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Levitation

von

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Akte 3c/ Bin ich schön?

... bitte was? Da schreibe ich Wochen an diesem Kapitel, wenns überhaupt hochkommt, und dann wird es nicht hochgeladen, weil angeblich zu wenig Absätze drin sind??? *FRUUUUUUST* Also gut, dann gebe ich eben jetzt mein Bestes, an völlig widersinnigen Stellen irgendwo Absätze reinzupacken und hoffe, man findet Gnade mit mir... BIIIIITTE!!! Dieses Kapitel war so unglaublich viel Arbeit und ich habe mir wirklich was dabei gedacht, wo ich Absätze gesetzt habe! Außerdem mache ich doch sooo viele Zeilenumbrüche... wenn das irgendein Freischalter liest, bitte, bitte, bitte ladet es hoch. Sollten nicht eigentlich die Leser entscheiden können, ob sie es für leserlich erachten oder nicht? Achso, und die Fanfic-ändern-Funktion tut bei mir auch irgendwie nicht, also habe ich Versuch Nr. 1 gelöscht und hoffe, dass dieses Chapter beim zweiten Upload Gnade findet... ;_;

Ich entschuldige mich jetzt zum zweiten Mal für Fehler und schlechte Syntax. Wie gesagt... 33 Seiten... *grusel* Aber die Ära Levitation 3 ist wenigstens zu Ende. Wer weiß, wann es weitergeht? *an 13. Klasse denk* Wie gesagt - es ist lang, sehr lang, aber ich wollte keine Idee rauslassen. Und wie man sieht, hatte ich viele Ideen. ^_^ Ich bin gespannt, was ihr zum Ende sagt, und grüße alle, die das Chapter trotz Unleserlichkeit lesen... ^_~
 

Es schien eine naturgegebene Gesetzmäßigkeit zu sein, dass alle, wirklich alle Dinge, die so hier und dort im Universum vor sich gingen, auf irgendeine schier unverschämte Weise kompliziert und kaum durchschaubar sein mussten. Auf einer Seite war das natürlich auch gut so - verhinderte es doch, dass Wissenschaftler, Physiker, Chemiker und andere akademische Berufsgruppen in Arbeitslosigkeit und Überflüssigkeit abglitten und lieferte ganz nebenbei dem ungeschulten Laien Tag für Tag neue Wunderlichkeiten, die ihm dann und wann ein Ticket aus der alltäglichen Ereignislosigkeit des Seins in die Welt des Staunens spendierten.

Von allen Absonderlichkeiten des Universums zählte jenes Phänomen, das Gesellschaftstheoretiker und Sensationsblätter so lapidar als menschliche Gesellschaft betitelten, sicherlich zu den komplexesten, zu den undurchschaubarsten Dingen. Und wäre nicht jedes neue Lebewesen von Geburt an daran gewöhnt worden, wie sich auf wundersame Weise alles fügte oder auch nicht fügte, und wie sich im Falle einer jeden schädlichen Unplanmäßigkeit der ganze Apparat zu wehren und regenerieren wusste, unaufhaltsam und unbeirrbar, es müssten wohl Stunde um Stunde nur staunende Menschen mit weit aufgerissenen Augen durch Straßenschluchten und Einkaufshallen wandeln.

Nun war es aber auf irgendeine unergründliche und willkürliche Art und Weise gekommen, dass eines der Milliarden von Schräubchen, Federn und Zahnrädern, dem man zufällig den Namen Ravin gegeben hatte, sich um all jene Wunder, Sensationen und Attraktionen des Universums und der Gesellschaft noch niemals sonderlich gekümmert hatte. Es war zufrieden gewesen mit der Tatsache, dass sich eben alles irgendwie fügte, war mal besser, mal schlechter gelaufen, hatte aber stets funktioniert und die gigantische Maschinerie niemals auf außergewöhnliche Weise zum Erbeben gebracht. Aber warum auch? Was geschah, das geschah eben, und wenn Ravin wusste, dass jedwede Aktion oder Gefühlsregung an diesen Tatsachen ja sowieso nichts ändern konnte, dann nahm er diese eben einfach hin, wie sie kamen.

Umso mehr verwirrte es ihn, dass eine unbegreifliche Unruhe in diese stete Gleichgültigkeit getreten war, eine merkwürdige, mal stärkere, mal schwächere Unruhe, die einfach nicht mehr dorthin verschwinden wollte, wo sie nahezu sein ganzes Leben lang verborgen und unerkannt gelauert hatte. Ravin konnte sich nicht erklären, was dieses fremdartige Gefühl zu bedeuten hatte, und da ihm eigentlich sämtliche Gefühle fremdartig erschienen, versuchte er auch gar nicht erst, es bestimmen oder einordnen zu können. Er folgte seinem Tagesablauf wie gehabt und hoffte, dass nach und nach die altgewohnte Normalität in sein bislang nicht unbedingt ausgeprägtes Innenleben treten würde.

Es waren allerdings nicht nur innere, sondern auch äußere Umstände, die sich verändert hatte. Ravin war sich nicht ganz sicher, ob ihm seine scheinbar ohnehin nicht mehr ganz so zuverlässige Einbildungskraft nicht einfach nur den einen oder anderen Streich spielte, doch mit einem Mal erschien ihm das Training... ja - kurzweiliger. Dabei fiel ihm dann und wann auf, dass er sich nun, als das Viertelfinale schon hinter ihm lag, noch ungleich öfter auf dem Probelaufsteg wiederfand, als er es jemals zuvor getan hatte. Es war verrückt, doch jener rauschende Abend schien das Evershine Theater Utopia Building auf eine ganz wundersame Art und Weise verhext zu haben, denn manchmal, wenn Ravin zum vierundzwanzigsten Mal seine immer gleichen Runden drehte, da war ihm, als ob ganz weit hinten, in einer besonders dunklen und versteckten Ecke des Raumes, nicht doch noch irgendwo ein Jubeln in der Luft lag, als ob dann und wann ein Blitz in den Schatten aufleuchten würde, begleitet von bebender Erde, zitternd unter Massen von Füßen und Stürmen von Beifall...

Natürlich wusste Ravin, dass dies schlicht und ergreifend unmöglich war, und er glaubte weder an Geister noch an Zauberei, doch aus irgendeinem Grund, der nicht weniger mysteriös war alles andere, was den jungen Weißhaarigen in letzter Zeit umgab, flüsterten diese nicht existenten Blitze und Schreie und Jubelstürme ihm jedes Mal zu, noch eine weitere Runde auf dem kargen Laufsteg zu drehen, ganz egal wie langweilig und unglamourös diese auch immer sein mochte. Und Ravin gehorchte. Er gehorchte einfach, ohne weiter darüber nachzudenken, folgte jedem einzelnen Lockruf dieser unbekannten Macht, wann immer sie auch nach ihm rufen mochte...

Und manchmal, wenn Ravin morgens in seinem Zimmer erwachte, wenn er an sich halten musste, um nicht kurzerhand aufzustehen und wieder einmal seinen Mitbewohner aus dem wohl verdienten, knapp bemessenen Schlaf zu reißen, dann hatte er wahrlich seine Mühe damit sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, aus welchem Grund er denn eigentlich in den unheiligen, aber deshalb nicht weniger prunkvollen Hallen des ETU weilte: Es gab da einen Mörder, der von ihm zur Strecke gebracht werden musste.

Die Erinnerung drängte sich mit einem überaus gewaltigen Schlag und auf sehr brutale Weise wieder in Ravins Bewusstsein zurück - und das ausgerechnet am letzten Morgen vor seiner zweiten großen Herausforderung, die ja im Grunde genommen noch ungleich wichtiger, bedeutsamer und schwerwiegender war als die erste. Leider waren zudem auch die Anforderungen gestiegen, war doch nach dem Viertelfinale kaum mehr als die Hälfte der Nachwuchsmodels übrig geblieben. Der Rest, der jener unaufhaltsamen natürlichen Selektion zum Opfer gefallen war, ohne die gleich welche Art von Wettbewerb ja auch eigentlich gar keinen Sinn machen konnte, war längst im Ozean des Vergessens ertrunken, war entschwunden in schwarzblaue Fluten, zu tief und zu trübe, als dass irgendein Auge sie hätte durchdringen können.

Daraus folgten genau zwei logische Konsequenzen: Zum einen war natürlich die Konkurrenz deutlich geschwunden und es blieben weniger Feinde, mit denen man um die kostbaren Plätze im Lebensraum Modelcontest kämpfen musste. Zum anderen bedingte eine Auslese natürlich auch immer das Prinzip der Verbesserung, sprich: Die wenigen Kontrahenten waren gleichzeitig auch weitaus bedrohlichere Kontrahenten und jeder von ihnen wusste, dass die Auswahlverfahren verschärft und die Siegerplätze weiter begrenzt worden waren.

Kurzum - die Nerven aller Beteiligten lagen blank, die Stimmung war schlecht, das Essen sogar noch schlechter (oder waren selbst die Geschmacksnerven einfach nur ebenso gespannt und verirrt?) und alles in allem war eigentlich jedes Model in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sie standen beisammen im lichtlosen Vakuum der verlassenen ETU-Arena, ohne einander wirklich wahrzunehmen, von ein paar feindseligen bis eifersüchtigen Blicken einmal abgesehen. Denn der Kampf ums Überleben war und blieb nun einmal ein Kampf, den jeder irgendwann auf sich allein gestellt ausfechten musste, lag es doch jedem anderen gleichermaßen im Sinn, den schmalen, rettenden Pfad für sich selbst beanspruchen zu können.

Was die lebenshungrigen Einzelkämpfer doch zumindest für kurze Zeit wieder einte und Ravin gleichzeitig aus seinem verwirrenden Trancezustand riss, das war eine allgegenwärtige Lähmung, ein Schock und wenige schicksalhafte Sekunden, die auf kaltblütig unspektakuläre Weise über den leiblichen und wahrhaftigen Fortbestand eines Menschenlebens entscheiden sollten.

Es begann mit einem leisen Ruckeln, dem Geräusch von Metall auf Metall, das zunächst keiner so recht zuordnen konnte, aber auch gar nicht weiter beachtete, da in den vergangenen Tagen schon wahre Völkerwanderungen von Handwerkern über das ETU hereingebrochen waren, um eine noch spektakulärere, noch gleißendere... noch magischere Lichtshow zu erschaffen. Auch um Ton- und Pyrotechnik musste sich gekümmert werden, hatte bei der großen und einmaligen Premiere jenes Theaterstückes mit Namen Evershine New Diamonds Award doch schließlich jeder auch nur theoretisch irgendwie denkbare Fehler noch im Keim ausgerottet zu werden.

Nur eines der Mädchen, die nun schon zum wiederholten Male über den Laufsteg geschwebt war, hielt in ihrer Bewegung inne, blickte kurz nach rechts und nach links - und wandte ihren schönen Kopf dann langsam, sehr langsam nach oben. Ravin erinnerte sich daran, dass sie den Namen Tara trug und dass der grauenvolle Ansager des Viertelfinales mehr als nur einmal lüstern bis geifernd in ihre Richtung geblickt hatte. Und auch jetzt, in der mehr als nur katastrophalen Nachmittagsbeleuchtung des gigantischen Saales, lag dieser unvergleichliche Goldschimmer auf ihrem brünetten Haar, war ihr Gesicht so rein und makellos wie das einer alten Götterstatue, geschaffen von unvergleichlicher Meisterhand.

Einige Sekunden lang verharrte sie in ihrer Position, fast so, als ob irgendjemand sie mitten in ihren katzenhaft eleganten Bewegungen eingefroren hätte. Dann, ganz plötzlich, begannen sich ihre tiefgrünen Augen zu weiten und ihr roter Mund öffnete sich, wie in der zeitlupenhaften Andeutung eines stummen Schreies. Und schon im nächsten Moment begriff auch Ravin, was dieses lähmende Entsetzens auf ihr makelloses Gesicht gezaubert hatte, was sie nun mehr und mehr in Zittern verfallen ließ, starr und unfähig, sich auch nur um einen einzigen Millimeter bewegen zu können.

Es war einer der riesenhaften Scheinwerfer, der sich aus seiner sicheren Fassung hoch oben im schwarzen Himmel über dem Catwalk gelöst hatte und nun in haltlosem Taumel zu Boden stürzte.

Eines der Model stieß einen schrillen, gellenden Schrei aus, dem aus allen Ecken des Raumes weitere Entsetzensrufe folgen sollten. Zwei näherstehende Männer stürzten auf die in Todesangst gelähmte Tara zu, riefen ihren Namen, winkten, fuchtelten - und kamen doch allesamt zu spät. Zu schwer war das Gewicht des Lichtspenders, zu schnell, zu zielgerichtet sein Fall. Die Entscheidung über Leben und Tod war längst gefallen, und welche Macht auch immer dieses Urteil ausgesprochen hatte, es hatte sich gegen die schöne junge Frau gewandt, hatte sie kaltblütig der Menschenwelt entrissen und vielleicht begierig zu sich geholt, vielleicht aber auch ganz einfach nur in ewige Finsternis hinabgestürzt.

In nur wenigen Sekundenbruchteilen wurde ihr perfekter Körper zerschmettert, begraben unter Tonnen von Glas und Metall, die mit einem entsetzlichen Knirschen und Klirren auf der Spiegelbahn des Laufstegs zerbarsten. Und dann begann es zu regnen. Aus den Schatten und dem Tuchwerk, das von der Halle aus den Blick auf die technischen Gerätschaften an der Decke versperrte, fielen sanft und lautlos tiefgrüne Blätter hinab, tanzten zu dem misstönenden Konzert von Schreien und Schluchzen, das sich im Raume ausgebreitet hatten, verspielt und leichtfüßig, bis sie schließlich in dem roten Teich, der sich unregelmäßig konturiert über die den gesprungenen Spiegelplatten erstreckte, zum Liegen kamen.

Ravin zwang sich mit einem energischen Kopfschütteln dazu, seinen Blick von diesem grotesken, aber auf eine rabenschwarze Art und Weise auch friedlichen und schönen Bildnis abzuwenden. Er stieß sich von der Wand ab, an der er eben noch für eine kurze Pause Halt gesucht hatte, und sprintete dann in wahrhaft rekordverdächtigem Tempo die Stufen des Zuschauersaales hinab.

"Sie ist tot..." wimmerte eine leise Stimme zu seiner Rechten, und ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihm das ebenfalls nicht sonderlich lebendig anmutende Antlitz eines jungen rothaarigen Mädchens, dessen Namen er entweder noch niemals gehört oder schon längst wieder vergessen hatte. Über ihre blassen, sommersprossigen Wangen zogen sich lange Spuren von verlaufener Wimperntusche wie Kratzer pechschwarzen Blutes.

Wie so viele andere Dinge, die vom Sturz des schlafenden Lichtbringers aus dem nervösen, aber auch sehr, sehr müden Halbdunkel der ETU-Arena aufgeschreckt worden waren, die sich nun einer tödlichen, unaufhaltsamen Lawine gleich gen Bühne wälzten, nahm Ravin aber auch die Weinende nur am Rande wahr. Seine wahre Aufmerksamkeit galt dem bizarren Gebilde aus Metall, Blut, Blättern und seltsam verformten menschlichen Gliedmaßen, der sich inmitten des Catwalks als bizarres und abstoßendes Stillleben präsentierte. Er nahm eine enge Kurve um die vorderste Sitzreihe, folgte dem Bühnenrand in Richtung Laufsteg - und verlangsamte dann schließlich doch noch sein Tempo, als sich mit einem Mal ein vollkommen neuer Reiz in sein gespanntes Bewusstsein stahl, ein Reiz, den er angesichts seiner gegenwärtigen Situation wohl von allen Reizen dieser Welt am Wenigsten erwartet hatte.

