, drei Schritte vor ihr zurückweichen.

„Also… was ist?“, begann Aya, doch ihr gewollt autoritärer Tonfall wurde noch im nächsten Augenblick durch einen wohligen Seufzer ad absurdum geführt, der ganz eigenmächtig ihren Lippen entschlüpfte.

„Lagebesprechung“, grinste D und nahm einen kräftigen Schluck aus einer schneeweißen Kaffeetasse, auf der in großen roten Lettern der Schriftzug Dad is King prangte.

„Das sagte mir Ronin bereits“, entgegnete Aya, klang dabei aber nur halb so vorwurfsvoll wie geplant – wenn überhaupt.

„Na, dann sag doch mal, was du dazu zu sagen hast“, erwiderte D ungerührt, ohne seinen Blick von dem dampfenden und dabei noch wunderbar duftenden Getränk zu nehmen.

„Was soll ich sagen?“, erwiderte Aya und stellte fest, dass sie tatsächlich Probleme hatte, sich auf das eigentliche Thema zu konzentrieren. Es war nicht so, dass sie den Grund ihrer Reise vergessen hatte, aber der Anblick des Kamins, ja dieses ganzen weitläufigen Raumes weckte in ihr eine solche Behaglichkeit, dass es ihr schwer fiel, an gehirnamputierte Leichen zu denken. „Jedenfalls… habe ich heute schon mal… fünf unserer sieben Verdächtigen kennen gelernt. Und ich glaube, dass dieser eXinfernis dabei war.“

„Dass…“ D fuhr so ruckartig hoch, dass eine gefährliche Sturmwelle durch seinen Kaffee schwappte, und in seine Augen trat ein Glitzern wie das eines Kindes zu Weihnachten. „Du hast eXinfernis getroffen? Also… den… den echten eXinfernis? So richtig lebendig und in Farbe?“

„Nein, D, tot und in Schwarz-Weiß. Und ob es wirklich ein… er ist, kann ich jetzt nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Aber der Reihe nach. Zuerst habe ich…“

„Wie jetzt, kein er?“ D zog kritisch seine Augenbrauen hoch. „Ich meine… klar hätte ich nichts dagegen, wenn du mir jetzt sagen würdest, dass eXinfernis tatsächlich eine willige Single-Blondine ist und du sie getroffen hast, während sie oben ohne ihr Auto geputzt hat, aber… war da nicht eben noch von einem Psycho-Stalker die Rede?!“

„Ja, verdammt, und jetzt lass mich endlich ausreden!“ Aya strich sich unwillig durch ihr schwarzes Haar und machte eine längere Pause, als das nötig gewesen wäre, bevor sie endlich weitersprach: „Ich sagte doch, immer schön der Reihe nach. Zu den Blondinen kommen wir später. Die ersten Beiden, die ich getroffen habe, standen nämlich urplötzlich hier im Haus und haben mich halb zu Tode erschreckt!“

„Hier im Haus?“, fragte Ravin mit ungerührter Stimme und nur einem leisen Funken des Zweifels in den eisblauen Augen. „Wie sind sie hier hereingekommen? Ich hätte es bemerkt, wenn sich ein Fremder der Tür genähert hätte.“

„Sie waren schon vorher hier. Von der Nachbarschaftshilfe, daher der Schlüssel. Es waren ein Junge und ein Mädchen, Zwillinge… Kinder.“

„Kinder, die Menschen das Gehirn aussaugen? Klingt nicht sehr überzeugend. Eher wie aus einem schlechten Horrorfilm. In einem schlechten Horrorfilm wären’s bestimmt die Kinder.“

„Vielen Dank für diesen konstruktiven Beitrag, D. Na, wie auch immer, danach war ich ein bisschen draußen und… bin an diesem Haus vorbeigekommen, das so seltsam gerochen hat.“

„Seltsam gerochen?“

„Ja, Ronin, irgendwie… streng. Sprechen wir’s doch aus: Da drin hätte gut was verwesen können. Und dort habe ich den ersten potentiellen eXinfernis getroffen. Schau nicht so strafend, D, ich will deinen Schatz ja nicht verdächtigen. Jedenfalls bin ich nähergekommen und hab gesehn, dass da jemand ist, habe geklingelt und man hat mir tatsächlich aufgemacht. Und dann war da diese komische ältliche Hausfrau mit ihren Hunden und einer dieser… dieser geschmacklosen Schürzen, und sie…“

„Mo-Moment mal, Aya“, fiel ihr D ins Wort, bevor sie ihre Ausführungen beenden konnte. „Was willst du damit sagen, eine komische ältliche Hausfrau? Ich dachte, du hättest eXinfernis getroffen!“

„Lass mich doch mal ausreden! Glaubst du, ich würde sie grundlos verdächtigen?“

„Du hast von einem Anrufer gesprochen, von einem Mann, die ganze Zeit! Also warum dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Sie hatte eine tiefe Stimme!“

„Aya!“

„Was?!“

„Das kann nicht dein Ernst sein! eXinfernis in der Kittelschürze!“

„Na und?“ Die junge Wissenschaftlerin verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust. „Sie sah recht intelligent aus… für eine Hausfrau. Und ich bin deshalb überhaupt erst auf den Gedanken gekommen, weil… weil sie mir sagte, ich solle weglaufen, bevor es zu spät ist. Oder so ähnlich. Das passte eben irgendwie ins Gesamtbild. Und außerdem ist sie ja auch nur mein erster möglicher eXinfernis.“

„Da bin ich aber mal gespannt, wer der zweite ist. Ihr Hund vielleicht?“

„Nein, nicht ihr Hund, und unterbrich mich nicht immer.“ Aya bemühte sich um einen strafenden Blick, konnte sich aber beim Anblick von Ds gekränkter Miene ein leises Schmunzeln nicht länger verkneifen. „Die Geschichte geht nämlich noch weiter, und jetzt bekommst du auch deine Blondine, D. Auf dem Heimweg bin ich nämlich an einem Garten vorbeigekommen, in dem ein Mann ein junges Mädchen auf einer Schaukel angeschubst hat. Er war ihr Lehrer.

„Ach, ihr Lehrer?“, wiederholte D und blickte spontan noch ein wenig feindseliger drein. „Also doch kein Hund, sondern nur ein Pädophiler. Wie schön. Warum gehst du nicht gleich ins Kinderfernsehen und erzählst da, dass der Weihnachtsmann am liebsten kleine Jungen vergewaltigt?!“

„Weil du völligen Blödsinn redest, D. Ich sagte auch gar nichts von pädophil, ganz im Gegenteil. Er sah unheimlich gut aus, groß, dunkelhaarig – genau so ein Lehrer, wie ich ihn mir in meiner Schulzeit immer gewünscht hätte. Und ich bin mir auch relativ sicher, dass er unser eXinfernis ist, er kannte nämlich meinen Namen, den Zeitpunkt unserer Ankunft und so weiter. Na, zufrieden?“

„Das mit der Hausfrau hast du nur gesagt, um mich zu ärgern“, grummelte D, und nun musste Aya endgültig lächeln.

„Nein, gar nicht“, versicherte sie und nahm sich mit einem Gefühl wachsender Zufriedenheit ein Stück von dem weiß glasierten Kuchen. „Ich fand es nur seltsam, dass er genau dasselbe gesagt hat wie diese Hausfrau, aber wirklich… fast schon Wort für Wort. Dass ich laufen soll, so weit ich kann.“

„Und du bist sicher, dass du das nicht nur geträumt hast?“

„Oh halt, jetzt wo du’s sagst, D… ich glaube, ich bin hier auf dem Sofa eingeschlafen und habe mir das alles nur eingebildet. Daher kommt auch diese ekelhafte aufgeplatzte Blase an meiner rechten Ferse, weil ich ja keinen Schritt mit meinen neuen Schuhen gelaufen bin. Willst du die mal sehen?!“

„Nein, danke, ich verzichte und glaub dir auch so!“

„Zu gütig“, flötete Aya und bleckte die Zähne, während sie sich eingestehen musste, dass es ihr selbst weitaus schwerer fiel, sich von der Echtheit der merkwürdigen Ereignisse der zurückliegenden Stunden zu überzeugen. „Aber sagt mal, woher habt ihr den hier eigentlich?“

„Den Kuchen?“, fragte Ronin, und Strahlen glitt über sein Gesicht. „Den hat ein Mädchen vorbeigebracht, eine kleine Schwarzhaarige mit sooo einer großen Brille. Hat D zumindest erzählt. Als sie gesehen hat, dass gegenüber auch jemand einzieht, hat sie wohl ein richtig schlechtes Gewissen bekommen, dass sie nur einen Kuchen mitgebracht hat. Und jetzt rate mal, was sie uns morgen als Entschädigung vorbeibringen möchte?“

„Nein, ich spar’s mir, einverstanden?“ Aya nahm einen Bissen von dem hellen Teig, der angenehm nach Zitrone duftete und übrigens auch genauso gut schmeckte, wie er roch. „Aber sagt mal, hat die Kleine vielleicht ihren Namen genannt?“

„Yo, hat sie“, nickte D, blickte aber immer noch ein wenig säuerlich drein. „Sie hieß Ellen Ridgefort.“

„Ellen? Dann war das die vom Nachbarschaftsdienst. Ihr Bruder hieß übrigens Lennart, und dein geheiligter eXinfernis heißt mit bürgerlichem Namen Shiro Isamiya.“

„Und die kleine Blonde?“

„Keine Ahnung, die hat nicht viel mit mir gesprochen. Seht mal zu, dass ihr das herausbekommt und dass ihr morgen auch noch die restlichen Urlaubsverweigerer findet. Zwei einsame Seelen auf einem großen Trabanten… gar nicht so einfach, was?“

„Für mich schon“, gab D zurück und sah spontan noch beleidigter aus als zuvor. Ronin lachte nur und ließ seinen Kopf gegen Ravins Schulter sinken, was diesen nicht weiter zu interessieren schien.

„Übrigens… ich hab da während des Fluges ein bisschen Brainstorming betrieben, also immerhin war der Flug ja lang genug und mir wird auf Flügen sowieso immer schnell ein wenig langweilig, von diesem ganzen Sitzen und so, und da habe ich mir eben mal notiert, was mir zu dieser Sache mit den fehlenden Gehirnen eingefallen ist, und wenn ihr wollt, kann ich das ja mal erzählen.“

„Klingt nach einer hübschen Gutenachtgeschichte“, seufzte Aya und tröstete sich mit einem weiteren Bissen von ihrem nostalgisch süßen Zitronenkuchen über den unliebsamen Themenwechsel hinweg. „Ich frage mich zwar, was einem zu fehlenden Gehirnen so einfallen kann, aber gut, Interessen sind ja bekanntlich verschieden. Lass hören.“

„Wieso Interesse? Das gehört zur Allgemeinbildung!“, grinste Ronin und legte eine seiner kleinen blassen Hände auf Ravins durchtrainierten Oberarm. Dieser warf nur einen kurzen, kritischen Blick zur Seite, schien aber nicht so recht zu wissen, was er von der ganzen Sache zu halten hatte, und blieb somit weiterhin regungslos und mit ungerührter Miene an seinem Platz auf dem wolkenweichen Sofa sitzen. „Ihr müsst wissen, es hat lange Tradition, das Gehirn eines Menschen zu entfernen, in grauer Vorzeit lebte zum Beispiel eine Menschenart namens homo neanderthalensis, oder homo sapiens neanderthalensis, es gibt nämlich auch Forscher, die den Neandertaler für eine Unterart des homo sapiens und damit als engeren Verwandten des modernen Menschen homo sapiens sapiens betrachten, jedenfalls haben die Neandertaler die Gehirne der Toten entfernt, da sie diese so furchtbar ekelhaft fanden, und auch die alten Ägypter, die haben wie die Neandertaler vor langer Zeit auf der Erde gelebt, aber sehr viel später, obwohl sie ein alt vorm Namen stehen haben, entfernten die Gehirne der Toten vor der so genannten Mumifizierung, die…“

„Halt!“ Aya hob abwehrend beide Hände – ihren Kuchen hatte sie mittlerweile verspeist und den mit hellen Krümeln gesprenkelten Teller zur Seite gestellt – und sah Ronin beschwörend an, bevor er mit seinem atemlosen Redeschwall fortfahren konnte. „Ich habe zwar kaum die Hälfte von dem verstanden, was du da eben gesagt hast, aber… meintest du nicht selbst, die Opfer waren noch am Leben, als man ihnen das Gehirn entfernte?“

„Ich war ja auch noch gar nicht fertig!“

„Ich weiß. Aber vielleicht kannst du ja… etwas langsamer sprechen, nur so ein ganz, ganz kleines bisschen. Ich… bin ein wenig müde, weißt du, und deshalb… komme ich wohl nicht mehr so gut mit.“

„Oh… ja, natürlich, das verstehe ich, das geht mir manchmal genauso.“ Ronin grinste, wobei er Ayas zweifelnde Miene entweder nicht bemerkte oder einfach ignorierte. „Also“, fuhr er dann betont langsam fort, wobei er ein bisschen wie ein Sprecher aus einer dieser lustigen IV-Sendungen klang, in denen Kindern auf spielerische Weise die Welt erklärt wurde, „es gibt natürlich noch andere Gründe, einem Menschen das Gehirn zu entfernen, die nicht so direkt was mit dessen Tod zu tun haben, wenigstens nicht unmittelbar. Aya, hast du jemals etwas von Kuru gehört?“

„Kuru?“, wiederholte sie und sah Ronin sogar noch ein kleines bisschen zweifelnder an. „Nein. Warum, sollte ich?“

„Ach… nein, eher nicht. Aber Creutzfeldt-Jakob sagt dir etwas, oder?“

„Ja… ja, natürlich. Das ist eine Krankheit, die zur Degeneration des Gehirnes führt, keine schöne Angelegenheit übrigens. Aber was hat das mit unserem Mörder zu tun?“

„Mit unserem Mörder? Überhaupt nichts!“ Ronin grinste, winkte dann aber beschwichtigend ab, als er die leise Zornesfalte bemerkte, die sich zwischen Ayas Augen gelegt hatte. „Aber mit Kuru, und Kuru hat wiederum mit Creutzfeldt-Jakob zu tun, es ist nämlich eine ganz ähnliche Krankheit. Bekannter ist sie vielleicht unter ihrem Spitznamen, der lachende Tod. Kuru ist wie CJD eine Prionenkrankheit, die in ihrem Verlauf unter anderem zu einem unnatürlichen Lachen führt, daher der Spitzname. Es ist aber keine Schande, Kuru nicht mehr zu kennen. Die Krankheit kam eh nur bei einem Eingeborenenstamm in Papua-Neuguinea auf der guten alten Mutter Erde vor, und sie ist schon seit Jahrtausenden ausgerottet, nämlich seit man diesem Stamm verboten hat, die Gehirne anderer Menschen zu essen.“

„Sie haben sie… gegessen?! Warum das? Und warum weißt du so etwas?!“

„Ich hab mich nur ein bisschen schlau gemacht, das ist alles. Und warum sie die Gehirne gegessen haben? Keine Ahnung, vielleicht haben sie ihnen geschmeckt? Es… manche Stämme hatten auch den Brauch, das Gehirn eines besiegten Feindes zu essen, um sich seine Fähigkeiten anzueignen.“

„So macht lernen Spaß“, grinste D ganz unpassend breit. „Vielleicht hätte ich in der High School auch mal das Gehirn meines Lehrers verspeisen sollen, da hätte ich mir eine Menge Lernen ersparen können.“

„Erstens: Sehr witzig. Zweitens: Als ob du jemals gelernt hättest. Drittens: Sprich mir heute bitte nicht mehr von Lehrern!“

„Sorry, Aya“, fuhr D in nicht weniger amüsiertem Tonfall fort. „Aber wisst ihr, was ich mir überlegt habe? Vielleicht ist das ja so ein kranker Sammler, der sich gerne die Gehirne berühmter Persönlichkeiten in eine Vitrine stellt. Oder vielleicht will er die ja klonen.“

„Also einfach nur ein Wahnsinniger, der sich eine Armee perfekter Wissenschaftler erschaffen möchte. Wirklich eine tolle Idee, D. Ich glaube, jetzt haben wir den Fall gelöst.“

„Was denn?!“

„Ich… finde es eigentlich gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Taten wissenschaftliche Hintergründe haben“, mischte sich Ravin ein. „Es gibt viele Experimente, bei denen menschliche Gehirne benötigt werden, auch im lebend entfernten Zustand.“

„Ja, aber dann würde man die doch in irgendein… Labor locken, und nicht auf offener Straße abschlachten!“ Aya seufzte resigniert und schloss einige Momente lang die Augen. „Lasst mich also zusammenfassen, dass wir nichts, aber auch gar nichts wissen.“

„Wir kennen das Motiv nicht“, bestätigte Ronin, aber ohne jeden Anflug von Verzagtheit in der Stimme, „aber mal ehrlich, bei so wenigen Verdächtigen wird sich das doch wohl irgendwann von selbst ergeben. Wir sollten sehen, wer außer deinen neuen Freunden noch hier zurückgeblieben ist, und dann einen nach dem anderen genauer unter die Lupe nehmen.“

„Ich hab alles nötige dabei, um mich morgen noch mal… auf meine Weise umzusehen, wenn ihr versteht, was ich meine“, verkündete D nicht weniger zuversichtlich als sein Vorgänger.

„Ich… muss immer an diese Kinder denken“, murmelte Aya, um sich wenigstens irgendwie auch an der allgemeinen Schlachtplanerei beteiligen zu können. „Die waren doch noch so jung, ich glaube kaum, dass die hier allein sind. Wir können also davon ausgehen, dass es sich bei mindestens einem der beiden Unbekannten um ein Elternteil unseres reizenden Zwillingspärchens handeln muss. Ich… werde morgen mal bei ihnen vorbeisehen, denke ich. D, du hast die Adresse?“

„Aber natürlich, Mylady“, grinste der Schwarzhaarige, und Ronin fiel sofort in dieses Grinsen ein.

„Gut, dann nehmen mein geliebter Ehemann und ich uns entweder die Frau mit den Tieren oder dieses komische Mädchen oder eben wen-auch-immer vor, wenn du mit deiner Suchaktion Erfolg haben solltest, D, und dann bringen wir ein bisschen Kuchen mit und trinken Kaffee und unterhalten uns, ganz nett und freundlich und ungezwungen eben, und dann sollen die doch mal sehen, das irgendwas vor uns verborgen bleibt, wenn wir doch so ein reizendes Ehepaar sind!“

„Nett, freundlich und ungezwungen?“, wiederholte Aya mit einem kritischen Seitenblick auf Ravin, was von diesem mit einem eisigen Blick und von Ronin mit einem nur noch begeisterteren Funkeln in den Augen quittiert wurde.

„Jaaa“, strahlte er und legte Ravin einen seiner zierlichen Arme um die Schultern, „freundlich und nett. Was glaubt ihr denn, warum ich ihn geheiratet habe? Ah, und wir sind immer noch verliebt wie am ersten Tag!“

Ronin gab ein unbefangen kindliches Lachen von sich, dann folgte auf seinen ersten Arm ein zweiter, und im nächsten Moment hatte er Ravin, diesen großen, kräftigen, wunderschönen Ravin mit den wohl kältesten Augen, die jemals das Licht der Welt erblickt hatten, auch schon an sich gezogen. Er drückte dessen Kopf an seine Brust wie den eines Kindes, was Aya unweigerlich zusammenzucken ließ. Sie konnte sich nicht so recht vorstellen, wie Ravin auf… so etwas reagieren würde, aber aus irgendeinem Grund ahnte sie nichts Gutes.

Umso mehr überraschte sie seine tatsächliche Reaktion… oder vielmehr Nicht-Reaktion, denn genau genommen tat Ravin überhaupt nichts mehr denn genau genommen tat Ravin überhaupt nichts. Er sank ein bisschen in sich zusammen, sodass Ronin im ersten Moment Probleme hatte, ihn festzuhalten, aber dann lag er einfach regungslos in den Ärmchen seines merkwürdigen Kollegen und atmete ganz ruhig. Als Ronin ihm vorsichtig das schneeweiße Haar aus dem makellosen Gesicht strich, da sah Aya, dass er seine Augen geschlossen hatte.

„Ähm… schläft er?“, flüsterte sie. Ronin zuckte ganz leicht mit den Schultern und sah die junge Wissenschaftlerin mit einer solchen Wärme in den tiefroten Augen an, wie sie es noch niemals zuvor bei ihm gesehen hatte.

„Ist das nicht süß?“, antwortete nicht weniger leise und streichelte ihm mit einer Hand über die Wange. „Er ist einfach… eingeschlafen.“

„Hm… ja… davon habe ich gehört“, murmelte Aya, unfähig, ihren Blick von Ravins Gesicht zu nehmen. „Das ist wahrscheinlich eine dieser Fehlprogrammierungen, die manche Cyborgs haben.“

„Fehlprogrammierung?“ D zog langsam eine seiner Augenbrauen hoch. „Aya, wie romantisch du doch bist!“

„Warum romantisch? Es ist nun einmal so. Wahrscheinlich reagiert er auf… Herztöne oder etwas in der Art. Und, ja, es ist eine Fehlprogrammierung. Ich glaube kaum, dass er sonderlich glücklich darüber ist.“

„Ich finde aber nicht, dass er gerade unglücklich aussieht.“

Aya öffnete schon dem Mund, um Ronin irgendeine wissenschaftlich korrekte Antwort zu geben, aber aus irgendeinem Grund blieb sie ihr im Hals stecken. Da war wieder dieses merkwürdige, dieses falsche Gefühl, dass es trotz aller grausamen Morde doch nicht die Welt von Merrywood Ville war, mit der etwas nicht in Ordnung war. Nein, Ravin sah ganz und gar nicht unglücklich aus. Aber wie hätte er auch? Ravin wusste ja gar nicht, was glücklich oder unglücklich sein bedeutete, weil man es ihm nicht gestattet hatte, weil irgendjemand der Meinung gewesen war, dass es wahrscheinlich einfach nützlicher wäre, seine Funktionsfähigkeit nicht durch störende Emotionen beeinträchtigen zu lassen. Und natürlich sah er in diesem Augenblick auch nur deshalb so unendlich friedlich aus, weil sein System planwidrig heruntergefahren wurde.

In diesem Moment fühlte sich Aya plötzlich so unglaublich schuldig, dass sie all die Ängste und die Warnungen der zurückliegenden Stunden einfach vergaß. Sie dachte nicht mehr an Regeln und nicht mehr an die leeren Augenhöhlen der perfekten weißen Häuser. Sie dachte auch nicht mehr daran, zu laufen, schon gar nicht zurück in diese grausame Welt, die vielleicht wirklich nichts anderes war als die Hölle. Es waren irrationale Gedanken, ganz ohne jeden Zweifel, und sie hätte sie gewiss später einmal spöttisch belächeln können, wenn nicht gerade dieser kurze Moment verklärten Weltschmerzes am Ende ihr größter Fehler gewesen wäre.
 

Der nächste Tag war etwas weniger warm, der Himmel aber nach wie vor sonnig blau und der leichte Wind sogar durchaus angenehm. Aya war am Vorabend unendlich müde gewesen, war eingeschlafen, kaum dass sie sich in ihr Doppelbett gelegt hatte, das ihr übrigens ganz allein gehörte, weil D auf das nicht weniger gemütliche Sofa verbannt worden war, und hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht einmal mehr geträumt. Umso mehr überraschte es sie, dass sie dann am Morgen früh erwachte und auch nicht mehr einschlafen konnte, obwohl sie diese seltene Gelegenheit zum Ausschlafen nur allzu gerne ergriffen hätte. Weiches Sonnenlicht schlich sich durch die halbtransparenten Vorhänge und tauchte den Raum in ein heimelig warmes Licht, und dahinter zwitscherten die Vögel ein munteres Liedchen.

Aya streckte und räkelte sich wohlig in den Massen duftig frischen Stoffes, dann stand sie auf, ohne sich dazu zwingen zu müssen. Sie war noch ein wenig verschlafen, aber nicht mehr müde, und ihre Schritte gingen so leicht, dass es sie selbst verwunderte. Das latente Schmerzen in ihren Fußsohlen nahm sie diesen nicht übel, dazu war der Boden einfach viel zu blank geputzt und die Teppiche zu weich und zu flauschig und ihr Spiegelbild empfing sie im Bad mit einem leisen Lächeln. Es war ein schmeichelndes Licht, das die in die Decke integrierten Lampen warfen, und ihre pechschwarzen Haare und Augen hatten darin einen ganz besonderen Glanz. Ihre feinen asiatischen Gesichtszüge wirkten fast ein bisschen so, als ob man sie aus Porzellan gefertigt hätte, und alles in allem musste Aya feststellen, dass sie sich lange nicht mehr so schön gefunden hatte.

Gut gelaunt schlich die junge Wissenschaftlerin die Treppe hinunter und durch das Wohnzimmer. Ds ruhige, gleichmäßige Atemzüge begleiteten sie zur Tür, und sie bemühte sich, diese so leise wie möglich hinter sich zu schließen. Draußen empfing sie ihr sonniger Vorgarten und die freundlich weiße Fassade des gegenüberliegenden Hauses, und spontan machte sich ein wohliges Gefühl in ihrer Bauchgegend breit. Die Stunden der vergangenen Nacht schienen unendlich weit entfernt, zu weit, um ihr überhaupt noch real zu erscheinen, und so besann sie sich stattdessen ganz auf die Gegenwart.

D hatte ihr am Abend zuvor die Adresse der Zwillinge herausgesucht, und es fiel ihr überraschend leicht, das dazugehörige Haus zu finden. Wie nicht anders zu erwarten war es weiß und freundlich, mit einem akkurat gepflegten Garten und einem großen silbernen Briefkasten. „We are the Ridgeforts“, verkündete ein weißer Schriftzug auf dem mattierten Metall. Aya stellte noch kurz in Gedanken fest, dass die dezente Mischung aus Familienzusammenhalt und guter Laune, die von den hellen Buchstaben ausging, nicht zu diesen merkwürdigen Kindern passte, dann öffnete sie mit einem Schulterzucken das makellose Gartentor und schlenderte über die unglaublich sauberen Trittsteine auf die große weiße Eingangstüre zu.

Es war Ellen, die ihr öffnete, und zwar noch bevor sie geklingelt hatte. Sie trug ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, außerdem eine dunkle Jeans und ein tannengrünes Poloshirt, das mehr erahnen als erkennen ließ, dass Aya den weiblichen Teil des Zwillingspärchens vor sich stehen hatte. Ellen war etwas außer Atem und ihre Brille leicht verrutscht, aber sie lächelte auf ihre eigentümlich freudlose Art und Weise.

„Ich habe Sie von der Küche aus gesehen“, erklärte sie, als ob sie in Ayas Gedanken gelesen hätte. „Guten Morgen, und… also… wollen Sie nicht hereinkommen?“

Sie vollführte mit ihrem dünnen Arm eine reichlich unsichere Bewegung in Richtung des Hausinneren, und aus irgendeinem Grund war Aya von dieser unbeholfenen Höflichkeit gerührt. Sie ahnte, dass sie es hier mit einem Mädchen zu tun hatte, das nicht sonderlich oft Besuch empfing, gleichzeitig spürte sie, wie sehr sich Ellen über ihr Kommen freute. Auf ihre Weise. Sie lächelte dankbar, nickte und trat ein.

„Ich wollte mich vor allem für den Kuchen von gestern bedanken, aber… ja, gerne“, fügte sie dann erst hinzu und zog ihre hinreißenden neuen Sling Pumps aus, weil diese auf dem gefliesten Flurboden sowieso viel zu laut klapperten, dann folgte sie der zierlichen kleinen Gestalt in das Wohnzimmer. Es war kleiner als das ihre, weil man die Weite des Raumes mit einer Wand durchbrochen hatte, und es wirkte durch den anthrazitfarbenen Teppich und die graue Sitzgarnitur sogar noch ein wenig gedrückter. Sämtliche Accessoires waren modern puristisch und in glänzendem Silber gehalten, von der hohen Stehlampe bis hin zu den Bilderrahmen, die Schwarzweißfotos einer heilen Vorstadtfamilie zeigten. Die Eltern der Zwillinge trugen schlichte, aber stilvolle Businesskleidung und waren hübscher als ihre Kinder, insbesondere die Mutter. Ihre klassischen Gesichtszüge, ihre schwarz gerahmte Brille und die streng zurückgebundenen Haare strahlten eine gewisse Härte aus, aber ihr Lächeln war warm und ihre Haltung stolz. Eine starke Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hatte. Vielleicht bestand für Ellen doch noch Hoffnung.

„Sie ist Anwältin“, erklärte das Mädchen prompt, und wieder fühlte sich Aya von ihr ertappt. „Mein Vater arbeitet für ein großes Pharma-Unternehmen. Das finde ich viel besser. Ich möchte auch mal eine Wissenschaftlerin werden und an Medikamenten forschen.“

„Du möchtest Wissenschaftlerin werden?“ Aya blickte über die Schulter zu Ellen zurück, und spontan fiel ihr wieder ein, an wen diese kleine Schwarzhaarige sie so sehr erinnerte, mit ihrer viel zu großen Brille, der unscheinbaren Kleidung und der ganz und gar unkindlichen Kälte auf dem Gesicht. Sie erinnerte sie an ein anderes kleines Mädchen, das sich mit einem sehr, sehr ähnlichen Traum vor dem Rest der Welt zurückgezogen hatte und das sich nur tief in der Nacht auf dem verlassenen Dach eines heruntergekommenen Hochhauses ein kleines bisschen unbeschwerte Lebensfreude erlaubt hatte, und dies war eine Erinnerung, die nicht zu einem perfekten Morgen wie diesem passte.

„Ja“, antwortete Ellen mit einem scheuen Lächeln, und Aya war ihr sehr dankbar dafür. Sie musste sich plötzlich beherrschen, nicht einfach zu dem Mädchen hinzulaufen und sie in ihre Arme zu schließen, und so hielt sie sich stattdessen mit einer Hand am spärlichen Stoff ihres Rockes fest. „Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Meine Noten sind leider nicht so gut.“

„Deine Noten sind nicht gut?“ Aya konnte nicht umhin, zweifelnd eine Augenbraue anzuheben. Sie wusste, dass es unfair war, dass sie vermutlich erstens von sich auf dieses Kind schloss und sich außerdem von der nicht ganz nebensächlichen Tatsache beeinflussen ließ, dass Ellen nun einmal den Archetypus einer Streberin verkörperte. Aber sie war sich einfach sicher, ein intelligentes, ein sogar sehr intelligentes Mädchen vor sich stehen zu haben, dessen beste Freunde ihr Bruder und ihr Bücherregal waren, und ein solches Kind hatte einfach keine schlechten Noten.

„Nein“, antwortete Ellen und senkte den Blick. „Ich trau mich nicht so, mich zu melden. Und in den Arbeiten bin ich immer ganz furchtbar aufgeregt, dass mir dann überhaupt nichts mehr einfällt.“

„Aber… dagegen kann man doch etwas machen!“, erklärte Aya in möglichst überzeugtem Tonfall, doch als sie sah, dass die Schwarzhaarige nur die Schultern hob und noch ein wenig zerknirschter aussah, entschied sie sich lieber für einen Themenwechsel. „Na, jetzt sind eh erst mal Ferien, richtig? Und es ist ja wirklich sehr ruhig hier. Fürchtet ihr beide euch da nicht?“

„Ach, nein, warum denn?“, antwortete Ellen und blickte auch wieder auf, ohne ihren starren Gesichtsausdruck zu verlieren. „Ich mag das nicht so gern, mit meinen Eltern wegzufahren, ich bin lieber mit Len allein hier, dann haben wir nämlich fast die ganze Stadt für uns. Das ist schön.“

„Dann sind deine Eltern beide verreist?“, fragte Aya und bemühte sich, nicht enttäuscht, sondern nur ein wenig überrascht und sehr bewundernd zu klingen. Ellen nickte und sah dabei tatsächlich ein bisschen stolz aus.

„Ja, aber das ist schon in Ordnung. Wir kommen zurecht und wir verdienen halt auch Geld, weil wir ja die Blumen gießen und so was. Außerdem besuchen wir oft Dan vom Supermarkt. Der Markt ist zwar in den Ferien geschlossen, aber er wohnt auch in dem Haus und da kann man trotzdem Sachen kaufen. Man muss klingeln und dann geht er extra mit einem runter in den Laden. Wir brauchen ja auch Essen und was zum Putzen und solche Sachen eben. Zu Dan können alle kommen, die in den Ferien hier bleiben, der fährt nie weg. Er schaut sich lieber den ganzen Tag lang irgendwelche Sachen im IV an.“

„Wie viele sind das überhaupt?“, erkundigte Aya sich scheinheilig. „Wir haben auf jeden Fall neue Nachbarn, eine Ehepaar. Die sind zwar ein wenig merkwürdig, aber nett. Ansonsten habe ich nur zufällig eine… ältere Frau getroffen, aber die war ziemlich unheimlich.“

„Ach, das war wahrscheinlich Minette Mullington. Die mag ich auch nicht so gerne. Sie hat ihr ganzes Haus voll mit Tieren, ganz viele. Sie hat Hunde und Katzen und lauter Käfige mit Hamstern und Ratten und so. Über Menschen sagt sie immer furchtbare Dinge, ich glaube, die will mir auch Angst machen, aber ich habe keine Angst vor ihr. Sie hat mir sogar einmal gesagt, ich hätte den Teufel im Leib. Für die ist jeder Mensch ein Teufel, vor allem Wissenschaftler, darum kann sie mich nicht leiden.“

„Wahrscheinlich eine dieser fanatischen Umweltschützerinnen“, grummelte Aya und fühlte sich ein bisschen ernüchtert. Sie hätte in dem seltsam riechenden Haus der finsteren Alten gerne mehr gesehen als nur eine miefende, weil bis unter das Dach mit Kleinvieh zugestellte Zuflucht einer verbitterten Menschenfeindin und Tierfreundin, die es offensichtlich nötig hatte, jedem, aber auch wirklich jedem Angst einzujagen, sei es nun einem kleinen Mädchen oder einer unliebsamen Großstädterin. „Und wer ist sonst noch hier? Ich würde so gerne einmal ein paar Menschen zum Kaffee einladen, mein Haus ist viel zu groß, um ganz leer zu sein.“

„Das weiß ich, weil ich nämlich bei allen, die da sind, nicht Blumen gießen muss. Also, einmal natürlich Minette Mulligan, dann Shiro Isamiya, Patricia Allison und ihre Tochter Lavinia. Und natürlich Dan Edwardson. Und wir.“

Lavinia, wiederholte Aya in Gedanken, und konnte sich ein kurzes Verziehen der Mundwinkel beim besten Willen nicht verkneifen. Ein seltsamer Name, aber ein passender für diese kaltschnäuzige kleine Lolita. Die Geisterprinzessin. Sie hatte keine große Lust, ihr einen weiteren Besuch abzustatten, aber wofür hatte sie denn auch Mitarbeiter?

„Wow, das sind ja wirklich nicht viele“, sprach sie stattdessen laut aus und wollte gerade noch irgendetwas hinzufügen, als sie plötzlich ein leises Piepsen aus ihrer Handtasche hörte. Ihr Portable Transmitter meldete sich zu Wort, und so schenkte sie der kleinen Ellen ein entschuldigendes Lächeln, zückte das elegante silber-blaue Kommunikationsgerät und eilte durch den Flur in den Garten hinaus.

„Ja, Mitsuyuki Aya, hallo?“, meldete sie sich etwas atemlos. Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Stille, dann ertönte ein leises, irgendwie nervöses Lachen und schließlich flötete ihr eine Stimme ins Ohr, die irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen unverschämt guter Laune und unverschämt tiefem Wahnsinn balancierte.

„O-ha-you!“

„Kagami… sind Sie das?“, fragte sie überflüssigerweise, was von einem neuerlichen Kichern beantwortet wurde. „Was gibt es?“

„Gute Neuigkeiten“, fuhr ihr Gesprächspartner in einem Tonfall fort, der sie aus irgendwelchen Gründen beunruhigte. „Ich habe die Probe vom Tatort identifizieren können, und ich sage ihnen – ich verspreche ihnen, sie werden nicht glauben können, was sie da hören. Ich weiß das, weil ich es selbst kaum glauben konnte, und immerhin sind ja alle Wissenschaftler seelenverwandt, richtig? Vorausgesetzt, wir hätten überhaupt Seelen. Aber wenn wir welche hätten, dann wären wir’s.“

„Ja… wie romantisch“, murmelte Aya und blickte ein wenig nervös über die Schulter zurück. Ellen war ihr nicht gefolgt, trotzdem entfernte sie sich sicherheitshalber noch einige Meter vom Haus, bevor sie weitersprach. Der helle Stein unter ihren nackten Füßen war wunderbar warm, und wieder musste sie an diese längst vergangenen Tage denken, an denen sie häufig barfuß umhergelaufen war. Einen solchen Boden hatte es damals aber nicht gegeben. Es war wunderbar, hier zu gehen, und Aya musste sich zurückhalten, um nicht vom Weg abzukommen und so auch noch die kurzen, perfekt gestutzten Halme des Rasens zwischen ihren nackten Zehen zu fühlen.

„Nein, gar nicht romantisch“, widersprach Kagami, und seine Stimme bebte ganz leise in der freudigen Erwartung seiner ach so schockierenden Enthüllung. „Eher das Gegenteil davon. Habe ich schon gesagt, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass es ausgerechnet… das sein würde? Ich glaube schon. Ach, ich bin wieder ganz zerstreut, aber das bin ich öfters. Sagt man mir. Jetzt… spanne ich Sie auf die Folter, merken Sie das? Kommen Sie, nun fragen Sie schon, was in dieser Tüte war, bitte, fragen Sie!“

„Also schön“, seufzte Aya resignierend. „Was war in dieser Tüte?“

Am anderen Ende der Leitung ertönte zunächst ein halb euphorisches, halb geisteskrankes Lachen, mit dem sie aber irgendwie schon gerechnet hatte. Dann hielt Kagami inne, holte tief Luft und antwortete ihr mit feierlicher Stimme, und was er sagte, ließ Aya tatsächlich einen Moment lang in völliger Ratlosigkeit zurück. Sie fragte auch noch zweimal nach, ob er sich nicht doch irgendwie geirrt haben könnte, doch es folgte lediglich eine immer gleiche Antwort und dann ein erster Schwall vollkommener Hilflosigkeit. Sie wusste sowieso nicht recht, wie sie diesen Fall angehen sollte, und statt einer Antwort schien dieses groß angekündigte Untersuchungsergebnis nur noch mehr unverständliche Fragen aufzuwerfen.

Wie gesagt – dies war im ersten Moment, doch dieser Moment ging vorüber und dann geschah etwas, das bei Aya etwa alle viereinhalb Wochen passierte und stets mehr oder minder bedeutsame Konsequenzen nach sich zog: Ein gleißend heller Geistesblitz schlug mitten in ihren Kopf und sie sah die Essenz aller Dinge ganz klar und deutlich vor sich. Natürlich war auch diese Essenz nur Teil eines Versuches, der scheitern oder einfach völlig unbefriedigende Ergebnisse mit sich bringen konnte, denn ihre Idee war schlicht und ergreifend absurd, so absurd wie kaum eine andere, die sie in den letzten Wochen gehabt hatte. Aya wusste, dass sie vermutlich falsch lag. Sie wusste auch, dass diese geballte Perfektion der Vorstadtidylle langsam aber sicher ihren Geist vernebelte. Aber gleichzeitig war sie sich einfach viel zu sicher, im Recht zu sein, als dass sie diese Gewissheit hätte ignorieren können.

Sie brauchte nur noch Beweise.

Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte Aya noch einige siegessichere Dankesworte in den Lautsprecher ihres Portable Transmitters, und nicht einmal Kagamis wahnsinniges Lachen konnte sie jetzt noch stören. Sie wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war, sie wusste es einfach und sie wollte auch gar nichts anderes mehr glauben. Sie war sich zugegebenermaßen noch nicht ganz sicher, wie sie weiterhin vorgehen musste oder was sie tun sollte, wenn sie sich einfach nur in eine fixe Idee verrannte, aber darüber konnte sie sich auch noch später den Kopf zerbrechen.

Es war Zeit für eine Konfrontation mit ihrem neuen Tatverdächtigen Nummer eins.
 

Als D an diesem Morgen erwachte, war der Morgen eigentlich schon längst vorübergegangen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es tatsächlich kurz nach eins war, und er streckte sich und gähnte ausgiebig, bevor er dann endlich aufstand und die Fensterläden zum Garten hin öffnete. Einige Minuten lang stand er dann einfach nur da und betrachtete das üppige Grün und die Schaukel und das Blau des Himmels, dann schlenderte er in die Küche und kochte sich eine Tasse Kaffee. Anstelle eines Mittagessens schlang er die Reste des Kuchens vom Vorabend herunter, dann zog er sich in den Teil des Wohnzimmers zurück, in dem er bereits sein geballtes Equipment aufgebaut hatte und der nun wie eine bizarre Mischung aus Einfamilienidylle und einem hochtechnisierten Laboratorium aussah.

Es dauerte nicht lange, bis er ganz in seiner Arbeit versunken war, und es fiel ihm leicht, sich zu konzentrieren. Dieses Haus war so hell und so freundlich und hinter den riesigen Glasscheiben erstreckte sich ein kleines Paradies aus Licht und Pflanzen, und so glitten Ds Finger fast wie von selbst über seine Tastaturen. Die gesuchten Namen der Anwesenden waren schnell gefunden, aber wie so oft verlor er sich dann vollkommen in den Geschichten hinter diesen Namen, und hier, auf diesem makellosen Trabanten, faszinierte ihn das alles nur umso mehr.

Irgendwann kamen Ravin und Ronin vorbei, um sich mit ihm über die neuen Informationen auszutauschen, sie blieben dann auch und leisteten ihm bei seinen Recherchen Gesellschaft, die wenigstens Ronin ganz brennend zu interessieren schienen. Es war ein entspannter, ein amüsanter, ein unerwartet leichter Nachmittag, der sicherlich Einiges ans Licht brachte, aber irgendwann ging selbst dieser Nachmittag vorbei und es wurde dunkel, ohne dass sie einem dieser Menschen, die sie virtuell bereits bis auf die Knochen seziert hatten, tatsächlich einen Besuch abgestattet hätten.

Außerdem kam Aya nicht zurück.

Es wurde neun, es wurde zehn, und irgendwann fing D an, sich zu wundern. Er wusste nicht so recht, was er tun sollte, schlenderte noch ein bisschen durch die nächtlichen Straßen von Merrywood Ville, entdeckte aber absolut gar nichts, das ihm irgendeinen Hinweis auf den Verbleib seiner Vorgesetzten geliefert hätte, und so fügte er sich eben in die Sinnlosigkeit seines Unterfangens und ließ es lieber bleiben. Immer noch beflügelt von den vergnüglichen Stunden des vergangenen Tages gab er sich weiterhin der süßen Gedankenlosigkeit hin und legte sich ganz unverschämt in das doch noch viel gemütlichere Bett, aus dem Aya ihn so selbstsüchtig vertrieben hatte.

Erst am nächsten Morgen, als die junge Wissenschaftlerin immer noch nicht heimgekehrt war, begriff D ganz langsam, dass Aya eben genau das war – eine Wissenschaftlerin, und zwar keine unbekannte. Der Gedanke kam ihm, als er gerade unter der Dusche stand, aber erst als er sich fertig gewaschen und sein kurzes schwarzes Haar notdürftig getrocknet und sich angezogen und es sich mit einer Tasse Kaffee auf dem Sofa bequem gemacht hatte, wurde ihm die wahre Tragweite dieser Erkenntnis bewusst, und er begriff, dass sie ein Problem hatten.
 

Akte 4b/ Ende

Akte 4c/ Das Studium

Ich weiß, ihr habt mich sehr vermisst, die lange Zeit des Wartens ist vorbei…

Ja, jetzt geht’s jedenfalls endlich mal weiter mit der Geschichte von unserem fröhlichem Merrywood Killer. Ich bin an sich mit dem Kapitel ganz gut fertig geworden, aber es musste schon noch mal ausgiebig korrigiert werden, und da kamen mir dann eine Hausarbeit und eine Klausur dazwischen. Aber jetzt ist’s endlich fertig und gefällt mir richtig gut. ^.^ Diesmal gibt es richtig viel zu erleben: Jede Menge skurriler Verdächtiger. Spannende Mörderfakten. Ravins Kindheitstrauma. Und sogar ein bisschen Fanservice. Meine Lieblingsszene ist die mit D und Dan, aber es hat allgemein so viel Spaß gemacht, aus diesen Perspektiven von Ronin und D zu schreiben. Ich hoffe, dass ihr beim Lesen genauso viel Spaß habt, und vielleicht weiß ja schon jemand, wer der Mörder ist? Hell yeah!
 

„Was soll das heißen, sie ist weg?“, fragte Ravin und bedachte D mit einem Blick, der diesen knapp einen halben Meter vor ihm zurückweichen ließ.