Es war eine Veränderung, eine stumme, schleichende Veränderung, die sich auf den Gesichtern jener beiden Männer vollzog, die noch vor wenigen und doch endlos scheinenden Sekunden fuchtelnd und schreiend herbeigestürzt waren, um die todgeweihte Schönheit aus den blutig weißen Klauen ihres grausam endgültigen Schicksals zu reißen. Gut - dieser sicherlich sehr lobenswerte Plan war nicht unbedingt von Erfolg gekrönt worden. Und manchmal, das wusste Ravin, taten Menschen die seltsamsten und unerwartetsten Dinge, wenn ihre hochtrabenden Pläne scheiterten und zu tausend Scherben zerbarsten.

Doch das, was er auf den Gesichtern jener edlen, wenn auch glücklosen Ritter las, das war nicht Enttäuschung, nicht Bestürzung, Hysterie oder wortloser Selbsthass, sondern schlicht und ergreifend - Erleichterung. Und selbst Ravin, für den menschlich emotionale Regungen ja generell etwas Sinnloses und Befremdliches an sich hatten, war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass man angesichts gleich welcher Leiche vielleicht schockiert, vielleicht angewidert oder bestürzt dreinblickte... bestenfalls noch hasserfüllt lächelte, vorausgesetzt, man selbst war der Täter und stolz auf seine Tat... aber dass gleich zwei Menschen, die getrennt voneinander zu Hilfe geeilt und dem Opfer auch sonst wohl alles andere als abgeneigt waren, im Angesicht eines ganz besonders blutigen Tatorts erleichtert aufatmeten, das war selbst Ravin noch nie unter die kalten Augen gekommen.

Und dann, beinahe noch in derselben Sekunde, fiel ihm noch etwas auf, etwas vollkommen Anderes, etwas, das auf den ersten Blick gar nicht so recht zu dem finster-bizarren Gesamtbild passen wollte, das beinahe falsch und störend anmutete, sofern man diese Worte bei einem derart blutrünstigen Mordschauplatz überhaupt noch verwenden konnte. Dieses falsch und störend blieb allerdings einzig und allein den Betrachtern vorenthalten, die tapfer oder sensationslüstern genug waren, Taras zerschmetterten Körper genauer und eingehender zu betrachten, und das waren in diesem Moment weiß Gott nicht viele.

Unter diesen weiß Gott nicht vielen fanden sich unter anderem auch Ravin - und jene beiden Männer, die das zweifelhafte Kunststück vollbracht hatten, den jungen Soldaten allein durch eine bloße Gesichtsregung verwirren zu können. Einer von ihnen - ein großer Blonder, kurze Haare, hellblaue Augen, insgesamt ein eher sportlich-kühler Typ Mensch - wandte sich von der toten Tara ab und zwang sich ein komplett missglücktes Lächeln auf die Lippen.

"Wer... wer hätte das gedacht", sagte er leise, fast schon andächtig, und Ravin war sich nicht ganz sicher, ob der Mann tatsächlich mit ihm sprach oder einfach nur irgendeinen beliebigen Ansprechpartner gesucht und dabei zufällig ihn fixiert hatte. "Das mag jetzt grausam klingen, aber irgendwie ist es doch noch Glück im Unglück. Aber dass ausgerechnet unsere weibliche Schönheit Nummer Eins gar nicht wirklich ein Mensch war... das hätt ich nicht gedacht... das hätt ich wirklich nicht gedacht..."

Er ließ sich mit einer schleppenden Bewegung in die Knie sinken und strich mit seinen blassen Fingern andächtig über ein rundes metallisches Teil, das von der Wucht jener tödlichen Romanze zwischen Tara und dem Bühnenscheinwerfer fast unmittelbar vor seine Schuhspitzen befördert worden war. Als er seine Hand wieder zurückzog, lag ein tiefroter Schimmer auf seiner hellen Haut.

"Ein Cyborg, huh?" stieß ein anderer hervor, der sich in bedächtigem Tempo dem ramponierten Laufsteg genähert hatte. "Die Dinger sind mittlerweile ja wohl wirklich überall. Ich weiß, man sollte sich eigentlich so im Laufe der letzten hundert Jahre mal dran gewöhnt haben, aber... ach, egal. Sie war ja schon ein verflucht hübsches Exemplar."

"War sie, war sie..." nickte der Blonde und sprang mit einem Satz von der Bühne auf den pechschwarzen Boden. Dabei landete er wie zufällig exakt neben Ravin, der immer noch jenes Falsche im falschen Gesamtbild, jenes störende Moment in der gesamten Absurdität von Tara Melvins Grab betrachtete, das nun mehr und mehr zum Interessenmittelpunkt seiner schönen Umwelt zu werden schien. Es war die bloße Tatsache, dass zwischen all dem Rot des verlorenen Lebenssaftes, zwischen dem letzten Weiß der Haut und dem durchtränkten Goldbraun der Haare eben keine Knochen und Sehnen, sondern silbernes Metall und hauchdünne Drähte aus der Leiche der jungen Frau hervorblitzten.

"Oh man", seufzte der zweite jener beiden Männer, die zur vergeblichen Rettung des zerschmetterten Modells herbeigeeilt waren. Ravin erinnerte sich vage an sein Gesicht, ganz einfach deshalb, weil er ihn an jenem schmerzhaft unvergesslichen, aber dennoch so unendlich weit entfernt scheinenden Abend seines (seltsamerweise immer noch unerklärlichen) Zusammenbruchs an der Seite jenes unselig ruhenden Grinsens erblickt hatte. Vielleicht kam es daher, dass sich beim bloßen Betrachten des stupsnasigen Braunhaarigen sofort eine gewisse Abneigung in Ravins Brust bemerkbar machte - vielleicht lag es aber auch ganz einfach nur daran, dass ihm sein kindlich entnervter Tonfall beinahe augenblicklich auf den Geist ging.

"Hey, was is los?" erkundigte sich sein blonder Gefährte.

"Ach, was los ist? Dumme Frage! Ich hab verflucht noch mal fast einen Herzinfarkt gekriegt, als ich diesen ganzen Spaß da mit ansehen musste! Ich dachte echt, da stirbt eine!!"

"Reg dich nicht auf, ja? Sei lieber froh, dass es nicht jemanden erwischt hat, der... also ich meine, dass es keinen Menschen erwischt hat."

"Wieso?"

Was nun geschah, war seltsam - überaus seltsam. Wie auf ein unsichtbares Kommando hin schien jeder Einzelne im gesamten Raum... oder zumindest im näheren Umfeld seinen Kopf zu heben und zu drehen und in Richtung von Ravin zu wenden. Alle Augen waren mit einem Mal auf ihn gerichtet, obwohl er an und für sich ja nichts anderes getan hatte, als eine simple, leicht verständliche Frage zu stellen. Natürlich kam es nicht oft vor, dass er in einer allgemeinen Diskussion das Wort ergriff, wenn keiner ihn angesprochen hatte, trotzdem konnte der junge Weißhaarige das stille Fragen in den beunruhigend zahlreichen Blicken beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Oder lag die allgemeine Verwunderung etwa gar nicht daran, dass er überhaupt etwas gesagt hatte, sondern vielmehr an dem, was er gesagt hatte?

"Was - wieso?" fragte ausgerechnet der kindliche Dunkelhaarige, was Ravin spontan zu einem noch kälteren, noch abweisenderen Blick veranlasste.

"Ich verstehe nicht, warum man sich darüber freuen muss, dass sie kein Mensch war, sondern ein Cyborg. Ich sehe den Unterschied nicht ganz. Ich hatte so oder so nicht mit ihr zu tun, aber sie ist doch in jedem Fall tot. Warum ist das einmal schlimmer und einmal weniger schlimm?"

"Was'n das für ne blöde Frage?" Der Braunhaarige sah Ravin in etwa so an, als ob gerade eben seine eigene Mikrowelle zu ihm gesprochen hätte. "Hallo, es ist ja wohl auch ein riesengroßer Unterschied, ob jetzt den Hund von einem Gleiter überfahren wird, oder... dein Staubsauger."

"Mein Staubsauger?" Ravin zog eine Augenbraue hoch. "Ich glaube nicht, dass das ein treffender Vergleich ist."

"Wieso?" mischte sich der Blonde ein. "Ich weiß jedenfalls, was er meint. Und ich sehe da schon auch einen Unterschied. Ich meine... wir wurden geboren und sie wurde - gebaut. Oder so. Ich kenne mich damit jetzt auch nicht hundertprozentig aus, aber diese Süße hier war eine Maschine!"

"Sie war die Kopie eines Menschen..." Der Weißhaarige zuckte mit den Schultern. "Trotzdem hat den Unterschied keiner gemerkt, bis dieser Scheinwerfer sie in ihre Einzelteile zerlegt hat. Und wie gesagt - jetzt ist sie auf jeden Fall tot. An eurer Stelle würde ich mich jetzt lieber mit irgendeinem Verantwortlichen in Verbindung setzen, als weiter über irgendwelche komischen Moralvorstellungen zu diskutieren. Es wird sicherlich einige Zeit dauern, bis der Laufsteg gereinigt und repariert ist. Und immerhin brauchen wir ihn morgen."

Ohne weiter auf die hier und dort recht entgeisterten Blicke zu achten, die seine kalten bis gleichgültigen Worte unweigerlich auf ihn gezogen hatten, wandte Ravin sich um und schlenderte ohne jegliche Spur von Eile oder Hast auf einen der Ausgänge des großen Saales zu. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er ausgerechnet an diesem wichtigen Tag nicht mehr üben konnte - doch auch das ließ sich leider Gottes jetzt nicht mehr ändern. Es gab scheinbar einige Dinge, die sich nicht ändern ließen, vor allem in den Köpfen der Menschen... der meisten Menschen zumindest.

In seinem Kopf jedoch hatte sich etwas verändert, zunächst noch sehr leise, unauffällig, schüchtern - trotz allem jedoch unübersehbar. Es war nur ein einziges Puzzlestück, das er da irgendwo zwischen Teppichfasern, hinabgestürzten Sofakissen und alten Fernsehzeitschriften gefunden hatte, und noch hatte er seinen Platz im Gesamtbild nicht finden können, aber dennoch... irgendetwas sagte ihm, das dieses eine Puzzlestück das Letzte war, dass mit ihm alle wirren Fäden zusammenliefen, sich zu einem einheitlichen Ganzen verwoben und ihm endlich den Weg zum Ausgang jenes wirren Labyrinths weisen sollten.

Was er nun brauchte, war Ruhe - Zeit. Zeit, um nachzudenken, langsam, genau, systematisch. Ravin wusste, diese letzten Schritte würden seine wichtigsten sein, denn mit ihnen stand und fiel alles. Das Netz, das er in all den vergangenen Wochen langsam und mit schier unerträglicher Geduld um den Sweet Slaughter gewoben hatte, konnte mit jeder unvorsichtigen und unachtsamen Bewegung in tausend haltlose Fasern zerbersten und das sicher geglaubte Opfer erneut in die Dunkelheit der Anonymität entwischen lassen.

Davon einmal abgesehen begriff Ravin just in dem Moment, da er die schweren Türen der ETU-Arena wieder hinter sich geschlossen hatte, dass er die Gesichter seiner ach so schönen Konkurrenten und Familienmitglieder einfach nicht mehr länger ertragen konnte.
 

Der Nachmittag lag bereits fast schon wieder im Sterben, als Ravin zum Ersten Mal seit einer viel zu langen Zeit begriff, wie unendlich dumm er eigentlich gewesen war.

Zu diesem Zeitpunkt lagen viele und lange und einsame Stunden hinter ihm. Immerhin war es noch recht früh am Morgen gewesen, als er den Mordschauplatz in jener gigantischen Halle, in der in kaum mehr als 24 Stunden ganze Heerscharen von Menschen jubeln und feiern und kreischen würden, hinter sich gelassen hatte. Und da sich an ebendiesem Morgen natürlich fast alle Models in ihrer dezent verunstalteten Übungsstätte aufgehalten hatten, waren die Gänge des übrigen Gebäudes natürlich entsprechend leer und verlassen im bleichen Licht der Morgensonne gelegen.

Erst einige Minuten später hatte er begriffen, dass er eines der grünen, dreizackigen Blätter in der Hand gehalten hatte, die in sanftem Tanz auf die unter Tonnen von Metall begrabene Tara hinabgeregnet waren. Er hatte es angesehen - lange, eindringlich. Hatte wieder weggesehen. Aus dem Fenster. An die Wand. Die Decke. War über Meilen von blitzsauber schimmernden Schachbrettfliesen geschlendert. Eine unzertrennliche Symbiose von Schwarz und Weiß, gewaltsam in immer gleiche geometrische Formen gepresst. Eintönig. Makellos. Erst Schwarz, dann Weiß, dann wieder Schwarz...

Ein erneuter Blick auf das Blatt in seiner Hand.

So hatte Ravin seinen Tag verbracht, den er sich noch in den frühsten Morgenstunden so vollkommen anders, so unwahrscheinlich viel trivialer und egoistischer erdacht hatte. Statt seine Runden über die strahlende Spiegelfläche des Catwalks zu drehen, kämpfte er sich still und verbissen durch die Wirren in seinem Kopfe, stellte sich wieder und wieder seinem erbittersten Feind... ein Feind, der ja eigentlich nur eine einzige, gar nicht einmal so komplizierte Frage war - die Frage, wo er dieses fragile grüne Gebilde, das nun stumm und feindselig zwischen seinen Fingern ruhte, schon einmal gesehen hatte.

Lange, lange Zeit war es ihm nicht eingefallen. Und als er sich dann endlich hatte erinnern können, da war mit einem Mal alles so klar, so unvorstellbar klar, dass es fast schon wieder schmerzte. Ein strahlendes Licht in zwei Augen, die sich längst schon an Nacht und Dunkelheit gewöhnt hatten. Doch Ravin war stark und selbstbeherrscht genug, seinen Blick nicht wieder abzuwenden, denn mit einem Mal kam tatsächlich alles so, wie er es auf seiner ruhigen Flucht aus der ETU-Arena nur hatte erahnen können.

Alle Bruchstücke, die er eben noch unsicher, zusammenhangslos in seinen Händen gehalten hatte, schienen sich mit einem Mal zu fügen... sicher, hier und dort blieb ein dunkler Fleck, eine kleine Ungereimtheit zurück, doch das änderte nichts daran, dass sich im sinnlosen Puzzlespiel nun endlich, endlich ein unschönes Bildnis erkennen ließ. Und kaum, da er es sah, drängte sich Ravin die unangenehme Frage auf, warum es ihm nicht schon viel früher aufgefallen war, so lächerlich einfach war des großen Rätsels Lösung.