„Was wohl?“, erklärte er dann aus diesem sicheren Abstand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dass sie eben nicht da ist. Weg. Was soll ich dazu noch sagen?“

„Beispielsweise, wann du sie das letzte Mal gesehen hast, wo sie zu diesem Zeitpunkt hingehen wollte, dein Alibi, die üblichen Verdächtigen… hast du noch nie einen Krimi gesehen, D? Du enttäuscht mich!“ Ronin grinste und nahm einen tiefen Schluck aus seiner rosafarbenen Kaffeetasse. Er hatte seine Haare zu zwei Zöpfen zusammengebunden, trug einen tiefblauen Faltenrock, der in etwa auf der Hälfte seiner Oberschenkel endete, dazu weite Kniestrümpfe, die dekorativ ein wenig nach unten gerutscht waren und eine schneeweiße Bluse. Er saß quer auf Ds Sofa und hatte seine Beine über Ravins Oberschenkeln überschlagen, was dieser aber so gekonnt ignorierte, als ob er es gar nicht bemerken würde. Oder als ob es ihn nicht stören würde, aber da tendierte D doch entschieden zu Ersterem.

„Doch, ich habe schon Krimis gesehen, stell dir vor. Aber wohin Aya gehen wollte beziehungsweise gegangen ist, bevor sie verschwand, das müsstest du eigentlich selber wissen, das haben wir nämlich alle zusammen besprochen, und zwar genau hier, auf diesem Sofa.“

„Du meinst, zu diesen Kindern?“, fragte nun wiederum Ravin, während Ronin begann, mit einer von dessen Haarsträhnen zu spielen. „Aber das war schon vorgestern Abend.“

„Ja, stell dir vor, das weiß ich selbst! Was red ich hier denn eigentlich?! Wenn sie danach so einfach wieder aufgetaucht wäre, müsste ich ja wohl keine langen und breiten Ausführungen darüber machen, dass sie verschwunden ist!“

„Lang und breit?“, wiederholte Ronin und hob skeptisch eine Augenbraue. „Na ja. Das war nun nicht unbedingt die Art von Vortrag, für die das Wort Eloquenz erfunden wurde, aber das muss ja auch überhaupt nicht sein und viel wichtiger wäre erst einmal, ob und wann sie das Haus dieser Zwillinge wieder verlassen hat, also nur für den Fall, dass du etwas darüber weißt, falls nicht, dann solltest du aber schleunigst mal bei ihnen anrufen und nachfragen und dann können wir hinterher weitersprechen.“

„Weitersprechen ist eine gute Idee“, grummelte D und ließ sich auf der Lehne von einem der unverschämt breiten, gemütlich weißen Sessel nieder. „Oder, noch besser, weitersprechen lassen, und zwar mich. Dann kann ich euch nämlich erzählen, dass ich heute natürlich schon bei diesen Kindern angerufen habe, und eines von beiden – fragt mich jetzt bitte nicht, welches! – hat mir erzählt, dass Aya nur relativ kurz bei ihnen war, dass sie dann einen Anruf erhalten hat und wieder gegangen ist. Sie wirkte scheins sehr aufgeregt und hatte… wo um alles in der Welt hast du diesen Fummel her, Ronin?! Vom letztjährigen Pädöphilenkongress?“

„Es gibt einen Pädophilenkongress? Wo?!“ Auf Ronins totenbleichem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. „Das hat zwar jetzt eigentlich nichts mit dem Thema zu tun und wir sollten wohl auch nicht unbedingt hier sitzen und reden, während Aya vielleicht gerade irgendwo zwischen zwei Vorgärten das Gehirn aus dem Kopf gesägt wird, aber ist das nicht wirklich unheimlich süß?“

„Ja, klar, das muss ich mir unbedingt auch kaufen.“ D grinste geschmerzt und ließ sich über die Lehne hinab auf das Sitzpolster des Sessels rutschen. „Aber… um zum eigentlichen Thema zurückzukommen, meint ihr echt, sie wurde… ich meine… glaubt ihr… sie wird aber schon noch leben, oder?“

„Du machst dir ja Sorgen, D!“

„Sie war der coolste Boss, den ich jemals hatte! Und außerdem sollten wir jetzt langsam mal einen Schlachtplan entwerfen, sonst sitzen wir morgen immer noch hier.“

„Schon verstanden“, flötete Ronin, ließ endlich von Ravins Haarsträhne ab und nahm stattdessen seine rechte Hand zwischen die eigenen. „Aber gut, wir haben sieben Menschen, davon leben in zwei Haushalten jeweils zwei beisammen, nämlich einmal die Zwillinge und einmal diese Lavinia mit ihrer Mutter, außerdem wären da noch der Lehrer Isamiya, eine Hausfrau namens Minnette Mulligan und der Supermarktbesitzer Dan, das sind fünf Häuser, die lassen sich ergo nicht so gut untereinander aufteilen, weil wir ja praktisch zu zweit sind, also eigentlich zu dritt, aber ich will unbedingt mit Ravin zusammen gehen!“

„Das… ist vielleicht auch besser so“, nickte D und fuhr dann hastig fort, als ihn erneut ein unbeschreiblich kalter Blick aus Richtung Ravin traf: „Also, ich will unbedingt zu Isamiya. Und ich gehe nicht zu dieser alten Frau, um das gleich schon mal klarzustellen. Das geht es ums Prinzip. Das ist was Persönliches.“

„Ich weiß schon“, lächelte Ronin und zwinkerte dem Schwarzhaarigen verschwörerisch zu, „und ich habe auch gar nichts dagegen, zu ihr zu gehen, sie klang eigentlich ganz lustig, so von dem her, was wir über sie gelesen haben, und ich würde gerne diese Kinder besuchen, die sind auch toll, wie in einem Horrorfilm, so lustige kleine Psychokinder, die mag ich.“

„Dann will ich noch in den Supermarkt!“, grinste D, und unweigerlich blitzten seine dunklen Augen auf. „Vielleicht besticht mich ja der nette Verkäufer mit ein paar Lebensmitteln. Und Alkohol. Und Drogen. Und Erotikfilmen. Und Sportgleitern.“

„Bring mir Süßigkeiten mit!“, strahlte Ronin zurück. Ravin verdrehte die Augen, sagte aber nichts dazu. „Und Drogen! Und Erotikfilme! Und Sportgleiter! Ach, und… wenn du zu Isamiya gehst, solltest du auch zu Lavinia gehen, die zwei gehören immerhin irgendwie zusammen.“

„Warum muss ich drei Sachen machen und ihr seid zu zweit?!“

„Eben deshalb. Du bist allein, du hast ja nichts zu tun so den ganzen Tag lang. Und außerdem sind wir hübscher als du, also haben wir schon aus Prinzip Recht.“

„Was für eine Logik!“, grummelte D und verschränkte die Arme vor der Brust. Ronin schenkte dem jedoch keine weitere Beachtung, sondern schwang seine Beine zurück auf den Boden der Tatsachen – beziehungsweise ihres schicken Einfamilienhauses – und zog Ravin an der Hand, an der er ihn praktischerweise immer noch hielt, mit spielerischer Leichtigkeit auf die Füße. Was natürlich in erster Linie daran lag, dass dieser keinerlei Gegenwehr leistete, sondern wahrscheinlich sogar sowieso gerade hatte aufstehen wollen. Weshalb die ganze Szenerie aber nicht weniger absurd erschien.

„Wir treffen uns dann bei uns, wenn wir fertig sind, also wenn wir einfach nur fertig sind und sich nichts ergeben hat, was ich nicht hoffen will, ansonsten kommunizieren wir eben noch miteinander.“

D nickte, aber Ronin sah ihn schon gar nicht mehr richtig an, sondern hatte sich bei Ravin eingehakt und schlenderte gemeinsam mit ihm durch die unendlichen Weiten des Wohnzimmers in Richtung Eingangsflur. Begleitet von einem leisen Seufzer quälte sich auch D wieder aus seiner merkwürdigen Sitzposition hervor und suchte nach seinen Portable Transmitter. Nun, da er wieder allein war, fühlte er sich seltsam… ernüchtert. Die Luft war stickig geworden, hinter seiner Stirn lag ein leichter Druck, und die Größe des Zimmers wirkte paradoxerweise eher beklemmend, erdrückend.

D war ein bisschen froh, dass er es sowieso eilig hatte, das Haus zu verlassen.
 

Es war wieder ein sonniger Tag, was D nicht unbedingt überraschte – der strahlend blaue Himmel passte zu dem makellosen Weiß der Vorstadtsiedlung wie ein maßgeschneiderter Anzug, und auch wenn das natürlich weltfremd war, so konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass es hier überhaupt so etwas wie schlechtes Wetter gab. Dabei sprachen die Temperaturen eigentlich eine andere Sprache. Natürlich war es warm, aber eben fast ein bisschen zu warm, auf eine feuchte, schwere Art und Weise, die doch stark nach einem nahenden Gewitter roch. Am Himmel war trotzdem kein einziges Wölkchen zu sehen. Offenbar waren die menschlichen Bewohner von Merrywood Ville nicht die Einzigen, denen der schöne Schein über alles ging.

D schlenderte den auslandenden Gehweg hinab, und schon nach wenigen Minuten war seine Haut von einem unangenehm klebrigen Film bedeckt. Es war kein Wetter, das zu Bewegung im Freien einlud, und so entschied er sich spontan, dem nächstgelegenen Ziel auch den ersten Besuch abzustatten. Er folgte der Straße, bog zweimal ab und erreichte schließlich eine große Kreuzung, deren Häuser sich angenehm von dem Einheitsbild der Wohnsiedlung abhoben. Es gab reizende kleine Geschäfte mit ausladenden Schaufenstern und altmodischen Aushängeschildern, aber auch ein verhältnismäßig großes Gebäude in Form eines Ls, mit einem vollkommen verlassenen Parkplatz und hohen Schiebetüren aus Glas. Hinter den von grellen Buchstaben gezierten Scheiben, die von Kundenfreundlichkeit und einer besonders großen Auswahl bei besonders kleinen Preisen schwärmten, herrschte tiefe Schwärze.

Hier war niemand, der hätte einkaufen müssen. Das Rad des Alltags stand still, ebenso wie die silbernen Skelette der Einkaufswägen, die sich direkt neben den Eingang unter ein gewölbtes Plastikdach drängten. D hatte im echten Leben noch niemals Einkaufswägen gesehen, weil… ja, weil es auf Attraya eben einfach andere Mittel und Wege gab, um einzukaufen. Hier wirkten sie jedoch keineswegs fehl am Platz. Und sie waren nicht einmal aneinander gebunden oder sonst wie vor einem möglichen Diebstahl gesichert. Es war eben doch eine andere Welt, zweifellos, und D war sich nicht ganz sicher, ob sie ihm gefiel, weil ihm bei aller Schönheit irgendetwas… falsch erschien.

Aber vielleicht lag das ja auch nur daran, dass hinter einem dieser makellos weißen Gartenzäune ein blutrünstiger Psychopath hauste, der unschuldigen Wissenschaftlern das Gehirn aus dem Körper schnitt.

Unschuldige Wissenschaftler?, dachte D noch im nächsten Augenblick mit einem unbeschreiblich zynischen Grinsen, das außer ihm selbst leider niemand bewundern konnte. Aber natürlich. Und als nächstes tat sich dann der Boden vor seinen Füßen auf und heraus kamen die apokalyptischen Gleiter in Gestalt der Miss EyeCandy7000 von Februar, Juli, August und Oktober, um ihm mit Pauken und Trompeten oder von ihm aus auch mit Tuten und Blasen von einer verflucht heißen Apokalypse kundzutun. Hell yeah!

Er strich sich mit einer Hand durch sein kurzes schwarzes Haar und lachte leise, während er das bislang exotischste Gebäude dieses eintönigen Wohnparadieses umrundete, bis er eine Treppe aus abgenutztem Blech erreichte, die zu einer schmucklosen dunklen Tür hinaufführte. Wie ein großer Schmutzfleck prangte sie auf der homogenen hellgelben Fläche der längsten Seitenwand. Es gab ansonsten nichts, was die wohl als sonnig gedachte, bei näherer Betrachtung aber doch eher fahl wirkende Farbverschwendung in ihrer Einheitlichkeit störte – keine Fenster, keine weiteren Türen, eben einfach überhaupt nichts. Und dies war noch etwas, das D ganz und gar nicht gefiel. Zugegeben – sein Junggesellenappartement hatte auch nicht gerade das Zeug dazu, für die wohntechnischen Modetrends der kommenden Sommersaison Modell zu stehen, aber immerhin gab es dort Mittel und Wege, wenigstens ein kleines bisschen Licht ins Wohnungsinnere zu lassen. Und wenn es sich bei diesem Mittel und Weg auch nur um ein vollkommen schmuckloses Viereck aus Glas handelte, das schon seit etlichen Monaten keinen Putzlappen mehr aus der Nähe… oder auch aus der Ferne gesehen hatte. Von Staub und Schlieren getrübte Helligkeit war immer noch besser als gar nichts.

Mit einem leidlich aufmunternden Pfeifen quälte sich D die Stufen hinauf und drückte dann ohne lange Umschweife auf die naturweiße Klingel, aus deren kleinem Knopf links oben schon ein Stückchen Plastik herausgebrochen war. Es stand kein Name darunter, aber das wäre ja sowieso nur der Form halber nötig gewesen, immerhin wusste D spätestens seit dem vergangenen Abend vermutlich mehr über den Bewohner jener seltsamen Behausung als dieser selbst. Und vermutlich auch mehr, als dieser jemals wissen wollte. Er erkannte das kantige, mit einem pechschwarzen Dreitagebart bewehrte Gesicht des Mannes Ende Vierzig sofort, das im Ganzen in etwa so wirkte, als ob man seine mittlere Achse nach Rechts verschoben und dann noch ein bisschen gekippt hätte. Die Nase war knollig und behaart und stand in einem eigentümlichen Winkel zur Seite weg. Eines der beiden Augen war ihr näher als das andere und hatte obendrein ein hängendes Lid. Und auch der linke Mundwinkel hing hinab, während der rechte unentwegt nach oben zuckte.

Eine Gaunervisage par Excellence, dachte D amüsiert, aber auch mit einer leisen Spur des Bedauerns, weil dieser arme Mann ja eigentlich gar nichts dafür konnte. Seine Gene hatten sich einfach einen kleinen Spaß erlauben wollen, dabei handelte es sich hier doch nur um einen ewigen Single mit schütterem Haar und einem langweiligen Job, dessen bester Freund der Fernseher und der Flaschenöffner waren. Er hatte die Tür auch nicht ganz geöffnet, sodass D dahinter lediglich einen dürftigen Eindruck von einem schmucklosen Flur bekam, der nicht mehr als zwei abgewetzte Wildlederjacken, zwei leere Kästen Bier und sage und schreibe drei Paar Schuhe beheimatete – von denen allerdings zwei wiederum genau gleich aussahen, nämlich wie Turnschuhe, die wohl irgendwann einmal weiß gewesen waren. Vermutlich. Beinahe. Und vor verdammt langer Zeit.

„Häh?“, begrüßte er D dann auch genauso eloquent und höflich, wie sein verschlagener Blick bereits hatte vermuten lassen, und lehnte sich mit einem Arm an den Türrahmen. Sein graurot kariertes Holzfällerhemd wurde im Bereich der Achselhöhle von einem großen Fleck geziert. D bemühte sich um ein Lächeln, während er sich stumm und im Geiste fragte, wie viele Klischees ein einziger Mensch eigentlich bedienen konnte. Im Hintergrund ertönte leise das Summen und die etwas blecherne Tonwiedergabe eines alten IV-Gerätes, und ein Hauch von Alkoholgeruch und kaltem Rauch erfüllte die staubige Luft. Viele, schoss es D durch den Kopf, verdammt viele.

„Hallo“, begrüßte er doch wenigstens minimal wortgewandter. „Sie sind Dan Edwardson, richtig? Diese freundlichen Kinder von der Nachbarschaftshilfe haben mir von Ihnen erzählt. Wissen Sie, meine Frau und ich sind ganz neu hierher gezogen, und wir haben gar nicht erwartet, dass der Supermarkt in den Ferien geschlossen hat. Wir… wir bräuchten ein paar Sachen, das übliche eben, Zucker, Mehl, Nudeln, Gemüse, Sie wissen schon. Sie könnten nicht zufällig…“

„Meinen dicken altern Hintern von der Couch bewegen und mit Ihnen runter innen Laden gehen, richtig?“ Er bleckte seine gelblichen Zähne, die ebenfalls alles andere als gerade aus dem Zahnfleisch ragten, und verströmte dabei eine Atemwolke, die aus konzentriertem alten Zigarettenrauch zu bestehen schien. „Das woll’n se doch alle. Aber wenn Sie die Kinder kennen, isses schon in Ordnung. Die Kinder sind in Ordnung. Die plärren nich so rum wie die anderen Plagen, wissense? Habense selber schon Plagen? Nein? Dann wüssten sie’s nämlich auf jeden Fall. Alle miteinander komplett verzogen. Aber die Zwillinge, die sind schon ganz richtig. Die gießen mir immer die Blumen. Bei mir überlebt ja sonst nix. Die mögen den Rauch nich. Aber eher gehn die ein als ich. Ich geh doch nich auf Entzug für so’n bisschen Grünzeug.“

Die letzten Sätze hatte D nur noch halb verstanden, denn Dan hatte sich bereits an ihm vorbeigeschoben und die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gezogen. Er trommelte mit den Fingern auf die ID-Karte, die er in der rechten Hand hielt und die vermutlich zum Öffnen der Ladentür dienen sollte. Das Treppensteigen schien ihm Mühe zu bereiten, aber vielleicht lag das ja auch nur an der generellen Schwerfälligkeit, die seinen Bewegungen eigen war. Er sah sich nicht um, bis er vor den Schiebetüren seines kleinen Reiches angelangt war, und er brummelte weiterhin pausenlos vor sich hin. D wunderte sich ein bisschen darüber, wie ein solches Original in einer so kalten, perfektionistischen Welt wie Merrywood Ville hatte überleben können.

„So, jetzt noch mal schön der Reihe nach“, meinte Dan dann wieder zu D gewand und durchbohrte ihn förmlich mit seinem stechenden Blick. „Wie kann ich helfen?“

„Lebensmittel“, antwortete D knapp und fügte dann etwas beschämt hinzu: „Also erst mal… Zucker.“

„Zucker? Zucker? Ah, so was liebe ich!“, grummelte Dan und zog etwas fahrig die Karte durch das dafür vorgesehene Lesegerät. Ein leises Piepsen ertönte, und die Türen schoben sich wie von Zauberhand zur Seite. Dann setzte er einen seiner in hellbraunen Hausschuhen steckenden Füße auf die schwarzweißen Fließen und der Spuk ging weiter. Es surrte wieder, dann wich die allgemeine Schwärze in den heiligen Hallen des Marktes binnen weniger Sekunden einem kalten Neonlicht und es erschienen lange Reihen von einsamen Kassen und überfüllten Regalen, die in ihrer unbeachteten Üppigkeit förmlich nach ihnen zu rufen schienen. D hob anerkennend eine Augenbraue und betrat dann hinter seinem merkwürdigen Führer und Torwächter das sterile Schlaraffenland.

„Äh… wie?“, fragte er, während er sich ein bisschen wie in einen Kindheitstraum zurückversetzt fühlte. Er hatte sich damals häufig vorgestellt, wie es wohl wäre, sich einfach nach Ladenschluss in einem Kaufhaus zu verstecken und dort ganz allein eine wundersame Nacht zu verbringen. Eine Nacht, in der man die Süßigkeitenregale plündern konnte, bis einem der Bauch schmerzte, in der man Rolltreppengeländer hinunterrutschen und auf den Betten in der Möbelabteilung herumspringen konnte, eine Nacht voller Spielzeug, Comics, verrückter Fortbewegungsmittel und all der sonstigen Luxusgüter, von denen er damals kaum mehr als die unendlich süßen Namen gekannt hatte. Dieser pädagogisch wertlose Traum erschien ihm mit einem Mal wieder zum Greifen nahe. Nur ein gezielter Schlag in den Nacken von Gangstervisage, und das Paradies wäre sein. Zumindest so lange, bis der nächste Sicherheitsdienst den Trabanten erreicht hätte, um ihn dann erst einmal in weniger paradiesischen Gewahrsam zu nehmen. Eigentlich gar keine so unrentable Kosten-Nutzen-Rechnung, aber leider war da ja immer noch Aya, die gerettet werden wollte.

„War’n Sie schon mal beim Metzger und ham gesagt, sie wollen bitte einmal Fleisch? Der würd ihnen eine reinschlagen, wissen Sie, und keinen würd das wundern. Aber hier kommen sie alle und wollen Zucker. Zucker. Wenn ich das nur höre. Wir haben weißen Zucker, braunen Zucker, Traubenzucker, Zuckerersatz, drei verschiedene Arten von Süßstoffen, den CandyCandy -Superzucker, Kandiszucker, Zuckerrohr, und das alles jeweils in vier verschiedenen Größen und von fünf verschiedenen Marken. Und Sie kommen hierher und wollen Zucker. Wissense, was ich meine? Haben Sie mir überhaupt zugehört? Wer sind Sie eigentlich? Manieren scheinen Sie ja keine zu haben, was?“

„Oh… das… Entschuldigen Sie“, lächelte D, während er es langsam wagte, die nervös hochgezogenen Schultern wieder sinken zu lassen. „Ich heiße D… D… ähm… Dylan Mitsuyuki. Und ich hätte gerne einfach… normalen Zucker. Also wahrscheinlich weißen Zucker. Ganz sicher weißen Zucker. So eine mittelgroße Packung. Bitte.“

„Na also“, grunzte Dan und verzog seine schiefen Lippen zu einer Fratze, die D erst auf den dritten Blick als missglücktes Lächeln zu erkennen glaubte. Dann schlurfte er zielsicher auf eines der Regale zu. D ließ seine Blicke verstohlen über die immer noch unglaublich verlockende Warenvielfalt schweifen. Familienpackungen voller extra weichspülendem Weißwaschmittel. Paprikarote Chipseimer, die sich mit einer Hand kaum tragen ließen. Gummibärchen in mehr Farben, als D überhaupt korrekt in der vorliegenden Nuance hätte benennen können. D lächelte spontan noch ein bisschen entrückter und rieb sich die Handflächen aneinander. Welcher Vollidiot war eigentlich auf die Idee gekommen, diese prall gefüllten Wunderwelten durch dümmliche Automaten zu ersetzen, die einem die benötigten Waren langweiligerweise auch gleich noch transportfertig verpackten?

„Danke“, erwiderte er brav und nickte selig.

„Mehl wolltense auch, richtig? Weiß, medium, dunkel, fein oder grob, mit Vitaminen angereicht oder nicht, schnellbackend oder classic?“

„Auch ganz normales. Also weiß. Und Vitamine sind immer gut.“ D sah bewundernd dabei zu, wie Dan ohne zu überlegen die richtige Tüte aus dem Regal zog und ihm lieblos in die Hand drückte. Er war immer noch wie berauscht, gleichzeitig fürchtete er sich ein bisschen vor dem Nudelkauf. Es war doch in jeder Hinsicht etwas anderes, sich auf einem Touchscreen zu den Artikeln der Wahl einfach durch- und notfalls auch wieder zurückzuklicken, und, ja, es war einfacher. Und komfortabler. Aber langweilig. Es war so lange her, dass er das letzte Mal in einem richtigen Supermarkt wie diesem gewesen war – man hatte sie auf Attraya eben längst zugunsten besagter Einkaufsautomaten abgeschafft – und er musste feststellen, dass diese wirklich genauso wunderbar waren, wie er sie in Erinnerung behalten hatte.

Aber natürlich war das nicht der Grund seines Kommens. Und natürlich hatte er eigentlich andere Sorgen. Er warf seinem Spiegelbild, das ihm aus der Glasscheibe eines Kühlregals entgegenstrahlte, einen strafenden Blick zu, den dieses auch prompt erwiderte. Wer war er denn, dass er hier irgendwelchen nostalgischen Erinnerungen nachhing, während Aya vielleicht schon in handliche Einzelteile zersägt in einer dieser praktischen Frischhaltevorrichtungen den ewigen Schlaf der Gerechten schlief? Und wer war er, dass ihm immer ausgerechnet in so unpassenden Momenten wie diesen solche unsagbar makabren und vor allem unverschämt pietätlosen Gedanken in den Sinn kommen mussten?!

„Nudeln“, erinnerte ihn Dan auf seine einmalig charmante Weise an das Ziel ihres kurzen Fußmarsches durch den angenehm klimatisierten Raum, und kam vor einem Regal zum Stehen, dessen reicher Schatz an Plastik- und Kartonverpackungen D ganz entschieden überforderte. Er zog die Augenbrauen hoch und begnügte sich damit, auf einige der Nudelsorten und –größen und –farben und –marken zu zeigen, die ihm eben einfach ganz spontan sympathisch waren.

„Wirklich ein schönes Städtchen“, versuchte er währenddessen, das nicht vorhandene Gespräch in die Richtung zu lenken, in der er es eigentlich haben wollen. „Und so ruhig. Wir sind ja extra aus der Stadt weggezogen, weil uns gerade diese Ruhe so gefehlt hat. Und siehe da – es ist perfekt. Perfekter als perfekt! Hier passiert doch bestimmt nie etwas, oder?“

Dan antwortete nicht sofort, und D begann schon, sich zu fragen, ob seine Überleitung vielleicht sogar noch plumper gewesen war, als sie selbst ihm sowieso schon vorgekommen war. Dann jedoch zückte der Supermarktleiter ein letztes Nudelpaket und drückte es D nebst seiner anderen Bestellungen in die Hände. Er hatte langsam Probleme damit, noch all seine Einkäufe zu tragen, doch erstens hatte er jetzt schon begonnen, Gangstervisage in eine… na ja… Unterhaltung zu verwickeln, und außerdem wollte er sich nicht die Blöße geben, im Nachhinein noch zugeben zu müssen, dass er vielleicht doch lieber nach einem Einkaufswagen hätte fragen sollen.

„Hm“, machte Dan und zuckte wieder einmal mit dem rechten Mundwinkel. „Passt schon. Diese Ferien sin’ ein Fluch, Sie sehn es ja, aber ansonsten isses schon gut. Wird kaum geklaut so alles in allem, keine Überfälle… ja… ruhig isses. Drum bin ich ja auch hier. In deinem Alter, da konnt ich von der Stadt gar nich genug haben. Aber jetzt hab ich genug davon. Mehr als genug. Wenn du einmal eine Knarre vor der Stirn gehabt hast, lernst du das hier zu schätzen.“

„Oh, ja, das… kann ich mir vorstellen“, nickte D mitfühlend und beschloss, über seine berufliche Tätigkeit auch im Laufe des weiteren Gespräches lieber kein Wort zu verlieren. „Hier gibt es wohl nicht einmal einen Sicherheitsdienst, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier überhaupt irgendjemand eine Waffe trägt!“

Dan blickte auf. In seinem Blick lag mit einem Mal etwas unangenehm Durchdringendes, und dann wanderte seine Hand ganz langsam in Richtung seiner Hosentasche. Es war eine automatisierte Geste, von der Gangstervisage vermutlich nicht einmal bemerkte, dass er sie ausführte, aber trotzdem fragte sich D ganz plötzlich, ob er nicht vielleicht doch die falsche Frage gestellt hatte. Oder wenigstens mit den falschen Worten.

„Hm“, machte Dan dann aber nur und wandte sich mit einer mühevollen Halbdrehung von ihm ab. Dann schlurfte er weiter in eine Richtung, in der D die hinreißend altmodischen Kassen glaubte. Ganz sicher war er sich nicht, denn erstens war das Gebäude doch größer, als man auf den ersten Blick vermuten konnte, und zweitens hatte D auch nicht unbedingt auf den Weg an sich geachtet. „Es gibt den Sicherheitsdienst von Ecliptica, der is ja recht schnell hier“, fuhr Dan dann brummelnd fort, als D schon gar nicht mehr damit rechnete. „Aber brauchen tut den keiner. Hier wohnen keine Verbrecher. Höchstens ein paar Familienväter, die bei der Steuererklärung was in die eigene Tasche schustern.“

„Keine Verbrecher?“, hakte D so beiläufig und unauffällig nach, wie er eben konnte. Durch Dans rechte Schulter lief ein Zucken und er gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das in etwa dem Knurren eines größeren Hundes glich. D wertete es mit ein bisschen Fantasie als Zustimmung und rang sich ein Lächeln ab. „Wirklich keine? Das… ist ja wundervoll!“

„Ja, ganz wundervoll“, grunzte Dan und wies D mit einer Handbewegung an, die Waren auf das schwarze Kassenband zu legen, das sie mittlerweile wieder erreicht hatten. Darin lag eine Ungeduld, die D bereits nach der kurzen Zeit, die er mit Gangstervisage verbracht hatte, als unpassend und außergewöhnlich empfand. Na schön, der Supermarktbesitzer sah vielleicht aus wie ein Gangster, aber sein Bewegungsablauf, seine Mimik, Gestik und Stimme ließen eher darauf schließen, dass das Einzige, was er jemals gestohlen hatte, die Trägheit der halben Trabantenbevölkerung gewesen war.

„Und jetzt?“, fragte D, während er in den Untiefen seiner Hosentasche nach der Geldkarte suchte, die er wenig achtsam einfach eingesteckt hatte.

„Zahltag“, knurrte Dan und platzierte geräuschvoll ein Kartenlesegerät auf dem Verkaufstisch neben dem Fließband. D war sich nicht ganz sicher, woher er es so plötzlich hervorgezaubert hatte, aber das schmierige Grinsen, mit dem er seine gelblichweißen Zähne bleckte, ließ ihm jede Frage diesbezüglich oder bezüglich überhaupt irgendetwas im Halse stecken bleiben. „Ich hoff ja für Sie, dass Sie ordentlich Zaster dabeihaben. Sonst kann ich Ihnen mal zeigen, wie schnell die Sicherheitskräfte hier sein können, wissense?“

Und dies war – abgesehen von ein Paar kaum mehr verständlichen Abschiedsworten – das Letzte, was D von ihm zu hören bekam, bevor Dan ihn hektisch nach draußen winkte, die Ladentüren hinter sich verschloss und dann leise brummelnd wieder in seinem fensterlosen Wohnalptraum verschwand. Der Schwarzhaarige blieb zwischen Einkaufswägen und Parkplatzmarkierungen allein zurück, die Arme voller Lebensmittel, die er kaum mehr tragen konnte, und mit dem unguten Gefühl in der Magengegend, dass er in den vergangenen Minuten irgendetwas Bedeutsames gehört oder gesehen hatte.

Er hatte nur leider nicht auch nur den Hauch einer Ahnung, um was es sich dabei handelte.
 

Das kleine Rädchen drehte und drehte sich und verursachte dabei ein surrendes Geräusch, begleitet von dem leisen Scharren millimeterlanger Krallen auf dem roten Plastik. Ronin betrachtete das zugehörige Tierchen mit einem verzückten Blitzen in den roten Augen. Es war schon eine ganze Weile her, dass er das letzte Mal lebendige Tiere gesehen hatte – echte Tiere aus Fleisch und Blut, und noch dazu so viele davon auf derart engem Raum. Neben dem schwarzweißgefleckten Hamster kuschelte sich ein zweiter, ähnlich gezeichneter Fellball in die helle Streu. Daneben standen zwei Käfige mit Mäusen – in dem einen waren weiße, in dem anderen schwarze und schwarz-weiße –, außerdem wurde der große Raum von drei Hunden verschiedenster Größenordnung und einem dicken Kater bevölkert, der es sich auf der dem Garten zugewandten Fensterbank bequem gemacht hatte. Und dies war nur das Wohnzimmer.

„Ich hätte nicht gedacht, dass sie uns reinlässt“, flüsterte Ronin, was Ravin lediglich mit einem angedeuteten Schulterzucken beantwortete. „Ich meine, wie sie uns angesehen hat, als wir bei ihr geklingelt haben, und wie sie dann auch geredet hat und überhaupt, diese latente Aura der Misanthropie, die sie ja förmlich aus jeder Pore ihres Körpers zu verströmen scheint, und wie sie die Tür so ganz bewusst nur einen Spalt breit geöffnet hat, um uns auch ja zu zeigen, dass wir nicht erwünscht sind und überhaupt… ich bin überrascht. Ehrlich überrascht.“

Er strich sich mit beiden Händen seinen Faltenrock glatt, während er den Blick auf Minette Mulligans breitem Rücken ruhen ließ, der durch die Küchentür zu erkennen war. Sie öffnete ihren Kühlschrank und holte daraus eine kleine Plastikschachtel hervor, deren tiefroten breiigen Inhalt sie in einen überdimensionalen Napf entleerte. Wie auf ein stummes Kommando hin erhob sich daraufhin der ruhende Perser von seinem marmornen Thron und stolzierte gemächlich in Richtung Küche, und auch die Hunde gerieten in eine gewisse Unruhe. Eine kleine weiße Pudeldame mit üppigem Fell drehte hechelnd ihre Runden auf dem fleckig weißen Teppichboden, was Minette mit einem kurzen Blick über die Schulter quittierte, gefolgt von einem Lächeln, das aber wie jeder ihrer Gesichtsausdrücke nicht einer gewissen Feindseligkeit entbehrte. Ronin fragte sich, wie fest sich dieser negative Zug bereits in ihre Mimik eingebrannt haben musste, wenn ihn noch nicht einmal die aufrichtige Liebe zu ihren tierischen Freunden vertreiben konnte.

„Erst fressen die guten, dann die schlechten Tiere“, fügte sie hinzu, während sie einen großen Karton aus einem ihrer Schränke holte und kleine braune Ringe in einen zweiten Napf schüttete. Dann endlich zückte sie ein großes, etwas schartiges Messer und schnitt drei dünne Stücke des dunklen Kuchens ab, der neben dem Kochfeld auf einem tiefblauen Teller ruhte. Sie verteilte sie auf drei kleinere Exemplare derselben Farbe und balancierte die appetitliche Fracht mit einem Geschick ins Wohnzimmer, das Ronin ihr auf den ersten Blick überhaupt nicht zugetraut hätte.

„Oh, das ist doch kein Problem“, strahlte er ihr entgegen und nahm ihr dankbar einen der Teller aus den Händen. „Vielen Dank – ich freue mich wirklich, dass sie uns hier warten lassen. Es ist uns so peinlich, da sind wir gerade erst eingezogen, und schon vergessen wir die Keycard. Ich bin mir ja immer noch sicher, dass ich meine bei unseren Nachbarn liegen gelassen habe, wir haben ihnen mit den Kisten geholfen, also mehr mein Mann und weniger ich, ich sehe ja auch nicht unbedingt so aus wie der größte Kraftsportler aller Zeiten, aber ich habe natürlich auch hier und dort mal angepackt und ich bin ja so furchtbar vergesslich, aber…“ Er holte tief Luft und zwang sich dazu, seinen Redefluss etwas zu verlangsamen, als er sah, wie Minette kritisch eine Augenbraue anhob. „Mein Mann meint jedenfalls, das könne nicht sein, er habe die Keycard heute noch bei mir gesehen, aber seine ist auch weg und die Nachbarn sind natürlich nicht zuhause und ich bin ja so froh, dass wir von hier aus anrufen konnten, auch wenn leider niemand drangegangen ist.“

„Ja… danke“, fügte Ravin hinzu, begleitet von einem… wohl als etwas weniger negativ gedachten Gesichtsausdruck, was Minette lediglich mit einem kurzen, unwilligen Zusammenziehen ihrer formlosen Augenbrauen quittierte.

„Sparen Sie sich ihre Dankbarkeit für den Rest der Leute hier auf, die lassen sich von so was gerne einwickeln.“ Sie biss mit einem Gesichtsausdruck in ihren Kuchen, als ob sie ihm damit Schmerzen zufügen wollte. „Ich hab nix gegen Besuch, solange Sie mir die Tiere nicht verschrecken. Jetzt ist hier ja noch keiner, jetzt sieht das niemand, jetzt katapultieren Sie sich damit noch nicht ins gesellschaftliche Aus.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Ronin mit großen Unschuldsaugen und nahm einen Biss von seinem Kuchenstück. Er schmeckte eigenartig, mit Gewürzen, die er nicht kannte und die er eigentlich auch gar nicht hätte kennen müssen, aber er sah es doch als taktisch klüger an, sich davon lieber nichts anmerken zu lassen. „Ist es denn keine nette Nachbarschaft?“

„Zu Ihnen bestimmt“, antwortete Minette und schüttelte ihren Kopf samt dem zugehörigem Haarnest. Ronin fragte sich im Stillen, ob sie diese Frisur vielleicht nur deshalb trug, um ab und an ein paar mutterlose Vogelkinder darin großzuzuiehen. Möglich war immerhin alles, und was wusste er denn schon von Tierliebe? „Sie sind verheiratet. Sie passen hierher… mehr oder weniger. Meine Partner sind die Tiere, und das passt denen nicht. Aber denen passt Vieles nicht. Sie natürlich schon, solange sie weiter so nett und so reizend sind.“

„Ich finde Sie aber auch nett“, gab Ronin mit einem hinreißenden Lächeln auf den Lippen zurück. „Immerhin haben Sie uns geholfen, und jetzt bieten Sie uns auch noch Kuchen an. Er ist übrigens wirklich lecker.“

„Ja, ja, ich wusste, dass Sie das sagen würden.“

„Nein, im Ernst“, versicherte der Weißhaarige. „Und mich freut das so besonders, weil bis jetzt wirklich alles schief gegangen ist. Das Haus ist natürlich wunderschön, aber es gibt Probleme mit der Lieferung unserer Möbel, wir verlieren den Schlüssel, und jetzt raten Sie mal, was das Erste ist, das wir hören, als wir hier ankommen: Es soll angeblich Morde gegeben haben! Ja, sogar gleich mehrere. Ist das denn wirklich wahr? Wir sind eigentlich extra hierher gezogen, weil wir uns ein bisschen mehr Ruhe gewünscht haben.“

Minette durchbohrte Ronin mit einem kurzen, aber umso schärferen Blick aus ihren hellen Augen. Dann aber deutete sie ein Kopfschütteln an, gefolgt von einem so gehässigen Auflachen, dass es selbst dem Weißhaarigen einen Schauer über den Rücken jagte.

„Das hat also tatsächlich die Runde gemacht? Hätte ich gar nicht gedacht. Sonst sind sie doch so gut darin, jedes noch so kleinen Staubkörnchen, das sich eines Tages auf ihrer blütenweißen Weste wiederfinden könnte, schleunigst unter den nächsten Teppich zu kehren. Aber ja, es ist hier zu… gewissen Zwischenfällen gekommen. Morde, wenn Sie es so nennen wollen. Für mich ist das Mord, was sie in den Gefriertruhen im Supermarkt verkaufen! Aber Sie haben nichts zu befürchten, keine Sorge. Es hat niemals Menschen von hier getroffen, immer nur Besucher.“

„Nur Besucher?“, hakte Ronin nach, und es fiel ihm nicht schwer, einen kindlich-faszinierten Tonfall anzuschlagen. Denn, mal ehrlich, was war unverdächtiger als ein bisschen gesunde Sensationsgier? „Oh je. Klingt ja nicht so, als wäre man hier besonders gastfreundlich.“

Ein kehliges Lachen drang über Minettes farblose Lippen, das aber überraschenderweise nicht einmal zynisch, sondern tatsächlich ehrlich klang. Boshaft, ganz ohne jeden Zweifel. Aber boshaft ehrlich. Oder ehrlich boshaft. Oder wie auch immer.

„Gastfreundlich? Nein… nein, ganz bestimmt nicht. Es ist wie ein in sich geschlossenes Ökosystem, das keine Eindringlinge duldet. Schon gar nicht solche. Es waren Menschen aus der Stadt, Wissenschaftler. Nicht schade drum, wenn Sie mich fragen.“

„Sie mögen keine Wissenschaftler?“, fragte Ronin und machte große Augen. Er war schon immer gut darin gewesen, sich dumm zu stellen. Es gab genügend Männer, die das mochten. „Wieso denn? Ich… kenne mich da nicht so aus, ich meine, ich habe nicht viel mit Wissenschaftlern zu tun, wann auch, ich arbeite seit unserer Hochzeit nicht mehr und wenn, dann würde ich bestimmt nicht mit Krankheiten und langweiligen Schrauben und so was rumarbeiten wollen, ich bin einfach lieber mit Menschen zusammen, aber… oh, es tut mir leid, ich rede manchmal ein bisschen viel, glaube ich.“

„Ja“, knurrte Minette und bleckte die Zähne. Es sollte wohl eine abfällige Gesichtsregung sein, aber in ihr lag tatsächlich etwas Animalisches. Wäre dies hier nicht das wahre Leben, sondern ein Märchen gewesen, dann hätte Minette wohl die Rolle des großen bösen Wolfes übernommen, der in seiner Freizeit kleine Kinder fraß. Oder die Gehirne von Wissenschaftlern. Und es war ein Wolf, der auf Verkleiden und auf Heucheln keine Lust hatte. Vielleicht war er ja deshalb so frustriert und verbittert, weil er mangels Schafspelz und Engelszunge einfach keinen so großen Jagderfolg zu verzeichnen hatte wie herkömmliche Wölfe. Armer Wolf!

„Was ich damit sagen wollte, ist, dass ich überhaupt keine Wissenschaftler kenne. Mir tut das auch nicht leid. Ich finde, das ist nicht so ganz richtig, was die manchmal machen. Es ist schon gut, wenn es neue Medikamente gibt, oder neue Haushaltsgeräte und so etwas, aber das ist ja nicht alles, glaube ich. Was man da nicht alles hört, vor allem im IV.“

Minette kniff eines ihrer Augen zusammen und musterte Ronin etwa eine halbe Minute lang schweigend – mindestens eine halbe Minute lang! Er verstand nicht ganz, was sie mit diesem Blick bewirken wollte, ob er zu seiner Einschüchterung gedacht war oder ob ihr einfach die Worte fehlten, ob ihr sein unglaublich niedliches Röckchen nicht gefiel oder ob sie ihm die Dummchennummer nicht abkaufte (womit sie übrigens die Erste gewesen wäre!), aber dann folgte auf das kryptische Starren ein kehliges Lachen und darauf wiederum Worte, die endlich Licht ins Dunkel brachten:

„Ach, Wissenschaftler mögen Sie nicht so sehr, weil die ja manchmal ganz böse Sachen machen“, meinte sie spöttisch und sehr, sehr boshaft, „aber was die erfinden, das ist schon ganz toll. Wie ich sehe. Sie scheinen ja in jeder Hinsicht von den Produkten dieser kranken Hirne angetan zu sein.“

Und bei diesen Worten fixierte sie Ravin. Das Lächeln auf Ronins Gesicht gefror.

„Was wollen Sie damit sagen?“, hakte er nach, obwohl er sich den Rest eigentlich denken konnte, und sparte sich bei diesen Worten sogar die dümmliche Euphorie, die er die ganze Zeit über in seine Stimme gelegt hatte.

„Oh, gar nichts“, erwiderte sie mit einem so süßlichen Sarkasmus, dass es weh tat. „Im Gegenteil. Sie haben sich gefragt, warum ich Wissenschaftler nicht abkann? Genau da sehen Sie, warum ich Wissenschaftler nicht abkann. So etwas kann nur der Mensch fertig bringen. Da vergöttert er sein eigenes Abbild so sehr, dass er seelenlose Puppen erschafft, um ihnen das Gesicht seines idealisierten Spiegelbildes zu geben. Keinem Tier würde es einfallen, Gott zu spielen!“

„Kein anderes… Tier, wie Sie es nennen, ist dazu fähig, Gott zu spielen. Ich glaube eher, dass dort das Problem liegt“, antwortete zu Ronins Überraschung nicht er selbst, sondern Ravin. Sein makelloses Gesicht war so kalt wie immer, aber Ronin entging es nicht, dass sich die Finger seiner rechten Hand – und zwar nur die der rechten – um den Stoff eines Sofakissens geschlossen hatten, dessen dunkelblaue Farbe vor lauter Haaren kaum mehr zu erkennen war. Minette konnte das freilich nicht bemerken, weil sie sich erst gar nicht dazu herabließ, Ravin anzusehen.

In diesem Moment begriff Ronin genau zwei Dinge: Dass Minette keineswegs die ältliche, ungebildete Hausfrau war, als die sie sich der Welt präsentierte. Und dass er sie so sehr verachtete, wie er einen Menschen überhaupt nur verachten konnte. Er löste vorsichtig Ravins Finger von dem Kissen und nahm seine Hand stattdessen demonstrativ in die eigene.

„Haben Sie ein Problem damit, dass mein Mann ein Cyborg ist?“, fragte er dann ganz ruhig. Er wusste, dass seine Stimme und überhaupt er selbst nicht gerade zu dem Zweck geschaffen waren, bedrohlich zu klingen beziehungsweise zu wirken, aber einen Versuch war es immerhin wert.

„Muss ja jeder selber wissen, welche Art von Gesellschaft er bevorzugt“, entgegnete Minette ungerührt. „Hier werden Sie damit wenigstens nicht anecken. Er ist ja wie gemacht für diese ganze oberflächliche Perfektion. Was für eine schöne neue Welt das doch ist!“

Nun war es Ronin, der Minette wortlos anstarrte, bis er fast schon glaubte, geradewegs durch sie hindurchsehen zu können. Als er dann weitersprach, war er selbst ein bisschen erstaunt darüber, wie kalt seine Stimme klang. Und es freute ihn auch, ziemlich sogar, aber das ließ er sich natürlich nicht anmerken.

„Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum die Menschen hier Sie nicht leiden können. Und Sie verstehe ich auch ein bisschen. Wenn alle Menschen so wären wie Sie, dann würde ich auch nichts mehr mit der Menschheit zu tun haben wollen. Sie sitzen hier und nennen meinen Mann eine seelenlose Puppe, und dann wundern Sie sich, warum Ihnen jeder aus dem Weg geht? Das ist ziemlich dumm, finde ich. Dabei ist er in jeder Hinsicht ein besserer Mensch als Sie, und wahrscheinlich darf man wirklich nicht intelligenter sein als ein Hund, um es mit Ihnen auszuhalten. Vielen Dank, dass wir von hier aus anrufen durften, und für den Kuchen, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.“

Er wollte gerade aufstehen, als er Minettes abfällig verzogenen Mund und ihre erhobene Augenbraue bemerkte, und da besann er sich spontan eines Besseren. Genauer gesagt: Er erhob sich schon, aber eben nicht ganz, sondern nur gerade so weit, dass er ein Bein über Ravins Knie schwingen konnte. Dann ließ er sich auf dessen Schoß sinken. Legte beide Arme um seinen Hals. Und küsste ihn, so lange und so ausgiebig, wie er es seit… seit etwa sechsunddreißig Stunden nicht mehr getan hatte. Was für seine Verhältnisse übrigens eine wirklich lange Zeit war.

Ronin spürte, wie Ravin leicht zusammenzuckte und sich anspannte, aber er ließ trotzdem nicht von ihm ab, sondern nahm ganz einfach dessen Hände und platzierte sie auf seinem Rücken. Er vergrub seine Finger in Ravins langen weißen Haaren, die so unglaublich seidig waren, dass ihm allein bei der Berührung ein kurzer, wohliger Schauer über den Körper lief. Und dann mischte sich in diese dezent erregte Schadenfreude und die zahlreichen anderen – nun wieder überwiegend positiven Gefühle in Ronins Inneren noch etwas anderes, nämlich Überraschung, als er bemerkte, dass Ravin offenbar sehr wohl verstand, worauf er hinauswollte. Wenigstens zur Hälfte.

Und als er dann auch noch mitmachte.

Natürlich wusste Ronin schon lange, dass Cyborgs einfache Bewegungsabläufe bereits nach kurzer Zeit detailgetreu reproduzieren konnten, aber es war doch immer etwas anderes, diese Lehrbuchfakten dann auch höchstpersönlich demonstriert zu bekommen. Und wie! Ravins Lippen waren ganz unglaublich zart, und es hatte beinahe schon etwas Unwirkliches, mit den Fingerspitzen über die vollkommen makellose Haut in dessen Nacken und an seiner Wange zu streichen. Ronin beschloss spontan, noch ein paar Momente länger auf Ravins Schoß zu verbringen, und als er dann doch wieder von ihm abließ, lag auf seinen Lippen ein sogar überaus ehrliches Lächeln.

„Auf Wiedersehen“, strahlte er in Minettes erstarrtes Gesicht. Dann nahm er Ravins Hand und verließ gemeinsam mit ihm das Haus. Und den Garten. Überhaupt blieb er erst stehen, als sie einen gewissen Sicherheitsabstand zu Minettes privatem Tierheim gewonnen hatten, atmete tief durch und lehnte sich gegen den nächstbesten Gartenzaun, der mit seinem besonders weißen Weiß aber auch einfach dazu einlud. Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und betrachtete den Himmel, der ihm deutlich weniger blau vorkam als am vorigen Tag. Es war schon faszinierend, was so ein paar fedrig-zerrissene Wolkenschleier ausmachen konnten.

„Ich hätte sie töten sollen“, seufzte er dann und schenkte Ravin ein leises, bedauerndes Lächeln. Der betrachtete ihn nur mit seinen eisblauen Augen, in denen sich wieder einmal überhaupt nichts lesen ließ, und deutete ein Schulterzucken an.

„Dann hätten wir immerhin in aller Ruhe ihr Haus durchsuchen können.“

„So was kannst aber auch wirklich nur du sagen“, grinste Ronin und schenkte seinem Teilzeitehemann ein flüchtiges Augenzwinkern. „Und es dann vor allem auch noch so meinen.“

„Ich halte sie jedenfalls für verdächtig. Ganz anders scheint es dir ja auch nicht zu gehen.“ Er ließ seinen kalten Blick über den gegenüberliegenden Vorgarten streifen, der sich in erster Linie dadurch auszeichnete, dass er sich durch wirklich überhaupt nichts auszeichnete. Der Rasen war kurz gestutzt, das Blumenbeet ebenso ordentlich wie langweilig, es gab noch nicht einmal einen einzigen Gartenzwerg. Aber einen Rasensprinkler. Und das war ja immerhin etwas. „Ich habe nicht gedacht, dass du so wütend werden kannst“, fuhr er dann fort und sah Ronin von der Seite her an.

„Wütend? Das nennst du wütend?“ Ronin bleckte die Zähne. „Ich… ich kann so etwas einfach nicht hören, dieses Gerede über richtige und falsche Menschen und dass die einen so viel besser seien als die anderen, wobei für die ja eigentlich alle Menschen falsch fand, aber dann ein Vorurteil nach dem anderen, oh, und Cyborgs sind ja auch überhaupt keine richtigen Menschen, nein, natürlich nicht, und sie ist sowieso die einzige aufrechte Kreatur auf diesem ganzen Trabanten und im ganzen Universum, von ihren Tieren mal abgesehen, und so was macht mich einfach krank, da kriege ich Klauen und Zähne und Tentakel und Augen in den Schultern und was nicht alles und… und… ja, und ich werde wütend. Und dass ich sie verdächtig finde, stimmt auch. Hast du gesehen, was sie ihren Katzen zu fressen gegeben hat?“

„Gesehen ja, aber ich habe es nicht erkannt.“

„Ich doch auch nicht“, winkte Ronin ab und zuckte mit den Schultern. „Aber es war rot und es sah widerlich aus. Und sie weiß von den Morden. Eigentlich glaube ich gar nicht, dass sie’s war. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube es nicht. Wir sollten trotzdem ihr Haus durchsuchen.“

„Das können wir heute Nacht machen. Ich würde sowieso alle Häuser durchsuchen, in denen Verdächtige wohnen. Das erscheint mir am effektivsten.“

„Na, wenn du dir zutraust, ein paar Wachhunde außer Gefecht zu setzen…“

„Ist das eine Frage?“, erwiderte Ravin auf seine unnachahmlich emotionslose, ungerührte Weise, und wieder musste Ronin lachen.

„Nein, eigentlich nicht. Und jetzt gehen wir zu den lustigen Kindern, bevor für die noch Schlafenszeit ist.“

Er zwinkerte Ravin bei diesen Worten noch einmal zu, dann nahm er ein weiteres Mal seine Hand und schlenderte die schnurgerade Straße hinab.
 

Als D das Wohnzimmer betrat, war er zuerst überrascht. Dann ein bisschen enttäuscht. Und schließlich kam er sich reichlich naiv vor, dass er tatsächlich von einer Wohnzimmereinrichtung auf die Brillanz des zugehörigen Hauseigentümers schließen wollte. Oder umgekehrt. Was hatte er denn erwartet? Einen Banner über der Eingangstür, auf dem mit großen roten Buchstaben Hacker des Jahres 7394 geschrieben stand? Fünfunddreißig Computer, die keinen Platz mehr für Tische oder Stühle ließen? Eine versiffte Junggesellenbude, die ja auch perfekt in dieses vorstädtische Ambiente gepasst hätte?

Nein… was er hier sah, hatte mit einer Junggesellenbude rein gar nichts gemeinsam, und was diesen Punkt anbelangte, sprach D ja nun wirklich aus Erfahrung. Der Teppichboden war kurz und cremefarben, was perfekt zu der naturweißen Sitzgarnitur passte, auf der sie sich nun auch niedergelassen hatten. Die Möbel bestanden aus glänzendem, mittelbraunem Holz und waren eher schlicht, strahlten aufgrund ihrer Farbe aber doch eine heimelige Wärme aus. Auf dem Sims des hellen Kamins in eleganter Marmoroptik standen Fotos, wobei ganz ähnliche auch die weißen Wände zierten. Sie zeigten einen Mann – offensichtlich Isamiya, allerdings in etwas jüngerer Ausführung – und eine sogar noch jüngere Frau mit langem blondem Haar. Im ersten Moment fragte sich D, ob es sich dabei nicht sogar um Lavinia handelte, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie so jung nun auch wieder nicht war. Dafür aber umso hübscher, und im Gegensatz zu der prinzessinnenhaften Lolita keine kühle, sondern eine warme, natürliche Schönheit.

D nahm einen Schluck von dem Kaffee, den Isamiya ihm freundlicherweise angeboten hatte, und ließ seinen Blick über die Bilder streifen. Natürlich. Er hatte von dieser jungen Frau gelesen. Er wusste, wer sie war und warum sie ihn jetzt nicht mehr willkommen heißen konnte. Er betrachtete ihren schönen Körper in einem türkisfarbenen Bikini am Strand, das blonde Haar mit einem Stirnband zurückgebunden, lächelnd, und in diesem Moment fiel ihm auf, wie viel er eigentlich von seinem Gegenüber wusste, ohne kaum ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Es war schon eine merkwürdige Situation.

„Ihnen ist also ihre Frau abhanden gekommen“, griff Isamiya das Gespräch wieder auf, das ganz lapidar an der Tür begonnen hatte und dann eingeschlafen war, als der Lehrer in der Küche verschwunden war, um Kaffee zu holen. Er stellte seine Tasse auf den breiten, aber relativ niedrigen Tisch, der bereits von einem Blumenstrauß mit weißen, fransigen Blüten geschmückt wurde. D nahm noch einen kleinen Schluck von dem wunderbar aromatischen Getränk, dann tat er es seinem Gastgeber gleich.

„So kann man’s wohl nennen“, nickte er und lächelte geschmerzt. „Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt, und langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Ich kenne hier doch niemanden, und sie logischerweise auch nicht. Die Nachbarn haben sie nicht gesehen, und ansonsten findet man hier ja kaum eine Menschenseele. Den Mann vom Supermarkt habe ich auch schon gefragt – kein Ergebnis. Niemand weiß, wo sie steckt. Aber dieser Dan ist schon ein lustiger Vogel.“

„Ja, ein richtiges Original“, lächelte Isamiya zurück. „Auf Trabanten wie diesem gibt es genau zwei Arten von Menschen: Die ganz normalen und die ganz besonderen. Dazwischen ist nichts. Wahrscheinlich fühle ich mich deshalb auch so wohl hier.“

„Und zu welcher Art von Menschen zählen Sie?“, fragte D und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Isamiya lachte.

„Na, würden Sie einen Mathelehrer als besonderen Menschen bezeichnen? Eben. Und was Ihre Frau angeht… ich habe sie leider auch nicht gesehen. Sie vermissen Sie nun schon seit über einem Tag? Vielleicht sollten Sie lieber die Sicherheitskräfte auf Ecliptica anrufen.“

„Ich weiß doch“, seufzte D und hob ein wenig hilflos seine Schultern. „Wenn wir noch in Illythia leben würden, hätte ich das ja auch schon längst getan. Aber hier… es ist so ruhig hier, und hier gibt es doch auch überhaupt niemanden, der sie hätte entführen können! Ist ja kaum einer hier. Dan hat mir außerdem versichert, dass es hier überhaupt keine Verbrecher geben würde.“

„Irgendwann ist es leider immer das erste Mal. Aber es stimmt schon, die Menschen hier sind sehr friedlich… sagen wir, sie vermeiden den Ärger lieber. Haben Sie sich vielleicht mit ihr gestritten?“

„Nein… nein, überhaupt nicht. Wir saßen am Abend noch ganz entspannt vor dem IV-Gerät und haben Kuchen gegessen. Als ich am Morgen aufgewacht bin, hatte sie das Haus bereits verlassen, und dann ist sie nicht mehr wiedergekommen.“

„Hat sie nicht gesagt, wohin sie gehen wollte?“, erkundigte sich Isamiya, und er klang dabei vollkommen harmlos, unbedarft. D stellte fest, dass dieser Mensch so eine Art an sich hatte, die einfach zum Erzählen einlud. In seinem Lächeln lag eine unglaubliche Wärme, und überhaupt schien das Wort vertrauenserweckend förmlich für ihn erfunden worden zu sein. Er konnte sich vorstellen, dass Isamiya es durchaus fertig brachte, mehr als nur eine seiner Schülerinnen davon zu überzeugen, dass Integrale und Vektoren durchaus auch ihre guten Seiten hatten.

„Nein… ich hab ja noch geschlafen. Wir haben am Abend davor darüber gesprochen, was uns alles noch im Haushalt fehlt, vor allem natürlich Lebensmittel. Darum dachte ich erst, dass sie wahrscheinlich einkaufen gegangen ist.“

„Hm… oh je… das klingt tatsächlich beunruhigend.“ Isamiya verzog kurz und mitfühlend das Gesicht, ohne jedoch sein Lächeln zu verlieren. „Sie sollten wirklich Hilfe holen. Haben Sie schon einen Transmitter in ihrem Haus?“

„Ja… ja, haben wir. Ich werde dann am Besten gleich anrufen.“

Isamiya nickte zufrieden. Dann atmete er tief durch, faltete die Hände und sah D mit einem leisen Seufzen an.

„Sie sollten das wirklich tun. Obwohl ich natürlich weiß, dass Sie es nicht vorhaben. Warten Sie nur nicht zu lange. Ich bin mir nicht sicher, ob sie noch am Leben ist, aber die Chancen steigen nicht unbedingt, wenn Sie das weiter vor sich herschieben.“

D zog eine Augenbraue hoch und sah Isamiya prüfend an. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte wieder.

„Das hätte ich nicht erwartet.“

„Was?“, fragte Isamiya und nippte an seinem Kaffee. „Dass sie möglicherweise noch am Leben ist?“

„Dass Sie es so schnell aufgeben würden, mir den Ahnungslosen vorzuspielen.“ D leerte seine Tasse in einem Zug und stellte sie dann geräuschvoll auf dem Holz des Tisches ab. Isamiya lachte und strich sich durch sein schulterlanges Haar.

„Ich bin nun einmal ein guter Mensch, wissen Sie? So ein distanzierter Beobachterposten macht schon was her, aber ich bringe das einfach nicht lange übers Herz. Ich will doch nicht, dass Sie ihre Frau verlieren. Schon gar nicht, wenn sie noch dazu ihre Vorgesetzte ist.“

„Ohne pietätlos sein zu wollen, immerhin weiß ich ja, dass Sie aus Erfahrung sprechen, aber nicht jeder heiratet seine Schülerin.“

„Sieh an“, lachte Isamiya und rückte sich seine Brille zurecht. „Ich hätte es mir doch denken können. Der weiße Engel ist bekannt für seine Neugierde.“

„Hey, Sie kennen meinen Namen?“ D konnte nicht umhin, seine Lippen zu einem breiten Grinsen zu verziehen. „Ist ja cool. Ich fühle mich geschmeichelt. Ehrlich.“

„Aber natürlich kenne ich den. White Angel. INFERIAs Vollstrecker. Schon ein merkwürdiger Zufall, dass ausgerechnet Sie auf den Merrywood Killer angesetzt werden.“

„Ja, ich weiß. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, auf der Jagd nach einem Gehirnsammler den berühmten eXinfernis zu treffen. Und jetzt sagen Sie schon, wer der Mörder ist. Sie werden mir ja wohl nicht weismachen wollen, dass Sie es noch nicht wissen.“

„Ich bin kein Polizist“, entgegnete Isamiya. „Ich kenne die Hintergründe des Falles, aber ich weiß nicht, wer der Mörder ist. Wahrscheinlich weiß ich nicht einmal mehr als Sie.“

„Ich glaube Ihnen kein Wort.“

„Ich kann Sie nicht dazu zwingen. Nur bitten. Und zwar, jetzt zu gehen. Hier werden Sie nichts finden. Ich habe Sie davor gewarnt, hierher zu kommen. Ich habe es Mitsuyuki-san zweimal gesagt, aber Sie hat ja nicht hören wollen. Es musste ja so enden. Immerhin ist sie auch keine Unbekannte.“

D betrachtete Isamiyas Gesicht einige Sekunden lang. Sein unerschütterliches Lächeln. Seine blitzenden grünen Augen. Die blasse Haut. Die pechschwarzen Haare. Dann musste er sich mit einem leisen Bedauern eingestehen, dass er in all dem überhaupt nichts lesen konnte. Dafür bemühte er selbst sich um einen umso stechenderen, eindringlicheren Blick.

„Sie sind sich aber schon darüber im Klaren, dass es hier um Leben und Tod geht?“

„Ich sagte doch bereits, dass ich es nicht weiß. Und dass Sie jetzt gehen sollen.“

D hielt seinem unverändert freundlichen, warmen Blick noch ein paar trotzige Momente lang mit einer Kälte stand, die ihn selbst nicht so recht überzeugte, weil er einfach nicht für so etwas geschaffen war. Dann lächelte er wieder und erhob sich von seinem Platz auf dem Sofa.

„Vielen Dank für den Kaffee. Und dafür, dass Sie mich kennen. Das hat mir wirklich etwas bedeutet.“ Er deutete eine Verneigung an, dann schlenderte er betont gelassen in Richtung Ausgang. Dort blieb er noch einmal stehen, streckte sich und verharrte einige Sekunden lang im Rahmen der Tür, die hinaus in den Eingangsflur führte. Er zählte im Geiste bis zehn, dann befand er, dass er sich langsam ausreichend demonstrativ viel Zeit gelassen hatte und blickte über die Schulter zu Isamiya zurück. „Ach, und übrigens: Ich komme wieder.“

„Ich weiß“, sagte Isamiya lächelnd und lehnte sich ganz entspannt in seinem breiten Sessel zurück. Er sagte nichts mehr, sondern sah D nur wortlos an, und er lächelte auch dann noch, als dieser sich endlich von ihm abwandte und das Haus verließ.
 

Zwei schwarze Augen fixierten Ronins bleiches Gesicht, während die beiden anderen schwarzen Augen starr auf Ravin gerichtet waren, so als ob sie ihn damit in Schach halten könnten wie eine gezückte Waffe. Ronin konnte nicht genau sagen, wer hier nun eigentlich wen bedrohte – die beiden Zwillinge sahen sich so unverschämt ähnlich, dass ihm ganz schwindelig wurde. Was für ein morbides Klonpärchen, dachte er und lächelte noch ein bisschen entzückter. Eine Leiche kommt selten allein.

„Sie ist nicht lange hier gewesen“, erklärte dann eines der beiden Kinder und starrte Ronin eine geschlagene Minute lang an, ohne zu blinzeln. Der Weißhaarige war fasziniert. Und er musste an Ravin denken. Spontan ruckte er ein bisschen näher an seinen Nebensitzer und ließ kurz seinen Kopf gegen dessen Schulter sinken. Die Augen des Kindes folgten ihm.

„Wie lange denn so ungefähr?“, fragte er und biss sich dann auf die Zunge, um wenigstens eine kleine Sprechpause zu wahren. „Oder besser gesagt, bis wann, weil das vielleicht interessanter ist, in den Krimis fragen das die Sicherheitskräfte auch immer, wo waren Sie um diese und jene Uhrzeit, und daher ist die Uhrzeit auch so wichtig, weil man das ja sonst nicht fragen kann und dann ist die ganze Sache mit dem Alibi ja ziemlich überflüssig.“

„Etwa neuneinhalb Minuten lang“, antwortete nach wie vor dasselbe Kind. Überhaupt hatte das zweite noch nicht ein einziges Wort mit den unheimlichen Eindringlingen gewechselt. Es begnügte sich mit diesem starren, leblosen, kalten Blick, der Ronin im Gegensatz zu dem von Ravin sogar ernsthaft unheimlich war. Unheimlich auf eine irgendwie süße Art und Weise, zweifellos. Aber unheimlich. Vielleicht deshalb, weil man von so kleinen Menschen etwas so… Unmenschliches einfach nicht erwartete. „Dann ist sie rausgegangen. Sie hat mit jemandem gesprochen, am PT. Es müsste dann etwa 11.37 Uhr gewesen sein. Ich weiß das. Ich habe gezählt.“

„Wow!“ Ronin machte große Augen. „Du weißt das aber ganz genau.“

„Ja“, nickte das Kind, und ganz kurz spielte die Andeutung eines Lächelns um ihre Lippen. „Ich mache das für Mathe. Ich bin schon viel besser geworden. Ich lerne die ganzen Ferien, und ich merke mir Zahlen. Drum schau ich so oft auf die Uhr. Ich merke mir immer, was ich wann gemacht habe, und abends schreibe ich es auf. Aus dem Kopf.“

Mein bester Freund, das Mathebuch, dachte Ronin und betrachtete das Kind mitfühlend. Dann las er aber eine leise Spur von stolz in den dunklen Augen und lächelte wieder.

„Und sie hat nicht gesagt, wohin sie gegangen ist?“, fragte er. Der offensichtlich sprachbegabtere Zwilling schüttelte den Kopf und verneinte. Der andere schwieg nach wie vor.

„Ihr Nachbar sollte mal Dan vom Supermarkt fragen. Der ist nett, und der weiß immer alles.“

„Danke für den Tipp“, strahlte der Weißhaarige, hielt dann aber inne und verzog das Gesicht. „Wir haben schon jemand anderen um Hilfe gebeten, aber die war ganz furchtbar. So eine ältere Frau, die uns nur erzählt hat, wie böse Menschen sind. Die werden wir bestimmt nicht mehr besuchen!“

„Minette Mulligan!“, stellte das Kind – Ronin glaubte mittlerweile, dass es sich dabei um das Mädchen handelte – sofort fest, und ganz kurz blitzten auch ihre schwarzen Augen auf und ein leises, verschwörerisches Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Die finde ich auch ganz furchtbar. Immer spricht sie nur von ihren Tieren.“

„Aber sie ist doch nicht wirklich böse, oder?“, hakte Ronin in deutlich besorgterem Tonfall nach. „Unser Nachbar macht sich schon die größten Sorgen. Er ist ja auch gerade erst hergezogen, und dann das. Es ist doch so eine schöne Wohngegend! Gibt es denn überhaupt böse Menschen hier?“

„Minette ist böse“, bekräftigte Len – denn so schienen sich ja beide Zwillinge zu nennen – vollkommen ernsthaft. In diesen Worten fehlte jede Kindlichkeit, die ihnen etwas von ihrer Bedeutsamkeit genommen hätte, und Ronin spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. „Minette hat mal gesagt, dass sie mich tötet, wenn sie mir alleine über den Weg läuft. Weil ich der Teufel bin.“

„Der Teufel? Und das meint sie ernst?“

„Todernst“, nickte das Kind. „Sie hasst Menschen. Sie hasst alle Menschen, aber mich besonders. Weil ich Wissenschaftlerin werden möchte. Sie sagt, die Wissenschaft tötet uns. Das ist so ein Blödsinn, aber die glaubt das wirklich.“

„Aber… sie würde doch nicht ernsthaft jemanden töten?“

„Wissenschaftler schon.“

„Hm…“, machte Ronin und ließ seine Blicke über das kalte Interieur des Raumes wandern. Er fühlte sich weiterhin angestarrt, aber das hieß ja nicht, dass er pausenlos zurückstarren musste. Ein Blick konnte nicht aufspringen und einem an die Kehle gehen, nur weil man ihn mal kurz aus den Augen ließ. „Und sonst? Hier sind so wenige Menschen, das ist richtig komisch. Sind die denn wenigstens nett? Ich frag mich schon langsam, ob wir vielleicht doch besser nicht hergezogen wären.“

„Nein, nein“, beschwichtigte der Zwilling rasch, allerdings auf eine so emotionslose Weise, dass es eigentlich gar nicht beruhigend wirkte. Und auch nicht ernst gemeint. Aber Ronin erkannte die gute Absicht dahinter und rang sich ein erleichtertes Lächeln ab. „Die anderen sind schon nett. Dan schenkt uns immer was Kleines. Gerade ist auch noch ein Lehrer da, aber nicht von unserer Schule. Der ist viel netter als unsere Lehrer, den möchte ich später auch mal haben. Er hilft mir manchmal mit den Hausaufgaben. Aber nur, wenn Lavinia nicht da ist. Lavinia hält sich für was Besseres und sagt manchmal gemeine Sachen. Und ihre Mutter schaut einen immer so komisch an. Aber bald kommen ja auch wieder viel mehr Leute, und die sind auch sehr nett.“

„Dann ist ja gut. Aber… wäre es denn wirklich möglich, dass diese Minette unsere Nachbarin entführt hat?“

„Minette ist böse“, beharrte das Kind.

Und das war und blieb auch das Einzige, was es zu der Angelegenheit zu sagen hatte.
 

„Noch ein einziger Schritt, und ich rufe die Polizei!“

Das Küchenfenster war nur einen Spalt breit geöffnet, sodass die Stimme der Frau seltsam gedämpft klang. Trotzdem war diese ungute Mischung aus Empörung und unverhohlenem Zorn, die darin lag, nicht zu überhören. D konnte hinter dem Glas erkennen, dass die Frau mit der blonden Dauerwelle – Patricia Alison – die Arme vor der Brust verschränkt hatte und ihn derart feindselig fixierte, dass er aufhörte, vor dem weißen Gartentor auf- und abzugehen und resigniert vor der magischen Grenze zum Grundstück der Schülerin und ihrer Mutter stehenblieb.

„Bitte, reden Sie doch mit mir!“, seufzte er mehr, als dass er es sagte. „Ich will Ihnen wirklich nichts Böses!“

„Mir ist schon bekannt, warum sie hier sind!“, antwortete die Frau und schnaubte verächtlich. „Ich bin vor ihnen gewarnt worden!“

„Was soll denn das nun wieder heißen?!“

„Der Lehrer meiner Tochter hat mich angerufen“, entgegnete sie spitz, „und mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass Sie sich hier als Hilfspolizist betätigen!“

„Ist doch prima“, entgegnete D, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wollten Sie nicht sowieso die Polizei rufen?“

Falsche Antwort. Die Frau weitete ihre dezent geschminkten Augen und presste ihre tiefroten, akkurat geschminkten Lippen fest aufeinander, dann legte sie eine Hand an den Griff des Fensters.

„Wollen Sie mir etwa kriminelle Energien unterstellen, oder warum sind Sie hier? Ich verbitte mir derartige Verleumdungen! In diesem Haus gibt es keine Leichen. Und jetzt verschwinden Sie, sonst werde ich Konsequenzen ziehen!“

Und dann schloss sie das Fenster, was dank dessen Isolierung faktisch zwar vollkommen lautlos vonstatten ging, aber trotzdem irgendwie mit einem Knall geschah. Ihr Blick war dabei noch ungleich todbringender als der des grauenvollsten Overfiendes aus Ds liebster Hentai-Animeserie, und nach einem kurzen Moment tiefer Frustration beschloss er, dass es das definitiv wert gewesen war. Und dass sie ihn ja sowieso nicht reingelassen hätte. Und rangelassen schon gar nicht.

Er schüttelte den Kopf und musste schon wieder lächeln, als er sah, dass die Frau sich vom Fenster entfernte – offenbar den Raum verließ – und stattdessen eine andere Gestalt von woher auch immer hinter das von schlichten weißen Vorhängen gerahmte Glas trat. Es war ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren, die sie im Nacken locker zu einem Knoten zusammengebunden hatte. Einige Strähnen hingen ihr ins Gesicht und aus der Frisur hinaus, einige nasse Strähnen, da das Mädchen offenbar gerade erst geduscht hatte. Dafür sprach auch, dass sie lediglich mit einem schneeweißen Bademandel bekleidet war, der ihr obendrein noch ein, zwei Kleidergrößen zu groß war.

Sie lächelte. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie D bereits bemerkt hatte, denn sie fing ab und an wie zufällig seinen Blick auf, während sie sich auf die Arbeitsfläche neben dem Herd stemmte. Sie sah über die Schulter zu ihm, dann verengte sie die Augen und etwas in ihrem Lächeln… veränderte sich. Und zwar auf eine nicht unbedingt ganz jugendfreie Weise. Dann lachte sie kurz auf, was D freilich nur sehen, nicht hören konnte, denn die Fenster waren ja bekanntermaßen gut isoliert, und vollführte eine beiläufige Handbewegung, woraufhin ihr der ohnehin nur bedingt verhüllende Bademantel endgültig über die Schultern rutschte und den Blick auf ihren schneeweißen Oberkörper freigab.

Im ersten Moment schoss es D durch den Kopf, dass seine Gebete doch noch erhört worden waren. Dass dieser Fall doch auch seine guten Seiten hatten. Dass eine private kleine Peepshow am Nachmittag immer noch besser war als ein verheucheltes Interview mit der verspießten High-Society-Lady von nebenan. Dass diese Blondine vielleicht nicht willig, aber immerhin oben ohne war. Und dass man solch unwirklich schönen Lolitas selbst auf kostenpflichtigen Internetseiten nur äußerst selten zu sehen bekam.

Dann stellte er seltsamerweise fest, dass es ihn fror. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, woher das kam, immerhin konnte sich die Kälte in den Augen des Mädchens noch lange nicht mit… na, beispielsweise mit der Kälte in Ravins Augen messen. Zumal Ravin kein halbnacktes kleines Miststück war, sondern regelmäßig ohne mit der Wimper zu zucken Menschen erschoss, was ja gewissermaßen auch sein Beruf war. Aber… da war irgendetwas in Lavinias Blick, das ihn erschaudern ließ, und als sie ihm dann auch noch eine flüchtige Kusshand zuwarf, hatte er es plötzlich ganz unfassbar eilig, sich von dem Fenster abzuwenden und sicherheitshalber auch noch die Straßenseite zu wechseln.

Dort entfernte er sich noch gute drei oder vier Meter von dem Schauplatz seiner glorreichen Niederlage und blieb dann erst einmal stehen. Warum auch immer. Atmete tief durch. Stellte im Geiste etwa hundertfünfzigmal fest, dass er sich nicht verstand. Dachte an das tödliche Lächeln auf dem Gesicht dieses Mädchens, das man eigentlich gar nicht mehr als solches bezeichnen konnte. Und ging dann weiter. Die Frustration, die schon nach dem so endgültigen Schließen des Fensters einen kurzen Angriff auf sein allgemeinen Wohlbefinden verübt hatte, überwältigte ihn nun umso brachialer. Und mit der Frustration kam auch noch ein anderes Gefühl, das die ganze Situation alles andere als besser machte.

Da war wieder ein Tag, der sich dem Ende zuneigte. Da waren lächerliche sieben Menschen auf diesem ganzen kranken Sonnenscheintrabanten. Sieben Menschen in fünf Häusern. Darunter drei Kinder… oder zwei Kinder und eine verdorbene Minderjährige. Und eine lebende Legende, die es irgendwie auch nicht gewesen sein konnte. Und was hatten sie bereits gefunden? Nichts. Nicht ein einziges aufgeweichtes, halb zerkautes Puzzlestück. Nicht einmal ein Staubkorn auf der verblassten Oberfläche eines aufgeweichten, halb zerkauten Puzzlestückes. Und mit jeder Minute sanken die Chancen, dass Aya noch am Leben und im Besitz zweier voll funktionsfähiger Gehirnhälften war. Die Sonne schien ihm warm in den Nacken, und plötzlich fühlte er sich auf eine so pathetische Weise mutlos, dass er gar nicht anders konnte, als den Kopf sinken zu lassen und laut aufzuseufzen.

D sprach nicht oft von Dingen wie Schicksal – er fand es überflüssig und lächerlich, irgendwelche großartigen Zusammenhänge in einem weniger großartigen Ganzen sehen zu wollen, die da eigentlich überhaupt nicht hingehörten. Aber wenn er später an diesen Augenblick zurückdachte, kam ihm stets nur dieses und auch kein anderes Wort in den Sinn. Vielleicht, weil die Situation an sich fast genauso lächerlich war wie das so genannte Schicksal selbst.

Just in dem Moment, in dem D seine entnervt zusammengekniffenen Augen wieder öffnete (sein Gesicht war dabei immer noch dem Boden zugewandt!), fiel sein Blick nämlich auf etwas, das am Wegesrand im Gras lag. Das Bild, das sich dort seinen Augen bot, war an sich weder spektakulär noch ungewöhnlich, und es bekam seine immense Bedeutsamkeit auch erst im Kontext, wobei D selbst das erst so richtig begriff, als er das Etwas hochgehoben und eingehender betrachtet hatte.

Danach schickte er zunächst einmal eine ganze Salve von stummen Dankesgebeten an wen auch immer, dass er nicht einfach weitergegangen und das Etwas ignoriert oder gleich übersehen hatte, wie das vermutlich an so gut wie jedem anderen Tag des Jahres der Fall gewesen wäre. Er spürte, wie erneut ein Zittern durch seinen Körper lief, als er auch nur ganz, ganz kurz den Fehler machte, darüber nachzudenken. Mit der freien Hand suchte er wenige Sekunden lang Halt an dem schmucklos weißen Gartenzaun zu seiner Rechten.

Dann schüttelte er den Kopf, verzog die Lippen zu einem sehr breiten Grinsen und ließ sein kostbares Fundstück in der Hosentasche verschwinden, bevor er sich letztlich doch noch als Sieger auf den Weg zurück gen Heimat machte.
 

Das Zimmer war nicht dunkel, aber dämmrig. Aus irgendeinem Grund hatte niemand das Licht angeschaltet und schaltete es auch jetzt nicht an, obwohl der Abend gekommen war und ein trübes Zwielicht mit sich gebracht hatte. Andererseits war dieser seltsame Zustand zwischen hell und dunkel doch auch ganz heimelig und auf eine merkwürdige Weise passend. Fand zumindest Ronin. Und Ravin hatte mit dem Aufstehen seinerseits dezente Schwierigkeiten, weil Ronin wieder einmal seine Beine über dessen Oberschenkel gelegt hatte. Andererseits hatte er aber auch noch keine Anstalten gemacht, es zu versuchen.

„Hey“, sagte Ronin nach einer Weile, als es ihm irgendwann zu langweilig wurde, mit einem seiner Zöpfe zu spielen und an die hellbraune Holzdecke zu starren, obwohl die unbestechliche Gemütlichkeit des Sofas so ein unschönes Wort wie Langeweile fast schon verbot. „Du bist ja noch schweigsamer als sonst. Ich weiß zwar nicht, ob das geht, aber du schweigst gerade einfach so vor dich hin, und das ist irgendwie anders und drum dacht ich mir, ich könnt ja einfach mal fragen, was los ist, D ist eh noch nicht da, die Fernbedienung liegt außer Reichweite, ich hab keine Lust, jetzt aufzustehen und die Zeit vergeht vom nicht Reden auch nicht schneller, und wenn’s dich nervt, musst du ja nicht antworten.“

„Aha“, machte Ravin und gab Ronin mit einem kurzen Blick zu verstehen, wie viel er eigentlich zu dessen zahlreichen Worten zu sagen hatte. Beziehungsweise wie wenig. Oder auch wie überhaupt nichts. Überraschenderweise beließ er es dann aber nicht dabei, sondern wandte sich wieder der Wand zu und fuhr mit gewohnt emotionsloser Stimme fort: „Du weißt doch schon etwas über den Mörder.“

Es klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage, aber Ronin beschloss trotzdem, es als Letzteres aufzufassen.

„Ach“, begann er mit einem Schulterzucken, das in seiner liegenden Position etwas merkwürdig ausfiel, „das kann man so nicht sagen, ich meine, dieses Gehirnentfernen hat so etwas Ambivalentes an sich, das ließe sich für jeden Verdächtigen anders deuten, eben je nachdem, in welcher Beziehung er zu besagtem Organ stehen könnte, ich meine, wenn wir mal an Minette Mulligan denken, die hasst die Menschheit, da könnte das eben als eine Geste der Verachtung gemeint sein, oder als eine Symbolik für die, wie sagt man so schön trivial, Hirnlosigkeit der Menschen, insbesondere der Menschen hier, oder für die Gehirnwäsche, die sie den hiesigen Einwohnern nachgesagt hat, und das wäre die eine Seite.“

„Und die andere?“, fragte Ravin knapp und wahrscheinlich nur deshalb, weil Ronin eine effektvolle… oder wenigstens als effektvoll gedachte Pause einlegte und ihn dabei auch noch erwartungsvoll ansah. Ronin war ihm trotzdem dankbar dafür und zeigte dies mit einem strahlenden Lächeln.

„Die andere Seite wäre eben das genaue Gegenteil davon, eine morbide Faszination für einen speziellen Teil des menschlichen Körpers, eine Art Sammelleidenschaft, was übrigens gar nicht so ungewöhnlich ist, da gab es schon Sachen, die will man sich gar nicht vorstellen, aber ich find sowas ja immer ganz unterhaltsam und gruslig, zum Beispiel eine uralte Geschichte, nein, eigentlich eine wahre Begebenheit, mit einem Mann namens Edward Theodore Gein, besser bekannt als Ed Gein, die zu der Inspiration für zahlreiche Horrorfilme geworden ist. Er hat im zwanzigsten Jahrhundert in den Vereinigten Staaten von Amerika auf der Erde gelebt, und in etwa zur Mitte des Jahrhunderts haben Polizisten in seiner Farm in Wisconsin, die später als House of Horrors traurige Berühmtheit erlangte, neben einer ausgeweideten und kopflosen Frauenleiche, die Ed mit Fleischerhaken an den Füßen aufgehängt hatte, zahlreiche Gegenstände aus Leichenteilen gefunden, zum Beispiel Totenmasken aus Frauengesichtern, mit Menschenhaut bezogene Trommeln und Stühle, eine Sammlung von Nasen und weiblichen Geschlechtsorganen, Kleidung aus Menschenhaut und angeblich auch ein Herz in einer Pfanne auf dem Herd. Das ist zwar nicht genauso wie hier, aber man hat die Gehirne ja nie gefunden, also wird der Mörder sie wenigstens vorerst mitgenommen haben, und möglicherweise sammelt er sie ja wirklich, daher auch nur Gehirne von Wissenschaftlern, weil die eben einen besonders hohen Sammlerwert haben… oder etwas in der Art.“

„Das klingt wirklich nach einem Horrorfilm“, stellte Ravin wenig beeindruckt fest.

„Es ist aber eine wahre Geschichte, leider, wie man vielleicht dazusagen muss, obwohl ich in der Tat vor allem wegen eines Filmes an den guten alten Eddie Gein denken musste, ein uralter Film, aber es lohnt sich, ihn anzusehen, eigentlich ist es sogar eine ganze Reihe von Filmen, Das Schweigen der Lämmer ist aber meiner Meinung nach der beste davon, und da kommt eine Figur vor, die von eben diesem Ed Gein inspiriert ist, Buffalo Bill, und ein anderer Mörder und Kannibale, Hannibal Lecter, der schon inhaftiert ist, mit Maulkorb und allem drum und dran, soll helfen, Buffalo Bill zu fangen, und in einer Fortsetzung, die heißt ganz einfach Hannibal, da isst dieser Hannibal ein Gehirn, und so kam ich vom Gehirn auf Hannibal und dann auf Ed Gein und… ja, das ist vielleicht ein etwas seltsamer Gedankengang, aber du verstehst schon, worauf ich hinauswill, hoffe ich wenigstens. Ansonsten kämen religiöse und okkulte… oder einfach kultische Praktiken in Betracht, aber darauf gibt es außer der generellen, sich stets wiederholenden Begehungsweise der Morde noch keine Hinweise. So, das wär dann eigentlich alles, was ich dazu zu sagen hätte.“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mir das weitergeholfen hat“, entgegnete Ravin in vernichtend beiläufiger Kälte, allerdings nach wie vor, ohne Ronin dabei anzusehen.

„Ich bin mir dafür ziemlich sicher, dass es dir nicht weitergeholfen hat“, grinste der und richtete sich dann auf, wobei er das letzte Stück in die Vertikale bewältigte, indem er sich an Ravins Arm hochzog. Den er danach übrigens nicht losließ. Und seine Beine behielt er auch da, wo sie lagen. „Aber du hörst mir auch gar nicht richtig zu. Also vergessen wir all die haltlosen Theorien und du sagst mir stattdessen endlich, was los ist.“

„Was meinst du damit, was los ist?“, fragte Ravin und zog dabei kritisch seine Augenbrauen zusammen. „Ich kann zu dem Ganzen hier auch nicht mehr sagen als du. Wie sollte ich auch?“

„Ach komm, du weißt doch genau, dass ich das nicht gemeint habe“, erwiderte Ronin ein wenig trotzig und stieß Ravin mit seinem Zeigefinger in die Seite. „Du wirst so was wohl nicht oft gefragt, oder? Aber vor mir kannst du nicht so tun, als ob du’s nicht verstehen würdest. Ich weiß es nämlich besser. Und es ist wegen ihr, habe ich Recht? Wegen dem, was sie zu dir gesagt hat.“

„Wer?“

„Ravin! Jetzt hör schön auf!“

„Hm“, machte Ravin und vollführte dabei eine Kopfbewegung, die so ziemlich alles hätte bedeuten können. „So etwas sagen viele. Auf dem Schönheitswettbewerb haben sie auch so geredet.“

„Ich hab doch gleich gewusst, dass du mich verstanden hast.“ Ronin lächelte und stieß Ravin ein weiteres Mal an. „Vor mir brauchst du gar nicht so zu tun.“ Er wartete einige Sekunden ab, aber als Ravin keinerlei Anstalten machte, zu antworten, fügte er zwar immer noch lächelnd, aber doch deutlich ernster hinzu: „Das ist nicht leicht für dich, oder? Ich meine, weil man es dir so ansieht. Das ist jetzt gar nicht böse gemeint, ganz im Gegenteil, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass kein Mensch so perfekt ist wie du.“

„Ja, das ist auch so gedacht. Sie haben mich schon als Soldaten konzipiert, und mein ganzes Aussehen ist darauf angelegt worden, kalt zu wirken. Sie machen nicht mehr alle Cyborgs so, dass sie perfekt aussehen, weil es für die Menschen eben… unmenschlich wirkt. Aber bei mir fanden sie es passend. So haben sie es mir wenigstens gesagt.“

„Ach, mich stört’s nicht“, grinste Ronin. „Aber ich weiß schon, dass das viele Menschen anders sehen. Dass sie… einfach alles anders sehen, wenn etwas nicht in ihr merkwürdiges Weltbild passt. Ich hab’s nie ganz verstanden, warum es ausgerechnet bei Cyborgs so viele Vorurteile und sogar Gegner gibt, vielleicht macht es ihnen Angst, von wegen Maschinen, die dann am Ende die Weltherrschaft übernehmen, das hatten wir ja auch alles schon in mehr als genügend Filmen, und Maschinen sind ja angeblich nur das, Maschinen, dabei funktionieren die heutigen Cyborgs doch auch gar nicht anders als Menschen, nur dass sie eben nicht geboren, sondern hergestellt werden, und dass manche Körperfunktionen von elektronischen Impulsen ausgelöst werden, aber eigentlich ist es doch genau dasselbe.“

„Bei einem Cyborg lassen sich gewisse Körperfunktionen oder Handlungsweisen regulieren“, antwortete Ravin mit einem angedeuteten Schulterzucken.

„Bei einem Menschen ließe es sich genauso regulieren. Das ist kein Argument. Kommt das oft vor, dass sie dich deshalb so dumm anmachen?“

„Nein, eigentlich nicht. Die meisten Menschen fragen gar nicht nach. Ich habe auch nicht so viel mit ihnen zu tun. Auf der Arbeit spreche ich ja mit fast niemandem, und außerdem bin ich dann bewaffnet. Es gibt nicht viele, die bewaffnete Wachsoldaten beleidigen. Auf der Straße sagen sie ab und zu etwas, aber die meisten achten nicht darauf. Vielen gefällt mein Äußeres, und dann machen sie sich gar keine Gedanken mehr.“

„Das klingt, als ob du ziemlich viel allein wärst.“

„Ich arbeite ja meistens. Deshalb setzen sie auch für so etwas gerne Cyborgs ein, weil die länger arbeiten können. Sonst mache ich nicht sehr viel. Das würde meine Aufgaben nur stören, darum haben sie es nicht vorgesehen.“

„Das hört sich aber verdammt trostlos an“, erwiderte Ronin und verzog das Gesicht, nur um dann sogar noch ein bisschen breiter zu grinsen. „Weißt du was? Das müssen wir ändern. Du hast jetzt lang genug gemacht, wofür sie dich vorgesehen haben. Was heißt lang genug? Du hast überhaupt noch nie etwas anderes gemacht! D hat mal erwähnt, dass du schon immer bei INFERIA gewesen bist. Stimmt das?“

„Nicht ganz. Wir… also meine Serie ist auf einem Trabanten von Attraya produziert worden. Ich bin dann aber auf eine Schule von INFERIA gegangen, auf eine Privatschule. Und dort habe ich auch gelebt. Das war so eine Art Projekt.“

„Nicht schön, hm?“

„Es war eine gute Schule.“

„Fang nicht schon wieder damit an! Ich Cyborg, ich nichts verstehen. Ich hab dir doch gesagt, dass das bei mir nicht zieht. Außerdem weiß ich, dass Kinder richtig fies sein können. Und am fiesesten ist es, wenn sie dann noch so widerlich heile Familien haben, so mit Mama, Papa, Hund und Oma unter einem Dach und alle haben sich lieb und feiern jeden Tag Kindergeburtstag.“ Ronin bleckte die Zähne – und stellte dann fest, dass Ravin seine Lippen ganz kurz etwas fester aufeinander presste und tatsächlich zweimal direkt hintereinander blinzelte, was zugegebenermaßen nicht sonderlich viel, aber eben doch irgendwie ungewöhnlich war. „Was ist los?“, fragte er deshalb – schon wieder! – und fügte lieber gleich hinzu: „Hab ich jetzt was Falsches gesagt?“

„Warum etwas…“, fing Ravin an, wohl schon ganz automatisch, hielt dann aber inne, schwieg ein oder zwei Sekunden lang und antwortete stattdessen mit einem schlichten: „Nein.“

„Ist es, weil ich von dieser Sache mit den Eltern angefangen hab?“, hakte Ronin unbeirrbar nach. „Hast du dir früher welche gewünscht?“

„Ich bin ein Cyborg.“

„Na und?“

„Cyborgs haben keine Eltern.“

„Ich frag ja auch nicht, ob du welche hattest, sondern ob du dir welche gewünscht hättest!“

„Das wäre sinnlos gewesen.“

„Na und?“

„Was… und?“

„Also, ich hab mir jedenfalls welche gewünscht.“

Ravin blinzelte ein weiteres Mal, dann wandte er endlich wieder seinen Blick von der Wand ab und Ronin zu, der deshalb natürlich erst recht weiterlächelte.

„Aber du bist doch kein…“

„Nein“, erwiderte er ruhig, „bin ich nicht. Aber ich glaube, ich kann dich trotzdem ganz gut verstehen. Ich versteh doch alles, und dich sowieso. Du hast es dir bis jetzt ganz schön leicht gemacht, weißt du? Aber ich bin eine wirklich schlimme Nervensäge, und ich werd dir bis zum bitteren Ende zuhören. Auch wenn du hundertmal so tust, als ob du mich nicht verstehen würdest.“

„Das sagtest du bereits. Zweimal schon.“

„Hey, du hast es dir ja doch gemerkt“, grinste Ronin, dann hob er einen Finger und fuhr damit ganz langsam über Ravins makellose Wange. „Aber eine Antwort hast du mir trotzdem noch nicht gegeben. Und wage es nicht, jetzt wieder irgendwelche sinnlosen Fragen zu stellen, um vom Thema abzulenken. Du weißt ganz genau, was ich meine!“

„Weiß ich das?“, entgegnete Ravin kalt und bedachte Ronin mit einem kurzen, aber durchaus eindrucksvollen Killerblick, der den Rotäugigen allerdings nicht weiter störte. Dann wandte er sich doch lieber wieder der Wand zu, schwieg einige Momente lang – und senkte den Blick in Richtung seiner Hände, durch die ab und an tatsächlich eine leise, unzweifelhaft nervös anmutende Bewegung lief. „Ich habe gerade an etwas gedacht. Das ist alles.“

„Und an was?“, hakte Ronin geduldig nach.

„Es war nichts Wichtiges.“

„Ich will es aber trotzdem wissen! Und wenn es nicht wichtig war, dann ist es auch egal, ob eine Person mehr oder weniger davon weiß. Außerdem glaub ich dir das sowieso nicht. Ein bisschen kenn ich dich jetzt auch schon, und an etwas Unwichtiges würdest du doch keinen Gedanken verschwenden.“

„Dann eben nicht unwichtig. Belanglos. Es… war etwas, was sie bei uns in der Schule gemacht haben. In der Grundschule. Wenn jemand Geburtstag hatte, dann sind die Eltern mit in die Schule gekommen und haben etwas gesungen und einen Kuchen mitgebracht. Ich finde immer noch nicht, dass das besonders wichtig ist. Mit dem Fall hat es auch nichts zu tun. Aber du hast etwas von Geburtstag gesagt, und von Eltern. Deshalb musste ich daran denken.“

„Bei dir ist niemand gekommen, hm?“

Ravins Antwort beschränkte sich auf ein Nicken. Ronin sah ihn einige Momente lang von der Seite an – betrachtete sein vollkommen ebenmäßiges Profil, seine eisfarbenen Augen, die wie leblos die Wand fixierten, die absolute Kälte auf diesem wunderschönen Gesicht, die den zuständigen Wissenschaftlern zugegebenermaßen verdammt gut gelungen war. Dann lächelte er wieder, legte beide Arme um Ravins Hals und platzierte seinen Kopf auf dessen Schulter.

„Aber du weißt, wann du Geburtstag hast?“

„Du meinst mein Fertigungsdatum?“

„Das ist doch dasselbe!“

„Ja, natürlich. Der 29. November.“

„Sehr gut. Das merke ich mir, verlass dich drauf, und dann werden wir dieses Jahr mal so richtig feiern, ob du willst oder nicht.“

Ronin hob den Kopf und strahlte Ravin noch einmal an, dann reckte er sich ein bisschen und platzierte ein flüchtiges Küsschen auf der zuvor schon ausgiebig begutachteten Wange, die der Weißhaarige ihm zugewandt hatte. Er rechnete nicht ernsthaft mit einer Reaktion, dazu blieb dann allerdings auch gar keine Zeit mehr, denn noch bevor Ravin öfter als einmal irritiert blinzeln oder gar Auskunft darüber geben konnte, ob er nun tatsächlich wollte oder nicht, klingelte es an der Tür.

Und dann wieder und wieder und wieder und wieder, bis Ronin sich schließlich mit einem leisen Seufzer von Ravin löste und in Richtung Haustür eilte.
 

„…und hier ist er!“, verkündete D, und durch seine dunklen Augen glitt ein manisches Blitzen. „ Der corpus delicti! Er mag…”

„Das“, unterbrach ihn Ronin.

„Was?“

„Das“, wiederholte der Weißhaarige und lächelte dabei fast ein bisschen verlegen, fuhr aber ganz sachlich fort: „Es heißt das corpus delicti . Das Wort sieht nur so aus wie ein Substantiv der männlichen o-Deklination, darum wird das auch öfters falsch gemacht, aber eigentlich entstammt es der konsonantischen Deklination, weshalb der Genitiv übrigens auch corporis ist und nicht corpi. Ein ähnlicher Fehler wie bei Virus, darum sagen so viele der Virus, obwohl es korrekterweise das Virus heißen müsste, weil das auch ein Neutrum ist, aber eines aus der u-Deklination.“

„Danke“, entgegnete D und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Vielen Dank. Das hätten meine zehn Minuten Ruhm sein können, und du hast sie mir kaputtgemacht. Aber dafür durfte ich pro Sekunde etwa fünfzehn Wörter hören, die ich nicht verstanden habe. Vielen, vielen, vielen Dank!“

„Entschuldige“, murmelte Ronin und machte ein geknicktes Gesicht, was seine großen roten Triefaugen aber keineswegs vom Blitzen abhielt. „War nicht so gemeint. Zeigst du uns jetzt das corpus delicti? Bitte.“

„Wenn ich könnte, würd ich’s lassen“, grummelte D, doch auch auf seine Lippen stahl sich beinahe sofort wieder ein Lächeln. „Aber leider geht es hier ja um Aya-kuns Leben. Und außerdem ist das hier einfach zu gut, um es für sich zu behalten. Beziehungsweise für mich. Darf ich noch einmal zusammenfassen, was ihr in Bezug auf diesen Fall bislang herausgefunden habt? Ja? Gut. Das geht schnell. Nämlich nichts. Und – ich will ehrlich sein, immerhin kann ich es mir ja erlauben! – ich hätte beinahe auch unverrichteter Dinge wieder heimkehren müssen. Und dann… dann fand ich das .“

Und bei ebendiesem Wort griff D in seine Tasche und zog mit einem überlegenen Grinsen sein Fundstück daraus hervor. Staubte es des bloßen Effektes halber ab, obwohl bestenfalls noch ein bisschen Sand daran klebte. Und präsentierte es dann mit betont ehrfürchtiger Miene seinen Mitstreitern. Die betrachteten den kleinen schwarzen Schatz einige Sekunden lang schweigend, dann zog Ronin beide Augenbrauen hoch und warf D einen kritischen Blick zu.

„Das ist ein Portable Transmitter. Na und?“

„Na und?“, wiederholte D gespielt beleidigt, während in ihm ein leises triumphierendes Kribbeln aufstieg. „Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Hey, du weiß doch sonst immer alles. Und zwar in jeder… na ja… Beziehung. Jetzt streng doch mal dein hübsches Köpfchen an, wobei diese Floskel von wegen hübsch weiß Gott keine Anmache sein soll. Wovon haben wir es denn die ganze Zeit? Na? Genau. Wir suchen Aya. Und einen Mörder. Und jetzt rate mal, wessen PT das in diesem Kontext wohl sein könnte?“

„Hm… das des Mörders?“, grinste Ronin sogar noch ein bisschen breiter als gewohnt. „Und zum Anderen: Es tut mir wirklich leid, D, aber du bist mir entweder zu jung oder zu… unhübsch. Nein, das klingt so böse. Sagen wir, zu gewöhnlich. Das trifft es eher. Und außerdem bin ich ja schon verheiratet.“

„Also, in erster Linie bist du furchtbar.“ D betrachtete den kleinen Weißhaarigen mit unverhohlener Skepsis, dann wandte er sich lieber wieder seinem Fundstück zu und versuchte vergeblich, den Gedanken zu verdrängen, dass dieses in seinem Leben sicher deutlich weniger Nummern gehabt hatte. Haha. Nummern. Welch ein Wortwitz! „Aber davon einmal abgesehen würde ich mir Sorgen machen, wenn dies das PT des Mörders wäre. Es ist nämlich Ayas PT. Und beides zusammen wäre ganz schon gruselig.“

„Jetzt mal im Ernst?“, fragte Ronin und setzte sich wieder auf. Über sein bleiches Gesicht huschte ein kurzes Leuchten. „Woher hast du das?“

„Tja, das ist leider weniger berauschend: Ich habe es gefunden, und zwar irgendwo in der Pampa. Wisst ihr… ich hab ja nie ganz verstanden, wofür man das Wort Zufall erfunden hat. Jetzt weiß ich’s. Da lauf ich heim von Mrs. Spießig und ihrer verdorbenen Tochter, schau ein einziges Mal in dieses dämliche Gestrüpp am Wegesrand, und, tadaaa, was liegt da? Ayas PT. Ich könnt mich jetzt noch wegschmeißen, so geil ist das.“

„Und… wie soll uns das weiterhelfen?“, fragte Ravin in einem genau so vernichtenden Tonfall, wie D sich das erhofft hatte. „Wenn es… eben irgendwo gelegen ist, nicht einmal in der Nähe eines Verdächtigen, sehe ich nicht, wie sich daraus Schlüsse ziehen lassen sollten. Ich bin mir nicht sicher, ob wir die nötigen Utensilien für einen DNA-Kurztest dabeihaben, oder die Vergleichswerte… an die Werte dürftest du noch herankommen, aber selbst wenn, können wir einen derartigen Test ohne Aya nicht durchführen. Ich kann das jedenfalls nicht.“

„Ravin, das… also, das waren mit großem Abstand die meisten Worte, die ich jemals am Stück… die ich überhaupt jemals von dir gehört habe! Gleichen sich deine Gehirnströme langsam denen von Ronin an? Hört man ja so von Ehepaaren.“

„Ich glaube nicht, dass das unser Thema ist.“

„Ich auch nicht. Aber loswerden musste ich’s trotzdem. Und wie uns das hier weiterhelfen kann, das will ich euch gerne verraten. Wir können uns natürlich auch kurz mal eben als Wissenschaftler versuchen – Ronin, du kennst dich doch bestimmt mit DNA-Tests aus, hab ich Recht? – oder ausrechnen, wie weit der Fundort von welchem Haus entfernt ist oder ob ein umgedrehtes Pentagramm dabei herauskommt, wenn man in der richtigen Reihenfolge vom PT zu sämtlichen Häusern unserer Verdächtigen geht, und dann ganz profilermäßig den Täter herbeipsychologieren. Aber ich hab was viel Besseres entdeckt. Dieses PT hat nämlich eine überaus praktische Anrufliste, und jetzt ratet mal, vom wem der letzte Anruf kam. Falsch. Es ist eine Nummer von INFERIA, von einem der Labore, um genau zu sein. Um sogar noch genauer zu sein: 3-19. Kagami Mizuhara, nehme ich an. Der Anruf hat sie vor zwei Tagen erreicht, und zwar um 11.36 Uhr. Aya hat das Haus der Zwillinge verlassen, weil sie einen Anruf erhalten hat. Na? Na?“

„Na – was?“, erwiderte Ronin betont gleichgültig und wickelte sich eine von Ravins Haarsträhnen um den rechten Zeigefinger.

„Hey, etwas mehr Enthusiasmus bitte!“, erwiderte D und schob seine Unterlippe nach vorne. „Wir wissen hiermit, wer der wahrscheinlich letzte Mensch war, mit dem Aya vor ihrem Verschwinden gesprochen hat. Die Ärmste. Und wenn dieser Anruf irgendetwas mit der ganzen Sache zu tun haben sollte, was ich mir bei diesem Gesprächspartner übrigens durchaus vorstellen kann, dann können wir es hiermit herausfinden. Amen.“

„Also“, grinste Ronin, und in seinen blutroten Augen lag ein ganz unverschämtes Strahlen, „worauf wartest du dann noch?“

„Darauf, dass du nur einmal im Leben still bist“, grummelte D, während er die oberste der Nummern anwählte, die sich in einer langen Liste ansonsten zumeist unbekannter männlicher Namen untereinanderreihten, und drückte auf Rückruf. „Aber darauf kann ich wohl lange warten.“

„Dann fang am Besten gleich damit an“, flötete der Weißhaarige und lehnte sich gegen die Schulter seines ebenso weißhaarigen Angetrauten. D bleckte die Zähne in seine Richtung, sagte aber sicherheitshalber nichts mehr, denn der PT bat mit einer sanften Jazzmelodie um Geduld beim Warten auf das ersehnte Abheben, und selbst bei einem Kagami Mizuhara konnte sich D einen gelungeneren Start ins entscheidende Gespräch vorstellen als die letzte Hälfte einer entnervt am Lautsprecher vorbeigebrüllten Beleidigung. Zugegeben – es waren nicht sonderlich viele gelungenere Starts, die er sich vorstellen konnte. Aber immerhin, es gab sie.

D hatte diesen Gedanken kaum zuende gedacht, da verstummte das relaxte Lied auch schon, das sich zuvor vergeblich daran versucht hatte, seine arg strapazierten Nerven wieder zu beruhigen, und ein maschinenhaftes Summen ertönte. Außerdem ein Keuchen. Und knappe zwei Sekunden später folgte dann eine etwas atemlose, aber dennoch ganz unverschämt gut gelaunte Stimme, die munter verkündete:

„Ja, hallo, hier Mizuhara Kagami, mit wem habe ich die Ehre?“

„Hey, Kagami, ich bin’s, der D“, erwiderte ebendieser in deutlich gequälterer Fröhlichkeit, und begann spontan, im Zimmer auf- und abzugehen. D wusste nicht, wann er sich das angewöhnt hatte, seine Wohnung war eigentlich viel zu klein, um sich einen derartigen Spleen erlauben zu können. Sein neues Eigenheim – na ja, beinahe – eröffnete ihm da gänzlich neue Möglichkeiten. Eine enge Kurve links am Kamin vorbei, beispielsweise. Oder ein kurzes Verweilen an diversen Rückenlehnen der Sofagarnitur. D fühlte sich ein wenig besänftigt.

„Hey, D!“ Kagamis Stimme erhellte sich spontan noch ein bisschen mehr. „Das ist aber eine schöne Überraschung, von dir zu hören! Ich hatte mit Dr. Mitsuyuki gerechnet. Wobei das natürlich ebenso schön gewesen wäre, nur eben keine Überraschung. Verstehst du, was ich meine?“

„Nein, Kagami, das tut niemand. Aber ich rufe auch nicht an, um das Unmögliche zu versuchen. Sondern genau wegen ihr: Aya. Oder Dr. Mitsuyuki, wie du’s haben willst.“

„Warum rufst du mich von Ayas PT aus an, wenn du Aya sprechen willst?“

„Jetzt denk mal scharf nach, Kagami“, entgegnete D nun doch wieder deutlich entnervter und bog links vom IV-Gerät in Richtung Küchentüre ab. „Wenn ich Aya sprechen wollen würde, würde ich sie doch wohl auf ihrem PT anrufen, richtig? Das habe aber ich, also ist das nicht möglich. Oder ich würde direkt mit ihr sprechen. Wenn sie da wäre. Da ich aber weder das eine noch andere mache, kann es ja wohl nur heißen, dass ich entweder nicht mit Aya sprechen will oder nicht mit Aya sprechen kann. Und bevor ich selber noch den Überblick verliere, was ich damit jetzt eigentlich sagen will, sage ich lieber: Nein! Ich rufe nicht an, weil ich Aya sprechen will, sondern weil ich mit dir über Aya sprechen will! Soweit mitgekommen?“

„Du bist gerade nicht so gut drauf, D, hab ich Recht?“, erkundete sich Kagami vorsichtig. „Habt ihr den Fall noch nicht gelöst? Das wundert mich aber. Aya klang so zuversichtlich, als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Ich hab mich noch so gefreut. Immerhin hatte sie das mir zu verdanken.“

„Was?“

„Na, ihre Zuversicht!“ D konnte förmlich hören, wie Kagami am anderen Ende in den Lautsprecher strahlte. „Ich war mir sicher, sie wüsste, wer der Mörder ist. Es geht doch hier um Morde, oder? Es geht immer um Morde, wenn sie euch damit beauftragen.“

„Nein, tut es nicht. Nicht immer. Aber ja, tut es. Wenigstens in diesem speziellen Fall. Genauer gesagt, geht es um einen Mörder, der es einzig und allein auf Wissenschaftler abgesehen hat. Ich werd ihm mal deine Adresse geben, wenn ich ihm begegne. Ist ein richtig freundlicher Zeitgenosse, der seinen Opfern bei lebendigem Leibe das Gehirn entfernt. Ja, du hast richtig gehört, bei lebendigem Leibe. Nett, was? Und verstehst du jetzt vielleicht auch, warum es mich nicht gerade beruhigt, dass Aya anscheinend wusste, wer dieser sympathische Mörder ist? Sie ist nämlich kurz nach eurem Gespräch verschwunden… oder eben überhaupt verschwunden, aber das letzte Mal wurde sie gesehen, bevor du sie angerufen hast.“

„Oh je… das klingt aber gar nicht gut“, entgegnete Kagami in einem Tonfall, der wohl besorgt klingen sollte, es aber definitiv nicht tat. „Wie lange ist sie denn jetzt schon weg?“

„Kagami… ich sagte doch, sie ist nach eurem Telefonat verschwunden.“

„Ah… ach so, ja. Das ist natürlich noch viel schlechter, vor allem, wenn wir es hier wirklich mit einem derart spezialisierten Mörder zu tun haben.“ Er atmete geräuschvoll in sein Telefon. „Dann solltest du dich beeilen, sie zu finden, D. Und dabei bloß nicht den Kopf verlieren!“

„Wirklich sehr komisch“, grummelte D, während Kagami wieder einmal in ein hysterisches Lachen ausgebrochen war, was nicht unbedingt dadurch besser gemacht wurde, dass er es zu unterdrücken versuchte. „Und jetzt rate bitte mal, was ich hier gerade mache. Beziehungsweise warum ich mit dir spreche? Na? Weil ich dich so unheimlich lieb hab? Ja, das natürlich auch. Aber in erster Linie, um Aya zu finden, bevor der Mörder es tut. Und damit ich das kann, erzählst du mir jetzt bitte mal ganz langsam“ – und bei diesen Worten sah D automatisch Ronin an – „und möglichst verständlich, was ihr denn so Großartiges besprochen habt, dass Aya ganz plötzlich über die Identität unseres verkappten Chirurgenfreundes bescheid wusste. Hat sie… hat sie irgendwelche Namen genannt, hat sie… ich meine, irgendwie muss sie da doch draufgekommen sein! Oder wieso weiß die das plötzlich und wir tappen immer noch im Dunkeln?“

„Also, Namen hat sie keine genannt… aber zufällig draufgekommen ist sie auch nicht. Ich sage doch, dass sie es mir zu verdanken hatte, aber das kannst du dir ja wieder nicht vorstellen. Hat sie dir auch diese lustigen kleinen weißen Dinger gezeigt, diese… diese Kügelchen? Die sollte ich nämlich untersuchen. Und das habe ich dann auch getan. Und als ich ihr gesagt habe, was es ist, da hat sie’s mir erst gar nicht glauben wollen, aber als ich’s ihr dann noch einmal gesagt habe, war sie noch ein bisschen still, und dann hat sie triumphiert. Mehr weiß ich auch nicht, ich bin ja leider nicht bei euch. Ich kann doch meine Kinder nicht so lang alleine lassen.“

„Ja… man hat’s nicht leicht mit Familie“, erwiderte D, obwohl er in Gedanken schon längst bei seinem nächsten Satz war. „Aber jetzt red bitte nicht noch drei, vier Stunden ums Thema herum, sondern sag endlich: Was war das für ein Zeug?“

Eine leise Nervosität war in dem Schwarzhaarigen hochgekrochen. Vielleicht lag es daran, dass er endlich – endlich! – das Gefühl hatte, auf dem langen, steinigen Weg zur Lösung des Falles und zu Ayas Rettung wenigstens einen, und zwar einen gar nicht mal so kleinen Schritt vorangekommen zu sein. Vielleicht war ihm auch einfach nur ein bisschen schwindlig, weil er etwas zu oft den gläsernen Tisch inmitten der Sitzgarnitur umrundet hatte. Jedenfalls sah er sich schon beinahe an einem Punkt, von dem aus der Mörder zum Greifen nahe war – von dem aus er schon einmal zwar nicht ergriffen worden, aber doch offensichtlich gestellt, zum direkten Duell herausgefordert worden war. Und diesmal stand es nicht Mann oder Frau gegen Frau, sondern drei gegen einen – oder vier gegen einen, wenn man Ravin und seine Silenced Blackbird M-44 jeweils extra zählte. Oder Ravin doppelt. Und beides erschien D als durchaus angebracht.

Aber dann kam Kagami angelaufen – oder besser gesagt, angeschwebt, denn vielleicht sah er ja nicht nur zufällig so aus wie ein sehr, sehr, sehr, sehr, sehr tief gefallener Engel, sondern… na, was auch immer, aber jedenfalls kam er angeschwebt, nahm den Mörder bei den Händen, flog gemeinsam mit ihm gute fünfeinhalbtausend Meter in die Höhe und schrie von dort oben zu D hinab (was über den Lautsprecher des PT übrigens ganz ruhig, ein bisschen stolz und verflucht vorfreudig klang):

„Ganz einfach: Es waren kleine, runde Kügelchen aus Traubenzucker.“
 

Es war kalt. Es war dunkel. Aber das war nicht der Grund, warum sie zitterte, ebenso wenig die letzten Reste des Betäubungsmittels, die eventuell noch durch ihre Blutbahn kreisten. Es lag auch nicht an den Schmerzen in ihren Handgelenken, die von dem Seil, mit dem sie gefesselt waren, mittlerweile schon wund gerieben waren. Woran sie übrigens selber schuld war. Was versuchte sie denn auch, sich zu befreien?

Der Mörder stand neben ihr. In seiner Hand hielt er ein Messer – Aya kannte sich mit Messern nicht so gut aus, ebenso wenig wie mit jedem anderen Küchengerät der Welt, von ihrem Mikrowellenherd einmal abgesehen. Und dem Kochlöffel, aber das war eine vollkommen andere Geschichte. Sie hatte auch keine allzu große Lust darauf, zu raten, welchem Zweck dieses Messer unter normalen Umständen gedient hätte, jedenfalls hatte es eine lange und auch recht breite Klinge und es war gezackt, sodass es ein bisschen wie eine Säge aussah. Und es zitterte genauso wie sie, oder vielleicht war das ja auch vielmehr die Hand des Mörders.

Er stand nun schon seit guten zehn, vielleicht sogar fünfzehn Minuten da und starrte Aya an. Sonst tat er nichts. Aber das tat er nicht zum ersten Mal. Die Sinne der jungen Wissenschaftlerin waren seltsam gedämpft, obwohl ihre Nerven derart überspannt waren, und so konnte sie das Gesicht des Mörders nur undeutlich erkennen. Trotzdem sah sie, dass sie Tränen über seine Wangen liefen. Von irgendwoher kam eine Stimme, aber vielleicht war es ja auch nur ein Fernseher. So oder so konnte Aya nicht schreien, weil ein Knebel in ihrem Mund steckte. Und weil ihre Kehle wie zugeschnürt war. Aber vor allem wegen des Knebels.

„Es tut mir leid“, sagte der Mörder.

Dann machte er einen vorsichtigen Schritt in ihre Richtung.
 

Akte 4c/ Ende

Akte 4d/ Das Studium

So, nach meinem langen und anstrengenden Kampf mit der Strafrechtshausarbeit kommt hier mal wieder etwas wirklich Gerechtes! Der vierte und letzte Teil von Akte 4 nämlich. Zunächst einmal muss ich sagen, dass dieses Kapitel etwas ganz Besonderes für mich ist. Ich hatte hier zum ersten und wohl auch einzigen Mal ein Folie à Deux mit meinem eigenen Chara. Und zwar ausgerechnet mit Ravin. Wer kann sich vorstellen, dass unser aller Lieblingscyborg mal richtig, und ich meine damit so richtig, richtig Angst hat? Na? Konnte ich auch nicht. War auch nicht geplant. Im Endeffekt haben wir beide uns wohl gegenseitig in Panik versetzt, und ich hab mir bei dem Abschnitt aus Ravins Perspektive beim Schreiben tatsächlich so eine Angst gemacht, dass ich nicht mehr schlafen konnte. So etwas hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich weiß auch nicht, ob’s genauso unheimlich ist, wenn man’s nur liest und nicht live dabei war. ^^;

Was gibt es noch zu diesem Ende mit Schrecken zu sagen? Die Merrywood-Episode hat mir wirklich großen Spaß gemacht, besonders ihre Nebendarsteller. Dan rult einfach, und ich liebe dieses kaltschnäuzige Arschloch Isamiya. Aber mein Ermittlerteam ist auch wieder in Hochform. Es ist einfach wunderbar, mit ihnen zu schreiben! Ich wünsche noch genauso viel blutiges Vergnügen beim Herausfinden, ob ihr diesmal den richtigen Mörder überführt habt. ^_^
 

Als Ronin erwachte, regnete es. Die Tropfen prasselten schwer und monoton auf das vorspringende Dach über der Garage, das sich direkt vor dem Fenster ihres Schlafzimmers der Einfahrt entgegenreckte. Es war ein beruhigendes Geräusch, ein dumpfes, plätscherndes Schlaflied, das Ronins Lider schwer werden und seine kuschelige Decke gleich noch ein bisschen kuscheliger erscheinen ließ. Aber leider war da noch ein zweites Geräusch, nämlich das enervierende, hysterische Piepsen seines Weckers, und dieses Geräusch lud wiederum so gar nicht zum Weiterschlafen ein. Vielmehr zum Zuschlagen. Zum an die Wand werfen. Oder einfach nur zum lautstarken Fluchen.

In der benachbarten Doppelbetthälfte richtete sich derweil Ravin auf, ganz mechanisch und ohne eine einzige Sekunde des Zögerns, Murrens oder Innehaltens. Er schlug die Decke beiseite, schwang seine Beine aus dem Bett und stand auf. Manchmal, schoss es Ronin durch den Kopf, während er die vollkommen ebenmäßige Muskulatur und die makellose, schneeweiße Haut von Ravins Rücken betrachtete, war es eben doch ganz gut, nicht mit wirklich allen menschlichen Gefühlen vertraut zu sein. Ronin konnte sich beispielsweise schlimmere Dinge vorstellen als ein Leben ohne kreislaufbedingte Schwindelgefühle und die quälende Müdigkeit nach einem gewaltsamen Erwachen. Aber der Anblick dieses Rückens entschädigte ihn für Beides.

Der Regen plätscherte weiter, doch Ronin sorgte sich mittlerweile nicht mehr darum, jeden Augenblick wieder in einen Zustand akuten Tiefschlafs zu verfallen. So wagte er es endlich, mit einem zugegebenermaßen unnötig brutalen Hieb auf den großen roten Knopf zu schlagen, der den sadistischen Wecker zum Schweigen brachte. Die Digitalanzeige des Displays leuchtete auf. Zwei Uhr, dreizehn Minuten und achtunddreißig Sekunden. Neununddreißig. Vierzig. Eine Uhrzeit, zu der er für gewöhnlich noch längst nicht im Bett lag. Oder doch im Bett lag, aber eben nicht, um zu schlafen. Nicht, um alleine zu schlafen.

Aber dies war ja auch keine Nacht wie jede andere. Er musste ausgeruht sein… sie alle mussten ausgeruht sein, und da war so ein bisschen Schlaf doch immer noch besser als überhaupt keiner. Auch, wenn es sich momentan nicht so anfühlte. Und auch, wenn der Regen draußen doch viel, viel, viel mehr zum Weiterschlafen als zum Verlassen des behaglich warmen Hauses einlud. Ronin seufzte leise, als er sich endlich doch aus dem Bett quälte, obwohl die Müdigkeit in seinem Körper ganz langsam und stetig von einer vorfreudigen Nervosität verdrängt wurde. Natürlich war diese Nacht- und Nebelaktion kein Vergnügen. Sie hatte einen Hintergrund, wie er ernster gar nicht mehr hätte sein können. Es war ein tödliches Spiel, auf das sie sich da einlassen mussten, aber irgendwo war und blieb es eben doch ein Spiel, und ganz, ganz still und heimlich konnte Ronin nicht bestreiten, dass er sich auf diese Nacht freute.

„Du solltest dich beeilen“, mahnte ihn Ravins emotionslose Stimme aus der Dunkelheit des Zimmers hinter ihm. Ronin drehte sich um und nickte umso eifriger, als er sah, dass Ravin sich sogar bereits angezogen hatte. Ganz in Schwarz, mit etwas weniger als kniehohen Stiefeln, mit Handschuhen, mit zahlreichen Schnallen und Verschlüssen an der Kleidung, die irgendwelche verstärkenden und schützenden Teile befestigen oder verdecken sollten. Darüber trug er einen fast bodenlangen, pechschwarzen Mantel, der die Waffe an seiner Seite beinahe, aber doch nicht ganz verbarg. Wie ein Engel, dachte Ronin mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. Ein Todesengel, der einsam und rächend durch die Straßen der Großstadt zog. Der die makellos weißen Häuser dieses heuchlerischen Trabanten mit Blut befleckte. Schon bei dem Gedanken daran spürte Ronin einen wohligen Schauer über seinen Körper laufen. Er beschloss, sich lieber ebenfalls ans Anziehen zu machen.

Passend zu seinem Partner wählte Ronin eine schwarze Hose, steckte sie in ebenfalls schwarze Stiefel und zog sich ein gleichfarbiges Kapuzenoberteil über. Er liebte diesen Sweater, weshalb er auch beschloss, dass die Katzenöhrchen an der Kapuze selbst in geheimer Mission nicht weiter stören würden. Dann band er sich die Haare zusammen und drehte sich mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen zu Ravin um.

„Du solltest einen Mantel überziehen“, erwiderte dieser wenig begeistert. „Dieses Wetter ist nicht gut, um in ein Haus einzusteigen. Das Wasser hinterlässt Spuren. Deshalb sollte man die Kleidung schützen.“

„Klar“, nickte Ronin, und wieder erschauderte es ihn ganz wunderbar. In ein Haus einsteigen. Ravin sprach es aus wie etwas Selbstverständliches. Für ihn war es das wohl auch. Langsam wurde das Ganze von einem verbotenen Spiel zu einem professionellen Coup. Auch als professioneller Killer einer perfekt organisierten Mafia machte Ravin eine gute Figur, dachte Ronin. Aber eigentlich machte Ravin doch immer und in einfach jeder Rolle eine gute Figur. In wirklich jeder. Ronin musste grinsen. „Und jetzt gehen wir endlich.“

Er nahm einen Mantel aus dem Schrank und zog ihn an. Es war nicht sein wärmster Mantel, nur knielang, aber er sah umwerfend aus mit all seinen Schnallen, Aufnähern, Sicherheitsnadeln und Nähten, außerdem war es sein einziger Mantel, der ausnahmslos schwarz war. Eine Kapuze hatte er nicht, aber die war ja auch schon an seinem Sweater. Ronin warf noch einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel, dann löschte er das Licht im Zimmer und folgte Ravin in die regnerische Dunkelheit hinaus.

Die Luft war so schwer vom Regen, dass das Atmen Mühe bereitete, aber es war nicht kalt. Eine gewisse Elektrizität lag über den Straßen, deren steinerne Helligkeit im herabfallenden Wasser ertränkt wurde. Dann und wann zerriss ein tiefes Grollen die bedrückende Stille. Am Himmel hingen tiefe, schwarze Wolken, aber man konnte sie durch den Teppich von Tropfen hindurch kaum mehr erkennen. Es wirkte nur einfach so, als ob der Himmel dem Erdboden deutlich näher gekommen wäre. Überhaupt war alles, wirklich alles ganz unbeschreiblich… dicht. Eine kompakte Masse aus Regen und Feuchtigkeit, die alle Konturen in sich aufsog. Alles wurde zu Wasser, über, neben und unter ihnen. Das vorstädtische Arkadien ertrank in einem Sommergewitter.

Ronin war zutiefst davon beeindruckt, dass Ravin in dem geisterhaften Labyrinth, in das sich diese perfekte kleine Parallelwelt verwandelt hatte, nicht ein einziges Mal die Orientierung verlor. Seine makellose Gestalt wurde zu einem noch schwärzeren Fleck im Schwarz der Nacht. Wie das Gegenteil eines Irrlichts. Vollkommene Dunkelheit, die ihm einen sicheren Weg durch diesen beklemmenden Tunnel aus Nässe wies. Ronin beschleunigte seine Schritte ein wenig, um nicht zu weit zurückzufallen. Für ihn sah eine Straße wie die andere und im Grunde genommen keine von ihnen mehr wie eine Straße aus. Eigentlich, ging es Ronin durch den Kopf, war dies ja das wahre Gesicht von Merrywood Ville. Eine Geisterstadt. Bleich, tot und verlassen. Die Brutstätte eine kranken Hirnes, das sich nach weiteren kranken Hirnen sehnte. Es war schon eine abscheuliche Vorstellung. Plötzlich kam Ronin der Gedanke in den Sinn, dass seine Schritte in den niedrigen Flüssen am Boden wie ein Schmatzen klangen, und er wollte überhaupt nicht wissen, was da gerade eben verspeist wurde.

Im ersten Moment war er froh, als sie Minette Mulligans Haus endlich erreicht hatten. Aber wirklich nur im allerersten. Dann schlug die ohnehin schon beklemmende Atmosphäre in eine noch viel beklemmendere Atmosphäre um. Das weiße Holz des Hauses wirkte im Schleier des Regens so fahl wie die Haut einer Wasserleiche. Die dunklen Fenster klafften darin wie offene Münder. Oder wie Wunden. Ronin musste wieder an die tiefroten Schluchten auf den Tatortfotos denken, die einmal intakte menschliche Köpfe gewesen waren. Bevor man sie aufgesägt und ihnen das Gehirn herausgerissen hatte. Aus irgendeinem Grund kam ihm dieses Haus auch ein bisschen so vor, als ob der Merrywood Killer es umgebracht hätte.

D erwartete sie schon. Er trug enge, halbhohe Stiefel, in die er eine etwas weitere Hose gesteckt hatte. Seine Jacke war in der Hüfte mit einem Gürtel zusammengeschnallt. Er hatte keine Kapuze aufgezogen, sondern trug eine Art Mütze, die auch seinen Mund bedeckte, sodass nur die Augen zu sehen waren. Er sah aus wie ein Ninja. Im Dunkel der Nacht musste er ganz verschwinden, aber vor der bleichen Haut des Hauses hob sich seine Gestalt so deutlich ab, wie es bei diesem Unwetter eben möglich war. Er hob kurz eine Hand, als er sie sah, und nickte ihnen zu. Niemand sprach ein Wort. Es war, als ob sie mitsamt der Stadt verstummt wären. Nur noch das Gewitter besaß eine ächzende, prasselnde, klatschende und donnernde Stimme.

Ravin kam schräg neben dem Haus zum Stehen. In einem toten Winkel, da war sich Ronin vollkommen sicher, sodass man ihn von keinem Fenster aus erkennen konnte. Er warf einen Blick über die Schulter zurück, Ronin entgegen. Genau in diesem Moment zuckte der erste Blitz über den Himmel, als ob es ein treffend eingesetzter Spezialeffekt in einem Film wäre. Ravins Gesicht wurde von flackerndem Licht erhellt. Die wenigen Strähnen, die nicht von seiner Kapuze verdeckt wurden, waren tropfnass. Sein Mantel wirkte wie ein Umhang, aus dem jetzt nur das Weiß seines Profils hervorblitzte, ein kleines bisschen eiskalter Perfektion in völliger Finsternis. Kein Todesengel mehr, sondern Gevatter Tod höchstpersönlich. Selbst Ronin musste zugeben, dass es ein beängstigender Anblick war.

„Jeder von euch behält eine Seite des Hauses im Auge.“ Natürlich war es Ravin, der das kollektive Schweigen brach. Der beklemmende Druck, der auf der ganzen Szenerie lastete, schien ihn überhaupt nicht zu berühren. „Ich werde alleine da reingehen. Falls sich etwas tut, meldet ihr euch auf meinem PT, das wird dann ein kurzes Vibrationssignal abgeben.“

„Du willst echt allein gehen?“, fragte D, aber es klang nicht ernst gemeint. „Schade. Wo ich mir extra so ein cooles Outfit rausgesucht habe. Das perfekte Outfit für das perfekte Verbrechen.“

Er wirkte nicht im Geringsten so, als ob er tatsächlich enttäuscht wäre. Ronin sah ihm augenblicklich an, dass er eigentlich sogar verflucht erleichtert war, nicht mitgehen zu müssen. Ihm selbst ging es da nicht viel anders. So ein Einbruch war schon eine aufregende Sache, ohne Frage. Aber wenn er dieses Haus betrachtete…. seine gesichtlose Fassade. Und den Vorgarten. Im Rasen stand jetzt schon das Wasser. Hier und dort quoll zwischen den Halmen die feuchte Erde wie eine schwarze Eiterbeule hervor. Dazwischen saßen steinerne Tiere. Hunde. Katzen. Diverse Nagetiere. Es kam Ronin so vor, als ob all ihre toten Augen einzig und allein ihn fixieren würden. Er wollte gar nicht mehr von ihnen wegsehen, weil er sich plötzlich sicher war, dass sie sich bewegen würden, wenn er sie nur erst aus den Augen lies.

Ravin war inzwischen bis zum Haus geschlichen, so leise, dass es Ronin tatsächlich nicht bemerkt hatte. Dort streifte er sich den Mantel ab und drückte ihn D in die Hände.

„Halt ihn solange“, wies er den Schwarzhaarigen an. „Ronin kann ja dann nach hinten gehen.“

„Gerne!“, brachte Ronin ein bisschen mühsam hervor. Das Sprechen fiel ihm immer noch schwer, aber er fühlte sich auf jeden Fall erleichtert. Er hatte zwar nicht die leiseste Ahnung davon, was ihn da hinter dem Haus erwarten würde, aber er war froh, von diesen grauenhaften Tieren wegzukommen.

Es kostete Ronin einige Überwindung, den Blick von den Figuren ab- und Ravin zuzuwenden. Sofort fühlte er sich noch beobachteter. Er zog sich seine Katzenohrenkapuze ein wenig tiefer in die Stirn und konzentrierte sich ganz auf seinen weißhaarigen Mitarbeiter. Seinen partner in crime, sozusagen. Ravin hatte sich gegen die Hauswand gepresst. Unter seiner Kleidung schien sich jeder Muskel seines Körpers, seiner perfekten Proportionen abzuzeichnen, trotz der Dunkelheit. Das Haus war wie eine Leinwand für ein vollkommenes Kunstwerk. Ravin bewegte sich lautlos auf die Tür zu. Sein Atem ging ganz ruhig. Er näherte sich seinem Ziel mit der tödlichen, gespannten Eleganz eines Raubtieres, das seinem arglosen Opfer in jeder Hinsicht überlegen war.

Ganz langsam zog Ravin einen seiner Handschuhe aus. Er legte die zugehörige Hand direkt über das elektronische Schloss der Tür, ohne es dabei zu berühren. Ronin konnte nicht genau erkennen, was dann geschah. Er sah nur, dass ein kurzes Zittern durch Ravins Körper lief. Dann ließ der Weißhaarige seine Rechte wieder sinken, strich kurz mit den Fingern der anderen Hand über die noch entblößte Innenfläche und zog sich den Handschuh wieder über.

Dann öffnete er die Tür. Wieder tat er es mit einer Vorsicht, die beinahe schon grausam anzusehen war. Das weiße Holz bewegte sich nur um Zentimeter in seinen Angeln. Und das auch nur solange, bis Ravin innehielt und einige Sekunden lang wartete, nur um dann in noch ein bisschen langsamerem Tempo fortzufahren. Ronin spürte eine Nervosität in sich aufsteigen, die zuvor noch nicht dort gewesen war. Seine Finger spielten an den zahllosen verschönernden Accessoires seines Mantels herum. Er wünschte sich mit einem Mal nichts anderes mehr, als dass Ravin endlich in diesem verfluchten Haus verschwinden würde, bevor es am Ende noch zu spät war. Er wollte, dass der Weißhaarige da jetzt hineinging, nur das und nicht mehr. Alle weiteren, vernünftigen Gedanken wurden in diesen unerträglich angespannten Minuten zur Nebensache.

Aber Ravin trat nicht ein. Wenigstens nicht sofort. Er zog etwas aus einer seiner Taschen – eine kleine Kugel, wie Ronin erst auf den zweiten Blick erkannte. Der Regen trübte ihm immer noch die Sicht. Auf dieser Kugel betätigte der Weißhaarige irgendeinen Knopf, dann schob er seine Hand durch den schmalen Spalt zwischen der Eingangstür und ihrem Rahmen hindurch und zog sie wenig später ohne die Kugel wieder ins Freie zurück. Dann wartete er noch einmal. Zwei, drei, mindestens fünf Minuten lang. In Ronins Kopf verzerrten sie sich zu einer Ewigkeit. Er bewegte seinen Fuß durch die kleinen Sturzbäche, die über den Gehweg in Richtung Straße liefen. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, laut zu singen. Das war sicherlich mit das Bescheuertste, was ihm in dieser Situation einfallen konnte, und deshalb unterdrückte er das Bedürfnis letztlich auch. Aber leicht fiel ihm das ganz und gar nicht.

In diesen wenigen Momenten war Ronin so sehr mit sich selbst und seinen abwegigen Gedanken beschäftigt, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie Ravin in dem Haus verschwand. Als er von seinem Stiefel im Wasser aufblickte, war die weiße Tür des weißen Hauses wieder geschlossen. Die schwarze Gestalt davor war verschwunden. Wenn Ronin jetzt die fahle Wand betrachtete, kam ihm die Erinnerung an einen lebenden Fremdkörper vor dem toten Angesicht des Hauses wie ein surreales Traumbild vor. Auf eine Weise war es so, als ob Ravin wirklich und im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden wäre.

Vielleicht war es ja genau dieser Gedanke, der so ein ganz verflucht ungutes Gefühl in der beklemmten Enge seiner Brust hochkriechen ließ.
 

Ravin trat in völlige Finsternis. Seine Augen hatten sich im verregneten Schwarzgrau des Straßenlabyrinthes bereits an die Dunkelheit gewöhnt, aber hier, im Inneren des Hauses, musste selbst er noch einige Male blinzeln, bis er seine Umgebung einigermaßen deutlich erkennen konnte. Den Eingangsflur, in dem Minettes schmucklose, biedere Garderobe hing. Ebenso schmucklose Schuhe, darunter zwei Paar Gummistiefel. Daneben lagen zwei Regenschirme einfach auf dem Boden. Und noch etwas anderes. Etwas Großes, das sich bewegte, zuckte. Ein Fellklumpen, aus dem vier weit vom Körper abgespreizte Beine herauswuchsen.

Ein Hund, wie Ravin in Gedanken hinzufügte. Er schlief. Fast direkt neben seinem merkwürdig riechenden Leib lag die kleine Kugel, deren unsichtbarer Inhalt jedes Lebewesen, hoffentlich innerhalb dieses Hauses, auf jeden Fall aber innerhalb dieses Stockwerkes, in das Reich der Träume geschickt hatte. Selbst die Räder in den Hamsterkäfigen drehten sich nicht mehr. Ravin warf einen kurzen Blick in Richtung der offenstehenden Küchentür. Dahinter konnte er den drahtigen, in der Dunkelheit beinahe nackt wirkenden Körper eines weiteren Hundes erkennen. Er war sehr klein, und seine Augen schienen viel zu groß für seinen Kopf, so groß, dass sie selbst im geschlossenen Zustand noch hervorstanden.

Der dritte Hund lag im Wohnzimmer, direkt vor dem Sofa. Der fette Perser schlief nach wie vor auf dem Fensterbrett. Überall nur Fell, das reglos im Haus verstreut war. Es hatte etwas von einem Massaker. Als ob ein Auto über den Hof eines Tierheims gefahren wäre. Aber vielleicht war es auch nur der allgegenwärtige Gestank – nein, eher die Sinfonie von Gestank, die ihn an Kadaver denken ließ. Natürlich waren all diese Tiere nicht tot. Ravin hob vorsichtig seine Betäubungsgranate auf und steckte sie wieder ein. Es war eine großartige Waffe. Sie enthielt hochwirksames Gas, das schnell vom Körper aufgenommen wurde, sich an der Luft aber ebenso schnell wieder verflüchtigte. Noch dazu funktionierte sie absolut lautlos. Im Laufe seiner Zeit als Soldat hatte Ravin diese nützlichen kleinen Helfer schon unzählige Male eingesetzt, und nie war es im Zuge dessen zu unerwünschten Todesfällen gekommen.