Die Frage beschäftigte ihn immer noch, als er längst neben der in Gold gerahmten Zimmertüre jenes schicksalhaften Zimmers stand, in dem der Sweet Slaughter schon viel zu viele Nächte lang ruhig und selig geschlummert hatte, unverdächtig, unerkannt. Er stand da und wartete, denn der versammelte Rest der Models hatte sich mittlerweile zum kärglichen, aber figurschonenden Mahle versammelt - ein Mahl, das für allzu viele von ihnen einer trostlosen Henkersmahlzeit gleichkommen sollte. Ravin wusste, dass der Sweet Slaughter von allen Models als erstes den Saal verlassen würde, weil er das stets so tat, Tag für Tag, immer nach demselben zwanghaften Schema. Er kam als Erster - er ging als Erster. Genauso würde er es auch an diesem so bedeutsamen Nachmittag machen, unwissend, dass dieser Gang sein letzter sein sollte.

Für den Schlachter selbst würde sich dabei nicht allzu viel ändern, musste er von nun an eben im zugegebener Weise etwas weniger stilvollen und glamourösen Speisesaals des nächstgelegenen Hochsicherheitsgefängnisses als Erster kommen, als Erster gehen, und den Rest des Tages in ähnlich neurotischer Unfreiheit verbringen, wie er es auch hier schon längst zu praktizieren pflegte.

Zumindest eine von Ravins gedanklichen Zukunftsprognosen sollte sich nur allzu bald bewahrheiten, denn es war tatsächlich niemand anderes als der Sweet Slaughter höchstpersönlich, der knapp fünf Minuten vor dem Rest der makellosen Armada durch die Gänge ihrer komfortablen Fünfsternefestung stolzierte - oder vielmehr schlenderte, seltsam verloren, aber leichtfüßig, nicht weniger elegant als auf dem Laufsteg höchstpersönlich, bewundert, bejubelt, begafft von jenem gesichtslosen Brei aus Zuschauern, Fotoapparaten und leise surrenden Kameras. Er lächelte, süß und unschuldig wie eh und je, zumindest auf den ersten, flüchtigen Blick hin. Vielleicht lag es nur daran, dass Ravin im Geiste schon hinter die Fassade dieses engelsgleichen Wesens geblickt hatte... dass er es nun auf eine andere Art und Weise betrachtete als zuvor und deshalb sehen konnte, welch harter, verbitterter Zug um die weichen Lippen des Mörders spielte, der sein Lächeln unangenehm falsch und künstlich wirken lies... dass seine Augen beinahe noch kälter waren als Ravins eigene... oder vielmehr kalt auf eine ganz andere Art und Weise, mehr hasserfüllt als emotionslos...

Ebendiese starre Kälte wurde binnen weniger Sekunden von einem fragenden Ausdruck künstlich-aufgesetzten Erstaunens übertüncht und das eisige Feuer in den grünen Iriden begann zu flackern, als die dazugehörigen Augenlider einige Male auf und nieder geschlagen wurden.

"Was machst du denn da?" fragte Ivy betont langsam und spitzte ihre Lippen zu einem herausfordernd süßlichen Lächeln. Dabei gelang es ihr, das Gesicht auf wundersame Weise genau so weit zu senken, um zwar unschuldig verführerisch, nicht aber unterwürfig auszusehen. Ravin hatte längst schon begriffen, dass jede einzelne ihrer Gesten, jeder Augenaufschlag, jedes Spiel von Haar und Fingern einem genauestens durchdachten Plan folgte - oder besser gesagt einem Schauspiel, wie es perfekter gar nicht mehr hätte sein können. Jeder Atemzug der blonden Frau war eine derart gekonnte Selbstinszenierung, dass sie es selbst demjenigen, der um ihre Fassade wusste, schier unmöglich machte, auch dahinter blicken zu können.

Ihre rot lackierten Nägel strichen in lasziver Nervosität über den weißen Lederstoff ihrer Handtasche, in die mit schwarzen Linien ein dreifingriges Blatt eingeprägt war, ein zweidimensionaler Klon jenes lebendig grünen Gebildes, das Ravin immer noch in seinen bleichen Händen hielt.

"Ich muss mit dir reden", sagte er kalt, ohne auch nur in irgendeiner Form seinen Blick von den smaragdfarbenen Augen des engelsgleichen Models zu nehmen. Sie antwortete mit einem Lächeln, dem toten Lächeln eines Mörders, dessen emotionslos berechnender Verstand in der schläfrig süßen Sicherheit des Wahnsinns weilte.

"Reden? Mit mir?" Ein leises Lachen stahl sich über ihre rosenfarbenen Lippen. "Ich gebe zu - damit hätte ich nicht gerechnet. Nimm es mir nicht übel, aber du bist mir bislang noch nicht unbedingt durch deine Redseligkeit aufgefallen!"

"Es ist wichtig", fuhr Ravin ungerührt fort, ohne auf den neckischen Spott in Ivys zuckersüßem Stimmchen einzugehen. "Und es ist besser, wenn wir ungestört sind."

"Ungestört?" In die unschuldige sanfte Stimme der jungen Frau mischte sich ein spielerisch verruchter Tonfall, der allerdings ebenso schnell wieder verflog, wie er gekommen war. Sie warf ihren Kopf in den Nacken, sodass sich ein ganzer Wasserfall von goldfarbener Seide in die drückende Luft des nahenden Abends ergoss, und wieder drang ein Lachen aus ihrer zarten Kehle hervor, setzte ihre scheinbar über alle Widrigkeiten des Seins erhabene Gestalt so gekonnt in Szene, dass sogar Ravin einen leisen Hauch von Bewunderung durch seine Brust gleiten fühlte.

"Ja, ungestört. Das dürfte für alle hier das Beste sein."

"Du machst mich direkt neugierig, weißt du das?" Sie strich sich langsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht, verharrte mit ihrer makellosen Hand nur einen Moment lang an der porzellanfarbenen Haut ihrer Wange und senkte den Blick. Ein tiefer Atemzug stahl sich geräuschlos über ihre natürlich vollen Lippen und ließ eine ungewohnt nachdenkliche Aura um ihre zarte Gestalt herum entstehen. In dieser regungslosen Stille wirkte sie fast schon schutzbedürftig, auf eine seltsame Art und Weise verloren in dem kurzen weißen Kleid, das ihren perfekten Körper mehr oder weniger bedeckte und umspielte.

Dann blickte sie auf, ließ ihre ebenmäßigen Gesichtszüge einmal mehr im sanften Licht eines ganz und gar unaufdringlichen Lächelns erstrahlen und nickte.

"Und weißt du noch etwas? Mir ist gerade eben der perfekte Ort für ein kleines Rendezvous eingefallen. Du wirst es lieben, Ravin, das verspreche ich dir. Dabei gebe ich für gewöhnlich keine Versprechen... ach, aber diesen Ort musst du einfach sehen! Er ist bezaubernd..." Sie spitzte ihre Lippen, wie um einen ziellosen Kuss anzudeuten, dann wandte sie sich um und schlenderte in traumwandlerischer Eleganz den schwarz-weiß gefliesten Gang hinab, ohne sich dabei auch nur im Geringsten von den gut zehn Zentimeter hohen Absätzen ihrer schneeweißen High Heels stören zu lassen. Dann hielt sie noch einmal inne, wandte sich um und schlug ihre langen Wimpern nieder. "Genauso bezaubernd wie du!"

Mit einem letzten zuckersüßen Lachen warf sich der Sweet Slaughter die goldenen Wellen seines langen Haares über die Schulter, dann stöckelte er in scheinbar unerschütterlicher Ruhe voran, geradewegs auf die feindselig glänzenden Türen des großen Aufzuges zu, der Ravin vom Ende des riesenhaften Schachbrettes stumm und höhnisch entgegenlächelte.
 

Es waren genau zwei Knöpfe, die Ivy scheinbar leichtfertig und gedankenlos gedrückt hatte. Zwei kleine, rechteckige, in dezentem Gelb leuchtende Knöpfe, die sich vom Rest ihrer dienstfertigen Brüder eigentlich nur durch eine kleine, unscheinbare Zahl in der rechten unteren Ecke unterschieden. Oder besser gesagt: Sie unterschieden sich dadurch, dass sie eben keine Zahl, sondern schwarze Blockbuchstaben trugen, der eine ein R, der andere ein D.

Doch so grotesk, so lächerlich der Gedanke auch sein mochte: Es war niemand anderes als diese beiden Knöpfe, die alle weiteren Geschehnisse bestimmen sollten, gelb und unscheinbar, deshalb aber nicht weniger mächtig und bedeutsam. Ravin selbst hatte nicht weiter darauf geachtet, hatte seine Konzentration voll und ganz auf Mimik und Gestik des mörderischen Engels fixiert, der ihm sanft, kalt und selbstsicher entgegenlächelte. Ihr schneeweißes Kleidchen und ihre blonden Locken wurden von der mattierten Spiegelscheibe in ihrem Rücken merkwürdig verzerrt wiedergegeben, zerflossen zu einer Aura von Licht und Gold, die sich wie eine irritierende zweite Haut um den Körper der jungen Frau legte.

Sie senkte ihren Kopf, spitzte die Lippen und blickte erwartungsvoll aufreizend zu Ravin hinauf.

"Ich möchte keine langen Reden halten", begann dieser schließlich ruhig und frei von jeglicher störender, oder verräterischer Emotion zu sprechen, stets bemüht, seinen Blick direkt auf Ivys Gesicht ruhen zu lassen. Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn die konturlose Reflektion im Rücken der jungen Frau tat mit stetem Flackern und Vibrieren ihr Möglichstes, seine Sinne permanent zu verwirren, zu irritieren und abzulenken.

"Schade", flötete Ivy und formte ihre dezent geschminkten Lippen zu einem Schmollmund. "Langweilig wäre es mir mit dir sicher nicht geworden..."

"Nun, das ist Ansichtssache. Im Übrigen geht es hier ja auch gar nicht um mich und ich habe auch nicht vor, mit diesem ganzen Rumgerede hier noch länger meine Zeit zu verschwenden. Eigentlich möchte ich nur eine... ganz kurze, simple Frage an dich stellen: Warum..."

"Simpel? Aber nein!" Die Blonde fiel Ravin mit einer affektiert abwinkenden Geste ins Wort. Ihre Stimme klang so aufgesetzt belehrend wie die eines jener unerträglichen Kinder, die tagein, tagaus von den sadistischen Machern irgendeiner Fernsehwerbung dazu gezwungen wurden, ihre Eltern über Fruchtjoghurts, Schokoriegel, Frühstückscerealien oder andere als gesund und wachstumsfördernd zertifizierte Dinge aufzuklären, die sie selbst groß- und den Kunden das Geld aus den Taschen ziehen sollten. "Fragen sind nie simpel. Jede Frage ist bedeutsam. Liebst du mich? Willst du mich heiraten? Haben Sie ihre Frau umgebracht? Jede Frage ist ein Weg, dessen Ziel den Namen Antwort trägt. Wusstest du das etwa nicht? Unser ganzes Leben besteht aus Fragen! Man muss sie nur zu stellen wissen."

"Ja, aber..."

"Nein, kein aber. Und sieh mich nicht so finster an. Die Zeit wird uns schon nicht davonlaufen. Vergiss nicht, dieses Haus hat viele Stockwerke, sehr viele Stockwerke. Vielleicht zu viele. Gab es da nicht einmal solch eine uralte Geschichte von einem Turm, der dem Himmel zu nahe gekommen ist? Ich... habe tatsächlich vergessen, wie sie heißt! Ich weiß nur, dass sie kein schönes Ende hatte..."

"Ich bin nicht hier, um mir Geschichten anzuhören!"

"Aber natürlich nicht. Du willst mir eine Frage stellen und du drängst auf Antwort. Als ob wir uns jeden Moment fürchten müssten, dass die Seile dieses Aufzuges in tausend Stücke und uns mit sich in die Tiefe reißen würden... warum denn so eilig? Ich hasse Eile!" Sie ließ ihre hellen grünen Iriden betont langsam im Kreis wandern. "Von Eile bekommt man Falten und dabei ist Makellosigkeit doch unser Kapital! Also sieh einmal her, Ravin, sieh auf diese Tafel. Dort leuchten zwei Knöpfe. Ein R und ein D. Das R steht für Roof, sprich, wir fahren bis ganz nach oben. Dem sündigen Himmel entgegen, verstehst du? Das D steht für direct. Soll heißen: Keiner kann diesen Aufzug anhalten oder zu sich rufen, bevor er uns sicher an unser Ziel gebracht hat. Und was soll uns das alles sagen? Wir haben Zeit. Viel, viel Zeit."

"Mich interessiert nicht, wohin dieser Aufzug fährt. Ich möchte einfach nur eine einzige Frage stellen."

"Warum tust du es dann nicht?" Ivy schenkte Ravin ein bezauberndes Lächeln und klimperte betont unschuldig mit ihren langen schwarzen Wimpern. Dieser rollte nur einmal kurz mit seinen kalten Augen, bevor er zu einer von den Spielchen der jungen Frau vollkommen unbeeindruckten Antwort ansetzte.

"Ich habe nicht um Gegenfragen gebeten, sondern um eine Antwort." Er hielt kurz inne, und noch während sich in seinem Kopf die Puzzleteile für die richtige Formulierung dieses einzig wichtigen und so unvorstellbar fatalen Satzes nachdachte, schien sich ganz wie von selbst eine weitere dicke Eisschicht über das eisige Blau seines Blickes zu legen.

"Antwort - auf was?"

"Warum hast du sie getötet?"

Wie von einem inneren Blitzschlag namens Eingebung durchzuckt hatte Ravin sich für den direkten, den einfachsten und gleichzeitig auch gefährlichsten Weg entschieden. Gut - es war noch niemals in seiner Natur gelegen, länger als irgendwie notwendig über die Konsequenzen seines Handelns nachzudenken, ganz einfach deshalb, weil ihm diese Konsequenzen meist ohnehin vollkommen egal waren. In diesem Fall aber sollte ihm für gleich welche Art von Gedanken so oder so nicht allzu lange Zeit bleiben, denn noch während sich die Worte über seine Lippen stahlen, ging ein lähmender Ruck über Ivys Gesicht, ließ ihr maskenhaft liebreizendes Lächeln in all seiner Falschheit gefrieren und brachte nur für den rasenden Bruchteil einer Sekunde das kalte Feuer hinter ihren grünen Augen zum Lodern.

Dann löschte sie die Flammen mit einem Schlag ihrer Augenlieder, warf den Kopf in den Nacken und lachte.

"Getötet? Ich?" Sie strich sich mit einer schwungvollen Bewegung das Haar aus der Stirn und schenkte dem Weißhaarigen ein mildes Lächeln. "Sag, wen habe ich denn... getötet? Und wie? Jetzt möchte ich es aber doch wissen. Wo ich doch wieder einmal als Letzte merke, was für eine kaltblütige Mörderin ich doch bin!"

"Das tut mir leid", stellte Ravin ungerührt fest und ließ seinen Rücken gegen das kalte Metall der Aufzugwand sinken. Ein leiser Schauer schlich ihm über die Haut, gefolgt von einem steten Vibrieren. Er lehnte seinen Kopf zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, betont ruhig und entspannt, um auch nicht den geringsten Zweifel übrig zu lassen, dass von nun an er es war, der die Situation kontrollierte. "Aber ich wäre nicht hier, wenn ich keine Beweise hätte."