Ravin schüttelte den Kopf, um die überflüssigen Gedanken über Tod und Verwesung wieder aus selbigem zu verbannen. Dann stieg er über den schlafenden kleinen Kläffer in die Küche hinein. Es war gut, dass er die Tür nicht mehr öffnen musste. Das Öffnen von Türen war grundsätzlich ein Akt, der mit Lärm verbunden sein konnte, und somit ein Risiko, das er gerne vermied. Sofern es eben möglich war. Denn hier in der Küche waren natürlich auch Türen, sogar etliche Türen und Schubladen, die allesamt eine nähere Untersuchung verdienten. Zum Glück hatte Ravin in diesen Dingen ausreichend Übung.

Das Eingehen des Risikos war leider kaum die Gedanken wert, die er daran verschwendet hatte. In den Schubladen fand Ravin Dinge, die selbstverständlich irgendwie verdächtig waren, die aber nun einmal zur Grundausstattung beinahe jeder Küche gehörten. Zahlreiche Messer in allen möglichen Längen und Ausführungen. Ein kleineres Beil. Eine elektronische Küchensäge. Diverse Reinigungsmittel. Arbeitshandschuhe. Drei oder vier Scheren, darunter eine Große, wahrscheinlich, um Geflügel zu zerteilen. Außerdem natürlich Töpfe, Geschirr, Pfannen, etliche Formen und Behältnisse. Tierfutter. Bleichmittel. Spülmaschinentabs.

Ravin beschloss, dass es eine aussichtlose Suche war. Er wandte sich dem Kühlschrank zu.

Als er dessen naturweiße Tür öffnete, stieg ihm sofort ein säuerlicher Geruch in die Nase. Auf den weißen Gittern drängten sich etliche Plastikbehälter eng aneinander. Auf ihnen standen Namen, Mr. Michaels, Tabby, Chuck und Pokey. Andere waren nicht beschriftet. Ravin sah sofort, dass die meisten von ihnen Fleisch enthielten. Rötlichen Brei. Ganze Klumpen. Seltsame gelbliche, gummiartige Streifen mit einer welligen, unregelmäßigen Oberfläche. Die blutigen Schlingen eines Darmes. Ravin hatte niemals verstanden, weshalb Menschen ihre Wohnung mit einem oder mehreren Tieren teilten, und jetzt verstand er es weniger denn je. Vorsichtig öffnete er zwei der Plastikdosen, deren blutiger Inhalt mit bloßem Auge nicht zu definieren war, und entnahm ihnen kleine Proben. Er glaubte zwar nicht, dass es sich bei dem unappetitlichen Brei um Gehirnmasse handelte, aber man konnte ja nie wissen.

Das Wohnzimmer war schnell durchsucht. Es gab etliche Tierschutzzeitschriften und eine Sammlung diverser Zeitungsausschnitte, und das war auch schon das Interessanteste. Ravin hatte noch nicht oft eine richtige, auf Papier gedruckte Tageszeitung gesehen, aber er wusste, dass es das auch auf Attraya noch gab. Oder wieder gab, weil etliche Menschen so etwas gerne kauften. Um es beim Frühstück zu lesen, wie er gehört hatte. Warum man nicht auch auf dem Display eines Palmtops lesen konnte, was ja viel kleiner, praktischer und handlicher war und zudem nicht umgeblättert werden musste, das leuchtete Ravin allerdings nicht ein.

Rasch überflog er die Überschriften der gesammelten Meldungen. Meist ging es um Aktionen radikaler Tier- und Umweltschützer, die allerlei Schaden an Menschen und Sachen angerichtet hatten. Ravin konnte sich gut vorstellen, dass Minette an einigen dieser Übergriffe noch selbst beteiligt gewesen war. Andererseits konnte er sich genauso gut vorstellen, dass sie einfach nur gern beteiligt gewesen wäre. D konnte das vermutlich ganz einfach herausfinden, aber eigentlich interessierte es Ravin überhaupt nicht. Er blätterte weiter in dem erstaunlich sauber geführten Ordner. Kritische Schriften über die Humantechnologie waren selbstverständlich auch dabei, doch die sah er sich erst gar nicht näher an. Der einzige interessante Artikel berichtete über den tragischen Tod des Francesco de la Stada auf dem Kennedy Drive. Aber der war unglaublich schlampig recherchiert, und außerdem war ja auch schon vorher klar gewesen, dass Minette über die Morde Bescheid gewusst hatte.

Ravin stellte den Ordner wieder beiseite und schlich zur Treppe, die ins Ober- und Untergeschoss führte. Hier roch es ganz besonders unangenehm, schlimmer noch als in der Küche und im Wohnzimmer. Nach kurzem Überlegen beschloss der Weißhaarige, zuerst den oberen Teil des Hauses zu durchsuchen. Dies war nicht nur der gefährlichste, sondern leider auch der am wenigsten Erfolg versprechende Teil einer Hausdurchsuchung, das wusste er aus eigener Erfahrung. Es war gut, wenn er das schon einmal hinter sich gebracht hatte. Außerdem war es eine Tatsache, dass das alte Sprichwort von den Leichen im Keller bei den meisten Menschen weit mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthielt.

Die Stufen knarrten leise, ganz leise, aber Ravin ging genau über den stützenden Metallstreben, die die Treppenstufen trugen, so konnte er es weitestgehend vermeiden, Geräusche zu machen. Er wunderte sich ein bisschen darüber, wie gespannt seine Nerven waren. Natürlich brauchte er jetzt genau das, absolute Konzentration, aber gerade empfand er die Dunkelheit des Hauses als bedrohlicher, als es vermutlich angebracht gewesen wäre. Vielleicht lag es ja wirklich an diesen unangenehmen Gerüchen, die bei Nacht, ohne all die ablenkenden Sinneseindrücke des Tages, noch deutlich intensiver schienen.

Von irgendwoher kam ein Knall.

Ravin erstarrte. Er bewegte keinen einzigen Muskel mehr, seine Atmung setzte schlagartig aus, nicht einmal mehr seine Augenlider senkten sich noch. Er war einfach in der Bewegung eingefroren und lauschte in die blässlich trübe Finsternis hinein. Der Regen trommelte hart auf das Dach, was man hier oben natürlich noch lauter hörte als unten, aber auch gegen die Fenster und gegen die Wände, als ob er das Haus mit all seinem Gestank und den Eingeweiden im Kühlschrank einfach abreißen und fortspülen wollte. Ravin konnte dieses Bestreben durchaus nachvollziehen.

Aber es war nicht nur der Regen, den er hörte. Den Knall hatte er sich nicht nur eingebildet, und nach kurzem Nachdenken wusste er auch, was für eine Art von Knall es gewesen war: eine Kollision mit Metall. Mit eher dünnem Metall. Als ob jemand gegen ein Gitter geschlagen hätte, allerdings nicht besonders kräftig. Minette zeigte sich nicht. Offenbar hatte sie das Geräusch entweder nicht gehört, war doch von Ravins Gas betäubt worden oder sie störte sich einfach nicht daran. Trotzdem war Ravin nicht beruhigt. Da waren noch andere Geräusche, die er weniger leicht einordnen konnte, und die irgendwie… lebendig klangen. Der Gedanke, dass hier oben noch mehr Tiere auf ihn warteten, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er schlich in den oberen Flur hinauf und sah sich zunächst einmal um. Vier Türen, ein ganz ähnlicher Grundriss wie der ihres eigenen Hauses. Das half ihm weiter. So konnte er wenigstens mit einer relativ großen Gewissheit darauf schließen, wo sich hier das Bad befand. Dort wollte er zwar noch überhaupt nicht hin, aber es bot ihm immerhin einen Anhaltspunkt für weitere Untersuchungen. Ravin spähte nur kurz in die betreffende Tür hinein, vergewisserte sich, dass seine Vermutung auch richtig gewesen war, und schlich dann weiter, zu dem zweiten Raum, der sich auf der Seite des Flures befand, die von der Treppe durchbrochen wurde. Legte ein Ohr an die Tür. Lauschte. Hörte kaum etwas anderes als Regen, immer nur diesen ewig prasselnden Regen, der gar nicht mehr aufhören wollte. Sie hatten sich keine gute Nacht für diesen Einbruch ausgesucht. Er konnte nur raten, dass es sich bei dem dumpfen Ächzen oder Knurren hinter der Tür um Schlafgeräusche, um bedauerlicherweise ziemlich leise Schlafgeräusche handelte.

Wenn ja, dann folgte jetzt der riskanteste Teil des riskantesten Teiles dieser ganzen riskanten Aktion. Der Teil, auf den es wirklich ankam. Ravin wusste, dass er es beinahe schon geschafft hatte, wenn er jetzt nur nicht versagte. Alles stand und fiel damit, dass er vorsichtig genug war. Behutsam, unendlich behutsam drückte er die Türklinke nach unten. Nicht mehr zentimeter-, sondern millimeterweise. Er unterbrach diese Bewegung erst, als er einen Widerstand spürte und die Klinke somit ihren tiefsten Punkt erreicht hatte. Dann öffnete er die Tür. Der Boden war mit Teppich ausgelegt, was Vor- und Nachteile hatte. Das Geräusch des Öffnens wurde gedämpft, aber so ein ganz charakteristisches leises Scharren ließ sich auch bei aller Vorsicht nicht vermeiden. Ravin konnte nur hoffen, dass Minette keinen allzu leichten Schlaf hatte.

Es verstrichen mindestens fünf Minuten, bis er die Tür weit genug geöffnet hatte, dass er seine Hand hindurchschieben konnte. Er lauschte auf jeden Atemzug, jede noch so leise Bewegung der Schlafenden. Das Rascheln ihrer Bettwäsche, wenn sie sich ein bisschen mehr auf die Seite drehte. Dann zückte er eine weitere seiner Betäubungsgranaten. Jetzt war ihr Einsatz riskant, weil er die Tür danach verhältnismäßig schnell wieder schließen musste und dabei immer noch verräterische Geräusche machen konnte. Außerdem musste er die kleine Kugel mit nur einer Hand aus der Tasche holen, auslösen und in das Zimmer legen, weil er mit der anderen immer noch die Türklinke nach unten drückte. Ravins Konzentration hatte ihren Höhepunkt erreicht, und seine Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Seine Finger bewegten sich trotzdem ganz ruhig. Glitten in die Tasche, umfassten eine Kugel, holten sie hervor. Drückten den Knopf.

Und dann kam ein weiterer Knall aus dem gegenüberliegenden Zimmer, lauter noch als zuvor. Ravin wandte den Blick ganz automatisch dieser Lärmquelle zu, und ein leises Zucken lief durch seinen Körper. Minette knurrte. Sie knurrte wie ein Tier, und dann richtete sie sich auf, ganz plötzlich und unvermutet. Das wirre Haarnest auf ihrem Kopf zeichnete sich scharf vor dem helleren Viereck des Fensters ab. Draußen blitzte es. Das ganze Zimmer, Minette als Schattenriss in seiner Mitte, flackerte bläulich hell auf. Einen kurzen Moment lang beschleunigte sich Ravins Puls, ohne dass er noch Einfluss darauf nehmen konnte. An der Betäubungsgranate in seiner Hand blinkte einmal kurz ein Warnlicht auf. Er hielt sie jetzt schon viel zu lange bei sich. Gleich würde das betäubende Gas ausströmen, und zwar unmittelbar in sein Gesicht.

Ihm blieb keine Zeit mehr.

Minette gab ein seltsam gurgelndes Geräusch von sich. Noch im selben Moment ließ Ravin die kleine, so unscheinbare Kugel in den Raum hineinfallen und schloss die Tür. Er schloss sie viel zu schnell. Das Geräusch, das er dabei verursachte, war nicht laut, aber es existierte, und das allein war falsch. Sein Herz schlug immer noch öfter pro Minute, als es das eigentlich sollte. Ravin machte einen Schritt zur Seite und presste seinen Körper gegen die Wand. Die Augen hielt er geschlossen. Er war immer noch angespannt, um notfalls schnell zur Treppe fliehen zu können, aber in seinen Gedanken konnte er sich noch nicht von diesem Bild lösen, von Minettes Silhouette, die sich von einer Sekunde auf die nächste wie ein hässlicher Scherenschnitt vor den einzigen hellen Fleck des Zimmers geschoben hatte. Ravin verstand nicht ganz, weshalb das so war, aber es fiel ihm schwer, nach einer angemessenen Wartezeit wieder die Tür zu Minettes Zimmer zu öffnen.

Als er es dann doch trat, war alles ganz ruhig. Minette lag wieder in ihrem Bett, als ob sie niemals etwas anderes getan hatte. Ihr faltiger Mund war im Schlaf weit geöffnet. Kein besonders schöner Anblick. Überhaupt stellte Ravin fest, dass es ihm unangenehm war, diese Frau anzusehen. Sie hatte etwas an sich, das ihn… abstieß. Und das lag nicht nur an ihren Worten des vergangenen Nachmittags. Aber wie so oft konnte er sich auch dieses vage Gefühl nicht erklären, also dachte er nicht weiter darüber nach, sondern wandte sich lieber wieder wichtigeren Aufgaben zu.

Er las die kleine Kugel vom Boden auf. Nahm flüchtig Minettes Zimmer in Augenschein. Und verließ es dann wieder. Aus irgendeinem Grund war es jetzt plötzlich eine Erleichterung, in den schmucklosen Flur hinauszutreten. Als nächstes nahm sich Ravin das Bad vor, machte aber auch hier keine nennenswerten Entdeckungen. Außer vielleicht, dass Minette für so etwas wie Pflegeprodukte offenbar nicht viel übrig hatte. Er fand lediglich neben einem der Waschbecken ein Stück geruchloser Seife, eine Zahnbürste und Zahnpasta mit Kräutern. Weitere Kosmetika gab es nicht.

Ravin verließ auch diesen Raum ganz genau so, wie er ihn vorgefunden hatte. Wieder stand er im Zwielicht des Flures, und es fror ihn ein bisschen, als er sich in Erinnerung rief, was ihn als nächstes erwartete. Die beiden übrigen Zimmer. Die Zimmer mit den Geräuschen. Mit diesem Scharren, Schniefen, Kratzen. Dann und wann auch mit einem Knall. Oder waren es vielmehr dumpfe Atemzüge, die Ravin da hörte? Kämpfte jemand mit bloßen Fingernägeln gegen die Tür seines miefenden Gefängnisses an? Wenn, beruhigte er sich, dann waren dies immerhin Lebenszeichen und somit grundsätzlich etwas Positives.

Es fühlte sich nur leider nicht positiv an, als er – immer noch leise, aber nicht mehr mit derselben extremen Vorsicht wie bei Minettes Schlafzimmer – eine der exakt gleich aussehenden Türen öffnete. Die von ihm aus gesehen rechte von beiden, die der Treppe näher war. Ein beißender Geruch lag in dem Raum. Ravin nahm ihn wahr, noch bevor er eintrat. Es roch ein bisschen modrig, scharf, in jedem Fall aber unangenehm. Und es war verhältnismäßig laut hier. Als der Weißhaarige sich umsah, begriff er sofort, woran das lag.

Die Wände waren zugestellt mit Käfigen. Darin tummelten sich Hamster, Mäuse, Kaninchen und andere kleine Fellballen, deren Namen Ravin überhaupt nicht kannte. Ein ständiges Scharren und Fiepen lag in der Luft. Auf dem Teppich waren mehrere dunkle Flecken zu sehen, außerdem lag Streu und hier und dort auch ein wenig Kot herum. Überall hinter den Gitterstäben war Bewegung. Jetzt fragte Ravin sich nicht mehr, woher die Geräusche, auch die lauteren von ihnen, gekommen waren.

Er hielt sich nicht lange in dem Zimmer auf. Machte einen kurzen Abstecher in den Raum nebenan, aber auch hier sah es nicht viel anders aus. In einer Kiste in der Ecke fand Ravin Verbandsmaterial und einige Medikamente. Für die Tiere. Minettes winzige Hausapotheke in einer der Küchenschubladen war deutlich weniger gut sortiert gewesen. Es wurde lauter, während er vorsichtig den heilenden Inhalt des Kastens untersuchte. Seine Gegenwart schien die kleinen Lebewesen nervös zu machen. Ravin konnte nicht behaupten, dass es umgekehrt nicht genauso war. Seine Sensorik war darauf ausgelegt, auf relevante Sinneseindrücke schnell zu reagieren, aber hier hörten die Eindrücke vor lauter tierischen Geräuschen überhaupt nicht mehr auf.

Ravin erinnerte sich selbst daran, dass er es ja sowieso eilig hatte, und machte sich auf in den Keller. Er schloss die Tür wieder hinter sich, doch die Unruhe im Kleintierzoo ebbte wenigstens vorerst noch nicht ab. Trotzdem zwang sich Ravin weiterhin zu ruhigen, konzentrierten Bewegungen. Er strich sich eine schneeweiße Strähne seiner mittlerweile nicht mehr ganz so nassen Haare aus dem Gesicht, dann stieg er eilig, aber trotzdem möglichst geräuschlos die hölzernen Treppenstufen hinab.

Auf diesem Weg machte er eine Entdeckung, die ihn gleichermaßen überraschte wie auch beunruhigte. Nach seinem Besuch bei Minettes zahlreichen kleinen Mitbewohnern hatte er angenommen, die Quelle des schlimmsten Gestankes bereits ausfindig gemacht zu haben. Jetzt stellte er fest, dass das nicht stimmte. Der unangenehmste aller Gerüche, der auch im ganzen Wohnzimmer, aber vor allem hier im Treppenhaus die Luft verpestete, kam überhaupt nicht von oben. Sondern von unten. Natürlich hatte Ravin keine Ahnung, was da im Keller noch alles für Getier hauste, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es noch mehr sein sollte als im ersten Stock. Außerdem war es kein Geruch nach Leben, der aus der feuchten, schweren Dunkelheit des Untergeschosses emporstieg, sondern… eigentlich das genaue Gegenteil davon.

Ravin beschleunigte seine Schritte ein bisschen.

Unten angekommen, sah der Weißhaarige genau drei Türen. Zwei davon ähnelten denen im Obergeschoss, waren bestenfalls ein wenig einfacher gehalten. Die letzte, ganz am Ende des Ganges, war aus Metall. Sie erinnerte Ravin an die Tür des Kühlschranks oben, obwohl sie von der Grundfarbe her heller und deutlich abgenutzter war. Der Vergleich gefiel ihm nicht. Er hatte nicht vergessen, welche Proben er bereits sicher verstaut an seinem Gürtel trug.

Die beiden gewöhnlichen, sogar sehr langweiligen Türen gaben ihm den Blick auf eine Art Vorratskammer und einen Waschkeller preis. In der Vorratskammer standen hölzerne Regale, die aber nicht sonderlich üppig gefüllt waren, mit ein paar Müslibeuteln, selbstgemachter Marmelade, Biohonig, einer Backmischung für Zitronenkuchen, natürlich auch mit einem großen Bio-Siegel in Form eines tiefgrünen Blattes auf der Vorderseite. Außerdem gab es einen Werkzeugkasten, der aber schon so viel Staub angesetzt hatte, als ob er seit mehreren Jahren nicht benutzt worden wäre. In einer Ecke stand eine Kühltruhe. Ravin warf einen Blick hinein und entdeckte noch mehr Fleisch, vermutlich auch für die Tiere. Eingefrorenes Brot, eingefrorene Soßen, Tiefkühlgemüse. Der Weißhaarige fand, dass Letzteres nicht so recht zu Minette passte, konnte aber nicht ganz genau sagen, weshalb.

Der Waschkeller war auch nicht interessanter als sein Nachbarzimmer. Es gab eine Waschmaschine und einen stromsparenden Wäschetrockner. Zwei große Plastikwannen in einer Ecke. Einen Wäscheständer, auf dem ein paar weiße Socken und zwei unschöne, ausgetragene Unterhosen hingen. Eine Bügelmaschine. Zwei große Packungen mit Waschmittel. Ravin hatte überhaupt nicht gewusst, dass es Waschmittel auch in Pulverform gab. Die Maschinen, die er kannte, dosierten automatisch eine reinigende Substanz für jeden Waschgang, die man nur ab und an – selten – direkt in die Maschine nachfüllen musste. Aber dies war ja erstens Merrywood Ville und zweitens Minette Mulligans Haus, also wunderte ihn diese veraltete Technik nicht.

Ravin konnte auch dieses Zimmer schnell wieder verlassen. Als er es tat, als er wieder auf den dunklen Gang mit den kahlen, weiß verputzten Wänden hinaustrat, der nur von einer einzigen blanken Glühbirne beleuchtet wurde, fühlte er einen seltsamen Druck in seiner Magengegend, der zuvor noch nicht dort gewesen war. Er näherte sich der letzten Tür mit einem Unbehagen, das ihn selbst überraschte. Trotzdem – oder gerade deshalb gestattete er es sich nicht, langsamer zu werden, innezuhalten. Er ging geradewegs auf das hässliche weiße Stück Metall zu, drückte den etwas schief in der Fassung hängenden Türgriff hinunter und trat ein.

In derselben Sekunde stellte er fest, dass sich der ekelhafte Gestank genau hier unten zusammenbraute, um von dort aus in das gesamte Haus zu sickern. Der Geruch in dem Raum war abscheulich. Im ersten Moment konnte Ravin überhaupt nicht anders, als den Kopf sofort wieder abzuwenden. Dann zwang er sich doch zum Eintreten. Dies war übrigens auch aus anderen Gründen nicht gerade einfach. Es gab hier kaum einen freien Platz auf dem Boden. Das kleine Kellerzimmer war die Perversion des gesamten restlichen Hauses. Was oben zuwenig war, war hier unten deutlich zuviel. In beinahe jeder Hinsicht.

Das einzig Leere… oder eher Kahle in dem Raum waren seine Wände. Sie trugen die Farbe von schmutzigem, schlierigem Beton. Eine durchaus passende Farbe für einen Keller, deswegen aber nicht weniger hässlich. Es gab nur ein winziges Fenster, direkt unter der Decke, und das war eng vergittert. Von der Decke hingen lose Kabel herunter. Eine Lichtquelle gab es hier nicht mehr. Wenigstens keine elektrische.

Zwischen all den Kisten, die vor Ramsch schier überquollen, den gebündelten Zeitungsstapeln, den verblichenen Büchern, gesplitterten Puppenköpfen, schmutzigen Tischtüchern, altmodischen Kleidungsstücken, rostigen bis angebrannten Töpfen und Haushaltsgeräten, den mottenzerfressenen Bettlacken, heruntergebrannten Teelichtern, Schuhkartons, Stoffblumen, Teppichen, Plastiktüten, Postkarten, geschwärzten Mikrowellen, leeren Flaschen und den zahllosen anderen Nutzlosigkeiten stand ein großer alter Ofen. Er war aus schwarzem Eisen und hatte die Form eines liegenden Zylinders auf einem steinernen Sockel. Vorne war eine Klappe mit einem schmalen Einsatz aus feuerfestem Glas, das aber schon längst von Ruß geschwärzt war. Außerdem hatte diese Tür des Ofens einen Verschluss mit einem kleinen Riegel.

Durch Ravins Körper lief ein kurzes, eisiges Zittern, und ein beklemmendes Gefühl legte sich um seinen Hals und die Brust. Er wusste nicht, wofür ein Ofen einen Riegel brauchte. Oder wofür Minette hier unten einen Ofen brauchte. Eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen. Und er wollte diesen Raum vor allem nicht betreten, dieses stinkende Geschwür im Körper eines für so viele Tiere doch erstaunlich sauber wirkenden Hauses. Natürlich hatte er keine Wahl und natürlich trat er ein, aber er ließ die Tür des Raumes einen Spalt breit geöffnet. Dann balancierte er auf Zehenspitzen durch das allgegenwärtige Chaos auf den Ofen zu.

Er ging direkt neben dem Metallungetüm in die Knie. Hier war der Gestank am schlimmsten, und Ravins Herz schlug ihm jetzt bis zum Hals, als er langsam den Riegel der Tür zurückschob. Die Klappe quietschte, als er sie vorsichtig öffnete. Es klang wie ein Schrei. Ravin behielt die Spannung in seinen Beinen, um jeder Zeit aufspringen… wegspringen zu können. Doch dann war die Klappe offen und nichts geschah. In dem Ofen lag schwarze, übelriechende Asche. Keine große Überraschung. Ravin musste sich trotzdem dazu zwingen, in den pechfarbenen Schlund hineinzugreifen und eine Probe davon zu entnehmen. Er blickte dreimal über die Schulter in den Raum, um sicherzugehen, dass da niemand hinter ihm stand, der ihn in den Ofen stoßen und den Riegel vorschieben konnte. Zwischen all dem Gerümpel hätte sich überall jemand verstecken können. Ravin versuchte, sich einzureden, dass diese Gedanken vollkommen lächerlich waren, aber es gelang ihm nicht.

Mit einem Ruck zog er seine Hand zurück und schlug die Ofentür mehr zu, als dass er sie schloss. Dann schob er den Riegel wieder vor. Er rutschte einmal von dem rauen Metall ab, weil seine Finger zitterten. Das erhoffte Gefühl von Erleichterung stellte sich nicht ein. Ravin hielt sich an den eigenen Oberarmen fest und konzentrierte sich ganz auf seine Atmung. Die Augen schloss er dabei aber nicht. Trotzdem merkte er nach einigen Sekunden, dass er zu einer gewissen inneren Ruhe zurückfand, zu einer Kälte, die für ihn schon selbstverständlich geworden war. Sein logischer Verstand schaltete sich wieder ein.

Und genau dieser logische Verstand flüsterte ihm ins Ohr, dass es in dem Ofen nicht gestunken hatte.

Der Geruch der Asche war nicht unbedingt angenehm gewesen, das stand außer Frage. Aber die Quelle des schlimmsten Gestankes war dennoch nicht der Ofen. Sondern eine Kiste, die unmittelbar zu seiner Rechten stand. Jetzt, da er wieder klar denken konnte, bemerkte er es sofort. Die Kiste war aus Holz und hatte im Gegensatz zu den meisten Behältnissen hier im Raum sogar einen Deckel. Ravin wandte sich ihr zu, hob den Deckel an und beugte sich über die große Truhe, um hineinzusehen.

Eine Wolke bestialischen Gestankes schlug ihm mitten ins Gesicht, die alles zuvor Dagewesene an Widerwärtigkeit bei Weitem übertraf. Ravin wandte ruckartig den Kopf zur Seite und presste eine Hand fest auf seinen Mund, als ihm ein heftiges Würgen den Hals hochkroch. Er wollte nach Luft schnappen, aber um ihn herum existierte nur noch Fäulnis und Verwesung. Der Weißhaarige krallte sich die Finger der noch freien Hand in seinen Arm, um nicht endgültig die Beherrschung, beziehungsweise sein letztes Abendessen wieder zu verlieren. Er musste blinzeln, weil ihm Tränen in die Augen gestiegen waren.

Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, blickte Ravin mit angehaltenem Atem doch noch einmal in die Kiste hinein. Zunächst sah er lediglich ein Tuch, das wohl irgendwann einmal weiß gewesen war. Jetzt war seine Oberfläche rau und schwer von rotbräunlichen Krusten. Vorsichtig hob Ravin den Stoff mit seinen Fingerspitzen an. Und musste sich dann im Geiste korrigieren: Dies hier war keine Kiste. Es war ein Sarg.

Ravin hatte in seinem jungen Leben schon sehr, sehr viele Menschen auf sehr, sehr viele verschiedene Arten umgebracht. Doch der Anblick, der sich ihm jetzt bot, ließ selbst ihn noch erschaudern. Minette hatte den Tod in seiner widerwärtigsten Form in einem einzigen großen Behälter eingefangen. Man sah den Boden der Truhe nicht, nur eine glitschige, ekelhafte Masse aus verschiedenen grausigen Bestandteilen. Kleine Hamster, denen die Haut fehlte, mit Bissspuren an den Bäuchen. Halbverweste Eingeweide. Ein totes Kaninchen, in dessen aufgeschnittenem Bauch sich die Maden nur so tummelten. Eine offensichtlich überfahrene Katze, die Minette buchstäblich von der Straße abgekratzt haben musste. Etliche Knochen. Das abgetrennte Bein eines größeren Tieres.

Wieder spürte Ravin ein Würgen in seiner Kehle, und so ließ er das Tuch auf den ekelhaften Brei sinken und setzte dem Sarg seinen Deckel wieder auf. Dann sprang er auf die Füße, kämpfte sich durch den Raum und hinaus aus dem vielleicht grauenvollsten Zimmer, das er jemals in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Auf eine Probe von dem blutigen Matsch in der Kiste verzichtete er. Sein Blick fiel auf die Tür der Speisekammer gleich nebenan, und sofort wurde ihm noch ein bisschen übler. Er setzte sich erneut in Bewegung, so schnell es eben auf seine lautlose Weise möglich war. Es kam ihm vor wie eine Flucht. Ravin achtete nicht einmal mehr darauf, ob die Tiere in Küche, Flur und Wohnzimmer auch wirklich noch alle schliefen. Die Küche. Der Kühlschrank. Das waren alles Dinge, an die er jetzt nicht denken wollte.

Er öffnete die Tür aus diesem Gefängnis, diesem Grab, diesem House of Horrors, und trat mit zwei großen Schritten hinaus in den Regen. Dann trat er wieder zurück unter das Vordach. Schloss die Tür. Und winkte D zu sich heran, dass er ihm seinen Mantel geben konnte. Er schlüpfte hinein und verließ dann den Vorgarten, ohne noch einmal die Tierfiguren anzusehen. Und ohne zum Haus zurückzublicken. Der Regen prasselte ihm auf den Körper, die Schultern, er tropfte ihm von seiner nachlässig in die Stirn gezogenen Kapuze auf die Nase. Inmitten von Kälte und Nässe ließ das Zittern seines Körpers langsam wieder nach.

Als Ravin wieder den Kopf hob, sah er, dass D ihn mit deutlich geweiteten Augen betrachtete. Er entgegnete diesen Blick so kalt, wie es ihm eben möglich war. Sein schwarzhaariger Kollege wirkte daraufhin nicht weniger besorgt.

„Ravin, ist irgendetwa…“

„Hol Ronin“, fiel der Weißhaarige ihm ins Wort. „Ich warte da vorne bei der Kreuzung auf euch. Minette ist zwar jetzt betäubt, aber wir sollten hier trotzdem nicht sprechen.“

Er wandte sich um und ging, bevor D noch irgendetwas erwidern konnte. Die kühle Nachtluft war in jeder Hinsicht beruhigend. Sie war ein greifbares Stück Realität, das ihm die Ereignisse der vergangenen Minuten – oder waren Stunden gewesen? – plötzlich furchtbar unwirklich erscheinen ließ. Ihm war das auch ganz recht so. Er verstand sich selber nicht mehr, aber er war froh über jeden Schritt, den er sich von Minettes Haus entfernen konnte. Jeden geistigen und jeden tatsächlichen Schritt. Ravin folgte der kreuzenden Straße einige Stritte weit nach links, dann blieb er stehen und starrte in die Dunkelheit hinein.

Als sich plötzlich eine kleine Hand auf seinen Rücken legte, zuckte er zusammen und musste sich beherrschen, nicht herumzufahren. Langsam, betont langsam wandte er seinen Blick und sah direkt in Ronins blutrote Augen. Der kleine Weißhaarige lächelte, aber es war ein merkwürdig besorgtes Lächeln.

„Und? Irgendwelche großartigen Ergebnisse?“, fragte er dann ganz unbekümmert und auch ein bisschen neugierig. Seine Hand zog er aber nicht mehr zurück.

„Ergebnisse schon, aber ich würde sie nicht als großartig bezeichnen“, antwortete Ravin kühler als angebracht. Seine Stimme zitterte trotzdem noch ein wenig. Ronins Finger auf seinem Rücken strichen vorsichtig auf und ab. „Von diesem… diesem Futter in ihrem Kühlschrank habe ich Proben genommen. Erinnerst du dich daran? Außerdem hatte sie einen Zeitungsausschnitt über de la Stadas Tod aufgehoben, aber nichts Interessantes. Und in ihrem Keller stand ein… ein Ofen.“

„Ein Ofen?“, hakte Ronin nach, und seine Stimme klang seltsam angeekelt. Als ob er schon etwas ahnen würde. Vielleicht lag es ja daran, dass Ravin beim Aussprechen dieses Wortes sofort wieder ein Schauer über den Körper lief, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Es war ihm unbegreiflich, wie der Anblick eines altmodischen Heizgerätes seine Körperfunktionen derart nachhaltig beeinträchtigen konnte.

„Ja, ein Ofen. Er muss ziemlich oft benutzt worden sein. Ich habe eine Probe von der Asche genommen.“

„Meinst du, sie könnte die Gehirne da drin gegrillt haben?“, fragte D und zog die Augenbrauen zusammen. „Ist ja nett.“

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Ravin hob die Schultern. „Ich habe etwas von der Asche mitgenommen. Aber sie hat auch ihre toten Tiere unten im Keller gesammelt. Und verdorbenes Fleisch. Vielleicht hat sie etwas davon verbrannt.“

„Tote Tiere?“, fragte Ronin. Jetzt klang er wirklich angewidert.

„Ja“, nickte Ravin, „in einer Kiste.“

„Na, lecker“, erwiderte D, und obwohl von seinem Gesicht nicht allzu viel zu sehen war, ließ sich doch noch gut erkennen, dass er es verzogen hatte. „Wie krank muss man sein, um tote Tiere in seinem Keller zu lagern?“

„Das… ist fast schon wieder eine interessante Frage“, gab Ronin zurück. „Ich… habe lange nicht mehr so eine schreckliche Frau gesehen, ich glaube, ich würde ihr so ziemlich alles zutrauen, aber das bringt uns leider nicht so besonders viel, weil wir zwar jetzt diese Proben, aber damit noch lange keinen Beweis in der Tasche haben, und so ein Test würde halt auch seine Zeit dauern, außerdem hast du Aya in dem Haus ja nicht gefunden, also ist sie entweder schon tot, möglicherweise sogar die Asche in diesem Ofen oder an die Katzen und Hunde und Hamsterchen verfüttert, oder wir würden umsonst auf diesen Test warten, und Beides bringt uns nicht im Geringsten weiter.“

„Nein… vermutlich tut es das nicht.“ Ravin warf einen kurzen Blick in Richtung seines Gürtels. Einen Moment lang hatte er plötzlich das Bedürfnis, die gläsernen Röhren zu nehmen und in die Wassermassen auf dem Gehsteig zu werfen. Noch so ein verfehlter Impuls. Ravin strich mit den Fingern seiner rechten Hand über die Waffe an seiner Seite, um sich wieder in die regnerische, schwülwarme Realität zurückzuholen. „Soll ich sie bedrohen und dann fragen, was es mit diesem Ofen und all dem auf sich hat?“

„Ravin!“ Ronin hob einen Zeigefinger und sah ihn tadelnd an. „Dass du aber auch immer gleich an Gewalt denken musst, dabei können wir das alles ganz friedlich lösen, ich meine, wenn du da jetzt reinspazierst und dieser verbitterten alten Schachtel deine Waffe an die Stirn hältst, dann ist sie doch nur zufrieden, dann hat sie ja genau das, was sie möchte, und du gibst ihr noch Recht, aber sie soll nicht Recht bekommen, und deshalb machen wir jetzt das, was wir von Anfang an hätten machen sollen, das einzig Sinnvolle und meiner Meinung nach auch einzig Nützliche, wir werden nämlich eine Unterhaltung führen, aber nicht mit ihr, sondern mit jemand anderem, und zwar eine sehr eindringliche Unterhaltung, wenn du verstehst, was ich meine.“

Er sah Ravin mit seinen großen roten Augen an und lächelte. Ravin überlegte kurz, strich noch einmal über seine Blackbird und nickte dann. Ja, er hatte verstanden. Sein Körper hatte auch endlich damit aufgehört, zu zittern, und als letzte kleine Fehlfunktion ging ihm die vollkommen überflüssige Frage durch den Kopf, warum sie die Nacht dann nicht einfach mit diesem einzig Sinnvollen und Nützlichen hatten beginnen können. Aber natürlich hatte niemand von ihnen daran gedacht, außerdem war Minette zweifellos verdächtig gewesen und jetzt war es so oder so zu spät, um sich noch darüber Gedanken zu machen. Auch diese pechschwarze Nacht würde irgendwann ein Ende haben, und sie hatten noch Einiges zu erledigen.

Ravin sah nicht ein einziges Mal zu Minettes Haus zurück, während er sich wortlos auf den Weg zum nächsten Ort des Geschehens machte, obwohl er noch lange den leeren Blick dessen pechschwarzer Fenster in seinem Rücken spürte.
 

Irgendwo in Isamiyas Haus brannte Licht.

Das war das Erste, was D bemerkte. Einen hellen Fleck im nebligen Vorhang des Regens. Als sie näher kamen, sah er, dass das Küchenfenster erleuchtet war. Ein erstaunlich klarer und warmer Widerschein, der die dumpf verschwommene Umgebung wenigstens in seiner Nähe seltsam deutlich konturierte. D fragte sich, wie spät es mittlerweile wohl sein mochte. Als er seine Mitstreiter vor dem stinkenden Haus der Minette Mulligan getroffen hatte, musste es etwa halb drei gewesen sein, vielleicht ein bisschen später. Ravin war lange, beunruhigend lange weggeblieben. Sicher ging es mittlerweile schon auf vier Uhr zu. Trotzdem brannte in der Küche des Lehrers Licht. D betrachtete die stilvoll spießigen Gardinen und konnte nicht umhin, das Ganze merkwürdig zu finden.

„Und jetzt?“, hörte er da auch schon Ronin flüstern… oder vielleicht auch sagen, aber das Prasseln und Glucksen und Schmatzen des Regens dämpfte die Geräusche ebenso wie alle anderen Sinneseindrücke.

„Keine Ahnung“, gab D mit einem Schulterzucken zurück. „Klingeln?“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Ronin blieb in sicherem Abstand vom Haus stehen. Es war nicht schwer, auf seiner bleichen Stirn zu lesen, welch Vielzahl an Gedanken sich just in diesem Augenblick dahinter tummeln musste. Offensichtlich so viele, dass er sogar eine kurze Sprechpause einlegte. D war ein bisschen beunruhigt. „Und das meine ich auch genau so: Ich weiß es wirklich nicht, ich halte die Idee jetzt nicht für schlecht, und eigentlich wollen wir ja auch nicht eindringen und nichts durchsuchen und bla, sondern, ja, uns eben unterhalten, aber irgendwie ist das trotzdem komisch, einfach so mitten in der Nacht vor der Tür zu stehen und… ach, klingeln wir.“

„Echt jetzt?“ D bleckte die Zähne, was außer ihm freilich niemand sehen konnte. „Dabei hatte ich das eigentlich gar nicht ernst gemeint.“

„Also, je mehr ich darüber nachdenke, desto besser finde ich die Idee“, gab Ronin zurück, und jetzt grinste auch er. Dann setzte sich der kleine Weißhaarige wieder in Bewegung, mit einer Leichtfüßigkeit, die erstaunlich war, und die schwarzen, triefend nassen Katzenohren auf seiner Kapuze wippten munter hin und her. Ravin folgte ihm schweigend, das makellose Gesicht wie erstarrt. D wusste endgültig nicht mehr, was er von all dem halten sollte. Trotzdem legte nach kurzem, nicht ganz ernst gemeintem Zögern auch er die letzten Meter bis zu Isamiyas Haus zurück und kam neben seinen beiden merkwürdigen Gefährten unter dem lächerlich schmalen Vordach zum Stehen. Der Regen prasselte ihm immer noch auf den Rücken, aber daran hatte er sich mittlerweile schon gewöhnt.

„Stimmt eigentlich“, nickte er dann und drückte ganz ungeniert auf den Klingelknopf neben der Tür, während er sich innerlich die Hände rieb. „Ich bin mal gespannt, was der feine Herr Isamiya wohl für ein Gesicht machen wird, wenn wir drei zu solch nachtschlafender Zeit in diesen Outfits vor seiner Tür stehen.“

Isamiya lächelte. In seinen grünen Augen lag eine Wärme, die nicht im Mindesten aufgesetzt oder geheuchelt wirkte.

„Guten Abend“, begrüßte er die drei. „Oder sollte ich besser Guten Morgen sagen? Das ist ja immer ein bisschen Ansichtssache. Es gibt durchaus Menschen, die um diese Uhrzeit schon wieder aufstehen. Aber Sie sehen mir alle nicht so aus, als ob sie sonderlich viel geschlafen hätten. Kommen Sie doch rein. Es ist so ungemütlich draußen.“

„Wow, das ist total nett“, flötete Ronin in einem so zuckersüßen Tonfall, dass es D spontan in den Zähnen schmerzte. Und irgendwo in seiner Brust, ungefähr dort, wo er den Sitz seines Stolzes vermutete. Er hatte sich definitiv einen cooleren Auftritt der drei Rächer in Schwarz vorgestellt. „Es ist so ekelhaft kalt und regnerisch, wir werden hier alles nass machen, da entschuldige ich mich lieber gleich dafür.“

„Das ist doch kein Problem!“ Isamiya trat zur Seite und vollführte eine Handbewegung in Richtung der Garderobe. „Hier können Sie Ihre Mäntel und Mützen aufhängen, und die Schuhe stellen Sie am besten dort unten ab. Das ist ja wirklich alles klatschnass. Ich habe schon Tee und Kaffee für alle gemacht. Warten Sie, ich hole ihn. Oder nein… warten Sie nicht, setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Dort es wärmer.“

„Sie wussten, dass wir kommen“, stellte Ravin überflüssigerweise fest. Isamiya lächelte nur und verschwand wieder in der Küche.

„Natürlich wusste er es“, antwortete Ronin an seiner Stelle, dann schlug er seine Katzenohrenkapuze zurück und schlüpfte ohne langes Nachdenken aus seinem Mantel. Nach etwas längerer Bedenkzeit taten D und schließlich auch Ravin es ihm gleich. Dann betraten sie das Wohnzimmer, das sich nicht ein bisschen verändert hatte, seit D das letzte Mal hier gewesen war. Von den Blumen über die Fotos bis hin zur exakten Anordnung der Sitzgarnitur war alles noch genau so, wie D es in guter Erinnerung behalten hatte. Ronin konnte das natürlich nicht wissen und ließ sich auch deutlich unbekümmerter als der Schwarzhaarige auf dem cremefarbenen Sofa nieder. Neben Ravin. Der wirkte immer noch seltsam nervös – für seine Verhältnisse. D bezweifelte, dass diese Nervosität einem Menschen auffallen würde, der weniger lang mit dem Weißhaarigen zusammenarbeitete als er selbst. Außer Ronin vielleicht, aber der war ja irgendwie auch kein richtiger Mensch.

„So, zweimal Kaffee, zweimal Tee“, verkündete dann aber auch schon ihr Gastgeber, bevor sie ein weiteres Wort miteinander wechseln konnten, und brachte ein schönes, mit Goldrand verziertes Porzellantablett mit zugehörigem Service hinein. Aus den weißen Tassen stieg nach köstlichen Getränken und nach Wärme duftender Dampf auf. Isamiya verteilte die Getränke – Kaffee für D und für sich selbst, Schwarztee für Ravin und Ronin – und nahm dann auf einem der Stühle Platz. „Das wird uns ein bisschen aufwecken.“

„Sie fragen überhaupt nicht, weshalb wir gekommen sind“, warf D ganz beiläufig ein, während er einen Schluck von seinem herrlich heißen und dunklen Kaffee nahm.

„Ich weiß, weshalb Sie gekommen sind“, antwortetete Isamiya ruhig.

„Wer war es?“, fragte D. Der Lehrer strich sich eine Strähne seines halblangen Haares hinter das Ohr und deutete ein Schulterzucken an.

„Sollte ich das wissen?“

„Sie sollen nicht“, entgegnete D, „sie tun es. Hören Sie doch endlich mit diesen Spielchen auf! Die ganze beschissene Heile-Welt-Fassade kauft Ihnen und Ihrem schönen Planeten doch kein Mensch mehr ab. Hier läuft ein Killer rum, und Sie kennen seinen Namen.“

„Sie sollten nicht so schlecht von Merrywood Ville sprechen.“ Isamiya rückte sich seine Brille zurecht und lehnte sich sogar noch ein bisschen mehr in seinem Sessel zurück, als ob er D damit verhöhnen wollte. Wobei er vermutlich auch genau das und nichts anderes im Sinn hatte. Der Schwarzhaarige spürte einen leisen Anflug von Wut in sich aufsteigen.

„Sie sollten uns verdammt noch mal endlich helfen! Macht Ihnen das eigentlich Spaß? Ihnen ist schon klar, dass Aya draufgehen wird, wenn Sie nicht endlich mit ihrer Intrigenscheiße aufhören?!“

„Ich sehe keinen Grund, beleidigend zu werden“, lächelte Isamiya, aber in der unerschütterlichen Freundlichkeit seiner Stimme lag eine unterschwellige Kälte, die D noch nie zuvor dort bemerkt hatte. „Ich habe Dr. Mitsuyuki gewarnt, mehr als einmal. Ich habe ihr gesagt, sie solle nicht herkommen. Es ist nicht meine Schuld, wenn sie einem gut gemeinten Ratschlag nicht folgen kann.“

„Und deshalb wollen Sie kalt lächelnd dabei zusehen, wie ihr dieser Psycho das Gehirn aus dem…“

Weiter kam D nicht, denn genau in diesem Augenblick erhob sich Ravin von seinem Platz auf dem Sofa, machte einen Schritt auf Isamiya zu und hielt ihm seine Blackbird an die Stirn.

„Sagen Sie uns seinen Namen“, verlangte er kühl, bevor D mit seinem moralischen Protest fortfahren konnte. Isamiya wirkte wie erstarrt. Seine grünen Augen fixierten den Lauf von Ravins Waffe, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Seine Lippen waren leicht geöffnet, aber er gab keinen Ton von sich.

Wenigstens einige Sekunden lang. Dann atmete er tief durch, schloss kurz die Augen und – lächelte wieder.

„Ich muss gestehen, dass ich damit jetzt nicht gerechnet habe. Wenigstens nicht… in diesem Moment. Eigentlich eine sehr schöne Waffe. Blackbird M-44 mit Schalldämpfer, habe ich Recht?“

„Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen“, erwiderte Ravin ungerührt. „Wahrscheinlich könnten Sie mir sogar meine Seriennummer nennen und den Schaltplan meiner Synapsen aufzeichnen. Sie haben aber schon oft genug bewiesen, dass sie sowieso alles über uns wissen. Also kommen Sie endlich zum Thema und sagen Sie uns, wer der Killer ist.“

„Es ist schon merkwürdig, dass ausgerechnet Sie mich nach einem Killer fragen.“ Isamiya war wieder so ruhig wie eh und je. Seine Augen hatten sich vom Lauf der Waffe abgewandt und erwiderten Ravins eiskalten Blick mit einer wahrhaft erschreckenden Wärme. „Mit diesem Gesicht. Man sieht, dass Sie zum Töten geschaffen worden sind. An sich ist das wirklich beängstigend. Aber ich muss Sie enttäuschen: Mir machen Sie keine Angst. Sie wissen es doch, wenigstens Ihr Weißer Engel. Als meine Frau nach dem Unfall im Wagen verbrannte, nannten sie es eine Strafe Gottes. Ich habe diese Strafe überlebt. Ich bin durch die Hölle gegangen und ich fürchte den Tod nicht mehr.“

„Was mit Ihrer Frau passiert ist, tut mir leid“, erwiderte D, wobei es ihm leider immer noch nicht gelang, auch nur halb so cool zu bleiben wie Ravin. „Aber das ist ganz bestimmt nicht Ayas Schuld. Was bezwecken Sie eigentlich damit? Ich weiß, dass Sie damals am Steuer saßen. Sie sind zu schnell gefahren, nicht wahr? Aber glauben Sie wirklich, dass Sie sich besser fühlen, wenn Sie noch einen Menschen auf dem Gewissen haben?“

„Versuchen Sie es jetzt schon auf diese Weise?“ fragte Isamiya zurück, ohne mit der Wimper zu zucken. „Das ist aber wirklich ein bisschen schäbig. Dabei müssten Sie mich doch verstehen. Es geht hier nicht um mich. Es geht um das System. Für Sie doch auch, habe ich Recht? Oder warum haben Sie noch nicht die Sicherheitskräfte gerufen?“

„Als ob die hier mehr ausrichten könnten als wir!“, schnaubte D und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hier schweigt doch jeder alles tot. Und bevor die angerückt sind, ist Aya eh längst draufgegangen!“

„Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Ausreden sind. Sie tun das, was INFERIA von ihnen verlangt. Und ich tue das, was Merrywood Ville von mir verlangt. Wissen Sie eigentlich, dass ich genau deshalb hierher gekommen bin? Wegen des Schweigens. Hier bin ich diese ganzen Sachen… losgeworden. Mein Stigma. Hier interessiert es niemanden, dass man seine Schülerin geheiratet und… fahrlässig getötet hat, solange der Gartenzaun weiß und der Rasen grün ist. Das ist ein Ort, an dem man alles vergessen kann, wenn man sich nur an die Regeln hält.“

„Das glauben Sie doch wohl selber nicht!“ D starrte dem Lehrer in sein ewig lächelndes Gesicht, las darin aber leider nur, dass dieser nicht nur glaubte, sondern wusste. Und genau an diesem Punkt gingen ihm die Argumente aus.

Aber zum Glück waren da ja immer noch Ravin und Ronin.

„Hier interessiert es wohl auch keinen, wenn man sich dann gleich mal mit der nächsten Schülerin tröstet, hm?“, fragte Ronin und bewies dabei eindrucksvoll, dass nicht nur Isamiyas Lächeln unkaputtbar war. „Sie sieht ihr aber auch ein bisschen ähnlich, na ja, nicht so ganz, aber vom Typ her, und genauso jung ist sie auch, außerdem passt sie irgendwie ziemlich gut zu Ihrer, bitte entschuldigen Sie, kaltschnäuzigen Art, obwohl ich den Eindruck habe, dass das bei Ihnen doch noch mal was Anderes ist, die Kleine ist ja einfach nur verzogen, und Sie würde ich unter anderen Umständen vielleicht sogar ein bisschen verstehen.“

„Trotzdem sagen Sie uns jetzt endlich den Namen dieses Mörders“, fasste Ravin den kurzen Sinn dieser langen Rede treffend zusammen, „sonst ist Ihre Kleine die Nächste, der wir einen Besuch abstatten.“

Wieder erschien Isamiya einen Moment lang wie eingefroren, inklusive des Lächelns auf seinen Lippen. Dann senkte er den Blick, stellte seine Kaffeetasse nicht ganz geräuschlos auf dem niedrigen Tisch ab und atmete mehr als nur einmal tief durch.

„Sehen Sie, das ist das Problem daran, wenn man so viel weiß“, sagte er dann und lächelte auch wieder, aber um seine Lippen spielte gleichzeitig ein bitterer Zug. „Ich weiß nämlich auch, dass das nicht nur eine leere Drohung ist. Und ich weiß, dass ich sie daran nicht hindern kann. Sie kommen in jedes Haus, hm?“

Ronin nickte mit einem sehr breiten Grinsen im bleichen Gesicht.

„Sie haben’s erraten, nein, Entschuldigung – Sie wissen es natürlich, wie alles andere ja auch, also machen Sie sich’s doch bitte nicht so schwer, nur ein einziges Wort und Sie sind uns los.“

Isamiya schüttelte den Kopf und legte sich eine Hand an die Stirn. Seine Augen hielt er dabei geschlossen. Als er sie öffnete, hatte er sich offensichtlich wieder gefangen und das Lächeln auf seinen Lippen wirkte so warm und ehrlich wie eh und je.

„Gratulation“, sagte er und klatschte in die Hände, „sie haben gewonnen. Wenn ich dieses Rätsel tatsächlich für Sie lösen soll, bitte, ich werde es tun: Gehen Sie zu Dan.“

„Dan also?“ D zog eine Augenbraue hoch. „Hab ich’s mir doch gedacht, dass der irgendwie nicht ganz sauber ist! Aber eigentlich schade, ich fand ihn lustig.“

„Hm“, machte Ravin, starrte Isamiya noch einen Moment lang todbringend an und ließ dann seine Blackbird sinken. „Das hätte auch schneller gehen können.“

„Dann halten Sie sich doch jetzt bitte nicht noch länger auf“, entgegnete Isamiya und erhob sich. Er stellte die vier Tassen wieder auf das Tablett, ganz ruhig, mit Bewegungen, die nicht im Mindesten zittrig oder nervös wirkten. „Retten Sie ihre Vorgesetzte und sich selbst. Aber bitte… machen Sie es leise. Machen Sie das hier nicht kaputt. Ah, und… wenn Sie wieder zuhause sind… kennen Sie einen Dr. Rawls? Riley Jefferson Rawls? Er arbeitet auch für INFERIA, ein Psychologe, unglaublich fähiger Mann. Grüßen Sie ihn von mir.“

„Ich kenn ihn zwar nicht“, strahlte Ronin, „aber klar, kein Problem, wird gemacht. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Dann wandte der kleine Weißhaarige sich zum Gehen. Ravin folgte ihm, ohne auch nur einen einzigen weiteren Blick an Isamiya zu verlieren. D erhob sich ebenfalls, er aber blieb sehr wohl noch einmal stehen.

„eXinfernis“, murmelte er und versuchte ein letztes Mal, in dem blassen Gesicht des Schwarzhaarigen wenigstens irgendetwas zu lesen. „Irgendwie habe ich Sie mir anders vorgestellt.“

„Enttäuscht?“, fragte Isamiya. D dachte einen Moment lang ernsthaft darüber nach. Dann grinste er.

„Nein… eigentlich überhaupt nicht“, antwortete er mit einem Schulterzucken. „Nur als ich das Haus hier zum ersten Mal gesehen hab, dachte ich ganz kurz, dass sie doch nicht so cool sind, wie ich immer geglaubt habe.“

„Wissen Sie was?“ Isamiya sah D noch einen Augenblick an, dann lehnte er seinen Kopf ein bisschen zurück und lachte. „Ich komm euch mal bei INFERIA besuchen.“

„Davon träumen Sie wohl!“ D bleckte die Zähne. „Oh, es wird mir eine Ehre sein, Sie aber mal so was von aus dem Netz zu hauen!“ Er deutete eine Verneigung an und wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Ich warte auf Sie!“, rief er Isamiya über die Schulter zu, dann folgte er seinen Mitstreitern hinaus in den strömenden Regen.
 

„Eigentlich war das so klar“, flüsterte D den beiden weißhaarigen und in Schwarz gewandeten Gestalten zu, die sich neben ihm an die fahlgelbe Wellblechwand drückten. „Eine verschrobene alte Schachtel. Zwei kleine Streberkinder. Eine Hackerlegende. Ein verdorbenes Lolita-Prinzesschen und ihre versnobbte Frau Mutter. Und Gangstervisage. Hmmm, wer könnte da wohl der Killer sein?“

„Die Kinder, die Kinder!“, strahlte Ronin, und seine blutfarbenen Augen blitzten im Schatten seiner Katzenohrenkapuze auf. „Aber wisst ihr, was ich mich ernsthaft frage? Wie ist Aya da von diesen Kügelchen her draufgekommen?“

„Dan hat so einen Tick mit Zucker“, erwiderte D und hob die Schultern. „Und Traubenzucker verkauft er auch, insofern...“

„Wir sollten gehen“, fiel Ravin dem Schwarzhaarigen ins Wort. Der nickte. Und stellte fest, dass bei allem Adrenalin doch vor allem eine dumpfe Vorfreude durch seinen Körper jagte. Da war er nun also, in einer verregneten Sommernacht auf dem verlogenen, von einer Mordserie erschütterten Trabanten Merrywood Ville, wenige Sekunden vor der Erfüllung seines Kindheitstraumes. Der Supermarkt und seine zahllosen Wunder erwarteten ihn! Ja, natürlich, und ein psychopathischer Serienkiller und vielleicht die Leiche der wohl besten Vorgesetzten ever. Aber trotzdem war es Nacht und da war ein Supermarkt und in genau den würden sie in Kürze einbrechen. Juhu!

Die Realität war nicht so gut wie erwartet. Sondern noch viel, viel besser. All die prall gefüllten Regale, deren bizarre Silhouetten sich unter dem Lichtkegel seiner Halo7000+ zu Türmen voller Schätze verwandelten, verhießen D so unglaublich viel Spaß, dass er lautstark hätte singen können. Was bei Tageslicht betrachtet schon einfach nur wunderbar gewesen war, hatte nun noch den Zauber des Geheimnisvollen gewonnen, und der Schwarzhaarige fühlte sich ein bisschen wie unter Drogen.

„Teilen wir uns auf und sehen wir uns gründlich um“, ordnete Ravin an, wofür D ihn am liebsten geheiratet hätte. „Falls jemand etwas herausfindet, kann er die anderen per PT kontaktieren.“

„Bin schon weg!“, trällerte D und ließ diesen Worten auch sogleich Taten folgen. Mit nicht zu lauten, aber dennoch beschwingten Schritten tauchte er in sein ganz privates Wunderland ein, und dann ging das Vergnügen erst richtig los.

Tatsächlich fand D weit mehr heraus, als er jemals zu hoffen gewagt hatte. In welch absurde Farben und Formen man essbare Gummitierchen pressen konnte, beispielsweise. Dass es Chips mit mindestens fünfzig verschiedenen Geschmacksrichtungen, Oberflächenstrukturen oder Fettgehalten gab. Dass porentief rein nicht dasselbe wie blütenweiß sauber war. Dass Spielzeug auch mit über zwanzig Jahren nichts von seiner Faszination verloren hatte. Besonders Actionfiguren nicht. Und dass es mindestens fünfunddreißig Fertiggerichte gab, die er unbedingt einmal ausprobieren musste.

Irgendwann hatte D beschlossen, dass selbst leise Schritte noch viel zu viel Lärm machten, also hatte er sich kurzerhand bei den LowG-Boards bedient und schwebte nun selig an den prall gefüllten Regalen vorbei. Nach nicht allzu langer Zeit entdeckte er Ronin zwischen den Kühltruhen, wie er in gefrorenen Haxen und Schnitzeln herumwühlte. Hier endete also sein Jagdgebiet. D konnte nicht bestreiten, dass ihn diese Erkenntnis erleichterte. Wenn es einen Ort gab, an dem er Aya ganz bestimmt nicht finden wollte, dann hier.

D beschrieb mit seinem stylishen neongrün-schwarzen Board einen eleganten Bogen und surfte in Schlangenlinien zurück zu den Reinigern und Waschmitteln. Gab es da nicht bestimmte Inhaltsstoffe, mit denen man Leichen rückstandslos beseitigen konnte? Hatte es zwischen den Regalen nicht immer wieder kleinere Zwischenräume und Kisten mit Ersatzwaren gegeben, die er vor lauter Euphorie vielleicht ein bisschen vernachlässigt hatte? Und war so ein langer, schnurgerader Gang nicht eigentlich die perfekte Gelegenheit, den verführerisch signalroten Knopf auszuprobieren, der mit der plakativen Aufschrift „Turbo“ versehen so einladend mitten auf seinem Board leuchtete?

Nein, rief sich D in Gedanken zur Vernunft, dies war nämlich nicht (nur) die Erfüllung seiner innigsten Kindheitswünsche, sondern in erster Linie eine Rettungsaktion, und zwar eine ernsthafte. Außerdem hatte er es eilig und durfte nicht durch irgendwelche gleichermaßen dämlichen wie halsbrecherischen Aktionen riskieren, von Gangstervisage entdeckt zu werden. So! Und überhaupt war er aus dem Alter für solche Kindereien ja auch schon längst heraus.

Gutes Argument, lobte er sich im Stillen, während er in die Knie ging und mit einer eiligen Bewegung den Turboknopf betätigte. Dann warf er sämtliche Argumente mit einem wirklich sehr leisen Freudenjauchzer irgendwo in die Dunkelheit des Marktes, der sich zu beiden Seiten in einen Rausch bloßer Geschwindigkeit verwandelte. Mein Gott, und was für ein Rausch das war! D zog die Beine an und schanzte über einen Warenkorb hinweg, legte sich in die Kurve, um den engen Kanal zwischen zwei Regalreihen zu durchqueren, riss dann sein Board in die Höhe und überquerte mit einem Salto eine Mauer aus Waschmittel-Familienpackungen. In seinem Bauch breitete sich ein überwältigendes Kribbeln aus. Das hier war besser als jede Achterbahn der Welt, besser als eine Nachtfahrt auf dem Northern Loop-Overdrive, besser als neunzig Prozent seiner weiblichen Bekanntschaften der letzten Zeit, das war… wow!

Und zwar so wow, dass D zugegebenermaßen ein bisschen vergaß, auf den Weg zu achten.

Er wollte gerade wieder mit einem kunstvollen Satz ein Regal überqueren, als er zu seinem größten Entsetzen, aber leider etwas zu spät bemerkte, dass dieses Regal an der Wand lehnte. D riss sein Board zur Seite, um noch auszuweichen, doch der Schwung beraubte ihn jeder Kontrolle über sein fliegendes Gefährt. Wieder überschlug er sich, diesmal allerdings nicht annähernd so elegant wie kurz zuvor. Und dann wurde er in einen Wall aus Metallstreben, Chipseimern und Tüten geschleudert, prallte ab und schlug hart auf dem Boden auf.

Danach fehlten ihm mehrere Minuten.

Als D wieder zu sich kam und in die Dunkelheit des Marktes blinzelte, sah er, dass jemand neben ihn getreten war. Im ersten Moment jagte ein eisiger Schrecken durch seine Glieder, dann aber fiel ihm auf, wie klein diese Gestalt war und dass sie Ohren auf dem Kopf hatte, und so kam er zu der beruhigenden Erkenntnis, dass es sich dabei vielleicht doch nicht um Dan handelte.

„Was um alles in der Welt machst du da?!“, raunte Ronin ihm zu, und die Stimme des Weißhaarigen klang sogar ernsthaft tadelnd und vorwurfsvoll. „Was hast du an deinen Füßen, und… und… warum liegst du in einem Haufen von Kartoffelchips?!“

„Mein Kopf tut weh“, brummte D, um ein bisschen Zeit zu gewinnen, aber Ronins unerbittlich strenger Blick ließ ihn dann doch etwas kleinlaut hinzufügen: „Das… das ist ein LowG-Board. Ich dachte, dass man damit vielleicht… ähm… schneller… vorankommt. Beim Suchen.“

„D“, entgegnete Ronin sogar noch ein bisschen strafender, „du hast aber nicht ernsthaft mit diesem… Ding gespielt, während wir damit beschäftigt waren, Aya das Leben zu Leben zu retten?“

„Nein! Natürlich nicht! Ich habe nur… ich meine, ich wollte… doch. Eigentlich schon.“ D zwang sich ein verlegenes Grinsen auf das Gesicht, rappelte sich vorsichtig auf und schüttelte sich die Krümel aus den Haaren. Dann legte er sein Board zur Seite und zog sicherheitshalber schon mal die Schultern ein bisschen hoch, um sich wenigstens irgendwie vor Ronins Zorn und der Fortsetzung seiner wohlverdienten Standpauke zu schützen. Der Weißhaarige sagte aber mehrere quälende Sekunden lang überhaupt nichts mehr. Und dann verzog er seine bleichen Lippen zu einem sehr breiten Lächeln.

„Immerhin“, flüsterte er und vollführte eine Kopfbewegung in Ds Richtung, „bist du der Einzige von uns, der bislang überhaupt etwas gefunden hat.“

„Wie meinst du…“, begann D, unterbrach sich dann aber, als er begriff, dass Ronin überhaupt nicht auf ihn gedeutet hatte.

Sondern auf die Wand hinter ihm.

Langsam wandte er den Kopf – und sah, was wenig überraschend war, ein völlig ramponiertes Regal, das, bedeckt von einem Wasserfall aus Chips und bunter Folie, in sich zusammengebrochen war. Keine Qualitätsarbeit, wie D in Gedanken feststellte. So viel wog er nun auch wieder nicht. Hinter der Regalleiche war die Mauer des Supermarktes entblößt worden. Oder vielmehr etwas, das eine Wand hätte sein sollen. Tatsächlich aber eine Tür war, eine breite, metallene Schiebetür, die obendrein mit einem Schloss gesichert war.

„Wer um alles in der Welt stellt ein Regal vor eine Tür?!“, meinte D zweifelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wer tut an ausgerechnet diese Tür dann noch so ein Sicherheits-Dingens?!“

„Jemand, der etwas zu verbergen hat“, antwortete Ronin ganz nüchtern auf diese eigentlich eher rhetorisch gemeinte Frage. Dann schob er sich an dem Schwarzhaarigen vorbei auf das Regal zu. „Und jetzt komm schon, hilf mir.“

D nickte nur, und dann hievten sie mit vereinten Kräften das Leichtmetallgestell zur Seite.

„Hast du Ravin schon Bescheid gesagt?“, fragte D, während er seine Edison P-39 zückte und das Schloss mit einem einzigen Schuss aus dem Weg räumte.

„Japp, ich hab bei ihm angerufen, als du noch weggetreten warst, er sollte also bald hier sein, ich glaub aber nicht, dass wir auf ihn warten müssen, außer mir hat dich ja scheins niemand gehört und ich möchte jetzt doch wissen, was da hinter dieser versteckten Tür versteckt ist, und wenn da wirklich Aya sein sollte, was gut möglich wäre, geht es ja vielleicht auch um jede Sekunde, man kann schließlich nicht wissen, ob sie nicht verletzt ist oder so, oder ob am Ende der Mörder sogar bei ihr ist und ihr gerade den Kopf aufsägen will und… brrrr.“

„Schon kapiert!“, grinste D und öffnete beherzt die stählerne Tür.

Sie leistete überraschend wenig Widerstand und gab nicht einen Laut von sich. Offensichtlich ein Durchgang, der nicht nur etwa alle zehn Jahre einmal benutzt wurde. Dahinter wartete vollkommene Dunkelheit auf ihn, die noch viel dichter wirkte als in dem Markt. Obwohl sich Ds Augen schon einigermaßen an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte er im ersten Moment überhaupt nichts erkennen. Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen, begleitet von… noch etwas Anderem, das er aber nicht so ganz einordnen konnte. D spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals hinauf schlug, als er mit etwas fahrigen Bewegungen seine Taschenlampe anschaltete.

Und dann sah er erst einmal nichts als Kartons. Einen nicht sonderlich großen Raum in dem sich Pappkisten bis zur Decke stapelten, eng an eng, bedruckt mit den unterschiedlichsten Logos und Slogans. Die Werbung verspricht immer viel, doch wirklich weiß wäscht nur Sundril. Loftie’s, jetzt neu mit mit Extra-Chilli-Flavour! CandyCandy-Superzucker – be real sweet! D runzelte die Stirn. Er konnte nicht behaupten, dass er übermäßig scharf auf Leichenteile und Schlachthausfeeling war, aber dieser Anblick war definitiv eine Enttäuschung.

„Toll“, murmelte er, „ein Warenlager. Wie spannend!“

„Aber ein ziemlich gut verstecktes Warenlager“, gab Ronin zu bedenken, schob sich an D vorbei und ging auf einen der frei stehenden Kartons zu. „Hilf mir mal“, raunte er dem Schwarzhaarigen zu, während er schon an dem sorgsam zugeklebten Deckel der Kiste herumzerrte. D trat neben ihn, schnitt beziehungsweise schmorte das Klebeband kurzerhand mit seinem Taschenlaserspot durch und riss dann die großen Pappvierecke auseinander, um ins Innere des Kartons blicken zu können.

„Hm“, machte er dann und zog erneut seine Augenbrauen hoch. „Leichenteile sind das aber auch nicht.“

„Nein“, sagte Ronin und hob die Schultern, „das ist Equilibran.“

„Und was um alles in der Welt soll das sein?!“, fragte D und nahm eine der zahlreichen kleinen, weiß-violett bedruckten Schachteln aus der Kiste.

„Ein Beruhigungsmittel“, antwortete eine tiefe, heisere Stimme hinter ihnen. D ließ die Packung sofort wieder fallen und fuhr herum. In der Tür des Lagers stand Dan, eine Waffe in der Hand, die direkt auf Ds Stirn gerichtet war. Sein rechter Mundwinkel zuckte nervös. „Und Sie gehn da schön weg von. Los, an die Wand, aber mal’n bisschen plötzlich. Keine falsche Bewegung! Ich werd jetzt die Bullen rufen. Da treiben sich nämlich so’n paar ganz miese Einbrecher in meinem Lager rum, wissense?“

„Und was genau wollen Sie den Sicherheitsleuten erzählen?“, gab Ronin zurück, und D konnte nicht fassen, wie ruhig die Stimme des Weißhaarigen klang. „Dass wir ein paar ihrer illegalen Sedativa mitgehen lassen wollten? Equilibran, übrigens ein Benzodiazepin, wird vor allem als Tranquilizer, Hypnotikum und Anxiolytikum, selten als Antiepileptikum eingesetzt, und ist in großen Teilen des Sigma-Quadranten nicht mehr zugelassen, in den restlichen Teilen auf jeden Fall verschreibungspflichtig, da Equilibran insbesondere wegen seiner kurzen Halbwertszeit, der hohen Potenz und seiner starken Bindung an die GABA-Rezeptoren, das sind Transmembranproteine von Nervenzellen, die spezifisch den Neurotransmitter γ-Aminobuttersäure binden, sehr schnell zu psychischer und physischer Abhängigkeit führt, weiterhin zu Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit, herabgesetztem Reaktionsvermögen, Sinnestäuschungen und sogar zu anterograder Amnesie, kurz gesagt, Sie würden der Polizei mit Ihrem Anruf sicher eine große Freude machen.“

„Du mieser kleiner…“

„Hey! Keine Beleidigungen!“, fiel D dem Supermarktbesitzer ins… Knurren, und jetzt konnte auch er sich ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Das ist ja mal ein Ding. Ich hab zwar nur so knapp… ein Fünftel von dem verstanden, was du da gerade zusammengestrebert hast, Ronin, aber eins hab selbst ich kapiert: Das hier ist nicht einfach nur ein Supermarkt. Das ist so ne Art… Drogenhölle! Soviel also zum Thema keine Verbrechen auf Merrywood Ville…“

„Oh Jungchen, hätt’ste mal besser die Finger von gelassen.“ Dan schüttelte den Kopf und sah im Rahmen seiner Möglichkeiten ehrlich zerknirscht aus. „Fand dich eigentlich gar nicht so verkehrt. Aber jetzt kann ich euch zwei Galgenvögel nich mehr gehn lassen. Is’n zu großes Risiko. Verstehste doch, oder?“

Gangstervisage verzog sein schiefes Gesicht noch ein bisschen mehr. Trat sicherheitshalber einen Schritt zurück, um Abstand von Ronin zu gewinnen. Und entsicherte dann seine Waffe. D schluckte. Er wollte noch irgendetwas sagen, aber er fühlte sich wie gelähmt, bis in die Zunge hinein. Langsam, ganz langsam schüttelte er den Kopf, aber Dan hatte seinen Finger bereits am Abzug, kniff sein hängendes Auge zusammen – und machte dann einen Satz in das Lager hinein, wobei er noch im Sprung herumfuhr. D war immer noch viel zu perplex, um irgendwie reagieren zu können und Dan beispielsweise zu überwältigen, außerdem unterschrieben seine Beine ganz spontan ein fristlose Kündigung und er sank auf die Knie, während Ravin mit gezückter Waffe in den sowieso schon recht überfüllten Lagerraum trat.

Verdammte Scheiße, ging es D durch den Kopf, so genau hatte er eigentlich gar nicht wissen wollen, für welche Situationen man den Ausdruck Rettung in letzter Sekunde erfunden hatte.

„Eine Bewegung und Sie sind tot“, begrüßte Ravin den Supermarktbesitzer, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie ernst es ihm mit diesen Worten war. Das bemerkte offenbar auch Gangstervisage, denn neben seinem Mundwinkel hatte nun auch sein Triefauge zu zucken begonnen und seine Hand war ebenso zittrig wie Ds gesamter Körper. Es war ein merkwürdiger Anblick – da stand Ravin, Auge in Auge mit dem Merrywood Killer, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Körper war gespannt und er hielt seine Blackbird ganz ruhig, direkt zwischen Dans leicht gerötete Augen gerichtet. In seinem Blick lag eine Kälte, die nicht mehr in Worte zu fassen war und die wohl allein schon ausgereicht hätte, um einen Serienmörder zu Fall zu bringen. Dafür brauchte Ravin eigentlich überhaupt keine Waffe, weil er selbst die perfekte Waffe war.

D spürte, wie es ihn noch ein bisschen mehr fröstelte.

„Ich nehme an“, meldete sich Ronin wieder zu Wort, und auch seine Stimme zitterte ganz leicht, „dass Sie das Equlibran verwendet haben, um Ihre Opfer ruhig zu stellen, habe ich Recht? Es betäubt, es lähmt und es nimmt einem die Angst, alles ganz prima, um Gegenwehr zu verhindern.“

„Häh?“, machte Dan und warf einen kurzen, nervösen Blick in Richtung des kleinen Weißhaarigen. „Keine Ahnung, was Sie von mir woll’n. Was für Opfer? Kunden, Mann, Kunden! Und zwar ziemlich gute Kunden.“

„Sie verticken das Zeug also wirklich hier?“, erkundigte sich D, was zwar nicht ganz zum Thema gehörte, ihn aber doch irgendwie interessierte. „Auf diesem Sonnenscheintrabanten?“

„Ha! Sie würden lachen, wennse wüssten, wer das hier alles kauft“, stieß Gangstervisage hervor und verzog seine immer noch leicht bebenden Lippen zu einem schiefen, unansehnlichen Grinsen. „Ist die absolute Modedroge hier. Na ja, wennse’s als Droge bezeichnen wollen, is ja eigentlich was Medizinisches, nur halt verboten, und süchtig macht’s außerdem.“

„Aber wer braucht denn hier noch ein… ein… Beruhigungsmittel? Ruhiger als auf diesem Trabanten geht’s doch überhaupt nicht mehr!“

„Tja, da sehnse mal, woher das kommt.“ Dans Grinsen wurde noch ein bisschen breiter, und langsam kehrte auch in seine Hand wieder Ruhe ein. Die Waffe ließ er allerdings nicht sinken. „Wissense, warum ich hier hergekommen bin? Ich wollt weg aus der Stadt. War mir zu kriminell da, alle kriminell. Ich hatte nen Supermarkt in der Downtown, bin zweimal angeschossen worden. Die Narben kann ich Ihnen jetzt noch zeigen, unschöne Dinger, das könnense mir glauben!“

„Ich nehme an, das hier“, und bei diesen Worten deutete Ronin mit einer Kopfbewegung auf Dans Revolver, „ist noch ein Souvenir aus alten Zeiten?“

„Da wettense aber mal drauf!“ Gangstervisage stieß ein kurzes und unsagbar… ganovenhaftes Lachen aus. „Hab damit sogar einen abgeknallt. War grad mal zwanzig Jahre alt, hatte mir zweimal das Messer in den Bauch gerammt davor. Ich wär fast draufgegangen, da hab ich ihm das Hirn aus’m Kopf gepustet. Bumm, bumm, und weg war er. Danach hat’s mir gereicht. Damals ham se mich gehn lassen, einfach so, Notwehr ham sie’s genannt. Kriminell bin ich erst hier geworden.“

„Aber… ich verstehe nicht, wieso ich rein gar nichts über diesen Drogenhandel herausgefunden habe“, protestierte D. „Nicht ein Wort! Wenigstens bei der Razzia im Zuge der Mordserie hätte das doch irgendwie ans Licht kommen müssen!“

„Was glaubense denn, wer ich bin?“ In Dans Blick trat ein Hauch von Stolz, der in seinem Gaunergesicht reichlich grotesk anmutete. „Der Kontaktmann zu den Sicherheitskräften auf Ecliptica is mein bester Kunde! Und… die Hälfte des für uns zuständigen Sicherheitspersonals eigentlich auch.“

„Ja, aber ich hätte doch trotzdem… und außerdem hat das alles rein gar nichts mit den Morden zu tun!“ D rappelte sich mit ein wenig Mühe wieder auf, und obwohl seine Beine nach wie vor zittrig waren, schaffte er es doch, sich mit grimmiger Miene und verschränkten Armen vor Dan aufzubauen – zugegebenermaßen genau neben Ravins Waffe, aber sein drohender Blick war schon auch irgendwie eindrucksvoll. „Jetzt hören Sie auf, vom Thema abzulenken! Wir wissen, wofür Sie ihre Mittelchen verwendet haben! Sie sind ein kaltblütiger Mörder!“

„Jetzt machense aber mal halblang!“, knurrte Dan. Seine Hand hatte wieder zu zittern begonnen, aber das lag vermutlich eher daran, dass sein Arm langsam einfach müde wurde. „Ich verwend das Zeug für überhaupt nix. Ich steh nich auf das Zeug, ja? Hab mein Bierchen und gut is. Und den Typen von damals hab ich abgeknallt, ja, aber hätt ich mich aufschlitzen lassen sollen? Sie woll’n mich ja wohl auch grad abknallen, weil ich sie abknallen wollte, verstehnse? Is doch genau dasselbe!“

„Ich spreche nicht von diesem Kleinkriminellen, sondern von Aya! Von den Wissenschaftlern! Blut, Hirn und Eingeweide!!“

„Häh?“, machte Dan und sah D auf eine Weise an, als ob er selbst einen Wahnsinnigen vor sich hätte und nicht umgekehrt. „Ich deal mit illegalen Betäubungsmitteln, Mann! Sehnse hier irgendwo Blut und Eingeweide? Verkauft sich nicht so gut, wissense?“

Genau in diesem Moment schlug Ravin Dan den Revolver aus der Hand. Er fing die Waffe noch im Fallen auf, ließ sie binnen weniger Augenblicke irgendwo in seinem Mantel verschwinden und nahm den Lauf seiner Blackbird währenddessen keinen einzigen Sekundenbruchteil von Dans Stirn. D war ernsthaft beeindruckt. Gangstervisage gab hingegen nur ein unwilliges Grunzen von sich und strich sich kurz und nervös über sein stoppeliges Kinn. Wahrscheinlich war er sogar ein bisschen froh, seinen Revolver nicht mehr länger halten zu müssen.

„Jetzt verarschen Sie uns nicht!“, warf D dem Entwaffneten nunmehr deutlich mutiger an den Kopf. „eXinfernis hat gesagt, dass Sie der Killer sind! Und eXinfernis weiß alles!“

„Nein, das hat er nicht.“

Ronin hatte nicht besonders laut, eher wie zu sich selbst gesprochen, trotzdem wandten sich ihm schlagartig alle Blicke zu – inklusive Dans, obwohl der wenigstens das jetzt wirklich nicht verstehen konnte.

„Doch“, widersprach D, und zwar ziemlich energisch. Aus irgendeinem Grund war er immer noch ein bisschen empfindlich, was das Thema eXinfernis anbelangte. „Natürlich hat er das!“

Gehen Sie zu Dan. Das war alles, was er gesagt hat.“

„Das ist doch dasselbe!“

„Ist es eben nicht!“ Ronin verschränkte beide Arme vor der Brust. „Und weißt du, was er noch gesagt hat? Dass er das Rätsel jetzt für uns lösen soll oder so was, verstehst du?“

„Nein“, grummelte D, „versteh ich nicht.“

„Ein Rätsel! Er bezeichnet das hier… als ein Rätsel. Und des Rätsels Lösung ist wahrscheinlich nicht der da“, und bei diesen Worten deutete Ronin mit einem Kopfnicken in Richtung Dan, „sondern das da!“ Er nahm eine der Equilibran-Packungen aus der geöffneten Kiste, hielt sie D entgegen und grinste dabei wie eines der gehirnfreien Weibchen aus den IV-Dauerwerbesendungen.

„Und das sagt wer?!“

„Das sage ich!“ In Ronins großen roten Augen blitzte es auf. „Ich glaub, ich hab unseren eXinfernis jetzt verstanden. Diesen hinterhältigen Bastard! Wie cool ist der denn drauf?! Ein Rätsel, D, wie ein… ein Puzzle, und wir suchen jetzt nach dem nächsten Teil. Dan, hören Sie mal gut zu. Lassen Sie sich nicht von Ravins Waffe ablenken, der drückt schon nicht ab, solange Sie nur brav mitmachen. Und wenn Sie mich nachher ein paar von diesen Glücklichmachern hier mitnehmen lassen.“

„Ähm… ja… klar“, murmelte Dan und sah Ronin an wie einen sprechenden Raumgleiter. D konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was da gerade hinter Gangstervisages Stirn beim Anblick des kleinen Weißhaarigen mit der Katzenohrenkapuze vorging. „Und… wobei soll ich zuhörn?“

„Ich werde Ihnen jetzt sechs Namen nennen, und Sie sagen mir, ob eine diese Personen hier in letzter Zeit Equilibran gekauft hat: Minette Mulligan. Shiro Isamiya. Patricia Alison. Lavinia Alison. Ellen Ridgefort. Lennart Ridgefort.“

„Die Kleinen?! Nee, Blödsinn! Sind doch Kinder, anständige kleine Dinger, denen würd ich so was ja nich geben, wissense? Und die anderen auch nich. Die Mulligan, die kann sich hier mal schön von fernhalten. Nennt mich immer nen Mörder, weil ich Schnitzel und so verkaufe. Die Alisons kaufen hier gar nich ein. Sind sich zu fein dazu, lassen alles Essen einfliegen, so nen feinen Fraß aus der Stadt. Snobs halt. Widerlich, wennse mich fragen. Und der Isamiya is’n guter Kerl, immer freundlich. Noch’n echtes Vorbild für die Schüler. Die nehmen das Zeug hier alle nich.“

„Ronin“, warf D ein bisschen ernüchtert ein, „wenn dieses Teufelszeug hier so gut wie jeder nimmt, kann der Killer das von überall her haben.“

„Auf gar keinen Fall!“, gab der Weißhaarige zurück. „Nicht hier. Ein weißer Gartenzaun ist alles, schon vergessen? Hier kann man sich doch keine Flecken auf der blütenweißen Weste erlauben, nein, das glaub ich einfach nicht, da wird jeder sein Suchtproblemchen schön für sich behalten, sprich: Das Zeug muss aus dem Markt stammen!“

„Na jaaa…“, murmelte Gangstervisage und rollte mit dem Kopf, wobei seine leicht schiefen Schultern ein leises Knacken von sich gaben. „Hier is in letzter Zeit immer mal wieder was weggekommen, vom Equilibran und vom Hadronin.“

„Hadronin?“, fragte D nach. „Was ist denn das jetzt wieder?“ Er warf ganz automatisch einen Blick in Ronins, nicht in Dans Richtung, aber auch der zuckte nur mit den Schultern.

„Das is nich schlimm“, erklärte Dan und machte eine träge, wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand. „Von dem Zeug wird man nich süchtig, da wird man überhaupt nichts von. Is nur so’n Ding, so’n Placebo halt, gibt man Kindern inner Schule, wennse Prüfungsangst haben. Das is auch nich hier, is im Laden, das darf jeder verkaufen, wie er Lust drauf hat.“

„Gegen… Prüfungsangst?“, fragte Ronin nach, und in seiner Stimme lag etwas seltsam Bedeutungsschweres. „Dan… woraus besteht dieses Hadronin?“

„Aus Traubenzucker“, antwortete Gangstervisage.

„Traubenzucker?!“ D riss seine dunklen Augen weit auf. „Aber… aber dann…“

„…dann haben wir unseren Killer hiermit gefunden“, brachte Ronin seinen Satz zuende, und seine bleichen Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln.

„Ja, und wer ist’s jetzt?“, fragte D deutlich wenig euphorisch.

„Ein Mittel gegen Angst. Vor Prüfungen! Schul prüfungen! Ist das nicht eindeutig?“

„Aber… du meinst doch nicht ernsthaft, dass…“

„Natürlich mein ich das!“ Die roten Augen des kleinen Weißhaarigen funkelten auf eine irgendwie beunruhigende Weise. „Der Raum hier war abgeschlossen! Und was braucht man, um ein fremdes Schloss zu öffnen? Na?“

„Einen Generalschlüssel“, murmelte D ein bisschen unwillig. „Das beweist aber noch lange nicht, dass…“

„Außerdem, wer hier auf diesem Planeten braucht sonst noch ein Mittel gegen… Prüfungsangst?! Minette vielleicht? Oder Isamiya, der ja auch so ein Nervenbündel ist? Eben! Und denk mal, dann ist’s auch logisch, wie Aya auf den Täter gekommen ist, die kannte dieses Zeug bestimmt, die sieht mir doch auch so aus, als ob sie in der Schule Prüfungsangst gehabt hätte, oder sie hat bei den Zwillingen irgendwas davon rumstehen sehen, keine Ahnung, Tatsache ist jedenfalls, dass sie nach ihrem Besuch bei den Beiden verschwunden ist!“

„Aber es sind Kinder!“

„Ich sehe da kein Problem“, mischte sich Ravin endlich wieder in das Gespräch ein. „Mit genügend Zeit, einem guten Betäubungsmittel und dem richtigen Werkzeug, beispielsweise einer elektronischen Säge, kann auch ein Kind einem Menschen den Kopf aufschneiden.“

„Also… also soll das heißen, dass…“

„Das soll genau zwei Dinge heißen, D“, unterbrach Ronin den Schwarzhaarigen. „Erstens, dass keiner der hier Anwesenden jemals ein Wort über das verlieren wird, was in dieser Nacht hier im Supermarkt geschehen ist und gesprochen wurde. Und zweitens, dass wir uns jetzt verdammt noch mal sehr, sehr, sehr beeilen sollten.“
 

Der strömende Regen schlug D wie tausend winzige Fäuste ins Gesicht, durchtränkte seine Mütze und nahm ihm mit seiner Vehemenz beinahe den Atem. Trotzdem lief der Schwarzhaarige weiter, so schnell seine Beine ihn trugen. Er hatte Mühe, mit Ravin mitzuhalten. Der rannte scheinbar mühelos durch die Mauer aus fallendem Wasser. Sein langes weißes Haar wehte tropfnass durch den Regenschleier, auch sein schwarzer Mantel flatterte glänzend hinter ihm her, und jeder seiner Schritte peitschte Fontänen des niedrigen Meeres auf, das die schneeweiße Straße überflutet hatte.

D konnte nicht begreifen, wie Ravin sich auf eine solch mühelose und… ja, schöne Weise bewegen konnte. Er selbst hatte das Gefühl, dass Gewichte an seinen Füßen klebten, die ihn hinab ins Wasser ziehen wollten. Ein bisschen wie in einem Alptraum. Überhaupt hatte die ganze Szenerie etwas Unwirkliches an sich, etwas beklemmend Surreales, Wasser oben und unten und überall, wie ein Käfig, wie ein Wald, durch den sie sich kämpfen mussten, und die Luft war erdrückend schwer. In Ds Seite hatte sich ein hässliches Stechen breitgemacht. Durch den trüben Vorhang des Platzregens konnte er kaum etwas erkennen, zumal ihm die dicken Tropfen genau in die Augen peitschten. Es war, als ob irgendetwas… oder irgendjemand sie jetzt noch mit aller Macht aufhalten wollte.

Aber natürlich rannten sie trotzdem weiter. Dass sie endlich, endlich ankamen, erkannte D nur daran, dass Ravin irgendwann von der Straße in einen Vorgarten abbog. Das Haus glich jedem anderen, umso mehr jetzt, da die Umgebung für den Schwarzhaarigen sowieso nur noch aus hellen und dunklen Flecken und vor allem aus ganz viel Wasser bestand. Im Licht der Straßenlaternen wirkte der Regen wie Metall, wie bewegte Fäden aus Silber, und genauso kalt fühlte er sich auch an. Das Haus, vor dem sie standen, war hingegen vollkommen dunkel. Wenigstens auf der Seite, die dem Vorgarten zugewandt war. D hatte keine Ahnung, ob er das jetzt beruhigend oder beunruhigend finden sollte.

Ravin hielt sich jedenfalls nicht mehr lange mit irgendwelchen Förmlichkeiten auf. Er zückte seine Blackbird und verpasste dem Schloss einen tödlichen Treffer. Dann öffnete er die Tür und bewegte sich zwar leise, aber nicht gerade langsam ins Innere des Hauses. D folgte ihm mit angehaltenem Atem. In seinem Kopf überschlugen sich tausend Gedanken, und sein Herz pochte so laut, dass es beinahe sogar das Prasseln des Regens übertönte. Er ließ seinen Blick zur Küchentür schweifen. Zum Wohnzimmer hin. Dessen Tür stand offen. Im Dunkeln konnte D eine klobig wirkende Sitzgarnitur erkennen.

In einem der Sessel saß jemand.

Nur mit Mühe konnte D einen Schrei unterdrücken. Der Anblick, der sich ihm bot, erschreckte ihn zutiefst, aus welchem Grund auch immer. Da hockte im Dunkeln eines dieser Horrorkinder, die Haut gespenstisch weiß, die Augen hinter den Brillengläsern kaum zu erkennen, fast wie Löcher in einem farblosen Schädel. Auf seinem Gesicht war keinerlei Regung abzulesen. Die Beine hatte das Kind an den Körper gezogen. Es sah aus wie tot, aber D konnte spüren, wie es sie aus dem Dunkeln heraus anstarrte. Er hatte keine Ahnung, welchen der Zwillinge sie da vor sich hatten.

„Wo ist sie?“, fragte Ravin mit nicht zu lauter, dafür aber umso kälterer Stimme, und richtete seine Blackbird auf die dürre kleine Gestalt.

„Len?“, fragte diese mit vollkommen emotionsloser Stimme, ohne auch nur zusammenzuzucken. D spürte, wie ihm ein Schauer über seinen ohnehin schon zitternden Körper lief. Er konnte natürlich nicht mit Gewissheit sagen, wie er als Kind reagiert hätte, wenn plötzlich drei offensichtlich Wahnsinnige in sein trautes Vorstadtheim geplatzt wären und ihm eine großkalibrige Schusswaffe an den Kopf gehalten hätten, aber er war sich doch ziemlich sicher, dass er wenigstens irgendwie reagiert hätte. „Len ist unten. Sie lernt. Ich darf sie dabei nicht stören.“

„Sie – lernt?“, fragte D, um sich ein bisschen von dem unterschwelligen Gefühl des Grauens abzulenken, das sich in seiner Brust ausbreitete. „Um diese Uhrzeit?“

„Wir suchen aber gar nicht Len“, verbesserte Ravin, noch bevor das Kind antworten konnte, „wir suchen Aya.“

Len Nummer Zwei starrte den Weißhaarigen einige Sekunden lang schweigend mit seinen toten Augen an. Der starrte eiskalt zurück. Und absurderweise war es am Ende Ravin, der von den Beiden zuerst blinzelte. Verdammt, dieses Kind war wirklich unheimlich!