"Soso... Beweise..." Ivy stieß ein kurzes, kindlich anmutendes Kichern hervor und begann, eine ihrer goldfarbenen Locken in scheinbar grenzenloser Gleichgültigkeit um ihren Zeigefinger zu wickeln. In jedem einzelnen ihrer langsamen Augenaufschläge lag eine derart überhebliche Erheiterung, dass sich Ravin einmal mehr ein leises Gefühl der Bewunderung eingestehen musste, so unerschütterlich und unendlich schien die schauspielerisch überragende Kaltschnäuzigkeit dieser jungen Frau.

"Ja, Beweise", echote er nicht minder kaltschnäuzig, ohne seinen bohrenden Blick vom leblos schönen Gesicht der engelsgleichen Mörderin zu nehmen. "Einer davon befindet sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch in deiner Wohnung. Ich weiß nicht wo, aber das wird die Polizei schon herausfinden."

"Da bin ich aber gespannt."

"Epipremnum", sagte Ravin langsam, mit wahrhaft ungewohnter und gerade deshalb so eindringlicher Bedeutungsschwere, die auf jeder einzelnen Silbe lastete. "Mit dem Gift dieser Pflanze wurde Chastity Kramer ermordet. Mit welchen Giften du die übrigen Models umgebracht hast, weiß ich nicht. Noch nicht. Aber das ist auch nur eine Frage der Zeit."

"Die übrigen..." Ein kurzer Moment der Irritation lief durch Ivys Augenbrauen, dann jedoch entspannte sich ihr Gesicht aufs Neue und wich ihrem unvermeidbaren, undurchdringlichen Lächeln. "Aber Ravin, findest du das nicht ein klein wenig gewagt? Ich glaube, du könntest dir einige Unannehmlichkeiten einhandeln, wenn du jeden Liebhaber seltener Pflanzenarten als Mörder bezeichnest. Das ist nicht gut für den Ruf, weißt du? Und ein guter Ruf ist alles in diesem Geschäft, wirklich alles!"

"Ich glaube nicht, dass ich es bin, der sich um seinen Ruf zu sorgen hat..." Ravin reckte sein Kinn ganz unbewusst ein Stück weit in die Höhe und strich sich eine seiner langen weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Das sachte Ruckeln in seinem Rücken war mittlerweile verstummt, doch der junge Soldat fühlte trotzdem weder Hast noch Bedürfnis zur Eile in sich aufsteigen. Er war nun an dem Punkt angelangt, den er die ganze Zeit über angestrebt hatte, jener eine Punkt, an dem alle Fäden zusammenliefen, sich verwoben und versponnen und zu neuer Ordnung teilten, einer unbarmherzigen Ordnung, in der es keine Fassade, keine Lügen mehr gab.

Es war Zeit, die Karten offen zu legen und das Spiel für sich zu entscheiden.

"Ach nein? Das sehe ich anders. Du scheinst offenbar nicht zu wissen, wen du vor dir hast. Meine Eltern haben Einfluss, viel Einfluss, und was noch wichtiger ist - sie haben Geld. Connections. Alles, was man im Leben eben so braucht. Bislang fand ich deine Ausführungen ja eher belustigend, aber langsam stoße selbst ich an die Grenzen meiner Geduld. Ich hätte es dir zwar nicht zugetraut, aber du scheinst mir zu viele Krimis gesehen zu haben. Oder steigt dir dein Erfolg langsam zu Kopf?"

"Was hast du in dieser Tasche?"

"In meiner... wieso?" Auf Ivys Gesicht stahl sich eine Spur von Misstrauen. Dann lief ein leichter, kaum merkbarer Ruck durch ihren Körper, als ein melodischer Dreiklang den steril glänzenden Raum erfüllte und sich die mattsilbernen Türen mit einem leisen, sanften Schnurren auseinander schoben. Ohne den Blickkontakt zu der blonden Frau abzubrechen schob Ravin einen seiner Füße ein Stück weit nach Rechts, unmittelbar vor ein winziges rotes Lichtlein, das etwas zehn Zentimeter über dem Boden in die Innenseite der Aufzugpforten eingelassen war.

"Jetzt haben wir wirklich Zeit", sagte er langsam und kalt. Ivys grüne Augen glitten kurz über die blockierte Lichtschranke, dann stahl sich ein unwahrscheinlich entnervtes Seufzen über ihre Lippen und sie verschränkte beide Arme vor ihrer Brust.

"Du vielleicht. Ich wäre eigentlich gerne noch einmal meinen Auftritt durchgegangen. Immerhin habe ich nicht vor, nach der großen Show morgen schon heimfahren zu müssen."

"Heimfahren wirst du sowieso nicht."

"Was soll das nun wieder heißen?!"

"Weißt du, was eine Spurenanalyse ist?" Ravin lehnte seinen Kopf ein Stück weit zur Seite. "Es gibt da bei der Polizei eine ganze Abteilung, die macht eigentlich den ganzen Tag nichts anderes. Ich bin mir sicher, diese Abteilung würde sich sehr über deine Tasche freuen. Ich weiß zwar nicht, mit welcher Art von Stoff sie innen ausgekleidet ist, aber Reste dieses Stoffes werden sich bestimmt auch auf den Blättern finden, die du auf Taras Leiche hast fallen lassen. Warst du nicht unmittelbar vor ihr auf dem Laufsteg? Ich weiß, dass du deine Tasche bei den Proben bei dir hattest und dir ist danach unmöglich noch genug Zeit geblieben, um zurück auf dein Zimmer zu laufen, die Blätter zu holen und den Scheinwerfer hinunterfallen zu lassen. Oben bei der Beleuchtung kannst du die Blätter auch nicht versteckt haben, dort haben ja noch bis in die Proben hinein Handwerker gearbeitet. Die Blätter können also nur in dieser Tasche gewesen sein."

Zwischen den silbernen Wänden des Aufzuges war es still geworden. Ravin sah Ivy immer noch direkt in das Gesicht, jenes maskenhafte Kunstwerk, das nun voll und ganz in eine merkwürdige Starre verfallen war. Die Lippen der jungen Frau waren nur ganz leicht geöffnet, die Augen dafür umso weiter, eingefroren in vollkommener Ausdruckslosigkeit. Selbst die steten Atemzüge, die ihre weiß umhüllte Brust ruhig und selbstsicher gehoben hatten, schienen nun verstummt oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit hin verlangsamt worden zu sein.

"Efeutute. Efeublätter. Das ist so einfach, zu einfach, darum ist es mir auch nicht gleich aufgefallen. Ivy... warst du so stolz auf deine Taten, dass du unbedingt noch eine... Visitenkarte am Tatort zurücklassen musstest? Auf jeden Fall war es - ein Fehler."

Und dann, noch während Ravin dieses so schicksalhaft programmatische Wort über seine Lippen brachte, ging mit einem Mal alles ganz schnell.

Zu schnell, selbst für Ravin, war sein Bein doch durch die Blockade der Lichtschranke in eine äußerst unnatürliche und leider auch unpraktische Haltung gezwungen worden. Zudem hatte der stete, eisig kalte Blickkontakt, den er zu Ivy gehalten hatte, zwar auf eine Weise sein übriges getan, ihre Nerven zerrüttet und selbst die so unantastbar scheinenden Betonwälle ihrer architektonisch meisterhaft aufgebauten Fassade zum Einstürzen gebracht - leider hatte er aber auch die Aufmerksamkeit des jungen Weißhaarigen von jeglichem anderen Detail, jedem übrigen Vorgang abgelenkt, der sich in diesen bedeutungsvollen Sekunden in dem kleinen Raum abgespielt hatte.

So war ihm nicht einmal aufgefallen, dass Ivy unfassbar langsam, wie in sirupartigem Zeitlupentempo aus ihren schneeweißen Stöckelschuhen geschlüpft war, dass sie Halt auf dem klebrig warmen Gummiboden des Aufzuges gesucht und jeden einzelnen Muskel in ihrem zierlichen Körper angespannt hatte.

Er bemerkte den Fehler erst, als die junge Frau mit einem Satz zwischen den Türen hinaus ins Freie flüchtete, dem schon leicht rötlich angehauchtem Blau des endlos weiten Abendhimmels entgegen. Und auch als er mit einem kurzen Straucheln aus seiner misslichen Lage entkommen konnte, da legte sich zunächst noch eine lähmende, trügerische Sicherheit über sein Bewusstsein, raubte ihm die Kraft für den notwendigen Sprint, ließ ihn für den Blitzschlag eines einzigen Gedankens in der Bewegung verharren.

Sie waren auf dem Dach. Es gab keinen Ort, an den Ivy hätte flüchten können!

Und dann fiel ihm die Feuertreppe ein. Jene letzte stählerne Rettung, die nicht nur von den astronomischen Höhen ihres lasterhaften Turmes hinab zu den Schatten der Erde führte, sondern die zu allem Überfluss auch noch mit jedem einzelnen verfluchten Stockwerk des gesamten Evershine Theater Utopia Buildings verbunden war. Ravin wusste, wenn der Sweet Slaughter diese rettenden Planken erreichen würde, dann hatte er verloren, dann kam das bloße Vorhaben, dem Mörder noch sein blutiges Handwerk legen zu können, einem Ding der Unmöglichkeit zumindest verflucht nahe.

Leider stahl sich diese Erkenntnis um etliche höhnische Sekunden zu spät in sein Bewusstsein. Denn obwohl Ivy barfuß und das steinerne Dach des ETU doch verflucht rau war, so lief sie doch immer noch schnell, unwahrscheinlich schnell, und wie auch alles andere in dem Prunkbau war natürlich auch die Dachterrasse sehr, sehr groß... vielleicht zu groß, um sie noch einholen zu können.

Aber musste er das denn überhaupt?

Denn trotz aller Geschwindigkeit, trotz des nicht zu leugnenden Vorsprungs hatte Ivy in ihrem Wahn, in ihrer an und für sich recht unvorteilhaften Hast doch einen gewaltigen Fehler gemacht - sie war in einem eigentümlich weiten Bogen aus dem Elevator gelaufen, war dem schmalen Rand zwischen Stein und Himmel viel zu nahe gekommen und hatte so wertvolle Sekunden verschenkt. Das Wissen um diesen Fehler war der einzige Vorteil, den Ravin noch in seinen bleichen Händen hielt.

Er drückte sich mit aller Kraft von dem kalten Metall in seinen Rücken ab, sammelte alle Kraft, die er noch in den entlegensten Winkeln seines Körpers finden konnte - und begann zu rennen. Er rannte und rannte, setzte in halsbrecherischem Tempo einen Fuß vor dem anderen, bis er nur noch der Koordination seines Unterbewusstseins und vielleicht auch einer gehörigen Menge Glück verdanken konnte, dass er nicht einfach vornüber und der Länge nach auf die harte Steinmasse stürzte. Er lief und lief, immer den schmalen, von einer lachhaft dünnen Metallkette versperrten Fluchtweg im Blick, jenen stählern blitzenden Stufen, von Menschenhand erschaffen, um Leben zu retten, und nun im Begriff, so viele Leben auf grausamste Art und Weise davon zu werfen.

Und dann, als er das so unendlich weit entfernt scheinende Ziel seines halsbrecherischen Laufes fast schon in zumindest abschätzbarer Nähe wusste, da begriff er mit einem Mal, dass er noch einen Fehler gemacht hatte.

Er begriff es in dem Augenblick, als er - sei es zufällig oder von den undurchschaubaren Fäden jenes übermächtigen Marionettentheaters mit Namen Schicksal gelenkt - einen kurzen Blick über die Schulter warf, um die Chancen seines Feindes abschätzen zu können. Und da sah er, dass die junge Frau nicht etwa in seine Richtung rannte, um in der stillvollen Anonymität ihres Luxushotels untertauchen zu können. Vielmehr hatten ihre nackten Füße sie zu der etwa kniehohen Brüstung geführt, einer schmalen Mauer aus Beton, die jene weitläufige Dachterrasse auf überaus lächerliche Art und Weise einrahmte. Ravin wusste nicht, ob - wer auch immer dieses alles andere als ansehnliche Gebäude nun verbrochen hatte - man diese Mauer zu irgendeinem Sinn und Zweck erbaut hatte, vielleicht um Hunde und Kleinwüchsige vom Selbstmord abzuhalten, oder ob man das Dach aus Gründen einer Ästhetik, die sich ihm leider nicht ganz erschloss, einfach irgendwie hatte abschließen wollen...

In jedem Fall bot dieses Mäuerchen alles, nur keine Sicherheit.

Dummerweise schien das auch Ivy bemerkt zu haben. Denn während sich Ravin mit einem leisen Seufzer umwandte und auch noch das letzte bisschen an ruhigem Atem durch einen erneuten Lauf aus seinen geplagten Lungen trieb, da kam die blonde Frau fast unmittelbar vor dem dunklen Beton zum stehen, den ganzen Körper von heftigem Beben erfasst, und wandte ihren Blick starr auf den bizarren Urwald aus Straßen, Plätzen und mehr oder weniger hohen, mehr oder weniger hässlichen Hochhausbauten hinab, der sich (zumindest größtenteils) zu ihren Füßen erstreckte.

Im ersten Moment fürchtete Ravin, dass Ivy sich einfach umdrehen und mit süßlich gespitzten Lippen und einem letzten höhnischen Augenaufschlag zum rettenden Aufzug zurückstolzieren würde, um ihm schlicht und einfach vor der Nase davonzufahren. Und dass dieser Fluchtplan durchaus Erfolg versprechend war, das verriet dem jungen Weißhaarigen nicht nur die schlichte Tatsache, dass die blonde Frau einen deutlich kürzeren Weg zu besagtem Transportmittel zurückzulegen hatte, sondern auch jenes konstante Stechen, Ziehen und Hämmern in seiner Seite, das einen zweiten Sprint in beinahe unerreichbare Ferne rücken ließ.

Dann aber sah er, dass sich die silbernen Tore des Elevators mittlerweile wieder geschlossen hatten. Wahrscheinlich, schoss es ihm durch den Kopf, hatten tief, tief unter ihnen sowieso schon ganze Belegschaften von Models ihre durch menschenunwürdige Diäten, nächtelange Partys und den steten Konkurrenzdruck ohnehin schon zerrütteten Nerven beim langen Warten auf den Aufzug vollends verloren. Schon die bloße Fahrt zum Dach - die bloße direkte Fahrt zum Dach musste in den Augen eines unwissenden Wartenden um etliche Äonen zuviel gedauert haben, nicht zu vergessen ihre folgende Konversation auf dem Dach bei blockierter Türe... es war nur mehr als natürlich, dass der stählerne Fährmann ihres überaus fußgängerunfreundlichen Heimathochhauses nun endlich wieder an anderer Stelle gebraucht wurde.

Allerdings schien Ivy an diese Fluchtmöglichkeit ebenso wenig gedacht zu haben wie an die Feuertreppe, jedenfalls stand sie nur unverändert regungslos am steinernen Rande des Abgrunds und starrte in die Tiefe. Der in solch Schwindel erregenden Höhen wie auf der ETU-Dachterrasse unweigerlich herrschende Wind fuhr ihr durch Haare und Kleid, beraubte die schlanke Gestalt jeglicher klarer Kontur, verwandelte sie in ein bizarres Monument aus Bewegung, eine weiße, aber gleichzeitig finstere, tödliche Bewegung, die unweigerlich auf den Rand des Daches gerichtet zu sein schien...