„Ist bei ihr“, antwortete der Zwilling dann, nach einer scheinbaren Ewigkeit. „Sie lernen zusammen.“

„Das heißt, sie lebt noch?!“, platzte D heraus. Das Kind hob die Schultern.

„Sie lernen. Ich war schon länger nicht mehr unten. Ich darf ja nicht stören. Ihr solltet auch nicht runtergehen. Len macht so was ziemlich wütend.“

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Ravin schon herumgefahren und aus dem Wohnzimmer gelaufen war. D hatte weitaus mehr Mühe, sich von dem hypnotisch starren Blick des kleinen Scheintoten loszureißen. Letztlich gelang es ihm vor allem deshalb, weil er um nichts in der Welt mit dem Zwilling allein in einem Zimmer bleiben wollte. Er schloss seine Augen, als er sich von dem Kind abwandte. Dann folgte er Ravin hinaus auf den Gang, durch eine weitere Tür in ein Treppenhaus und über die Stufen nach unten. D entging nicht, dass vor dem Abstieg in die noch finsterere Finsternis des Kellers selbst Ravin zögerte, wenn auch nur für einen einzigen kurzen Moment. Spontan schlug das Herz des Schwarzhaarigen gleich doppelt so stark gegen seinen Brustkorb. Die marmornen Stufen schienen unter seinen Füßen zu vibrieren, als ob ein Bienenschwarm im Inneren des Steines toben und wüten würde.

Von unten hörte er ein leises Schluchzen.

Jetzt ging alles sogar noch ein wenig schneller. Ravin sprang mehr nach unten, als dass er lief. Mit zwei, drei Sätzen war er in der Dunkelheit verschwunden. Ein weiterer Wimpernschlag, und auch Ronins kleine Gestalt verschmolz mit dem tiefen, feuchtkalten Schwarz. D spürte, wie sich ein beklemmender Ring um seinen Hals legte. Einen Moment lang fühlte er sich vollkommen allein. Er stolperte die letzten Stufen hinab auf einen Flur und dann gegen eine Wand. Eine kahle Steinwand. Wie in einem Bunker, oder in einem Gefängnis. Er war nie im Keller seines eigenen Hauses gewesen, und jetzt war er fast sogar froh darüber. Noch eine Sekunde in völliger Finsternis, dann drang plötzlich Licht auf den Gang hinaus. Ravin hatte eine Tür geöffnet. Das Licht war rötlich, ein bisschen so wie Feuer. D hatte es eilig, dem Weißhaarigen in den erhellten Raum zu folgen. Der Gedanke, dass die Tür wieder zufallen würde, war mehr, als er momentan ertragen konnte.

Er trat in einen Keller, dessen genaue Funktion er nicht so recht benennen konnte, weil hier letztlich von allem etwas stand. Eine große Waschmaschine in schmutzigem Weiß, mit einem einzigen schwarzen Auge in der Mitte. Daneben eine Blechwanne, in deren metallene Haut der Rost hässliche Wunden gefressen hatte. In einer Ecke lehnten Gartengeräte an der Wand – ein rotschwarzer Rasenmäher, zwei Schaufeln, eine Harke, eine große Schere und noch etwas Undefinierbares. In einer anderen Ecke standen ein verbeulter Kaminofen und ein Fahrrad ohne Räder. Außerdem stapelten sich Zeitschriftenbündel, Kanister und andere Gegenstände, die offensichtlich von der Mitte des Raumes in die Ecken geschoben worden waren.

Genau in dieser Mitte, auf dem fleckigen Steinboden des Zimmers, saß Len. Sie. Ihre kleine knochige Hand hielt fest den Griff eines Messers umschlossen, das eigentlich mehr eine Säge war, groß und grob gezackt. Ein ekelhaftes Werkzeug. D spürte schon wieder, wie es ihn schüttelte. Vor dem Zwilling lag Aya. Das Mädchen hatte ihren reglosen Körper fest an sich gezogen, als ob es sie eigentlich beschützen wollte. Ein Endruck, der von der Tatsache ad absurdum geführt wurde, dass sie ihr widerwärtiges Mordinstrument gegen Ayas Kehle gepresst hatte. Über den Hals der Wissenschaftlerin lief Blut. Sie hatte ihre dunklen Mandelaugen halb geschlossen. D hatte keine Ahnung, ob sie noch lebte.

„Geht weg“, sagte Ellen ganz ruhig, aber in ihren großen Augen schimmerten Tränen, was sie noch ein bisschen schwärzer und leerer wirken ließ. „Geht weg, oder ich schneide ihr den Hals auf!“

„Und wenn wir gehen, schneidest du ihr den Kopf auf“, stellte Ronin überraschend trocken fest. Len presste ihre bleichen Lippen fest aufeinander.

„Ich brauche sie“, antwortete das Mädchen nach kurzem Überlegen, und ihr Gesicht war immer noch wie tot. Ebenso ihre Stimme. Dafür bewies Aya mit einem ganz leisen Stöhnen, dass sie tatsächlich noch unter den Lebenden weilte. Wie gesagt – noch.

„Für dein Studium, richtig?“ Ronin machte einen langsamen Schritt auf Ellen zu. Sofort schlossen sich ihre Fingerchen noch fester um den Griff des Messers. Aya zuckte zusammen. „Dein Bruder nannte es… lernen. Aber wie um alles in der Welt bist du auf… auf diese Idee gekommen?“

„Das hab ich gelesen“, antwortete das Kind. „In einem richtigen Buch. Mit Papier und allem. Das haben sie früher in einigen Kulturen so gemacht. Nicht nur bei Eingeborenen und Barbaren und so. Bei den alten Ägyptern zum Beispiel. Über die hab ich auch ganz viel gelesen.“

„Du hast ihre Gehirne gegessen!“, stellte Ronin fest, und D hielt es ganz plötzlich nicht mehr aus, dem Mädchen ins Gesicht zu sehen. Sie hatte noch diese typischen kleinen weißen Zähne, wie nur Kinder sie haben konnten, und beim Anblick der gleichmäßigen Zahnreihen wurde es D fast schon schwindlig. Aber vielleicht lag das ja auch nur daran, dass die Luft hier unten so schwer und feucht und verrottet war.

„Im Gehirn eines Menschen ist alles: Seine Intelligenz. Seine Fähigkeiten. Wenn man das Gehirn zu sich nimmt, solange es noch lebt, dann nimmt man auch das Ganze auf, was der Mensch mal konnte und wusste. Das habe ich mir nicht ausgedacht!“

„Das ist krank!“, stieß D mit einiger Mühe hervor.

„Aber du hast nicht damit aufgehört“, stellte Ronin deutlich weniger beeindruckt fest. „Also muss es ja irgendwie… funktioniert haben.“

„Ich hatte dieses Jahr eine Eins in Mathe“, sagte Ellen, verzog ihre blutleeren Lippen zu einem ganz schwachen Lächeln und zuckte mit den Schultern.

Das war ein Fehler.

Es vergingen vielleicht zwei, höchstens drei Sekunden, in denen das Mädchen ihre Hand nur ein ganz kleines bisschen von Ayas Hals entfernte. Dies war jedoch mehr als genügend Zeit für Ravin, um abzudrücken. Dabei zielte er nicht auf den Kopf der kleinen Schwarzhaarigen, sondern auf ihr Mordinstrument. Ds erster Gedanke war, dass Ravin ihr die Säge aus der Hand schießen wollte, was ihm nicht gelang.

Stattdessen schoss er ihr die ganze Hand samt Waffe weg.

Ellen stieß einen schrillen Schrei aus. Im gleichen Moment machte D einen Satz nach vorne, ohne überhaupt zu begreifen, was er da tat, und zog Ayas Körper aus den knochigen Ärmchen des Zwillings. Die Wissenschaftlerin bewegte sich nicht und ihr Atem ging flach. D versuchte, ihr in die Augen zu sehen, aber Ayas Blick war genauso leer und tot wie der des kleinen Mädchens, das jetzt leise wimmernd neben ihnen auf dem Boden lag. Mit den Fingern ihrer linken Hand hielt sie krampfhaft den blutigen Stumpf ihres rechten Armes umschlossen. Ihre Lippen zitterten, aber das war auch schon die einzige Regung, die sich auf ihrem fahlen Gesicht ablesen ließ.

Ronin trat neben sie, ging in die Knie und band ein großes schwarzes Tuch, das er irgendwo aus seinem Mantel hervorgezaubert hatte, um die rotschwarze Wunde. Ein ekelhafter Gestank nach verbranntem Fleisch erfüllte den ohnehin schon stickigen Raum.

„Eines musst du mir noch verraten“, sagte der kleine Weißhaarige. Ellen blickte auf. Über ihre starren Wangen liefen Tränen und ihr Körper zitterte, aber das alles schienen rein mechanische Reaktionen auf den Wundschmerz zu sein, dessen Ausmaß sich D überhaupt nicht vorstellen wollte. Er, da war er sich ganz sicher, hätte mit dieser Verletzung schreiend am Boden gelegen. Schreiend und panisch und vollkommen außer sich. Der Gedanke erschien D selbst jetzt noch pathetisch, aber plötzlich fragte er sich, was um alles in der Welt sie da nur für ein kleines Monster vor sich hatten.

„Hm?“, machte Ellen leise und mühevoll.

„Die anderen Wissenschaftler, die hast du doch wahrscheinlich sofort umgebracht, und du wusstest auch, dass wir nach Aya gesucht haben, also wieso… wieso hast du sie nicht früher getötet?“

Das Mädchen erwiderte Ronins Blick noch etliche Momente lang ohne jeden Ausdruck in den Augen. Dann blinzelte es. Und schließlich verzogen sich seine weißen Lippen zu einem ganz schwachen, beinahe schüchternen Lächeln.

„Weil sie der erste Mensch war, der mich besucht hat.“

D starrte noch ein paar Sekunden lang in das lächelnde Kindergesicht, dann hob er Aya hoch und schob sich an Ravin vorbei, der immer noch mit gezückter Waffe dastand, auf den Kellerflur hinaus.

„Ich ruf einen Arzt“, sagte er, ohne sich dabei noch einmal zu der stinkenden Todeskammer umzudrehen. „Und den Sicherheitsdienst von INFERIA. Wird Zeit, dass wir das hier zu Ende bringen.“

Es war nicht ganz einfach, mit seiner lebendigen Fracht die Treppenstufen zu erklimmen. Aya war recht klein und wog dementsprechend wenig, aber D musste aufpassen, dass er nirgendwo mit ihrem Kopf oder ihren Beinen anstieß. Der Regen prasselte nach wie vor in wahrhaftigen Sintfluten auf die makellosen Straßen von Merrywood Ville hinab, und so brachte D seine Vorgesetzte lieber nicht nach draußen, sondern legte sie im Wohnzimmer auf dem grauen Sofa ab. Lennart saß immer noch auf seinem Stuhl und starrte in die trübe Dunkelheit, die jetzt langsam im Morgengrauen verblasste. Er hatte sein Kinn auf die Knie gestützt und sprach kein Wort.

Er saß auch noch genau so da, als der Morgen bereits angebrochen war und eine Horde von Medizinern und Sicherheitskräften in das schöne weiße Haus eindrang, um seine Schwester aus dem Keller zu holen und fortzubringen.
 

„Jetzt schau dir das an! Alles offen und blutig und widerlich!“ Ayas Tonfall schwankte irgendwo zwischen Ekel und Verzweiflung. „Ich werde wochenlang keine Uhren mehr tragen können! Und mein schönes neues Armband auch nicht.“

„Das ist ja schrecklich!“ D rollte mit den Augen. „Aya, du weißt aber schon, dass du bei der ganzen Aktion beinahe draufgegangen wärst?“

„Was? Tatsächlich?!“ Die Wissenschaftlerin warf D einen strafenden Blick zu. „Gut, dass du’s mir sagst, das hatte ich nämlich beinahe nicht bemerkt.“

„Als ich dich gefunden hab, hast du fast nicht mehr geatmet!“

„D!“ Aya richtete sich ein bisschen in ihrem Liegesitz auf, was sie doch mehr anstrengte, als ihr lieb war. „Ist dieses fürchterliche Psychokind die letzten Tage neben dir oder neben mir mit seiner ekelhaften Knochensäge rumgestanden? Na?! Also, erzähl du mir nichts vom Draufgehen!“

„Hör auf, solche Wörter wie Knochensäge zu verwenden!“ D verzog das Gesicht. „Das war ein ganz normales Küchenmesser… -säge… -beil… was auch immer.“

„Für sie war’s aber trotzdem eine Knochensäge. Und, dass du’s weißt, Atemdepressionen sind eine typische Nebenfolge bei der Einnahme von Benzodiazepinen.“

„Atemdepressionen?! Was um alles in der Welt soll das schon wieder sein?“

„Dass man langsamer atmet, du Genie!“ Aya füllte ihre noch immer etwas schmerzenden Lungen zur Entschädigung einmal umso tiefer mit Luft – mit frischer, klarer, vom Regen gereinigter Luft –, was zwar sofort ein schmerzhaftes Husten über ihre Lippen trieb, diesen kleinen Wermutstropfen aber definitiv wert war. „Apropos Genie: Hast du eigentlich gestern noch irgendwas über unsere beiden kleinen Killer herausgefunden?“

„Na, getötet hat ja scheins nur das Mädchen. Ihr Bruder hat… eben zugesehen. Und herausgefunden… hm. Nichts Schönes jedenfalls. Ihr Vater ist wohl ab und an auf irgendwelchen spießigen Ferienplaneten auf die Jagd gegangen und hatte dafür eine Waffe, um Tiere kurzfristig zu lähmen. Mit diesem netten Spielzeug ist die kleine Len dann ihrerseits auf die Jagd gegangen, nur halt nicht auf… ähm… Enten und… wie die Viecher alle heißen, sondern auf Wissenschaftler. Freundlich, wie man hier auf Merrywood Ville nun einmal ist, hat man den wichtigen Gästen keine Hotelzimmer oder sowas, sondern eigene Häuser zur Verfügung gestellt, die sie für die Dauer ihres Aufenthalts bewohnen durften. Da hatte Ellen mit ihrem Generalschlüssel natürlich leichtes Spiel. Ein Betäubungsschuss, ein bisschen Equilibran, und dann hieß es Ritsch-Ratsch, Schädeldecke ab.“

„D, du bist ja so sensibel, weißt du das eigentlich?“ Aya spürte, wie ihr ein Frösteln über den Körper lief. Überhaupt hatte sie seit ihrem Erwachen am vergangenen Mittag nicht aufgehört, zu frieren, dabei herrschte draußen längst wieder eitel Sonnenschein. Die apokalyptischen Regenfälle, die in der Nacht ihrer Rettung über Merrywood Ville hereingebrochen waren, kannte sie nur als dumpfes Plätschern in der Ferne – und natürlich aus Ds und Ronins lebhaften Erzählungen. Sie rutschte noch ein bisschen näher zum Fenster des Gleiters hin. Einen Tag und eine Nacht lang hatte man sie noch auf Merrywood Ville behandelt. Zur Sicherheit, und weil sie erst einmal Ruhe gebraucht hatte. Dann hatte man ihr schon wieder irgendein Sedativum verabreicht. Jetzt, am nächsten Mittag, hatte sie zum ersten Mal wieder das Gefühl, vollkommen klar denken zu können.

„Tut mir leid, Boss.“ D lächelte entschuldigend, und zwar ehrlich entschuldigend. Er wirkte ziemlich müde, wie übrigens jeder ihrer heldenhaften Mitarbeiter. Selbst Ravin sah so aus, als ob er in der vergangenen Nacht kein Auge zugemacht hätte, und es entging Aya auch nicht, dass Ronin mehr als nur einmal wie zufällig die Hand auf seinen Arm legte. Irgendwie musste doch mehr passiert sein, als ihr berichtet worden war. Sie stieß D reichlich kraftlos in die Seite und lächelte zurück.

„Ich werd dich noch einmal mit dem Leben davonkommen lassen“, entgegnete sie großmütig und legte eine Hand an das warme Fenster des Gleiters. „Aber um auf unser Thema zurückzukommen: Weißt du, was mich am meisten interessieren würde? Die Hintergründe der Tat. Hast du denn etwas über die Zwillinge selbst herausfinden können?“

„Na ja… nichts, was wir nicht schon vorher gewusst hätten. Die Beiden gehen in die ortsansässige Schule… gingen, wie man jetzt wohl eher sagen muss. Hab in ihre Krankenakten eingesehen, keinerlei Hinweise auf körperliche oder seelische Misshandlungen. Keine ungewöhnlichen Krankheitsgeschichten. Keine Traumata. Stabiler sozialer Hintergrund. Die schulischen Leistungen des Mädchens waren übrigens auch nie so wirklich schlecht. Das schlimmste waren Dreier, einmal auch ein Vierer. Aber sonst…“

„Also nichts, was es… leichter machen würde, stimmt’s?“

„Nein.“ D deutete ein Kopfschütteln an und starrte an Aya vorbei aus dem Fenster hinaus. Sie folgte seinem Blick mit den eigenen Augen. „Wir müssten bald losfliegen“, sagte er dann. „Bist erleichtert, hier wegzukommen, oder?“

Aya antwortete nicht sofort. Sie betrachtete die perfekte Szenerie hinter dem Sicherheitsglas, die im seltsam kalt wirkenden Sonnenlicht wie ein wunderschönes Gemälde aussah. Und dabei wusste sie genau, dass es da draußen auch überhaupt nicht wirklich kalt war. Dieses Kellerloch, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte, dort war es kalt gewesen. Aber doch nicht in Merrywood Ville! Es war unglaublich, wie weiß die Straßen und vor allem die Häuser waren, makellos, und das Gras war so grün, dass sich das Gras in den Parks von Attraya im Vergleich dazu eigentlich gar nicht als solches bezeichnen durfte. Der Regen hatte alles noch viel reiner, viel sauberer gewaschen, hatte jeden noch so kleinen Schmutzfleck einfach hinfort gewischt. Aya musste wieder an den Garten hinter ihrem Haus denken, und an ihr großes, weites, luftiges Wohnzimmer. Mit dem Kamin, der wolkenweichen Sitzgarnitur, dem blitzblanken Holzboden und den wunderbar weißen Vorhängen, dessen sanfte Bahnen ganz ruhig mit dem herrlich warmen Sommerwind tanzten.

„Hm“, machte Aya und deutete ein Nicken an.

Aber ganz heimlich, still und leise dachte sie, dass Merrywood Ville trotz allem ihr Arkadien bleiben würde.
 

Akte 4d/ Ende



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Kommentare zu dieser Fanfic (17)
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Von: abgemeldet
2007-06-17T12:32:44+00:00 17.06.2007 14:32
Hallo^^

Ja, du wunderst dich jetzt vielleicht, was ich hier mache, und um ehrlich zu sein, ich auch etwas......Es ist nämlich so, dass ich ursprünglich einmal vor langer, langer Zeit, als dieses kapitel noch brandneu war, vorhatte, dazu einen Kommentar zu schreiben, aber aus Gründen, die mir jetzt nicht mehr geläufig sind<.<....habe ich es dann vergessen und verschlampt....dafür erstmal Gomen nasai, es tut mir wirklich Leid und dann fragt mich Yoko gestern im ICQ, ob ich eigentlich schon Levitation gelesen hätte.
Nachem dann der Umstand geklärt war, dass es nicht um das große, letzte Kapiel ging, sondern noch um dieses hier, fiel mir dann auch wieder ein, dass da immer noch ein Kommenta von mir fhelt und daher hab ich mich jetzt nochmals vor den PC gesetzt, mit das Kapitel durchgelesen und meinen Grips eingeschaltet^.~
Nun, wie immer fiel mir zuerst auf, dass ich total in deinen Schreibstil vernarrt bin. Ich weiß, ich schreib das jedes Mal, nur in anderer Form, aber ich find den einfach genial...der ist immer unterhaltsam, egal, ob du damit gerade eine spannende Action-squenz, einen komplexen Gedankengang oder generelle Hintergrundinformationen zum Wetter oder über die Landschaft beschreibst. Er ist nie langweilig oder abgenutzt. Er macht einfach Laune.^^
Und dann fiel mir wieder auf, wie sehr ich diese ganzen wirren Leutchen eigentlich mochte. D und Ronin fand ich in diesem Teil besonders toll....am besten die Gespräche der beiden.......ich sag nur Pädophilenkongress*lol*
Und Ravin, ja....den fand ich hier auch wieder sehr einnehmend^.~ Insbesondere die Schlusszene mit Ronin war toll...*fanzservice Fähnchen schwenk*..........von dem Kuss in Minette Mulligans Wohnung ganz zu schweigen~.~

Was die Verdächtigen angeht, die mag ich auch alle....an Dan mag ich seine Art zu reden, diese halb verschluckten und verschlampten Prädikate und Pronomen und seine trockene, markige Art. Minette mag ich immer noch allein wegen des Nestes auf ihrem Kopf:P.....die Zwillinge habenw irklich dieses Psycho-Overlook-Charme und Ismiya bzw. Lavinia.....die haben auch was, wenn auch etwas eher Undefinierbares<.<

Du hast alles in allem ein paar sehr tolle Charas da erfunden..*alle mal als steckfiguren ins Regal stell*

Was das Raten nach dem Täter angeht....nun gut..ich habe da natürlich auch so meine Vermutungen. Dan halte ich für unwahrscheinlich. Der Traubenzucker führt zwar in erster Linie zu ihm und seinem Supermarkt-Sortiment, aber erstens, finde ich diese Spur zu plump und zweitens....der Mörder sagte 'Es tut mir Leid".....und diese klare Aussprache passt nicht zu seinem Slang......gut, vielleicht ist der Slang auch nur egspieltO.o............who knows.
Minette.......halte ich schon für eher wahrscheinlich, wenn auch nicht für wirklich verdächtig. Der Traubenzucker könnte Teil ihrer Tiernahrung sein, abe rihr Motiv ist zu durchsichtig.......<.<
Lavinia und Isamya stehen irgendwie ekomplett außen vor.......den beiden traue ich eher verdorbene Adultkram zu, aber keinen Mord, schon gar keinen Serienmord.................also bleiben nur noch die Twins^^.........Ja, ich verdächtige Kinder und ich fühle mich gut dabei. Zum einen fallen sie allein durch ihr Kindsein durchs Schema,w as sie für mich schon wieder verächtig macht, außerdem kommt mir diese Len mit ihrem Wunsch Wissenschaftlerin zu werden, etwas ZU akademisch vor........so als würde sie auch ganz andere Studien treiben, während Mummy und Daddy weg sind.....^^°....vielleicht sogar für ihren Bruder oder so...auf jeden Fall habe ich die Twins im Verdacht^^

Ich lasse mich aber trotzdem sehr gerne überraschen.........oder schocken^.~
So, ich hoffe, damit kann ich meinen Patzer wenigstens etwas ausbaden und hänge noch an, dass ich immer noch gespannt auf das ncähste Kapitel bin......und darauf, ob ich Recht hatte oder nicht......woh eher nicht<.<.........also, noch viel Spaß beim Schreiben und wir lesen uns^.~
Dein Fünkchen.

Und grüß Ronin und Ravin von mir^^
Von:  Helmchen
2006-07-13T07:59:36+00:00 13.07.2006 09:59
*freu* Hab's zum Glück am gleichen Tag noch lesen können, trotz ewig langen und schweren Gewitterstürmen.
Du hast mich ganz schön auf die Folter gespannt. Ich saß schon ganz kribbelig vor der Kiste und dachte die ganze Zeit: Jetzt, jetzt kommt er gleich... nein, doch wieder nicht, aber jetzt... Im Haus dachte ich erst, er wäre es – und als Aya in der Nachbarschaft an der Tür klingelte, war ich mir derart sicher, ihn gleich auftreten zu sehen, dass mich die alte Frau wirklich schockiert hat ;-)
Meine Güte, dieser Trabant ist so... psycho. Ich wurde beim Lesen richtig nervös und konnte Aya gut verstehen, dass sie langsam aber sicher das Gefühl hatte, durchzudrehen. Meine Güte, diese Kinder. Wenn ich mir vorstelle, in einem Haus zu wohnen, zu dem solche Kinder einen Generalschlüssel haben... *schauder*
Gut, davor war die Atmosphäre auf diesem... ähm, seltsamen Trabanten ja noch soooo schön idyllisch, aber dieses Gefühl verdrehte sich immer mehr bei jeder neuen Bekanntschaft Ayas mit den Einheimischen.
Aber Shiro ist toll *freuuu* du hast ihn so dargestellt, wie ich ihn mir vorgestellt habe, wenn nicht sogar noch besser ^__^ Er wirkt so... attraktiv, einfach super! Und er ist so ein guter Hacker geworden, sogar eine Legende. Ich bin richtig stolz auf meinen Kleinen.
Aber du hast diese Stimmung wirklich gut rübergebracht. Erst noch so idyllisch und alles schon zu schön, um wahr zu sein. Und dann schlägt die Stimmung derart um, wird so bedrohlich und beängstigend. Diese Szene mit Shiro und dem Mädchen auf der Schaukel hat so etwas eigenartig Beklemmendes an sich, ich muss wirklich sagen, Hut ab! Bei mir stellten sich da regelrecht die Nackenhaare auf.
Eigentlich ist ja alles da so unwirklich und unheimlich, dass man schon bei jeder Zeile Angst hat, dass gleich was noch schlimmeres passiert... es ist dieses kribbelnde Gefühl wie bei einem Horror- oder Psychofilm. Man hat irgendwann vor allem Angst, egal wie harmlos es ist („The Ring“ ahoi! Wasser, Fernseher, Mondsichel...) und will eigentlich nur noch die Flucht ergreifen. Andererseits ist man aber auch begierig darauf, neues zu erfahren und endlich die Hintergründe zu erfahren.
Ich bewundere wirklich Ayas starke Nerven. Ich finde, allein die kurze Zeit dort gibt schon genug Stoff für Alpträume – und es kommt ja noch mehr, waaah!! Ich wäre schon längst auf und davon gewesen ^__^;;
Und nochmals vielen Dank für dieses Ende *heuuul* Warum macht es dir so Spaß, die Nerven deiner Leser auf diese Art und Weise auf die Folter zu spannen? Ich will endlich wissen, wie's weitergeht. Ich werde schon ganz kribbelig, wenn ich an den Schluss denke und was mit Aya wohl passiert sein könnte und was das alles mit den Kindern und dem Mädchen auf sich hat und wer denn jetzt der Mörder ist und… Du merkst, wie sehr ich mich regelrecht nach der Fortsetzung verzehre ^__^;;
„ ...wenn nicht gerade dieser kurze Moment verklärten Weltschmerzes am Ende ihr größter Fehler gewesen wäre.“ Oh Yu-chan, solche Andeutungen sind aber auch sowas von... gemein und hinterhältig. Ich werde mir jetzt bis zur Fortsetzung bestimmt mehrmals den Kopf darüber zerbrechen, warum dem denn so ist.
Hmm… was wollte ich noch schreiben? Ach ja, diese Stelle mit Ravin. Es war mitten in der Nacht, na gut, so spät auch wieder nicht, aber meine Eltern sind schon ins Bett gegangen. Ronin nimmt Ravin in den Arm und dieser schläft ein – Marron gibt ein lautes "Oh Gott, wie waiiii!!" von sich. Ich hab erst so gegrinst, weil ich die Stelle so schön war, aber die Gedanken von Aya haben es mir dann recht schnell wieder aus dem Gesicht gewischt (Aya war übrigens wirklich sehr romantisch mit diesem Kommentar ^^; ). Meine Güte, Yu-chan, das war wieder so ein Moment, wo ich gemerkt habe, wie grausam die ganze Situation eigentlich ist (im allgemeinen Sinne, nicht nur in der Szene). Ravin tat mir in diesem Moment so leid, dass ich nahe daran war, zu weinen. Ich meine, die Vorstellung, dass man jemanden so etwas antun kann, ist wirklich furchtbar. Wenn einer nicht einmal weiß, was Glück überhaupt ist und das schon sein ganzes Leben... Warum bekomme ich jetzt aber so Lust auf ein Ravin-RPG ?? *drooop*

Habe ich jemals erwähnt, wie sehr ich Aya und D liebe? Die beiden sind soooo toll! Wenn sie miteinander reden, grinse ich fast jedes Mal von einem Ohr zum anderen. Wenn ich nur an diese eine Stelle denke:
D: „Du hast eXinfernis getroffen? Also… den… den echten eXinfernis? So richtig lebendig und in Farbe?“
Aya: „Nein, D, tot und in Schwarz-Weiß.“
Hach, das war echt herrlich! Ich habe beinahe Tränen gelacht. Die zwei passen echt sehr gut zusammen und ich freue mich schon sehr darauf, wie es sich weiterentwickelt.
Also Yu-chan, lass deine Leser nicht zu lange am ausgestreckten Arm verhungern. Ich bete, dass du bald wieder Zeit für die Weiterführung findest.

Bis dahin, mata ne, *verbeug* *verbeug* Dono... ähm, Kaaamii-saamaaa!!

=^ x ^= Marron-chan
Von:  killerkuerbis
2006-06-21T21:56:01+00:00 21.06.2006 23:56
Sooo, ich hab heute ne Deutschklausur hinter mir und ein kleines bisschen Luft und da dachte ich mir, ich schreib jetzt diesen Kommi, weil ich wahrscheinlich in den nächsten Tagen nicht dazu komme und ich will ihn unbedingt schreiben, nachdem ich das Kapitel gelesen hab, damit ich nichts vergesse. ^^
Aaaalso, wo fangen wir an?
Zuerst einmal muss ich sagen, dass ich finde, dass das ein richtig richtig gutes Kapitel war (was nicht heißen soll, dass die anderen nicht auch gut sind O_o) aber – jetzt kommt’s ^^;;; - irgendwie auch so ein Hinhalte-Kapitel. O_o Ich weiß nicht, aber ich dachte andauernd, gleich kommt ne riesen Sensation, jetzt erfährt man was ganz wichtiges… gleich, gleich, gleich und dann… war’s aus. O_O Und das auch noch kurz nach dem Kagami-chan Aya offenbar so etwas Wichtiges gesagt hat!!
Argh. Aber fangen wir mal lieber am Anfang an. Den fand ich nämlich total cool. ^^ Dieses Hin und Her zwischen Aya und D und welches Theater D gemacht hat… der hat ja fast so getan, als wär’ Aya mit seinem großartigen eXinfernis ins Bett gestiegen. ^^; Ich konnt mir Ayas entnervte Miene richtig gut vorstellen. Andererseits bin ich auch davon überzeugt, dass ich mich, wäre ich einer der beiden gewesen, eher in Ds Rolle wiedergefunden hätte. ^^;; Irgendwie glaube ich, dass mir diese Art herumzunerven, die er da an den Tag legt, auch so richtig gut liegen würde. ^^;; Gut, ich kann mich trotzdem mehr mit Ronin identifizieren als mit D, aber diese eine Szene… ^-^

Und mir gefällt dieser Trabant nicht. Überhaupt nicht. Dieses Vorstadtgedüns von wegen Nachbarschaftshilfe und jeder kennt jeden und bla… is’ zum einen absolut nichts für mich und zum anderen is’ mir dieser ganze Planet einfach zu schön und zu geordnet und irgendwie von allem einfach zuviel. O_o Außerdem mag ich weiße Haustüren nicht.
Beim Lesen dachte ich auch dauernd, das is’ einfach nicht echt. Irgendwie kam’s mir mehr vor wie in einem wattigen rosaroten Traum, in den einer etwas zu viel Weichspüler rein gegossen hat… weiß nicht, so unwirklich und wie im Film. Ich kann’s nicht richtig beschreiben, als hätte man das Gefühl, einer Verschwörung zu unterliegen.
Ok, ich will eigentlich gar nicht alles schlecht machen. O.o Ich komm’ mir wie’n Miesmacher vor, wo alles so schön beschrieben ist, und so ruhig und idyllisch aber irgendwie is’ es gerade das, was es mir so suspekt macht. Mich erinnert’s ein kleines bisschen an diese eine Akte X Folge, weiß nemme, wie die hieß, wo auch alle Häuser gleich waren usw. Vielleicht liegt’s daran. Vielleicht is’ aber auch die Tatsache der Grund, dass ich irgendwie WEIß, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugeht – was heißt hier eigentlich irgendwie? Lebendig ausgehöhlte Köpfe sind kein „irgendwie“. Aber auch ohne das wäre mir das alles zuviel. Nehmen wir doch mal das Äußere. Überall weiß. Weiße Häuser, weiße Türen, weiße Gartenzäune, alles perfekt, nichts tanzt aus der Reihe, dauernd dieses verbohrte weiß überall… wenn ich weit ausholen würde, dann würde ich sagen, dass all dieses Weiß fast schon so wirkt, als solle es irgendwas überdecken und merkwürdig gezwungen.
Und dann diese Dorf-Mentalität. Gut, ich wohn auf’m Dorf, ich hab’s vielleicht einfach über (vielleicht?) aber das hat mir noch nie gepasst, wenn jeder jeden irgendwie kennt, mehr noch, wenn jeder mehr oder weniger über seine Nachbarn weiß.
Allein schon, wie sie Aya anglotzen, weil sie nicht bis zum Hals geschlossen durch die Gegend kriecht.
Ja gut, ich tu’ auch mal nicht so, als hätte mich der freundliche Rat, den Ayas verbliebene Nachbarn ihr gegeben haben, überhaupt nicht beeinflusst. Immerhin soll das einem ja da alles suspekt erscheinen lassen (versteht man den Satz? ö.O). Aber wenn ich mal wild in den Raum hineinspekulieren darf… (ich wird’ mich hüten bereits irgenwelche Verdächtigen zu nennen…ich hab ehrlich gesagt auch nicht viele Indizien aus dem Kapitel holen können. Gut, ich mach mir schon meine Gedanken, so is’ nicht, aber die verrat ich nicht ^^) … diese Ganze Sache von wegen Gehirnwäsche, kann es sein, dass es das ist, warum da absolut alles so übermäßig… schön ist? Ich hatte schon so einen Gedanken, als ich die Beschreibung des Trabanten und des Hauses gelesen hab. Noch ein möglicher Grund für meine Antipathie gegen Merrywood Ville (irgendwie hat selbst der Name was Suspektes).
Waaah, und dann dieser Kuchen. O_o Ich weiß noch, wie ich dasaß und laut „Nicht essen!“ gerufen hab. ^^;;
Aber vielleicht bin ich auch einfach nur zu misstrauisch und wirklich ’n Miesmacher. Ich wette, ich bin die einzige die so dagegen wettert. *drop*
Egal, lassen wir das.

Was ich aber schon lange mal fragen wollte, obwohl es eigentlich total nebensächlich ist und vielleicht hast du dir auch gar keine näheren Gedanken dazu gemacht, aber… mit welchem Popstar teil D seinen Namen? ^^;; Jedes Mal heißt es „so wie der Popstar“ und mich würde interessieren, ob der jemals ne Rolle spielen wird, dieser Popstar. ^^;;
Und dann will ich wissen… WAS hat Kagami Aya denn so Wichtiges und Unglaubliches mitgeteilt? Das kannst du doch nicht einfach so verschweigen. O_o Du kannst es ja nur mir verraten. ^^ Nur mir, ich sag’s auch keinem weiter, ich versprech’s, oh großer und unglaublich genialer Meister! ^^ *dezent die Schleimspur hinter sich aufwisch* *hüstel*

Aber ich bin mir ziemlich sicher, du willst trotzdem meine Meinung zu den potentiellen Killern, bzw. den lieben Nachbarn wissen, ne? Hmmm…Ich werd keine ernst gemeinten Verdächtigungen aussprechen, dafür is’ es einfach noch zu früh, aber ich sag trotzdem was dazu, das is’ dann alles aber reine Spekulation. ^^
Aaaaaalso… der Reihe nach. Diese Zwillinge. Sind mir suspekt. Klar, logo, tauchen da einfach von der „Nachbarschaftshilfe“ auf und wirken dann auch noch so merkwürdig und dann scheint die liebe Ellen (und ja, das is’ tatsächlich ein merkwürdiger Name für die Kleine) auch noch ne Art jüngere Kopie von Aya zu sein (aber wenn sie nach Aya kommt hat sie zumindest das Glück nich’ so unscheinbar zu bleiben *in Ayas Ausschnitt schiel*) und es sind eben Zwillinge und die sind mir immer suspekt. Aber ob ich glaube, dass sie der/die/das Mörder sind? Hm, ehrlich gesagt, nee. Zumindest noch nicht. D hat schon Recht, in einem schlechten Horrorfilm wären’s die Kinder. Nach meinem momentanen Eindruck stimme ich ihm zu, aber wie gesagt, ich geb’ noch keinerlei festes Urteil ab. Wer weiß, vielleicht sind die beiden nach dem nächsten Kapitel meine Hauptverdächtigen? ^^;;;
Dann diese alte Fettel… Jaah gut, das is’ schon höchstgradig merkwürdig, von wegen Verwesungsgestank und dieses misanthropische Weltbild aber… im Ernst, das wär’ etwas sehr offensichtlich, oder? ^^;; Es riecht verwest, ergo schimmeln und gammeln ein paar Hirne im inneren des Hauses vor sich hin, die hinter’m Sofa vergessen, darauf warten, in Formaldehyd eingelegt zu werden? Weiß’ nicht. ^^; Ok, es KANN aber auch sein, dass die alte Frau gar keine alte Frau ist sondern jemand vollkommen anderes, eben keine alte misstrauische Frau… du weißt schon, was ich mein? ^^; Und das es nur eine Finte ist mit diesem Gestank, weil dann ja jeder denkt, dass das zu offensichtlich wäre und keiner draufkommt. Momentan find ich’s persönlich tatsächlich einfach zu einfach. Wenn man sich alle Mörder erschnüffeln könnte, bräuchten wir keine Kripo. Aber das kann sich nach dem nächsten Kapitel sofort ändern. ^^
Jaaah, und dann natürlich der liebe Herr Lehrer Isamiya! …Lehrer. Aha. Was soll ich davon halten? Gut, ich könnte einfach dasselbe davon halten wie Aya und D und davon ausgehen, dass er die Kleine vögelt, aber… weiß nicht. Wäre das nicht auch zu einfach? Oder sollte ich aufhören alles so kompliziert zu sehen? Aber egal, das is’ nicht der Punkt… er ist natürlich eine im höchsten Maße spannende Person und auch äußerst verdächtig. Nicht unbedingt verdächtig, der Mörder zu sein, aber auf jeden Fall einfach mal verdächtig. Sein Wissen, seine ganze Art und natürlich die Tatsache, dass er mir sympathisch ist – wer mir sympathisch ist, ist von vorneherein auf irgendeine Art und Weise verdächtig. ^^;;
Hm, und ist er eXinfernis? Ich könnte es mir gut vorstellen, aber andererseits passt er fast zu gut in dieses Bild. Und hätte er Aya seinen Namen genannt, wenn er eXinfernis wäre? Andererseits hat niemand gesagt, dass das sein wahrer Name sein muss, denn nehmen wir an, er wäre es, hätte er dann Aya seinen richtigen Namen verraten? Man weiß es nicht.
Ich hab übrigens auch zu diesem eXinfernis-Thema meine Vermutungen, aber dazu sag ich nichts. ^^
Und ob der Herr Lehrer der Mörder ist? Ohne irgendwas vor weg zu nehmen, sollte er eXinfernis sein, kann ich es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Warum sollte ein berühmter Hacker plötzlich auf Hirn lebendig stehen? Andererseits habe ich auch noch keinerlei Motiv für irgendwas gefunden und kann’s demnach nicht sagen. Und zu seinem Weib fällt mir nix ein. ^^;;
Als Fazit würde ich sagen, dass ich noch keinen wirklichen Verdächtigen nennen kann bzw. will, weil ich noch nichts Stichhaltiges habe. ^^; Somit hab ich die letzten 46 Zeilen eigentlich nur hin und her spekuliert und dabei nichts wirklich gesagt. ^^;; Andererseits hab ich es ja nicht einfach so gelesen, ohne wenigstens meine unqualifizierte Meinung dazu zu sagen. ^^ Immerhin lese ICH deine Storys gern und weil ich sie gut finde und nicht einfach nur quer und ohne wirklich darauf zu achten oder sie geschweige denn zu würdigen. Ò.ó
Aber lassen wir das. ^^;;
Ich hätte jetzt nämlich fast die wahrscheinlich schönste Szene im gesamten Kapitel unerwähnt gelassen. O_O Aber das schönste soll man sich ja bis zum Schluss aufheben, nicht? ^^
Aaaaah, die Szene mit dem an Ronins Brust schlafenden Ravin! Ich bin ja wirklich wirklich niemand, der einfach nur waii kreischt und sonst nichts aussagt, aber selbst ich komme nicht umhin, dieser Szene einen ganz fetten Stempel mit der Aufschrift „NIEDLICH“ aufzudrücken. ^^ Ach, ich fand ja beim letzten Kapitel den Gedanken einfach nur… einerseits kawaii, andererseits sehr seltsam, mir Ravin und Ronin als verheiratet vorzustellen, aber das jetzt zu erleben ist einfach zu… das ist… ich kann’s nicht beschreiben.^^;; Ronin als liebende und fürsorgliche Ehefrau is’ ja schon ne zu abartig niedliche Vorstellung… als Ravins Frau setzt’s dem ganzen noch mal die Krone auf, aber… Ravin, an Ronins Brust friedlich „schlafend“. ^^;; Wenn der Arme das wüsste. ^^;; Dein Bild dazu war ja schon genial… und jetzt das. Ich bin richtig versessen darauf, mehr von dem Eheleben der beiden zu erfahren. ^^;
Hm, ein bisschen tut mir der arme Ravin auch leid. Wegen dem ganzen mit den Gefühlen usw. Aber er kann ja nichts vermissen, das er nie hatte, nicht wahr? Es ist natürlich trotzdem nicht schön, aber so ist das nun mal. >.> *seufz* Man will sich bei Ravin irgendwie keine Gedanken darüber machen. Vor allem nicht, während er mit Ronin „verheiratet“ ist. So von wegen verliebt wie am ersten Tag usw. nicht? ^^;;

Hm ja, aber ich glaube, ich bin langsam zum Ende meines Kommis gekommen. Ich kann eigentlich nicht mehr viel mehr sagen, als dass das Kapitel wirklich richtig gut war. ^^ Sowohl inhaltlich als auch stilistisch…*drop*… hatte ich gesagt, dass die Deutschklausur ne Gedichtinterpretation war? *überall noch Daktyllen und Ellipsen und Enjambements im Kopf rumschwirren hat* O_o
Yo, somit kann ich nur sagen, ich freu mich auf das nächste Kapitel, hoffe, dass ich daraus jede Menge schöne Indizien fischen kann ^^ und verbleibe natürlich treue Leserin. ^^
Ebenso wie Freundin und Sklave ^^; und…
einen schönen Tag noch.
Yoko

PS: YEAH ^^ Ich bin die erste, die 'nen Kommi schreibt und somit denk ich auch mal die erste, die es gelesen hat. ^^ *freufreu*
Von:  killerkuerbis
2005-07-20T15:29:57+00:00 20.07.2005 17:29
...
*räusper*
Bevor ich jetzt mit tausend Entschuldigungen und tut-mir-leids ankomme, will ich sagen, das ich selten eine Story gelesen hab, die mich so gefesselt hat. Natürlich fesseln mich deine anderen FFs auch, keine Frage, aber nicht auf diese Weise.
Es war ein bisschen - oder nein, eigentlich genau so - wie bei den Anders-Bänden. Selbst wenn man aufhören WILL mit lesen, kann man es einfach nicht. Mehr noch, bei diesem Kapitel hab ich einmal sogar gelesen, als ich es gar nicht mehr hätte tun dürfen, nämlich um halb 1 in der Nacht, als ich am nächsten Tag Schule hatte. ^^;;
Warum nur, fragst du dich jetzt zurecht, hab ich nicht früher einen Kommentar verfasst? Nunja, zuerst bin ich einfach nicht dazu gekommen, weil ich soo viel für die Schule zu tun hatte, die letzte "heiße" Phase vor den Ferien war angebrochen, und dann war da noch die GFS...na ja. Und nach dieser GFS... war ich einfach zu fertig. Oder nicht zuhause... whatever.
Kurz gesagt, ich wollte mir einfach wirklich Zeit nehmen für diesen Kommi, da er etwas besonderes werden soll, denn nichts anderes hat dieses sicherlich faszinierende Levi-Kapitel verdient. Deswegen will ich mich auch gar nicht wie sonst etliche Male dafür entschuldigen, dass ich es nicht früher geschrieben habe, denn das würde es nicht besser machen und den eigentlichen Sinn des Kommentars nur unnötig hinaus ziehen.
Also, wo fang ich nur an.... AYA HAT D GEHEIRATET??!!?! Bitte WAS??
... So oder so ähnlich sahen meine Gedanken aus, als ich den Anfang von Akte 4a gelesen habe. Und ungefähr so hab ich geguckt: O____O
Ich mein, der Anfang an sich war ja schon...seltsam. Ich hatte irgendwie dauernd das Gefühl, was verpasst zu haben. Aber trotzdem mag ich diesen Anfang, denn irgendwie konnte ich plötzlich gar nicht mehr so schnell lesen wie meine Augen weiter kommen wollten. Dauernd hab ich mich dabei ertappt wie ich versucht habe, in einer anderen Zeile zu lesen, um vielleicht schneller mitzubekommen, was for heaven's sake da eigentlich passiert ist. Ich dachte ja irgendwie bevor ich angefangen hatte zu lesen du würdest mit dem Mord an sich beginnen, keine Ahnung, wie ich darauf kam...vielleicht war ich einfach versessen auf den nächsten Fall bzw. Mord.... aber als es sich dann um Aya drehte hab ich mir dauernd gedacht ,Was hat sie jetzt vor?'. *drop* ^^; Immer dieser Gedanke, da kommt doch sicherlich gleich was, gleich erfährt man, was das alles bedeutet, warum sitzt Aya auf dieser seltsamen Schaukel an diesem seltsamen Ort und denkt seltsame Dinge - aber du hast dir ganz schön Zeit gelassen, mit der Erklärung rüber zu kommen, und alles hab ich immer noch nicht wirklich durchschaut - wobei alles andere auch nicht halb so spannend gewesen wäre. ^_^ Aber ich denk mal, das weißt du selber, sonst hättest du's nicht so gemacht.
Aber weiter im Text, denn ich lag auch gleich auf der ersten Seite so was von am Boden... ok, ich weiß gar nicht, ob das wirklich so witzig ist, aber dieser TV- oh, pardon, ich meine natürlich dieser IV-Informationssender IDEA.... *droooop* Gut, ich weiß ich bin seltsam und kompliziert und hab einen manchmal seltsamen und komplizierten Sinn für Humor, deswegen muss auch niemand nachvollziehen, warum ich das jetzt SO witzig fand, aber ich lag bestimmt 3, 4 Minuten da und hab nur gelacht. ^^; Vielleicht ist das auch noch eine dieser RiP-Nachwirkungen gewesen, da fanden wir ja immerhin auch ALLES witzig (o.O'') aber zumindest...ja, ich lag da, wie schon erwähnt, am Boden. ^^;
Nun, aber was nach diesem ohnehin schon genialen Anfang, diesem "ersten Teil" kam, war ja, falls möglich, noch ungleich genialer. Allein schon was nach diesem einen letzten Satz "Es hatte alles so harmlos angefangen..." kam, war ja schlichtweg unglaublich. Ich mein, da beginnt's mit dieser Depri-Stimmung in die man sich schon so schön reinversetzt hat, und dann erfährt man, dass der Tag eigentlich super gut angefangen hat, diese Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung bei der einfach alles sofort klappt und nichts schief geht und man sich eigentlich nicht vorstellen kann, dass irgendwas den Tag kaputt machen kann.... ach, ich kenn's so gut, denn gerade DANN, wenn alles, wirklich alles erst mal rund läuft, MUSS das dicke Ende ja nicht lang auf sich warten lassen. Immerhin kommt es erstens immer anders, und zweitens als man denkt.
Somit konnte ich mich schon mal richtig schön reinversetzen und mir die Gefühlswelt Ayas zu Anfang des Kapitels gleich ein bisschen besser vorstellen.
Dann allerdings... hatte ich erwartet, dass ich jetzt gleich wissen würde, worum es eigentlich geht und was überhaupt los ist. Aber nein - falsch gedacht.
Denn jetzt kam erst mal was, wofür ich dich küssen könnte (oder dir optional erst mal ne halbe Stunde lang auf den Knien dafür meine Lobpreisung zukommen lassen, wenn dir das lieber ist ^_~). Nämlich dieser Teil mit Ronin.
Ich meine... ich MOCHTE Ronin ja ohne hin schon immer...obwohl er im letzten Kapitel gar nicht sooo exzessiv vorkam, ich mochte ihn auf anhieb, und er war auch sofort mein ungeschlagener Favourite ...aber nach diesem Teil... wie kann man einen Lieblingschara noch steigern? Geht das?!? Keine Ahnung, aber wenn, dann hat Ronin jetzt sprunghaft die Superlative des Lieblingscharakters bei mir erreicht.
Ich mein...wie geil ist das denn gewesen? Ronin redet wie ein Wasserfall und ohne Unterlass und ist zudem noch ein kleiner Masochist. Mal im Ernst, wundert sich jetzt noch IRGENDWER das ich ihn mag? Nein, nicht wirklich, oder? Man hat mich selten so dermaßen debil grinsend vor Raphie-kun sitzen sehen, wie zu dieser Stelle in Akte 4a. Und als er dann auch noch anfing, sich zu rechtfertigen und Aya von diesem Typen zu erzählen, mit dem er.... genau das... Gott, ich weiß nicht mehr, ob ich überhaupt noch die Luft zum Lachen hatte oder ob ich nicht vor lauter Begeisterung kurzzeitig ohnmächtig gewesen bin. ^^;;;
Gut, dass ist vielleicht ein BISSCHEN übertrieben, aber alles andere wäre ein Herunterspielen dessen, in welchem Zustand ich da gerade gelesen habe.
Ich war ja schon total versessen auf diese Stelle, als du vor einer halben Ewigkeit mal irgendwas hast verlauten lassen von wegen Ronin und masochistisch veranlagt...aber es selbst zu lesen hat's dann doch irgendwie übertroffen.
(Ach, und die Stelle, in der Ronin was sagt von wegen, wenn er müde ist, wird er redselig...Gott, die war genial. *g* Ich mein, klaaaar, wenn er MÜDE ist, wird er redselig. Und auch NUR dann. *g* Wie nennt er, was er sonst tut? *drop* ^^;; Wie gesagt, ich liebe ihn einfach...)
Und dann... ich mein, D und Aya imitieren ein Ehepaar - gut schön. Da dürfte jedem schon mal klar sein, dass das nicht gerade eine Bilderbuch Ehe à la Sechzigerjahre, mit Haus, obligatorischen 2,4 Kindern, einem Garten, einer Auffahrt, einem Hund und meinetwegen auch einem Gärtner-Geliebten wird, und ich nehme mal stark an, dass ich noch ein paar Male vor Lachen auf dem Boden liegen werde angesichts dieses "Pärchens" aber.... Ravin und Ronin??!!? VERHEIRATET? Ob nun gemimt oder nicht (Gott bewahre!! O_O), dass kann ja nur... .... genial und witzig werden!! Ich würde ja sagen, ein Fiasko, wenn das nicht so einen negativen Beigeschmack hätte...aber Ronin als EheFRAU...oh man. *weglach*

Aber kommen wir zum Dreh- und Angelpunkt der eigentlichen Arbeit von Aya&Co, nämlich den Morden. Ich sag nur: IGITT!!!! >.<
Du bist krank, krank, krank!!! Weißt du das eigentlich??
...
Ja, wir wissen beide, dass du das weißt, genauso wie wir beide wissen, dass mich das überhaupt nicht stört. ^.^
Aber mal im Ernst... du übertriffst dich echt immer wieder selbst im kreieren abartig widerlicher Morde. So gerne ich mal eine Verfilmung von Levi sehen wöllte (ich mein jetzt so mit Schauspielern.... allein schon, um zu sehen, wer wohl Ravin spielen würde... hehehe...), die Stelle in der sie die Leichen zeigen wäre eine der Stellen, in denen ich einen tiiiieeefen Blick in die Popkorntüte riskieren würde. ^^;;;
Ich will mir das irgendwie gar nicht vorstellen...so von wegen Schädelöffnung und Hirnentfernung bei vollem Bewusstsein...*gulp* Fällt man da nicht Ohnmacht vor Schmerz? (ßWunschdenken).
Aber, was ich auch noch unbedingt loswerden will: Kagami! Hallo, wie abartig geil ist der denn drauf? ^_^
Ich weiß noch, vor laaaaaaaanger Zeit hast du mir mal von Kagami erzählt und hast gesagt, er kann urplötzlich in schallendes Gelächter ausbrechen und ewig nicht aufhören. Und während ich mich so durch die Kagami-Stelle hindurchlese, noch immer unverändert mich dem Gedanken "Gleich kommt's! Gleich passiert was! Gleich findest du's raus!" im Hinterkopf, gesellt sich da irgendwo das Gefühl "Woher kennst du den nur?" dazu. Gut, kennen ist vielleicht ein bisschen viel gesagt, aber du weißt sicherlich, was ich mein. Ich hatte einfach dauernd das Gefühl, irgendwie, irgendwo und irgendwann schon mehr von ihm gehört zu haben als seinen Namen...und dann... kam die Stelle an der er anfing zu lachen, urplötzlich... und es hat ganz laut DONG!!! in meinem Hirn gemacht. Der war das also, dieser Irre, der ganz plötzlich anfängt zu lachen... und ich mochte ihn spontan noch ein bisschen lieber. ^^
Ich finde ihn nämlich wirklich toll. ^^ Gut, über diesen Faible für Krankheiten kann man streiten... ô.O... andere sammeln Briefmarken... ist ja auch irgendwo krank... und wenn er die Tuberkulose ganz weit weg irgendwo einsperrt (na ja, ich hab aus...nennen wir es persönlichen Gründen etwas gegen Tuberkulose... ^^; *drop*) geh ich sogar mit ihm einen Tee trinken. ^^
DAS find ich jetzt nämlich wirklich genial. Eine verrückte Teeparty mit Kagami und einem dieser herrlichen morbiden alten, putzig verzierten Tee-Service... herrlich. ^_^
Was bleibt mir noch zu sagen?... öhm... Schreib weiter!! Ließ diesen dummen Kommentar gar nicht, das verschwendet nur Zeit!! (Hör nicht auf mich...ließ ihn trotzdem. ^^;)
Aber im Ernst... bitte bitte, schreib schneeeell weiter! *mit großen feuchten Hundewelpen-Augen vor dir auf den Knien rumrutsch und bettel* Biiiiitteeeee!! Ich muss doch wissen wie's jetzt weiter geht!
Und.... und jetzt sind Ferien, jetzt kann ich ohne Zeitdruck lesen und... und überhaupt. ^^;;;
Ich bin neeeuuugieeerig!! Ich will wissen wie's weitergeht!! *auf und ab hüpf*
Bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte!
*räusper*
Gut, nachdem ich mir genug Peinlichkeiten für die nächsten 6 Wochen geleistet habe dürfte ja klar sein, worauf ich hinaus will: schreib bitte bitte ganz schnell das nächste Kapitel!!
In diesem Sinne verbleibe ich, dein treuer Fan und Sklave (*hüstel* Gut, letzteres unter die Spalte "treu" einzuordnen trifft den Kern der Dinge nicht so ga- äh....O.O ...was red ich da nur Meister?? Natürlich bin ich Euch treu ergeben...öhm... bitte nicht hauen!!! ^^;;)
und deine treue Freundin,
yours most sincerely,
Yoko

PS: Sag mal, was du am Anfang geschrieben hast... dass du es auf "einfachen Wunsch" hoch lädst... war das mein verdienst? Ich kann mich nämlich dunkel daran erinnern, dass ich irgendwann irgendwo mal gesagt oder geschrieben habe, dass du es hoch laden sollst, damit ich es kommentieren kann....*drooooop*
Von: abgemeldet
2005-06-24T12:31:40+00:00 24.06.2005 14:31
*reinschlender*
*sich umschau*.<.<........>.>
*hüstel*
*Hände hinter Rücken verschrenk*
*Luft hol*

Es war einmal ein Fünkchen, ganz klein und stumm.
Das saß ganz leicht apathisch vorm neuen Levi Chapter rum.
Aus dieser Trance dann aufgewacht,
hat es hysterisch rumgelacht.
Das ging so gut drei Stunden, dann fiel es um.


*drop*
Okay, ich weiß, ehrlich gesagt nicht, was das jetzt hier soll, aber irgendwie kam es mir in den Sinn und da ich es wirklich immer sehr schwer finde, bei Kommentaren anzufangen (da man ja auch irgendwie originell sein will..^^).....dachte ich mit, hey dichtest du einfach mal ein Kinderlied um und schaust wie es sich anhört.........fall sie jetzt irgendwelche Bedenken wegen meinem Geisteszustand haben, so tragen sie sich bitte in die Warteliste bei meinem Therapeuten ein, er wird ihnen versichern, dass ich nur bedingt gefährlich bin......*drop*...........naja, wie dem auch sei, Fakt ist, dass ich das neue Kapitel von Levitation gelesen habe und einfach sagen muss, dass es mich schlicht und ergreifend vom Hocker gehauen hat.......ich finde diese Story soooooo genial, dass ich mich beim Lesen immer selbst überschlagen habe....ich konnte gar nicht so schnell die Zeilen durcharbeiten wie ich mehr davon wissen wollte...........und obwohl dieses Kapitel ja nun ordentlich lang ist, muss ich gestehen, dass ich sehr sehr gerne noch einmal so viele Seiten gelesen hätte, oder gar dreimal soviele.......^__^..........bin halt ne Leseratte durch du durch.......oder doch eher ein Lesemarder?.......Lassen wir das, lenkt nur vom wichtigsten ab.......Levi 4a nämlich.
Also:
Was ich schon mal ganz krass und auch einfach herrlich wunderbar verwirrend fand, war der erste Abschnitt, da, wo Aya auf der Schaukel in besagtem Hintergarten von besagtem Haus in besagtem Wohnviertel auf besagtem Trabanten sitzt und nachdenkt..........ich meine, da sitzt man und fängt an zu lesen und mit jedem Satz wird man nur immer konfuser und blickt schon nach relativ kurzer Zeit rein gar nichts mehr.
Was natürlich auch daran liegen könnte, dass ich etwas........easy an das Kapitel rangegangen bin. Ich dachte mir, der letzte Fall ist abgeschlossen, der Mörder vom Evershine (und sorry, mir ist da erst aufgefallen, dass ich Esel bei Bloody Books immer New Shine Diamond geschrieben habe....^^°)........war gefasst, Ravin so weit wieder kerngesund und als Cyborg enttarnt und alles o weit fertig. Und nun würde ein neuer Fall anfangen, alles ganz sachte und normal, vielleicht mit einer Mordszene, die dann den Prelude bildet oder einfach ein normaler.......was immer man in diesem Falle darunter auch verstehen mag........Arbeitsalltag im Leben unserer vier postapokalyptischen INFERIA-Reiter, der dann gegen Ende von einem Anruf oder einem Besuch eines Detektives gestört wird.............aber natürlich kam alles ganz anders. Ich sitze also da und frage mich: WAS IST DENN SO SCHLIMMES PASIERT?...............Aya scheint sich über irgend etwas sehr....deprimierte Gedanken zu machen, nur habe ich keine Ahnung um welche Dinge? Ich überlegte also erst einmal, ob da nicht doch irgend etwas am Ende von Akte 3 war, das ich vergessen hatte oder gar überlesen......und dann kam der Hammersatz schlechtin. Sie und D hatten geheiratet!!........Ich saß nur so........HÄH!!!!!!!!!!!!!....Wie jetzt?.........Geheiratet?.........Im Sinne von Braut und Bräutigam mit Ringetauschen und Turteltauben und Kuchen mit hässlichen Miniaturausgaben des Brautpaares oben drauf?........Ne, oder?..............Ich war also dementsprechend ziemlich durch den Wind............und so etwas finde ich.......auch wenn es reichlich blöde klingt...toll......ich find es echt spannend, wenn man vor so einem Rätsel sitzt und erst mal rein gar nichts kapiert und sich dann so nach und nach alles aufrollt.......das zwingt einen dazu, weiterzulesen.........also auch recht clever von dir eingesetzt.....^__~
Und was danach kam, das gefiel mir alles noch so unschlagbar viel besser.
Schon dieses Gute-Laune-Atmospäre, die Aya anfangs so verbreitet hat.........alles funktioniert bestens, sie bekommt einen Parkplatz, es gibt keinen Stau, alles stimmt und passt ganz super..............die Sonne scheint, es ist weder zu heiß noch zu kalt, einfach nur perfekt.........und dann kippt alles in binnen eines Bruchteils des Bruchteils des Viertels einer Sekunde um und du willst nur noch zurück ins Bett und nie mehr aufstehen...........wundervoll!!!................Und dann erst Ronin..........ich fand ihn davon Anfang an toll..............nicht so toll wie Ravin oder Aya aber dennoch mag ich echt gerne....und am besten an ihm gefallen mir diese elendig langen, nie aufhörenden, rund hundert mal das Thema wechselnden Redeergüsse von ihm......hab mal versucht einen von denen laut zu sprechen und auch ungefähr in Ronins Redetempo und mir ist recht schnell die Luft weggeblieben. Allerdings war es auch so, dass ich immer fand, dass er in Akte 3 ein wenig zu kurz gekommen ist.......es gibt ja hauptsächlich um Ravin, was mich nicht im geringsten gestört hat oder so..er ist ja mein Liebling...aber dennoch.........Ronin war immer so hintendran...........und dann diese Offenbarung..........*smile*.........einen derartigen........."Hang" zu derartigen "Spielen" hätte ich ihm ehrlich nicht zugetraut......okay, dass er die Unschuld vom Lande ist, hab ich auch nie gedacht, aber dann gleich so.....derbe.......mit Fesseln und Schürfwunden und vor allem..............Männern mit grauen Strähnen und Falten!!!!........hauhauha..............mein lieber Mann........dieser Charakter hat Abgründe.......so weit kann ich gar nicht gucken..............^___^.....*Roninflagge schwenk*..........mehr davon...........*schäm, aber nur ein bissel*........wobei ich jetzt auch die Frage o wahnsinnig interessant finde, warum er nun jetzt so wenig auf Alkohol und Drogen (legale natürlich!!!) reagiert...........was ist nun mit ihm wirklich los?..........Welches Geheimnis verbirgt sich hinter seinen roten Augen...........argh!...........*vor Neugierde umkomm*
Und dann erst der neue Fall!!!!!!!!!!!........*sternechen in die augen krieg*.......gibt es denn was geileres als einen ganzen Planten, sorry, Trabanten als Tatort??.....Und dann diese ganze Aufmachung als zur eigenen Stadt heranmutierten Vororteinfamilienhausreihensiedlung. Das ist erst das wirklich schreckliche an dem ganzen, finde ich. Diese ewige Gleichheit, alles ist identisch, man kann nichts über die Bewohner sagen, was für Wahnsinn und Terror hinter den weißen Zäunen und acht-mm-Rasen liegt. Da geht einem die Fantasie ja schon jetzt durch. Nachher ist es die ganze Trabantenbewohnerschaft, die als kollektiver Serieniillerclan durch die Gegend zieht und eden meuchelt, der nicht rechtzeitig um drei Uhr Kaffee und Kuchen zu sich nimmt wie es sich für Merrywood Viller gehört!!! Okay, klingt jetzt sehr utopisch, aber sowas kommt dann bei mir raus........*drop*........und dann erst die Morde an sich.....auch so herrlich metzelmäßig..........ich fand ja schon die Morde beim EVERSHINE(!!!).......so cool und ausgefallen, aber jetzt.........Schädelöffnung zewcks Hirnamputation ohne Narkose...........Hallo Sadismus!!............*hand schüttel*.............da wird einem doch mal so richitg muckelig daheim.........^^.........wobei, als ich so gelesen habe, dass es durhweg Genies erwischt hat, kam mir recht schnell die Idee, es handelt sich um einen Killer, der superintelligent werden will und seine eigene, sehr eigenwillige Versine der Informatonsaufnahme erfunden hat indem er die Hirne seiner Opfer isst........mit einem netten Burgunder und etwas Schafskäse.............du musst meinen Freund Hannibal entschuldigen, der ist momentan auf Diät.........hat zuviele Amerikaner gegessen..........immer dieses Fast Food..................und was ich noch viel toller finde, diese Idee von wegen, verdeckte Ermittlung als Ehepaar....................so wunderbar unvorhersehbar und wirr..........da können soooo viele tolle peinliche und falsch zu verstehende Sachen und Missverständnisse passieren...........freu mich schon drauf..............und dann die paare an sich........Aya und D sind ja schon toll........da ist die scheidung ja mehr oder weniger voprogrammiert........*smile*........ die hauen sich bestimmt schon am ersten Tag die schädel ein............aber Ravin und Ronin.........*prust*......sorry, aber schd as vorzustellen sorgt bei mir sofort für oberpositive Lachstimmung..............ich meine, Ronin als Permanentkonzentrat von Bandwurmkonversation und Ravin als schweigender Minus 300 Grad Stimmunghemmer.......das kann nur geil werden..........aber das beste und schärfste hab ich mir natürlich für den schluss aufgehoben. Kagemi!!!!!! Ich weiß nicht, wie du das machst, aber deine Figuren haben immer so einen Dachschaden, dass ich sie am liebsten alle persönlich kenneenlernen möchte..........ich sag nur Poli-chan..........wie geil ist das denn bitte?..........ich hab auf dem boden gelegen als ich das gelesen habe.......und überhaupt........der ist so derbe durch alle Winde, dass ich nicht weiß, ob ch auch Angst vor ihm haben soll oder ihn mir zum Vorbild nehme..........hehehehe.......ich finde ihn sooo cool..........auch mit seinem kleinen Testmenschen da und dann erst seine Kinder................aaaaahhh...ich will mehr von ihm............viel viel mehr........und vor allem......viel viel viel mehr von dieser geschichte...................von daher...............schreib schreib schreib!!!!!........bitte..........ich flehe dich an............ich bettle auch, wenn es sein muss...........aber schreib weiter..............womit ich dann auch schon am ende meines kommentares wäre.......ich hoffe, du bist damit zufrieden.........wobei, eine sache muss ich wohl noch gestehen............du hast am afnag was von FF-Codes gesagt...........ich habe helrich gesagt, nicht so recht ne ahnung, was das sein soll.............daher kann ich dazu nicht sehr viel sagen......*DROP*.......aber ansonsten.............you´re simply the best............^____^.............Levitation rulessss!!!!.............und las es niemals enden.............oder erst dann, wenn ich tot bin....^^......in diesem Sinne...............dankeschön für diese super Chapter, freu mich chon auf das nächste und werde geduldig darauf warten..............
Bye bye
Dein Fünkchen
Von:  TiaChan
2005-03-04T23:43:45+00:00 05.03.2005 00:43
So, lange Zeit nachdem ich's eigentlich gelesen habe... ^^;; hier nun mein Kommentar zu 3b und 3c, die ich ja mehr oder weniger hintereinander las. ^_^;;
Erst einmal bin ich froh, dass Ravin nach 3a nicht gestorben ist... und auch später nicht. ^^; Aber gut, wir hatten ja inzwischen alle genug Zeit, nachzudenken und darauf zu kommen, dass das wirklich nicht ging (zumindest nicht in deiner Geschichte... es gibt ja bestimmte Manga-Ka, denen ich sowas zutrauen würde.... >.> aber Levitation ist ja zum Glück von dir ^-^), aber an der Stelle sah's eben zuerst so aus, als wär das möglich *drop*

Weiter finde ich diese Stelle wirklich gut, wo man meinen könnte, Ivy hätte die Morde begangen. Ich hab mich da eigentlich auch gefragt, warum sie dann auch die Männer umbringt, aber doch ist es irgendwie so endgültig und glaubwürdig geschrieben, dass man's fast doch glauben könnte. ^^; Der einzige kleine Hacken da war: Ich hatte das Gefühl, man hat davor kaum was von ihr gelesen. Es sind mehrere Charas aufgetreten, aus denen du uns ja ständig die Verdächtigen auswählen lassen wolltest, aber über die meisten hat man eigentlich nur sehr wenig gewusst, fand ich. Die einzigen Ausnahmen waren... (*drop* jetzt hab ich die Namen vergessen. tra-la-la... das hab ich nun davon, wenn ich den Kommi erst so spät schreib -.-)... der Mörder eben (aber da fiel es mir wirklich schwer, zu glauben, dass er wirklich selbst die Morde begeht. Es kommt zwar öfter vor, dass der Täter die Polizei ruft.. aber hier war's ein bisschen was anderes..... dafür ist es am Schluss aber immer noch nicht unwahrscheinlich. Denn man sieht ja: der Mensch ist wahnsinnig, da gibt es dann kein unmöglich mehr.) .. ach ja, und dieser.. Grinsen, wie der auch immer hieß, über den hat man auch etwas mehr gelesen, aber eigentlich ja auch nichts, was ihn verdächtig machen würde und der stirbt ja auch relativ bald.
Naja, irgendwas Positives hat es auch wiederum, dass man über die Personen nur so wenig erfährt: irgendwie macht es die Geschichte etwas noch .. unheimlicher. ^^; Es ist ständig die Rede von vielen Leuten, aber man weiß nichts (oder so gut wie nichts) von diesen vielen Leuten, sie haben keine Persönlichkeiten, da kann sich dann jeder als Mörder entpuppen. ^^;

Und die Szene am Ende... O_O Aber da hab ich nicht mehr daran gedacht, dass er stirbt. ^^; Ich hab dazugelernt.. und irgendwie ist es ja oft bei Krimis so, dass der Hauptcharakter am Ende die meisten Probleme bekommt. *drop* Als Leser denkt man dann auch an das unbeendete Telefongespräch.... aber die Szene ist deswegen keinesfalls weniger spannend. Schließlich kam es mir einmal etwas unwahrscheinlich vor, dass bei Ravin diese komische Flüssigkeit nicht gleich gewirkt hat, nachdem die anderen ja ohne Probleme umgebracht worden waren. Das sah ein bisschen danach aus: Yu-chan versucht, die Szene noch mehr in die Länge zu ziehen und spannender zu machen und vernachlässigt dabei etwas die Glaubwürdigkeit... ABER am Ende erfährt man ja, dass er ein Cyborg ist. Von daher wird das auch geklärt.
Ach ja... darauf dass er ein Cyborg ist, bin ich etwas früher gekommen. Aber mit etwas.. Hilfe von Yoko. *drop* Sie hat's mir verraten, ohne es selbst zu wissen. *seufz* ^^;;; (Irgendwas wie: "An dieser Stelle bin ich auch auf etwas draufgekommen, was erst später rauskam" - und das bei der Szene, wo das eine Cyborg-Modell umgebracht wurde und Ravin den Unterschied zwischen Mensch und Cyborg nicht sehen konnte. - Die Menschen sind da alle irgendwie... gemein. -.-)
Irgendwie macht's ihn aber in meinen Augen noch sympatischer, dass er ein Cyborg ist. ^^; *drop* Keine Ahnung warum, vielleicht aus demselben Grund, aus dem ich Seiji ausgedacht hab? Irgendwo... ach, egal. Oder.. an der oben genannten Stelle wirkt er sogar noch menschlicher als die Menschen. ^^; Da wird diese Außenseiter-Tolleranz angesprochen. Irgendwo ist ein Cyborg unter Menschen doch wie ein Mensch unter Elfen. ^^;;;
Naja ich find's eben irgendwie waii. *drop* Aber ich find ja eh alles waii. (s. mein animexx-Steckbrief: waii = positiv)


Was ich bei Levitation aber am allerbesten finde im Vergleich zu deinen anderen Geschichten: Die einzelnen abgeschlossenen Kapitel. Ja, ja, das gibt es eigentlich bei tausend anderen Serien... aber die tausend anderen Serien haben nichts mit deinen Geschichten zu tun, sie sind von anderen Autoren und haben eigene Vor- und Nachteile. Von deinen Geschichten ist es aber - von denen, die ich gelesen hab - die erste, bei der ich auf so etwas stoße: Eine Geschichte (oder besser Episode) ist zu Ende, und trotzdem geht die FanFiction weiter. Wenn man ein Buch liest, will man ja immer, dass es endlich zu Ende geht, damit man weiß, wie es ausgeht, einerseits. Und andererseits will man aber auch auf keinen Fall, dass es zu Ende ist, weil's dann weg ist. Und es ist mir nach Levi 3c eben aufgefallen, dass ich jetzt zwar endlich weiß, wie dieses "Bin ich schön?" ausgeht, aber "Levitation" trotzdem noch lange nicht zu Ende ist, und das hat mich plötzlich sehr, sehr gefreut. ^______^

Also, ich freue mich auf eine Fortsetzung! ^-^

mata ne,
tía
Von:  killerkuerbis
2004-09-20T17:06:37+00:00 20.09.2004 19:06
JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA~~!!!!!! *noch ein paar Minuten so weiterbrüll*
ICH. HATTE. RECHT!!! *vor Freude wie irre durchs ganze Zimmer hüpf*
....
*gaaaanz langsam wieder beruhig und zu Atem komm* ^^;;;
Nun, wir wollen hier ja keine Lobeshymnen über mein geniales detektivisches Gespür beginnen... aber es ist nun mal wirklich so, dass ich meist nicht errate, wer der Täter ist...egal wie viel ich rumrätsle und vermute...
*drop*
Was soll ich zu diesem Kapitel sagen? Es war lang, es musste mit einigen Widerständen kämpfen, bevor es hier online kam... und es war und ist schlicht und ergreifend einfach nur genial. Ich ergehe jetzt nicht in Ergüssen darüber, wie unglaublich außerordentlich gut du mit Worten, mit Satzbau und dem ganzen Kram umgehen kannst; oder wie du es schaffst, mit eben diesen Worten und Sätzen zu fesseln und zu begeistern - das haben andere vor mir getan, das habe ich auch selbst schon oft getan, das weist du hoffentlich.
Ich meine... wie KANN etwas nur soo spannend sein? O_O
Gegen Ende von 3b sah ich mich meinen schönen Verdacht wirklich schon als eine Art fixe Idee abtun... Ich hatte einfach zu viele Informationen, die ich nicht einzuordnen wusste, hab mir den Kopf über 3b zerbrochen, nach jedem kleinsten Indiz gesucht, das meinen Verdacht untermauernd könnte.... aber im Endeffekt hatte ich RECHT! Ich hatte Recht! Ich hatte Recht! Ich-
*räusper*
Ich muss gestehen, ich bin froh darüber, dass ich schon ganz ganz am Anfang, als Venelle das erste Mal auftauchte, beschlossen hatte, ihn nicht zu mögen. Denn irgendwie hat sich diese Abneigung in Abscheu weiterentwickelt. Der Typ ist ja so was von widerlich!!
Diese eine Stelle mit dem "an Marque Venell junior weitergeben" fand ich ja unter anderem irgendwie besonders abstoßend... ich meine...ich konnte den einen schon nicht ab, und noch einer von der Sorte...brrrrr... nein, danke *schüttel* (diese Vorstellung ist natürlich nicht halb so widerwärtig wie die eines Sigfried junior, aber gut, das steht auf einem anderen Blatt...)
Genial fande ich auch die Idee mit dieser Cyborg-Tussi. Das wirft spontan solche Fragen auf wie zum Beispiel, wo Leben aufhört und Maschine anfängt usw...
Aber als dann plötzlich diese Ivy als Mörderin auf dem Plan stand war ich doch *dezent* verwirrt. Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt, aber da war ich dann auch so weit dass ich einfach nicht Unrecht haben WOLLTE. Ich wollte nicht, dass sie der Sweet Slaughter ist. Und sie wars ja auch nicht. ^__^ Aber irgendwo tat sie mir auch leid... und ich muss sagen, als sie einmal sagte, ihr Vater habe ihr immer gesagt, wie schön sie sei...dachte ich mir eigentlich schon, wo der Hase im Pfeffer liegt. (Komische Formulierung irgendwie...aber zutreffend.)
Hm...kommen wir zu meiner Lieblingsszene. Oder eher zu SzeneN. Ich kann mich nämlich irgendwie nicht auf eine beschränken. ^^;
Zuerst einmal die mit Ivy auf dem Dach. Ich fand diese Beschreibungen so schön... wie sie im Wind stand und das alles...und plötzlich so wunderschön war...ich konnte es mir bildlich vorstellen und die Szene war wirklich wirklich schön. *nick*
Meine Zweite Lieblingsszene kommt eigentlich fast danach und geht auch fast in den Schluss hinein, nämlich die in der Technik. Diese Darstellungen des Aussehens des Raumes in seiner völligen Dunkelheit, und die Umschreibungen der Kabel und Pulte und Pfeiler... ich meine, das man solches Zeug auch SO beschreiben kann. Einfach genial! Im Grund war das ganze Kapitel 3c eine einzige Lieblingsszene, aber wenn ich das behaupten würde, könnte ich gleich sagen, dass das ganze Levitation eine einzige Lieblingsszene ist, und da wären wir dann keinen Schritt weiter. (*drop* Was laber ich da eigentlich? O_o)

Und das Ravin...also, dass er kein Mensch ist...das dachte ich einmal, nur ein einziges Mal, und zwar gaaaanz ganz am Anfang, als er gerade das erste Mal aufgetaucht war, da dachte ich es einen winzigen Moment lang - und tat es als Unsinn ab. Immerhin...ich meine, es wäre ja nicht so, als ob du keine Charas hättest, die gefühlskalt wie Eisbrocken rüberkommen oder so... aber ich hab es echt nicht mehr geglaubt und auch im Laufe der gesamten Story daran nicht mehr einen einzigen Gedanken verschwendet. *drop* Naja, und da wären wir wieder bei der Geschichte mit der Frage, wo Leben aufhört und Maschine anfängt, bzw. ob man diese beiden Grenzen so gründlich wie nur irgend möglich verwischen kann, sodass es irgendwann mal nur noch einen geringfügigen bis gar keinen wirklich Unterschied mehr macht. Und ich muss sagen - das ist die fabelhaft gelungen! ^_^ Ich meine, dass Ravin ein Cyborg ist, ist natürlich ein wichtiges Faktum der Story, aber um ihn ins Herz zu schließen, spielt das, finde ich, keine Rolle. Zumindest nicht für mich, und ICH habe ihn schon lange ins Herz geschlossen. ^_^
Und dass er den Wettbewerb gewinnen würde (lassen wir mal außer Acht, dass es zwei Sieger gab ^^;), hätte ich nicht wirklich gedacht. Natürlich habe ich es GEHOFFT. Gehofft und Gewollt...aber irgendwie hätte ich es nicht gedacht... es ist schwer zu beschreiben, ich meine, wer sonst außer Ravin könnte so einen Modelcontest gewinnen... aber trotzdem hätte ich nicht wirklich daran geglaubt. Auch wenn ich mich jetzt natürlich freue, dass er gewonnen hat. ^_^
Soooo, was gibbet jetzt noch?
Von wegen unleserlich! Ich hab's gelesen, ich wüsste, wenn das unleserlich wäre! *schnaub*
Aber gut, dass ist auch etwas, dass ich weis, und das du weist, und das sicher auch noch ein paar andere so sehen. Und jetzt ist es ja oben.
Oh, achso, und ich fand das Ende irgendwie toll. ^^
Ich meine, es ist eigentlich nie so, dass ich Ende mag. Was jetzt nicht daran liegt, WAS da drin steht, sondern einfach an der Tatsache, dass es ein Ende ist. Aber diesmal... irgendwie gefiel mir das Ende. Vielleicht, weil es einfach schön war, vielleicht, weil es witzig war, vielleicht, weil Ronin auftauchte...warum auch immer, ich mag es. ^_^
Jetzt bleibt noch zu hoffen, dass der nächste Mord nicht mehr lange auf sich warten lässt, und somit ein nächstes Kapitel. *an Schule denk* ... *trotzdem weiterhoff ^_^;*
Wenn ich in diesem Comment doch noch irgendwas vergessen haben sollte... fällt es mir sicher zu spät auf. ^^; Die vielen Grüße sende ich natürlich postwendend zurück, zusammen mit noch ein paar Hundert mehr. ^__^
Love you!!
Yoko

PS: Das ist definitiv der längste Comment ever, denn ich je geschrieben habe... aber...das musste einfach sein. Nach so einem Hammerkapitel. Na ja, ich hoffe, du freust dich darüber, auch wenn das Lesen sich vermutlich als längere Angelegenheit herausstellen wird....^^;; (Ich hatte Recht ich hatte Recht ich hatte Recht!!! *freu* Nyahahahahaha....*mit nachhallendem irren Lachen irgendwo im Nichts verschwind* ...)
Von: abgemeldet
2004-09-17T17:16:35+00:00 17.09.2004 19:16
Hi^^
Hoffe ja mal, ich bin der Erste!!!!
Wenn nicht, ist auch egal, Hauptsache ich kann hier mal loswerden, wie VERDAMMT geil dieser Teil war!!!!^___~
Ernsthaft, ich bin ja schon eniges von dir gewohnt, aber das hat echt alles übertroffen. Wo fang ich denn mal am besten an. Ja, ich hab's, ich weiß, ich schreib das so gut wie jedesmal, wenn ich dir einen Kommentar gebe, aber ich muss es einfach loswerden. Deine Wortwahl und die Art wie du schreibst ist nur der Hammer. So bildgewaltig und dann auch oft so richtig fachmännisch. Ich find so was ja immer schrecklich genial^^ Und dann erst der Inhalt! Der "Mord" an Tara war wirklich cool, ich meine, Möge sie in Frieden neu programmiert werden, aber die Idee mit dem Scheinwerfer, der Schiedsrichter gibt volle Punktzahl^____^
Und dann die Sache mit unserer kleinen Selbstmörderin.......das war echt fies, weil ich einen Moment lang wirklich, ernsthaft und wahrhaftig dachte, sie IST der Killer, also, klar, sie war schon eine Killerin, aber halt nicht DER Killer, der Sweet Slaughter. Ich meine, im Grunde gab es ja schon Indizen dafür, dass sie es nciht war, du hast es im Text angedeutet, der liebe empathische Cailan hat es erwähnt und immerhin waren da noch über 17 Seiten übrig, also war es dnekbar klar, dass noch etwas pasieren musste, aber ich bin drauf reingefallen......-__-......naja, ihr Freitod war auch wirklich ergreifend, ich meine, ich mochte sie nicht, so ganz ganz wirklich absolut rein gar nicht, aber so ganz zum Schluss, naja, da tat sie mir halt doch irgendwie leid.......und das du ne Meisterin im Spannungsaufbau bist, brauch ich dir ja ohl auch nicht groß zu sagen, oder?^^.....Die Szene im "Inneren" war ernsthaft gefährlich für herzkranke Leute. Ich muss dazu sagen, ich bin einer der Menschen, die dazu neigen, Protagonisten, die sie mögen, (ob nun im TV oder in Büchern) in spannenden und lebensbedrohlichen Szenen immer Ratschläge zuzubrüllen und tatkräftig mit Händen und Füßen mitzuhelfen^^°, demnach hab ich auch da äußerst heftig vor meinem PC herum gefuchtelt und Ravin wohlgesonnen gerateb, sich doch endlich mal da WEGzubewegen!!*drop*........naja, lassen wir das. Dass es dann der Veranstalter höchstselbst war war dann auch überraschend, obwohl ich ihn dann nachher irgendwie doch in Verdacht hatte, aber kriminalistisch war es echt gelungen, und ich war mir echt sicher, dass Ravin stirbt, ich meine, bei dir (bei mir ja auch, ich geb's ja zu.....-__-), kann man sich ja nie sicher sein, dass die "guten" überleben, aber ich bin froh, dass es Ravin noch gibt.......und das Ende fand ich auch cool, sagte ich schon mal, dass ich Ronin einfach klasse finde?, und das Gespräch von D und Aya war echt lustig, die beiden ergänzen sich hervorragend.........also, alles in allem, beste Unterhaltung, die ich mir auch richtig als Roman vorstellen kann, schick es doch mal an nen Verlag, wenn es fertig ist........in diesem Sinne, dein Chris^^
*smile*
Von:  killerkuerbis
2004-08-12T15:26:43+00:00 12.08.2004 17:26
Wo fang ich an?
Ravin lebt!!!! ^________^ Ich hatte eigentlich nie wirklich geglaubt, dass er tatsächlich sterben würde, doch man kann ja nie wissen und so eine boshafte Stimme irgendwo in meinem Hinterkopf hat mir das doch weiszumachen versucht. Wie gut dass sie unrecht hatte. ^^
Aaach, das Kapitel war wirklich genial! Hab ich das schon mal gesagt?
Aber ich habe diesmal überraschend lange gebraucht, es fertig zu lesen, und das obwohl ich sogar noch in der Schule gelesen hatte (man konnte auch das, was die Lehrer da am Ende des Schuljahres veranstaltet hatten, auch nicht mehr allen Ernstes als Unterricht bezeichnen, und irgendwas sinnvolles musste ich ja tun).
Bah, irgendwie bin ich froh, dass es diesen dauer-grinsenden Typen erwischt hat. Das schlimme war, als ich zu der Stelle kam, als er Ravin im Krankenhaus "besuchen" wollte...da saß ich in irgendeinem Fach das sowieso langweilig und laut war, und hab laut "Nicht der!!!" gerufen, als er zur Tür reinkam. Zum Glück habens nicht allzu viele mitbekommen. ^^;
Aber wie du immer auf diese Todes-Szenen kommst... ich meine, es ist ja nicht allzu ansehnlich, wenn jemand mit irgendwelchen Scheren an einen Spiegel gepinnt wird, aber ihm dann auch noch irgend so ein Kostüm an- und die Haut abzuziehen...O_O ...allerdings passte es gut in die Story. ^_^
Und - wer hätte es erwartet? - ich finde diesen Empathen genial! ^^ Der ist irgendwie so herrlich irre und krank und überhaupt so jemand den man einfach mögen muss! (Vorausgesetzt, man hat eine gehörig makabere Ader *hüstel* ^^;)
Genial war auch die Szene auf dem Laufsteg. Vor allem danach, als dieser Moderator versucht hat, die Spannung so lächerlich in die Länge zu ziehen - was natürlich, leider, will ich fast sagen, funktioniert hat. Ich weis nicht, ob ich jemals schon so aufreget war wie bei der Verkündung der Halbfinalisten. Mein Herz schlug wirklich verdammt schnell. Und ich fühlte mich an gewisse Shows erinnert, bei denen die Moderatoren auch meinen, stundenlang um den heißen Brei herumreden zu müssen.
Und ich habs zwar schon mal erzählt (wie fast alles hier ^^;) aber mein Verdacht hat sich mittlerweile - ich will nicht sagen zerschlagen, aber doch ein wenig in den Hintergrund verlagert. Ich weis nicht, irgendwie komme ich mir vor wie ein Ermittler, der einerseits auf einmal mit zu vielen Fakten überhäuft wurde, die er noch nicht wirklich einzuordnen vermag, andererseits zu wenig Informationen hat, um wirklich stichhaltig verdächtigen zu können.
Nun, was sagt uns das?? ...
Ich will unbedingt das nächste Kapitel lesen!!
Mit dieser Aussage und jeder Menge gestörten Grüßen verbleibe ich dein ebenso gestörter Sklave. (fragt nicht, ich hab diese Irre zum Meister...wen wunderts da, dass ich so geistig umnachtet bin?)

PS: kommt mir das nur so vor, oder ist der Comment jetzt doch etwas ausgeartet? O_o
Von: abgemeldet
2004-07-17T17:11:00+00:00 17.07.2004 19:11
*erst einmal niederdrück*
*wuschel*
*knüll*
DANKE!!!!!
*das Wort mit tausend Rosen in Sand leg*
Dieses Kapitel ist echt genial......und als Geschenk hab ich mich natürlich doppelt, ach was, dreidutzendfach gefreut.............*dreidutzendfach freu*.....*drop*
Also, worum ich natürlich als allerallererstes froh war, ist, das Ravin ncihts ernstes pasiert ist........ - nichts ernstes? Er wäre fast gestorben, aber egal....-__-.. - aber du weißt, was ich meine.Ravin LEBT!!!! Das war so das wichtigste im ersten Moment..............und dann, was ich jetzt mal ganz genial fand, das war die Passage wo Aya nach Hause kommt und das Telefon klingelt, wie du da erst die Sachen beshreibst, die für gewöhnlich schief gehen und wie dann doch alles klappt...........klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich fand die so super geschrieben.........auch, wenn sie für die story jetzt nicht soooo wahnsinnig wichtig war^^° Dann das Stelldichein zwischen Aya und diesem Schönling............*hüstel**hackbeil raushol**schönling so bearbeit, das er nicht mehr schön aussieht**hüstel*.........ich glaube, ich hab nur selten die Wut mit einer Person geteilt wie in dem Fall mit Aya.......oh, ich hätte diesen Bastard so richtig......*nuschelnuschel*....ehrlich.........Und was ich so mit am gelungensten fand....ich meine hier ist alles gelungen......^^.......*schleihmschleim*......war der Contest itself.......du hast es irgendwie geschafft, es bombastisch aussehen zu lassen und trotzdem alles so herrlich schön ironisch erzählt, nach außen schön und pompös, nach innen nur chaos und show.......und maskeraden......vor allem das Publikum als "Ungeheur" hat es mir angetan...........und natürlich hab ich mit das entsprechende Lied zu der Stelle angehört, wo Ravon lächelt....und es past echt.........das lief in meinem inneren Auge....äh...VOR meinem inneren Auge alles in Zeitlupe ab. Wunderschön.....ernsthaft........wunderschön.......und dann der kleine Todesempath mit dem Hand zu metaphorischen Ausdrücken.........ich weiß net, klingt irre, aber ich mag ihn..........irgendwie halt........ich mag immer die verdrehten.........und Todesengel war nie ein besseres Komplient als das...soweit mein Eindruck........ich hoffe er wird dir gerecht........................so, nochmals danke für dieses geniale Geschenk, ich danke dir tausend mal und verbelibe mit meinen besten Empfehlungen........tata....bis bald.....


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