Und als Ravin verstand... oder sich vielmehr endlich eingestehen konnte, dass Ivys Flucht die ganze Zeit über keine Flucht, seine Verfolgungsjagd nicht mehr als eine sinnlose Verschwendung s kostbarer Kräfte gewesen war, da wusste selbst er eine ganze Reihe von grauenhaften Sekunden lang nicht mehr, was er tun sollte. Er rannte nicht mehr, er lief nicht einmal mehr, er ging - ging langsam und bedächtig auf die junge Frau zu, während sich seine keuchenden Atemzüge auf äußerst unangenehme und schmerzhafte Art und Weise allmählich wieder beruhigten.

Er war gerade noch gute zehn Meter von ihr entfernt, als mit einem Mal ein heftiger Ruck durch die vormals so regungslose und doch gleichzeitig übermäßig bewegte Gestalt lief und sie mit einer derart raschen Drehung herumfuhr, dass Ravin einen Augenblick lang ernsthaft befürchtete, sie würde schlicht und einfach das Gleichgewicht verlieren und rückwärts in die Tiefe stürzen.

Zumindest diese eine Befürchtung sollte sich nicht bewahrheiten, denn Ivy kam zwar leicht schwankend, aber doch mehr oder weniger sicher wieder zum Stehen. Ihre Brust hob und senkte sich rasch. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, doch aus den vagen Schatten, die diese ganz und gar nicht unterwürfig anmutende Haltung auf ihr engelsgleiches Gesicht zauberte, stachen ihre hellgrünen Augen nur umso funkelnder hervor. Auch sonst war das Attribut engelsgleich jetzt vielleicht doch nicht mehr ganz so zutreffend, schien doch jeder einzelne ihrer hübschen Gesichtszüge von schier unbändigem Hass verzerrt, krampfhaft und bebend, nur mehr ein alptraumhaft deformiertes Abbild ihrer selbst. Über ihre Wangen liefen Tränen, die in der Maske aus tödlichem Zorn wie Fremdkörper wirkten, wie groteske Überbleibsel von Menschlichkeit, wo es keine Menschlichkeit mehr geben konnte.

"Hau ab!" Ihre Stimme klang schrill und misstönend, bei aller Hysterie aber dennoch nicht wahnsinnig - und genau das war es, was Ravin am meisten irritierte, was ihn tatsächlich einen Moment lang inne halten und fast gegen seinen Willen verharren ließ. "Komm keinen Schritt näher! Keinen Schritt näher oder ich... ich springe!"

Ravin sah Ivy geradewegs in die lodernden, feucht glänzenden Augen. Dann setzte er langsam, sehr langsam einen Fuß nach vorne.

"Nein! Bleib stehen! Bleib stehen! Ich... ich meine es ernst!!!"

"Du meinst es also ernst?" fragte er kalt, während er einen weiteren langsamen Schritt vorwärts machte. "Warum tust du es dann nicht? Wenn du es wirklich ernst meinst, dann wirst du eh springen, ganz egal ob ich nun stehen bleibe oder nicht. Also was soll dieses dramatische kleine Spielchen?"

Mit dieser Antwort hatte die blonde Frau ganz offensichtlich nicht gerechnet, denn ihre Augen weiteten sich sogar noch ein kleines Stückchen mehr und einige Momente lang verschwamm der verhärtete Ausdruck bloßen Hasses zu einem Stadium irgendwo zwischen Verwirrung und Entsetzen.

"Wie... wie kannst du das sagen? Ist es dir egal? Ist es dir egal, ja? Ich sterbe und du verziehst immer noch keine Miene! Wie... wie gefühllos bist du eigentlich?!"

"Da muss ich dir allerdings Recht geben, es ist mir egal." Ravin strich sich eine der langen weißen Haarsträhnen, die der Wind ihm vor das Gesicht geweht hatte, mit einer langsamen Bewegung hinter sein Ohr. Gleichzeitig legte er einen weiteren zeitlupenartigen Meter zurück. Ivy keuchte.

"Aber... aber..."

"Was aber? Soll ich etwa... Mitleid mit dir haben, wenn du hier vor einer anderen Strafe davonlaufen willst? Ich muss dich enttäuschen. Mitleid ist ein Gefühl, das ich überhaupt nicht kenne. Vielleicht hättest du dir einen anderen Zuschauer für dein kleines Selbstmordszenario hier aussuchen sollen. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich dein Mitleid für Tara und die anderen wohl auch eher in Grenzen gehalten hat."

"Na und?" Die blonde Frau stieß einen scharfen, misstönenden Laut aus, der nicht einmal im Mindesten dem höhnischen Lachen ähnelte, den er wohl hatte darstellen sollen. Ihre Lippen bebten wie die eines kleinen Kindes, das sich an einer vollkommen überfüllten Supermarktkasse mit der ganz und gar inakzeptablen Situation konfrontiert sah, ausnahmsweise einmal keine Süßigkeiten geschenkt zu bekommen. "Sie standen mir eben im Weg! Es war so widerlich, wie sie... wie sie alles getan haben, um den Preisrichtern zu gefallen! Kein Stil, kein Niveau, aber darum geht es hier ja offensichtlich auch gar nicht mehr. Sex sells, ja?! Was... was ist denn das für eine Gesellschaft?!?"

"Jetzt hör mir mal zu, mich interessiert das alles nicht. Warum du sie umgebracht hast, ist mir eigentlich genauso egal wie die Tatsache, dass du sie umgebracht hast. Die Sache ist nur leider so, dass ich beauftragt wurde, den so genannten Sweet Slaughter aufzuhalten, der auf diesem Wettbewerb hier sein Unwesen treibt. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du in den Tod springst, dann bist du genauso unschädlich gemacht wie hinter Gittern. Für mich macht das keinen Unterschied. Für dich wohl schon eher."

"Das tut es nicht!" Die Stimme der jungen Frau überschlug sich. "Es ist mir egal, ob ich tot bin! Es ist aus! Es ist alles aus!! Ich... ich wollte doch nur..." Ein leises, hilfloses Lachen drang über ihre Lippen, und mit einem Mal wich der eisige Hass in ihren Augen einer stummen, tiefen Verzweiflung. Das helle Grün begann zu flackern. "Weißt du, als ich noch ein Kind war, da habe ich immer die Models im Fernsehen angekuckt. Und sie waren so schön, so wunderschön. Und die Preise, die sie hatten, und die Kleider, alles hat geglitzert und jeder hat sie fotografiert. Dad hat mir doch immer gesagt, wie schön ich bin! Ich wollte doch nur gewinnen. Ich wollte, dass mein Name als letztes vorgelesen wird. Und dann... dann spielt immer diese Musik... und alle jubeln, jubeln nur für dich... nur für dich... das war mein Traum, hörst du? Er hat mir doch immer gesagt, wie schön ich bin..."

Ravin hatte in seinem halb erstarrten Tempo schon knapp mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sich Ivys bebender Körper mit einem Mal in Bewegung setzte. Es waren nicht mehr die hastigen, panischen Bewegungen, mit denen sie aus dem Aufzug gestürzt oder zu ihm herumgefahren war... sie waren nicht ruckartig, nicht abgehackt, nicht unnatürlich übersteigert... eigentlich hatten diese Bewegungen nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem Bild zu tun, das Ravin seit ihrer ersten schicksalhaften Begegnung von der jungen Frau gewonnen hatte. Und in dieser Fremdartigkeit lag etwas, das ihm unmissverständlich klar machte, dass jeder weitere Schritt überflüssig, jede Annäherung vergebens sein würde.

Irgendetwas lag in dieser plötzlichen, fließenden Veränderung, die vielleicht aber auch ganz einfach nur der letzte Fall der letzten Mauer gewesen war, die Ivy im Laufe ihres jungen Lebens so kunstvoll um sich errichtet hatte, das Ravins Körper lähmte, ihn mitten in der Schwebe zwischen zwei Schritten inne halten und stehen bleiben ließ, schweigend, die Augen wie durch eine unsichtbare Stahlkette an die Gestalt jener blonden Frau zwischen Mauer, Himmel und dem Wolkenkratzermeer Litonias kettete.

Diese setzte zunächst ihren linken Fuß auf die niedrige Mauer, drückte sich dann mit einer schnellen, spielerischen Bewegung in die Höhe und suchte mit ihrer zweiten nackten Fußsohle vorsichtig Halt auf dem rauen Mauerwerk. Dann hob sie langsam ihre Arme, breitete sie zu beiden Seiten ihres Körpers aus und machte vorsichtig zwei Schritte nach Rechts, und mit einem Mal wirkte sie fast so wie ein kleines Mädchen, das auf dem Weg zu ihrer Schule von der kindlichen Freude und der Lust am Leben übermannt auf einem Bordstein balancierte. Sie lächelte, aber obwohl es einmal mehr ein falsches, erzwungenes Lächeln war, lag nun anstatt der kalten, heuchlerischen Unschuld ein seltsamer Zug von Melancholie auf ihrem Gesicht.

"Ich hätte so gerne gewonnen..." flüsterte sie, und ihre Stimme wurde beinahe hinfort gerissen und verschluckt vom leisen Lied des Windes. Eine weitere Träne rollte über ihre Wange. Ivy hob die Hand, langsam und bedächtig, und wischte sie ab. "Was denkst du, Ravin? Meinst du, ich hätte eine Chance gehabt? Weißt du, ich bin froh... dass du es bist... dass du hier bist... du bist wunderschön, Ravin. Was ist denn nur geschehen, dass deine Augen so kalt geworden sind? Aber das ändert nichts, du bist perfekt. So wunderschön... ich wünsche dir, dass du gewinnst, Ravin. So ein wundervoller Pokal... glaubst du, dass ich es geschafft hätte?"

Sie schloss ihre grünen Augen, nur einen einzigen, kurzen Moment lang, bevor sie aufs neue und zum letzten Mal Ravins Blick mit dem ihren suchte. Wieder lächelte sie, und auf eine vollkommen absurde Art und Weise wirkte sie in diesem Moment fast schon ängstlich, schüchtern, mehr und mehr wie ein Kind im Körper eines vom Himmel herabgefallenen Engels.

"Was meinst du, Ravin... bin ich schön?"

Sie hatte kaum zuende gesprochen, als der Wind ganz plötzlich stärker wurde... oder vielleicht auch nur seine Richtung änderte, sodass Ravin ihn nun bewusster wahrnehmen konnte. Der Luftzug erfasste Ivys Kleid, ihr Haar, jedoch auf vollkommen andere Art und Weise wie noch wenige Minuten zuvor. Es war nicht mehr bloße, herrische Bewegung... es war mehr wie ein Spiel, ein leichtes, ausgelassenes Spiel, an dem sich mit einem Mal die gesamte Natur zu beteiligen schien.

Die Sonne, die ganz unbemerkt dem Horizont hinter der Skyline Litonias entgegengesunken war, verfing sich in jeder einzelnen Strähne von Ivys langem Haar, verwandelte die sanften Wellen in rötliches Gold, ließ sie fliegen und tanzen, schmiedete sie zu einem unvorstellbar wertvollen Rahmen für das hier und dort ganz, ganz leicht gerötete Porzellan ihres Gesichtes. Und dieses Gesicht war nun nicht mehr makellos, das Make up der Augen war ein wenig verlaufen, auf den Wangen und in den langen schwarzen Wimpern glänzten Spuren von Tränen... und trotzdem strahlte es, es strahlte auf eine ganz und gar unaufgeregte, sanfte Art und Weise, weich im Licht des Abendrots, das in weiter Ferne mit dem klaren Blau des Himmels verschwamm.

Vielleicht lag es an diesem Licht, vielleicht an der ungewohnten Perspektive oder auch daran, dass Ravins Augen vom Wind getrübt waren, doch mit einem Mal schien jeglicher Hass aus den Augen der jungen Frau gewichen zu sein. Sie lächelte, und ihre Augen lächelten mit, obwohl es ein trauriges Lächeln war... und das Grün war nun auch nicht mehr kalt, es glitzerte wie ein Edelstein, aber nicht mehr vor Hass, sondern... Ravin wusste es nicht. Er konnte die fast schon kindliche Emotion, die sich auf dem Gesicht der jungen Frau wiederspiegelte, weder lesen noch deuten, und trotzdem verstand er mit einem Mal, was ihn all die vergangenen Wochen über beschäftigt, irritiert und oft genug auch ganz gewaltig genervt hatte...

Als er Ivy auf dem schmalen Grat zwischen dem langsam erstrahlenden Grau der Hochhäuser und dem warmen Farbenspiel des Himmel balancieren sah, in dem schneeweißen Kleid, dem Spiel der rotgoldenen Haarsträhnen vor der sanft geröteten Haut ihrer makellosen Wangen... wie sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben lächelte, wirklich und wahrhaftig lächelte, die grünen Augen glänzend im sanften Nass ihrer Tränen, da begriff er mit einem Mal, was das Wort Schönheit wirklich bedeutete.

Und wie er so dastand, überwältigt und schockiert von dem Licht dieses plötzlichen Verstehens, da schien sein Körper die Gunst der Stunde und die merkwürdig lähmende Verwirrung ganz einfach auszunutzen, sich selbstständig zu machen - und zu nicken. Ravin nickte einfach, langsam und wortlos. Das war allerdings auch schon alles, was er noch an Bewegungen zustande bringen konnte, von einem seltenen Blinzeln hier und dort einmal abgesehen...

Er stand da und schwieg, während der tödliche Engel in dem weißen Gewand seine Augen schloss, den Kopf senkte und sich dann mit einem letzten befreiten Lächeln auf den Lippen ein weiteres Mal zur Erde fallen ließ, bis sein vollkommener Körper aus dem postkartengleichen Bildnis der abendlichen Großstadt verschwunden war.
 

"Ravin du bist toll! Du bist genial! Du bist großartig! Willst du mich heiraten?"

Es war ein kindliches, übermütiges Flackern, eine Art hysterisch-manisches Kichern, das jedem einzelnen von Ayas Worten anzuhaften schien - und das ihr auf eine ganz perfide Art und Weise eine äußerst beunruhigende Note verlieh, obwohl sie doch eigentlich nur Ausdruck von Anerkennung und Freude hatten sein sollen. Zugegeben - Ravin war nicht unbedingt ein Experte auf dem Gebiet von Anerkennung und Freude, doch selbst ihm entging nicht, dass da irgendetwas in Ayas Worten lag, etwas, das ihm beleibe nicht gefiel, das er aber ebenso wenig hätte benennen können.

Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass die strahlend helle Freude seiner Vorgesetzten nicht so recht zu dem finsteren Gesamtbild seiner momentanen Umgebung passen wollte.

"Aha", entgegnete er kurz und nichtssagend, ganz einfach deshalb, weil es ihm beim besten Willen nicht der Mühe wert erschien, sich auf Aya vollkommen überzogene Lobeshymne eine passende Antwort einfallen lassen zu müssen. Seine Augen vollführten eine reichlich entnervte Kreisbewegung, was Aya aber natürlich nicht sehen konnte, und so schien ihre gute Laune nicht im Mindesten getrübt, als sie erneut und in umso überschwänglicherer Redseligkeit das Wort ergriff.

"Ich meine... ich hab ja von Anfang an große Stücke auf dich gehalten. Man hat's vielleicht nicht immer so gemerkt, aber ich wusste einfach... du würdest es packen. Du würdest sie umhauen. Du würdest es mit jedem Gegner aufnehmen. Und was soll ich sagen? Du hast sie umgehauen! Und wie!"

"Aya, ich..."

"Nein - keine falsche Bescheidenheit! Du warst großartig!" Hätte Ravin auch nur den geringsten Funken Humor im Leibe gehabt, so wäre ihm spätestens bei diesen Worten die brennende und sicherlich auch nicht ganz unberechtigte Frage in den Sinn gekommen, ob Aya eigentlich wirklich meinte, was sie da eben ins Telefon trällerte, oder ob sie sich (vorsichtig ausgedrückt!) nur ganz einfach über ihn lustig machen wollte. Da dies nun aber leider nicht der Fall war, fragte er sich stattdessen, ob der jungen Frau innerhalb der letzten 24 Stunden eventuell der Verstand abhanden gekommen war - sprach diese Vermutung aber nicht aus. Denn trotz allem war und blieb Aya nun einmal seine Vorgesetzte.

Allerdings mit großem Abstand die seltsamste Vorgesetzte, die er jemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hatte.

"Großartig? Aya, ich weiß wirklich nicht, ob..."

"Ravin, vertrau mir. Weißt du... ich möchte ehrlich zu dir sein. Am Anfang hatte ich bedenken, ob du für diesen Auftrag hier der Richtige bist. Aber jetzt weiß ich, dass meine Entscheidung mehr als nur gut war. Du hast es wirklich toll gemacht, Ravin."

Ravin hielt sein tragbares Kommunikationsgerät ein Stück weit von seinem Gesicht weg, während sich ein tiefer, resignierter Seufzer über seine Lippen stahl. Natürlich konnte er Ayas Freude über den - zumindest von ihrem Standpunkt aus betrachtet - positiven Ausgang ihres ersten Falles verstehen. Ebenso die Erleichterung. Sie hatte eine große Verantwortung auf die eigenen Schultern geladen, war doch immerhin das Gelingen einer der größten und vor allem kostspieligsten Medienereignisse des gesamten Quadranten auf dem Spiel gestanden. Und nach den ersten Rück- und Fehlschlägen war es nun tatsächlich gelungen, dem Sweet Slaughter sein blutiges Handwerk zu legen. Nach eigener Aussage wollte Aya Venelle noch am nächsten Tag einen kleinen Überraschungsbesuch abstatten, ihm großmütig einen Drink spendieren und sämtliche Fakten bezüglich ihres streng geheimen und zu allem Überfluss auch noch erfolgreichen Planes genüsslich zwischen Cocktails und Aschenbechern auf dem gläsernen Tisch ausbreiten.

Sie hatte gesiegt. Hatte triumphiert. Und konnte jetzt die unwahrscheinlich süßen Früchte ihres Erfolges ernten, den Triumph, einem so großen, so mächtigen Mann (mit dem sie ja - wie gesagt - auf irgendeine mysteriöse Art und Weise schon einmal zu tun gehabt zu haben schien, aber über diese Sache wusste Ravin immer noch nichts genaueres zu sagen) auf eigene Faust und ohne dessen Hilfe, ja sogar ohne dessen Wissen aus einer schier aussichtslosen Situation geholfen zu haben. Und das Wissen um diesen Triumph, so schien es zumindest Ravin, war eigentlich das, was Aya mehr als alles andere glücklich und zufrieden stimmte. Mehr als jede Bezahlung, jedes noch so hohe Gehalt.

Und trotzdem wurde Ravin das leise, unbestimmte Gefühl nicht los, dass irgendetwas falsch war.

"Aya... du solltest dich vielleicht nicht zu früh freuen", sagte er, ohne weiter darauf zu achten, ob er seiner Chefin ins Wort fiel oder nicht. Tatsächlich hatte er ihrem Redefluss in den vergangenen Sekunden nicht einmal mehr die geringste Beachtung geschenkt, und so konnte er beim besten Willen nicht sagen, ob Aya zu Beginn seiner Rede nun geschwiegen oder gesprochen hatte.

"Zu früh?" echote die junge Wissenschaftlerin in hörbar irritiertem Tonfall. Zumindest schien sie seine letzten Worte verstanden zu haben, also ging Ravin kurzerhand davon aus, dass sie ohnehin auf eine Antwort von ihm gewartet hatte. Eine Antwort auf eine Frage, von der er nun wiederum nicht das Geringste hatte mitbekommen. Und die ihn eigentlich auch gar nicht weiter interessierte.

"Ja, zu früh. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas gefällt mir nicht an dieser Lösung."

"Das... verstehe ich nicht..." murmelte Aya, nun sogar noch ein wenig ratloser als zuvor. "Meinst du etwa... dass du es nicht verdient hast? Aber wieso denn? Du warst wirklich umwerfend, Ravin!"

"Dass ich es nicht... Aya, ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies hier wirklich unser Problem ist..." entgegnete Ravin, nun seinerseits dezent verwirrt von den doch recht rätselhaften Worten seiner ebenfalls äußerst rätselhaften Vorgesetzten. "Natürlich ist es gut, dass ich sie noch rechtzeitig vor Ende der Veranstaltung gefunden habe. Sonst hätten wir ja eventuell die Bezahlung gar nicht mehr bekommen. Das wäre sicherlich nicht in einem angemessenen Verhältnis im Vergleich zum Aufwand unserer Investigationen gestanden. Aber gerade deshalb wäre es nun falsch..."

"Ravin, wovon sprichst du eigentlich?"

"Ich bin mir selber nicht ganz sicher", antwortete der Weißhaarige und ließ seinen Blick über den Wald aus Metall und Schatten streifen, der ihn umfing. Es war kaum vorstellbar, dass hier, in der stockdunklen, vollkommen verlassenen Arena des Evershine Theater Utopia Buildings noch vor wenigen Stunden eine der größten Showereignisse vonstatten gegangen war, die seine mit rotem Samt bezogenen, schier endlosen Sitzreihen wohl jemals am eigenen, mehr oder minder gemütlichen Leibe hatten erfahren dürfen.

"Nimm es mir bitte nicht übel Ravin, aber den Eindruck habe ich auch. Sag bloß, dein Erfolg ist dir zu Kopf gestiegen?"

"Wieso?" Der junge Soldat legte auf überaus kritische Art und Weise seine Stirn in Falten, was Aya aber natürlich wieder einmal nicht sehen konnte. Dann strich er sich durch sein langes, offenes Haar und fuhr mit gewohnt emotionsloser Stimme fort zu sprechen. "Dies ist nicht der erste Auftrag, den ich erfolgreich beende. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob wir das eigentliche Ziel wirklich erreicht beziehungsweise die gesuchte Person wirklich schon gefunden haben. Irgendetwas ist nicht richtig daran."

"Was denn für eine Person?!" Langsam aber sicher mischte sich Verzweiflung in Ayas Stimme. "Ravin, ich kann dir nicht ganz fo... Moment mal. Du meinst den Sweet Slaughter?"

"Ähm - ja?" bestätigte Ravin, und die eben noch deutlich zu spürende Verwirrung seiner Vorgesetzten war nun voll und ganz auf seiner Seite.

"Ach so! Sag das doch gleich!" Wieder drang ein Lachen durch das kleine Kommunikationsgerät geradewegs an sein Ohr. "Ja, das hast du natürlich auch toll gemacht."

"Und was noch?"

"Na, ich rede vom Halbfinale! Ich... ich musste dich einfach gleich anrufen, du warst so unfassbar toll! Oooh, wie du in diesen Badesachen ausgesehen hast, das war einfach der Hammer! Haaaammer!!! Und dann dieser Fantasy-Look oder was das war, unglaublich! Du hast ausgesehn wie ein Prinz oder so, ach, ich kann mich immer noch nicht beruhigen! Du warst toll, toll, toll! Habe ich schon gesagt, dass du toll warst?!"

"Genau achtmal seit Beginn dieses Gespräches", erwiderte Ravin ungerührt. Und wunderte sich dabei selber, dass er Ayas Redefluss nicht schon viel früher unterbrochen hatte, war er doch eigentlich in eine Richtung gelenkt, die mit seinem wirklichen Anliegen nicht das Geringste zu tun hatte und ihn eigentlich nur wertvolle Minuten kostete, in denen sein Fehlen auf der gleichzeitig stattfindenden Aftershowparty hätte bemerkt werden können.

Vielleicht lag es ja ganz einfach daran, dass die Worte seiner jungen Chefin zumindest eine vage Erinnerung an den wieder einmal mehr als nur überwältigenden Adrenalinrausch in ihm wachriefen, der sein Bewusstsein in den vergangenen Stunden von jeglichem klaren Gedanken erfolgreich hatte abhalten können. Vielleicht war es das Strahlen in ihrer Stimme, das einen Hauch des Funkelns und Blitzens in die leeren, von nächtlichen Schatten durchtränkten Saal zurückzubringen schien. Vielleicht auch nur die (ihm übrigens immer noch unbegreifliche Tatsache), dass dieser Wettbewerb irgendetwas in ihm auszulösen schien, etwas, das seinen klaren Verstand ganz gewaltig störte und beeinträchtigte. Wahrscheinlich, schoss es ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf, war das Erste, was ihm nach Ende dieser ganzen Veranstaltung hier dringendst bevorstand, ein sehr langer, sehr gründlicher Arztbesuch.

Und zwar nicht bei Aya.

"Wow. Hab ich gar nicht bemerkt. Stimmt aber." Am anderen Ende der Leitung ertönte ein leises Geräusch, aus dem Ravin lesen konnte, dass seine junge Vorgesetzte zu Lächeln begonnen hatte. "Aber natürlich hast du Recht. Du siehst nicht nur umwerfend aus, kannst dich bewegen wie ein Profi und hast die Jury und das Publikum ganz offensichtlich wieder einmal umgehauen - du erledigst auch noch deine Arbeit, und zwar richtig gut. Ich hab die Leiche dieser... wie hieß sie doch gleich? So ein seltsamer Name..."

"Ivy", antwortete Ravin kurz und direkt.

"Richtig, Ivy. Ivy McAllison vom Allison Springs Konzern. Ihr Vater ist ein ziemlich hohes Tier. Nicht wirklich reich. Eher... stinkreich. Steinreich. Ganz unvorstellbar reich. Wie auch immer. Jetzt muss er sich wohl einen neuen Erben suchen." Aya atmete zwei-, vielleicht auch dreimal tief durch. Dann schluckte sie, räusperte sich und atmete sogar noch ein weiteres mal tief durch, ehe sie wieder das Wort ergriff. "Ich habe ihre Leiche bereits bekommen. Beziehungsweise das, was davon übrig geblieben ist. Nicht unbedingt viel, hätte aber noch schlimmer kommen können, wenn sie nicht geradewegs in ein offen stehendes Cabrio gestürzt wäre. Der Fahrer war zum Glück gerade nicht anwesend. Stand aber im Parkverbot. Mich würde ja schon irgendwie interessieren, ob er jetzt auch noch einen Strafzettel kriegt..."

"Ich habe sie nicht davon abhalten können", sagte Ravin, und seine Worte klangen weder bedauernd noch entschuldigend, mehr wie eine bloße, nüchterne Feststellung. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil sie zu keinem anderen Zweck gedacht worden waren. Der junge Weißhaarige hörte ein weiteres tiefes Schlucken am anderen Ende der Leitung, und da diesem Schlucken keine Antwort zu folgen schien, fuhr er eben seinerseits zu Sprechen fort. "Ich dachte erst, dass sie über die Feuerleiter fliehen wollte. Danach war sie schon am Rand des Daches. So oder so hat sich dieses Problem erledigt."

"Pro-Problem?"

"Ja, Problem. Der Mörder. Wir sollten ihn aufhalten, schon vergessen? Und wenn der Mörder tot ist, kann er schlecht möglich andere Menschen umbringen. Ich finde das logisch."

"Ja... ja, es ist auch logisch. Aber trotzdem... du sagst das so, als ob... ich meine... als ob's nix wär. Ich... ich hab ja erst schon befürchtet, du würdest nach dem ganzen unter Schock stehen oder so, aber..."

"Warum sollte ich?" fiel Ravin seiner Vorgesetzten in leicht desinteressiert anmutendem Tonfall ins Wort. "Es würde nichts ändern. Außerdem war sie eine Mörderin."

"Aber vollkommen kalt gelassen hat's dich auch nicht. Sonst würdest du ja jetzt nicht mehr darüber nachdenken. Und dass du das tust, hat mir unser kleines Missverständnis von vorhin sogar sehr deutlich bewiesen, also versuch erst gar nicht, zu leugnen..."

"Das ist etwas anderes", entgegnete der Weißhaarige - und wurde dann unfreiwillig unterbrochen, noch bevor er seinen Satz zuende bringen beziehungsweise wie geplant fortsetzen konnte. Denn obwohl er in der Dunkelheit seit jeher gut hatte sehen können, war er nun in einen Teil der Arena geraten, der das Wort Licht vollkommen fremd zu sein schien. Im Gegenteil - hinter dem tiefroten Vorhang, den er während seines gedanken- und ziellosen Spaziergangs in den Schatten des verlassenen Saales passiert hatte, schien die schwere, staubige Luft jegliche Andeutung von Helligkeit förmlich in sich aufzusaugen, um sie noch im Keim zu ersticken.

Es war hier nicht mehr finster. Es war schwarz.

Ravin fühlte etwas Hartes, Kaltes an seinem Fuß, verlor dann begleitet von einem dumpfen metallischen Geräusch sein Gleichgewicht und stolperte einige überaus unelegante Schritte nach vorne, geradewegs in die Mauer aus Schatten hinein. Er verdankte es mehr seinem Glück als seinen (trotz allem natürlich überragend gut geschulten!) Reflexen, dass er während dieser taumelnden Schlacht gegen den endgültigen Sturz nicht einfach gegen irgendein anderes Hindernis prallte oder gar einen plötzlich auftauchenden Abgrund hinabstürzte, um sich den Hals samt etlicher anderer Knochen zu brechen.

Mit leicht beschleunigtem Puls, ansonsten aber weitestgehend unbeschädigt kam Ravin schließlich wieder zum Stehen. Er nahm einige tiefe Züge der alles andere als erfrischenden Luft, blinzelte etliche Male, um seine Augen wenigstens ein kleines bisschen an die Dunkelheit zu gewöhnen und warf dann einen angespannten, argwöhnischen Blick über die Schulter zurück zu jenem Subjekt, das ihn so unsanft ins Schleudern gebracht hatte.

Es war ein Werkzeugkasten. Ein kleines, nun etwas schief dastehendes Viereck aus dunklem Metall, höchstwahrscheinlich Rot, angesichts des akuten Lichtmangels jedoch lediglich als finsterer, schwach schimmernder Fleck auszumachen. Ravin wandte seinen Blick von diesem wenig aufregenden, deswegen allerdings nicht weniger heimtückischen Hindernis ab und musterte so gut es eben ging seine Umgebung. Eine Umgebung, die ihm bislang völlig fremd und... fehl am Platze schien.
 

Er war in den Raum hinter der Bühne geraten. Allerdings nicht in die stilvollen, längst vom Blut ihres gefallenen Kontrahenten gereinigten Schmink- und Umkleideräumlichkeiten, in denen sich die Models ihre überaus knapp bemessene Zeit zwischen den Auftritten vertreiben mussten. Vielmehr hatte er sich geradewegs in das Herz des riesenhaften Gebäudes begeben, in die Schaltzentrale hinter allem Glamour, aller ohrenbetäubenden Musik, aller regenbogenfarbenen Lichteffekte, die den nicht in Worte zu fassenden Zauber, die einmalige Atmosphäre der gesamten Veranstaltung generierte und manipulierte.

Anders ausgedrückt: Ravin stand inmitten der so genannten Technik, einer Halle, die in ihren Ausmaßen denen der ETU-Arena durchaus gleichkam. Die allerdings ungleich gedrückter, zerstückelter, unübersichtlicher wirkte, ganz einfach deshalb, weil sie in erster Linie eines war: voll. Überall ragten Pfeiler aus dünnen metallischen Verstrebungen der Decke entgegen, welche man allerdings (ebenso wie sämtliche andere Begrenzungen des Raumes) nicht erkennen, ja nicht einmal erahnen konnte. Dies lag zum einen natürlich an der allgegenwärtigen Dunkelheit, zum anderen aber an einer wahrhaft labyrinthartigen Konstruktion aus schmalen, mit einem etwa konfettigroßen Lochmuster perforierten Metallplanken, die sich als regelrechtes Straßennetz gut drei Meter über seinem Kopf dahinzogen. Offensichtlich war dies der Weg, auf dem sich die Techniker, Pannenhelfer und auch Pyrotechniker schnell und unsichtbar bewegen konnten.

Dies war übrigens auch bitter nötig. Denn der Boden des riesenhaften Raumes war für so etwas wie Fortbewegung oder gar schnelle Fortbewegung in höchstem Maße ungeeignet. Denn vor allem anderen bestand er aus Kabeln, einzelnen Kabeln, gebündelten Kabeln, mit bunten Klebestreifen markierten Kabeln, sich verzweigenden Kabelsträngen... obwohl sich Ravins kalte Augen mittlerweile schon wieder einigermaßen an das Fehlen von Licht gewöhnt hatten, gestaltete sich der Weg durch die schwarzen Venen des ETU als ein alles andere als leicht zu vollbringendes Kunststück.

Dieses Kunststück, ebenso wie der gesamte bizarre Anblick der nächtlichen Schaltzentrale, fesselte Ravins Konzentration einige Momente lang mit derartiger Macht, dass er die Stimme, die mit wachsender Lautstärke an sein Ohr schallte, nahezu vergaß oder zumindest kaum mehr wahrnahm.

"Ravin? Ravin, was ist passiert? Was ist los mit dir? Bist du noch dran? Ravin, jetzt antworte doch! Antworte! Bitte!!"

Irgendetwas zerschnitt den fast schon tranceartigen Zustand, der kurzfristig von Ravins Sinnen Besitz ergriffen hatte, ließ ihn wie ein plötzlicher, überaus eindringlicher neuer Impuls auffahren, aufblicken - und auch aufhorchen. Die eisblauen Augen des jungen Soldaten glitten über die schwarze Szenerie, die ihn mittlerweile von allen Seiten umgab, das Wirrwarr aus herabhängenden Kabeln, tragenden Pfosten und merkwürdigen Apparaturen, deren mit Knöpfen und Hebeln übersäte Oberflächen in der Dunkelheit merkwürdig verformt und missgestaltet aussahen.

Hätte Ravin auch nur einen Deut mehr Fantasie besessen, als er es nun einmal tat, dann hätte er wahrscheinlich noch in derselben Sekunde auf dem Absatz kehrt gemacht, um verstört und verängstigt in die beruhigende Sicherheit menschlicher Gesellschaft zurückzulaufen. Aber natürlich tat er es nicht, ging stattdessen langsam und vorsichtig weiter voran, tauchte tiefer ein in den momentan außer Betrieb gesetzten Herzschrittmacher ihrer ganzen überzogenen Veranstaltung ein - immerhin fand er hier genau das, was er ursprünglich gesucht, was ihn in die einsam verlassene ETU-Arena zurückgetrieben hatte: seine Ruhe.

"Ja, ich bin noch dran, Aya", antwortete er schließlich auf die immer dringlicheren Aufforderungen seiner Vorgesetzten. Ein leises Echo folgte seinen Worten, mehr ein Nachhall, den Ravin der staubig schweren Luft eigentlich gar nicht zugetraut hatte. Vielmehr schien es, als wäre sie dazu imstande, jegliches Geräusch ebenso zu verschlucken wie das Halblicht, das noch im Zuschauerraum ihres Veranstaltungssaales geherrscht hatte. Offensichtlich ein Irrtum.

"Was war denn los? Du hast plötzlich nichts mehr gesagt!"

"Ich weiß." Ravin konnte sich ein weiteres Augenrollen nicht verkneifen. "Es ist nicht passiert. Ich bin nur gestolpert."

"Gestolpert? Worüber denn?" Am anderen Ende der Leitung erklang ein etwas blechern wiedergegebenes, deswegen aber nicht weniger missglücktes Lachen. "Über eine Leiche?"

"Nein, über einen Werkzeugkasten", verbesserte Ravin und enthielt sich schon mangels jeglicher Motivation in dieser Richtung eines Kommentars bezüglich Ayas reichlich misslungenem Versuch, einen Witz zu machen. Der selbstverständlich nicht lustig gewesen war. Und es auch dann nicht gewesen wäre, wenn Ravin sich überhaupt jemals zuvor in der Lage gefunden hätte, über gleich welchen Witz lachen zu können.

"Warum stolperst du über einen Werkzeugkasten?" hakte Aya in hörbar verwirrtem Tonfall nach.

"Weil es dunkel ist?"

"Weil es... nein, so habe ich das doch nicht gemeint! Bist du nicht auf deinem Zimmer? Was machst du eigentlich grade? Es ist so still bei dir..."

"Natürlich ist es still", erwiderte Ravin. "Um das Gebäude herum sind überall Reporter. Einige davon sogar genehmigterweise. Oben im Hotel ist eine dieser Partys. Da kann ich nicht ungestört reden. Und mein Zimmer ist belegt. Von meinem Zimmerpartner. Und einem der weiblichen Models."

"Verstehe..." murmelte Aya, und ihre Stimme klang mit einem Male wieder ehrlich erheitert. "Und wo bist du dann? Ich meine, wenn nicht im Freien, wenn nicht im Hotel, wo immer diese Partys sind, wenn nicht auf deinem Zimmer..."

"Ich bin in dem Raum mit der ganzen Technik. Unten, in der ETU-Arena. Da ist jetzt natürlich kein Mensch mehr. Wir brauchen also zumindest nicht zu befürchten, dass man dieses Gespräch belauscht."

"Gibt es denn einen Grund, das zu befürchten?" fragte die Wissenschaftlerin und lenkte das Gespräch so endlich wieder auf den Weg zurück, den Ravin an und für sich schon seit ihrem ersten Wortwechsel angestrebt hatte.

"Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich habe das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Ich meine, bezüglich dieser Morde."

"Aber wieso denn?" Ravin meinte, in Ayas Stimme einen ganz leichten Hauch von Unwilligkeit, ja fast schon Trotz erkennen zu können. Eine Reaktion, die ihn durchaus nicht überraschte, stand sie doch im direkten Gegensatz zu dem ausgelassenen Ausdruck sicher geglaubten Triumphs, der ihm noch zu Beginn ihres Gespräches aus dem kleinen Portable Transmitter entgegengestrahlt hatte. Und irgendetwas an diesem angedeuteten Stimmungswandel machte Ravin unmissverständlich klar, dass Aya eigentlich gar nicht wirklich wissen wollte, welchen Fehler Ravin denn nun begangen haben mochte.

Was diesen allerdings - wieder einmal - herzlich wenig interessierte.

"Irgendetwas stimmt nicht", fuhr er ohne jede Rücksicht auf die bislang noch äußerst gute Laune seiner jungen Chefin fort. Diese antwortete prompt mit einem unwilligen Grummeln.

"Das sagtest du bereits", murmelte sie auf mittlerweile reichlich ungeduldige Art und Weise in ihren Telefonhörer. "Aber so ganz langsam erwacht in mir dann doch die Frage, was genau es denn eigentlich sein soll, das da an der ganzen Sache aus irgendwelchen Gründen... nicht stimmt?!"

"Das Schema des Täters", antwortete Ravin und wich mit einem lautlosen Schritt einer großen, glanzlos grauen Kabelrolle aus, die sich nahezu unsichtbar in die Schatten eines metallenen Stützpfosten gedrängt hatte. Nur um auf irgendeinen kleinen, im fehlenden Licht tatsächlich nicht zu erkennenden Gegenstand zu treten, der sich mit erschrockenem Klappern und einem reichlich misslungenen Hechtsprung in die Finsternis des Raumes zu retten versuchte. Der Weißhaarige zuckte kurz zusammen, rief sich allerdings schon im nächsten Augenblick erfolgreich wieder zur Ruhe und ließ sich stattdessen in die Knie sinken, um den feigen Unruhestifter etwas näher unter die Lupe nehmen zu können.

"Was für ein Schema?" erkundigte sich eine ebenfalls nicht unbedingt zur allgemeinen Ruhe beitragende Stimme aus dem kleinen Plastikgerät an seinem Ohr und ließ den jungen Soldaten einige Sekunden lang inne halten. "Bist du jetzt unter die Profiler gegangen oder was ist los mit dir, Ravin?"

"Es passt nicht", antwortete er kurz, ohne dem letzten Teil von Ayas Worten auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Diese war mittlerweile aber sowieso mehr auf das dünne, mit silbernen Ornamenten verzierte Gebilde aus glänzend schwarzem Plastik gerichtet, das klein und unschuldig in seiner linken Hand ruhte. Noch bevor er den Silberdeckel mit einem leisen Klicken zurückschnappen ließ, begriff Ravin, dass es sich um ein Feuerzeug handeln musste - und zwar um ein nicht unbedingt billiges Modell. Jedenfalls keines von der Sorte, das man als Dreierpack im Supermarkt erstehen und gute zwei Wochen später schon wieder in die nächste Mülltonne oder Straßenecke werfen konnte.

"Was soll das heißen, es passt nicht? Was passt nicht? Und wozu passt was nicht?" Ein verzweifelter Seufzer durchdrang die staubig warme Stille des Technikraumes. "Ravin, du sprichst in Rätseln!"

"Im Regelfall hat jeder Mörder ein Motiv, oder?"

"Ausnahmen bestätigen zwar auch hier die Regel, aber egal... lassen wir das." Am anderen Ende der Leitung folgte eine kurze Pause, und es kostete Ravin nicht einmal mehr einen großen Aufwand an Fantasie, um seine Vorgesetzte zur stummen, wenn auch überflüssigen Antwort vor seinem inneren Auge nicken zu sehen. "Motiv und Gelegenheit, so heißt es doch immer. Aber ist denn das so schwer in dem Fall? Diese Ivy schien mir ziemlich besessen davon zu sein, den Wettbewerb gewinnen zu müssen..."

"Aber der Sweet Slaughter war... ist von Schönheit besessen."

"Na und? Da lässt sich doch der eine oder andere Querverweis ziehen, oder?" Aya seufzte erneut, diesmal klang es allerdings schon weitaus beherrschter als noch wenige Augenblicke zuvor. Als sie weitersprach, lag eine Sachlichkeit in ihrer Stimme, die bei der jungen Wissenschaftlerin beinahe schon... unpassend erschien. "Jetzt hör mal zu, Ravin. Ich habe D ins Maze geschickt, dass er dort ein paar Informationen über diese Mrs. McAllison suchen soll. Hat er übrigens auch gemacht. Und wenn man gewissen Gerüchten glauben schenken kann, lief da in ihrer hübschen kleinen Familie einiges nicht so, wie die schöne, nach Geld und Kreditkarten stinkende Fassade es einem vielleicht Glauben machen sollte."

"Soll heißen...?" erkundigte sich Ravin ohne wirkliches Interesse.

"Ganz einfach: Ihr wohlhabendes Väterchen muss ganz schön Dreck am Stecken haben. Stand zweimal wegen dem Verdacht auf Kindesmissbrauch vor Gericht. Hat sich zweimal erfolgreich freikaufen können. Und es heißt, dass er auch vor seinem eigen Fleisch und Blut nicht halt gemacht haben soll..."

"Du meinst..."

"Genau das meine ich. Was natürlich niemals bewiesen werden konnte. Aber die kleine Ivy soll schon immer etwas... wie soll man sagen... seltsam gewesen sein. Es heißt, dass sie ihren Highschool-Abschluss mehr auf dem Schreibtisch des Direx als über ihren eigenen Schulbüchern erarbeitet haben soll. Was aber auch - wie sollte es anders sein? - niemals bewiesen werden konnte. Oh, aber zumindest den Mord an Tara Melvin können wir ihr mittlerweile eindeutig nachweisen."

"Ich habe nie bestritten, dass sie diesen Mord begangen hat. Ebenso wenig den an Chastity Kramer. Aber..." Er stockte und sprach nicht aus, was ihm eben noch auf der Zunge gelegen hatte.

Aber wir müssen den Mord an Chastity Kramer vorerst einmal vollkommen aus unseren Gedanken streichen, wenn wir den Sweet Slaughter zur Strecke bringen wollen.

Ravin hatte die Worte des merkwürdigen Journalisten nicht vergessen. Ebenso wenig wie den Deal, den er mit dem Empathen geschlossen hatte - und der bestimmt zu allem, nur nicht für die Ohren seiner Vorgesetzten bestimmt war. Erstens verspürte der junge Weißhaarige nicht auch nur den geringsten Hauch von Lust, der Wissenschaftlerin diese neuen Umstände erklären zu müssen, zweitens ahnte er, dass für einen erfolgreichen, längerfristigen Handel mit Rafferty vor allem gegenseitige Verschwiegenheit von Nöten sein würde, ebenso wie die Fähigkeit, zu gleich welchen Ungereimtheiten keine Fragen zu stellen.

Beides waren Eigenschaften, die Ravin seiner jungen Chefin auf gar keinen Fall zutraute.

"Aber - was?!" hakte diese beinahe augenblicklich nach und bewies dem Weißhaarigen so wieder einmal auf äußerst eindringliche Art und Weise, dass sie schlicht und einfach nicht dazu imstande war, überhaupt irgendwelche Ungereimtheiten kommentarlos hinnehmen zu können.

"Aber ich habe auf dem Dach noch mit ihr sprechen können", brachte er seinen Satz stattdessen zu Ende.

"Du hast noch mit ihr sprechen können?" fügte Aya einmal mehr in gewohnt kritisch-analysierendem Tonfall hinzu und bekräftigte Ravin so bereits zum zweiten Mal binnen weniger Sekunden darin, über gewisse Angelegenheiten auch in Zukunft lieber Schweigen zu wahren. "Ich dachte, sie wäre plötzlich am Rand des Daches gewesen und gesprungen?"

"Sie hat sich rückwärts fallen gelassen", verbesserte er. "Und sie stand schon auf dem Dachsims, als ich mich ihr genähert habe. Hätte ich mich beeilt, wäre sie schon früher gesprungen."

"Jetzt ist es sowieso egal. Sag lieber, was hast du noch mit ihr besprochen, das dich so plötzlich an deinen hieb- und stichfesten Untersuchungsergebnissen zweifeln lässt?"

"Eigentlich hast du es doch selber schon gesagt", antwortete der junge Weißhaarige. "Sie war besessen davon, den Wettbewerb zu gewinnen. Und auf den ersten Blick ist das auch ein plausibles Motiv, Morde zu begehen. Aber in unserem Fall zeigen sich da deutliche Unstimmigkeiten."

"Und was für Unstimmigkeiten sollen das bitte sein? Ich weiß nicht, ob es dir Spaß macht, stundenlang um den heißen Brei herumzureden, aber... warte mal..."

Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille im dichten Netz der Schatten, das Ravin umfing. Er ließ einen weiteren prüfenden Blick über das Feuerzeug gleiten, das stumm und kühl in seiner Handinnenfläche ruhte, ganz einfach deshalb, weil angesichts der monotonen Dunkelheit seiner näheren Umgebung auch nicht sonderlich viele andere Dinge geblieben wären, die zu betrachten gelohnte hätte. Doch schon eine Sekunde später meinte er, ein äußerst wattstarkes Licht aufgehen zu sehen, allerdings nicht im verlassenen Technikraum, sondern just am anderen Ende der Telefonverbindung.

"Wie blöd bin ich eigentlich?!" ächzte es im Lautsprecher des Portable Transmitters und Ravin zog es vor, diese Frage lieber unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. "Natürlich passt das nicht, hinten und vorne passt das nicht! Wenn diese Ivy unbedingt gewinnen will und dafür sogar im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht..."

"...warum tötet sie dann ausgerechnet diesen Sean und einen weiteren jungen Mann, obwohl weder der eine noch der andere Konkurrenz für sie dargestellt hätte?" führte Ravin den Gedanken der jungen Wissenschaftlerin an deren Stelle zu Ende. "Das ergibt keinen Sinn. Außerdem kommt hinzu, dass die Morde auf vollkommen andere Weise ausgeführt wurden als die übrigen."

"Das stimmt allerdings!" Aya stieß geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen hervor. "Wenn wir uns wirklich mal an diese ganze Geschichte von wegen... Mord aus Schönheit halten wollen - und soweit ich dich richtig verstanden habe, wollen wir das -, dann passen die Morde wirklich nicht zusammen. Ich zumindest kann nicht unbedingt was Ästhetisches daran finden, jemanden von einem herabfallenden Scheinwerfer zermatschen zu lassen. Gut, ich finde auch abgezogene Gesichter und blutige Stahlkabel nur ganz bedingt... ähm... schön, aber auf so eine verdrehte Art und Weise passt es eben doch alles gut ins Bild."

"Eigentlich deutet alles darauf hin, dass es noch einen zweiten Täter gibt", sprach Ravin endlich aus, was er die ganze Zeit über hatte andeuten wollen. "Es ist... purer Zufall, dass die Morde an Tara und Chastity mit den Morden des echten Sweet Slaughter auf ein und dieselbe Veranstaltung fallen."

"Oder die übrigen Morde waren nur eine Art... Tarnung... oder Ablenkungsmanöver."

"Bliebe wieder die Frage nach dem... Schema." Aus irgendeinem Grund missfiel es dem jungen Weißhaarigen, dass er mittlerweile schon ganz automatisch in den Bahnen dachte, ja sogar die Wörter und Ausdrücke verwendete, die Rafferty ihm an jenem Abend ihrer ersten Begegnung vordiktiert hatte. Aber Ravins praktischer Verstand war nun einmal größer als jeder falsche Stolz, der ihn an der Beschreitung vorgegebener Wege verhindert hätten, zumal ihre Richtung mehr als jede andere dem eigentlich Ziel entgegenzuführen schien. "Die Möglichkeit besteht zwar, aber sie ist nicht sonderlich wahrscheinlich."

"Das denke ich eigentlich auch", stimmte Aya in nachdenklichem Tonfall zu, dessen sachliche Kühle jedoch immer noch nicht ganz den Schleier der Enttäuschung verbergen konnte, der sich über die heitere Stimme der jungen Wissenschaftlerin gelegt hatte wie eine einzige Regenwolke an einem sonnigen Nachmittag. "Leider. Aber du hast natürlich recht. Es könnte unter Umständen ein klein wenig problematisch werden, wenn ich morgen früh voll Stolz und Hohn in Venelles Zuhälterbude spaziere und ihm mit Siegesfanfaren meinen Triumph verkünde, nur um dann wenige Stunden später einer weiteren Leiche ins hautlose Gesicht blicken zu müssen."

Sie seufzte noch einmal (tiefer, resignierter noch als zuvor) und ein leises Atemholen verriet Ravin, dass sie wohl gerade zu einem weiteren niedergeschlagenen Monolog ansetzen wollte, als ihr mit einem Mal ein merkwürdiges Geräusch ins Wort fiel, das Ravin durch den Lautsprecher seines Transmitters hinweg nur als leises, wenig aussagekräftiges Surren ausmachen konnte.

"Oh, warte mal", hörte er die Wissenschaftlerin rufen, wobei er sich nicht ganz sicher war, ob die Worte ihm oder dem unbekannten (und höchst wahrscheinlich menschlichen) Wesen gegolten hatten, das jenes undefinierbare Geräusch verursachte hatte, in jedem Fall ließen sie ihn ganz instinktiv in der Bewegung verharren und stehen bleiben.

Eine Reaktion, die ihm mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben rettete.

Er begriff es nicht sofort, eigentlich sogar erst viel später, als der nadelfeine, kurz im gelblich weißen Neonlicht des Portable Transmitter-Displays aufblitzende Gegenstand schon längst an ihm vorbeigesurrt war, gute fünf Zentimeter von jener Stelle entfernt, an der sich nach den Gesetzen der Motorik sein Hals hätte befinden müssen, wäre er nicht unvermittelt zum Stillstand gekommen.

"Nicht auflegen, ja?" säuselte es auf leicht gehetzt anmutende Art und Weise in sein Ohr. "Ich bin sofort wieder da, Ravin."

Dann ertönte ein leises Klacken am anderen Ende der Leitung, gefolgt von einem seltsamen Rauschen, das sich nur mit viel Fantasie als weit entferntes Stimmengewirr ausmachen ließ.

Irgendwo in der Dunkelheit ertönten Schritte.

"Aya?" stieß Ravin mit flacher, möglichst leiser und dabei doch deutlicher Stimme in den Lautsprecher des kleinen Kommunikationsgerätes, wartete aber vergebens auf eine Antwort. Natürlich. Was erwartete er auch? Seine Vorgesetzte hatte den Hörer ganz offensichtlich beiseite gelegt, und die verschwommene Undeutlichkeit der Unterhaltung, die sie in nicht unbedingt leisem Tonfall zu führen schien, sprach Bände von der tatsächlichen Entfernung, die sie mittlerweile zu ihrer Telefonanlage gewonnen hatte.

Alles in allem keine gute Vorraussetzung, um sich Gehör zu verschaffen, und das wurde auch Ravin nur allzu schnell bewusst. So verzichtete er kurzerhand darauf, weitere kostbare Sekunden zu verschenken, in denen er orientierungs- und deckungslos in der Dunkelheit verharrte, nahm eine leicht geduckte Stellung ein und bewegte sich mit raschen, aber möglichst lautlosen Schritten auf einen nahe gelegenen, größeren Gegenstand zu, den er mit viel Mühe und gutem Willem als Schaltpult ausmachen konnte. Seine Oberfläche war rau, wie von quadratischen, unregelmäßig gezackten Pocken übersäht, die er im Näherkommen als eine ganze Armee von Schaltern und Knöpfen ausmachen konnte.

Er duckte sich hinter das sperrige schwarze Gestell und erfasste kurz und präzise seine Umgebung. Oder zumindest das, was sich angesichts der allgegenwärtigen Dunkelheit überhaupt noch davon erkennen ließ. Das war in erster Linie das Netz aus Stahlträgern, das sich in seinem schwachen metallischen Glanz deutlich von der konturlosen Schwärze der darüber liegenden Decke abhob und ein überaus hässliches Muster abgehackter, asymmetrischer Zacken in die nächtliche Finsternis riss. Ab und an war das durchstoßene Silber von schlingpflanzenartigen Kabelgeschwülsten befallen, die zusammen mit der bestenfalls zu erahnenden Landschaft aus missgeformten, schwebenden Straßen, nackten Metallpfeilern und einer dumpfen Skyline undefinierbarer Bauten und Auftürmungen mehr dem ewig nächtlichen Bild einer apokalyptischen Großstadt denn einem simplen Technikraum glichen.

Einem simplen, großen und vor allem ganz verflucht unübersichtlichen Technikraum, wie Ravin nur allzu bald feststellen musste.

Was er nicht sah, war auch nur die geringste Spur menschlichen Lebens - oder sonst irgendetwas, das Motiv und Gelegenheit dazu gehabt hätte, mit irgendwelchen surrenden, silbern blitzenden Gegenständen auf ihn zu schießen. Und trotzdem wusste er, dass er sich den rasenden Reflex nicht einfach nur eingebildet hatte. Ebenso wenig wie die verhaltenen Schritte, die er auch jetzt noch leise und ohne ihre Richtung ausmachen zu können wahrzunehmen glaubte...

Oder huschte da nicht ein Schatten über das kleine Lochmuster der Metallplatten, geradewegs über seinem Kopf?

Ravin hatte nicht vor, lange genug zu warten, um es am eigenen Leibe erfahren zu können. Er spannte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an, ging wieder in seine halb geduckte, aber immer noch äußerst bewegliche Körperhaltung über und drückte sich dann mit einem lautlosen Stoß von der pechschwarzen Wand ab. Er eilte um einen der Stahlträger herum, stets bemüht, ein möglichst dichtes Netz an Kabeln in seinem Rücken zu halten, das dem unsichtbaren Schützen das Zielen so weit wie nur irgend möglich erschweren sollte. Was diesen allerdings herzlich wenig interessierte, denn schon im nächsten Augenblick zerschnitt ein erneutes Surren die warme, schwere Nachtluft, und diesmal erschien es Ravin sogar noch ein bisschen näher als zuvor.

Trotzdem zwang er sich dazu, in seinen Bewegungen inne zu halten, um erst einmal nach jener Orientierung Ausschau zu halten, die er schon vor etlichen Minuten irgendwo in der Finsternis verloren hatte. Seine kalten Augen glitten durch die Alptraumlandschaft aus Schatten und missgebildeten, sinnlosen Konturen, doch jede Richtung schien wie die andere, frei von jeglicher verräterischer Spur, die den Eindruck eines Texturwechsels von Wand zu Vorhang angedeutet hätte - ja, wenn man es genau nahm, sogar frei von überhaupt irgendeinem Wechsel oder sonst etwas, anhand dessen er sich hätte zurechtfinden können.

Mit einem tiefen, lautlosen Atemzug warf Ravin den Gedanken einer planvollen Flucht kurzerhand über Bord und beschloss stattdessen, sich voll und ganz auf seine scharfen Sinne und jene merkwürdige Macht mit Namen Zufall zu verlassen. Wobei Ravin selbst überhaupt nicht an so etwas wie Zufall glauben konnte, war es doch nichts weiteres als ein krampfhaft mystifizierendes Wort, das die Menschheit der natürlichsten Sache der Welt zugedacht hatte: dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Jemand handelte und löste dadurch eine Reaktion aus, die seinem Handeln in logischem Maße entsprach. Da gab es keine höheren Mächte, kein übersinnliches Karma, kein Schicksal aber eben auch keinen Zufall.

Was geschah und warum es geschah, war nichts anderes als eine Kette von Vorgängen, von Milliarden kleinen Faktoren, die auf komplexeste Art und Weise zusammenspielten, und von deren Ergebnissen, die dann wiederum neue Prozesse in Gang setzten. Eines dieser unzähligen Zahnrädchen war er - ein anderes der Schatten, der sich nun deutlich langsamer über seinen Kopf hinwegbewegte, suchend, lauernd... Jäger und Gejagter, nur dass Ravin an diesem Abend seine gewohnte Rolle aufgeben und sich als Opfer durch die immerwährenden Triebfedern kämpfen musste, die das Leben in Gang hielten, es lenkten und hier und dort auch zum Stillstand brachten.

Von besagtem Stillstand war Ravin allerdings momentan noch meilenweit entfernt, auch wenn er sich so langsam, nahezu schleppend bewegte, als ob der Film seines Daseins in Zeitlupe geraten wäre, aus der er sich nun nicht mehr zu befreien wusste. Umso schneller ging jedoch sein Atem, ebenso wie der Schlag seines Herzens, der mit einem dröhnenden Vibrato in seinen eigenen Ohren widerhallte und ihm das Lauschen so auf unangenehme Art und Weise erschwerte. Dabei war es Ravin an und für sich überhaupt nicht gewohnt, Angst zu haben. Das Gefühl war ihm natürlich nicht fremd - die bloße Tatsache, am Leben zu sein, bedingte ja eigentlich schon, Angst verspüren zu können -, aber es hatte auf eine Art und Weise Überhand gewonnen, wie sie Ravin zutiefst beunruhigte, fast noch mehr als das Faktum, dass er fast blind und orientierungslos durch ein Meer aus Dunkelheit irrte.

Und den Sweet Slaughter sozusagen im Nacken sitzen hatte.

Denn dass es sich bei seinem Verfolger um keinen anderen handeln konnte, das war Ravin ebenso klar wie die äußerst unangenehmen Vorteile, die sein Jäger ihm voraus hatte. Da war natürlich einmal die Sache mit der Perspektive, oder anders ausgedrückt: Der Schlachter war über ihm, konnte auf ihn hinabblicken, hatte Übersicht (so weit man in der triefenden Finsternis überhaupt von so etwas wie Sicht sprechen konnte) und ein weit besseres Auge auf die Gesamtsituation. Und schien sich im Gegensatz zu Ravin auch nicht in der überaus misslichen Lage zu befinden, sich mit schneeweißen Haaren und fast ebenso heller Haut in einer Umgebung verbergen zu müssen, die eigentlich nur aus Schwarz zu bestehen schien.

Der junge Soldat wusste, dass er im Einheitsdunkel seiner Umgebung tatsächlich so etwas wie eine wandelnde Zielscheibe darstellte, während sich sein ungleicher Gegner sogar ganz ausgezeichnet zu verbergen wusste. Ab und an hörte er ein leises, aber wenig aussagekräftiges Rascheln, nahm einen Schatten wahr, und mühte sich, stets eine zu diesem Geräusch entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Der Kabelwald zu seinen Füßen machte die Sache nicht unbedingt einfacher, und so artete seine schleichende Flucht in einen absurden Balanceakt aus, der unter jeden anderen Umständen wahrscheinlich furchtbar lächerlich ausgesehen hätte.

Vorausgesetzt, man hätte überhaupt irgendetwas sehen können.

Was leider immer noch nur in nur äußerst begrenztem Maße der Fall war, so sehr Ravin seine Sinne auch anzustrengen versuchte. Er mühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen, einige Augenblicke sogar ganz verstummen zu lassen, und lauschte in die Dunkelheit hinein. Nichts. Dann ein leises Klappern von Rechts. Vielleicht Schuhe auf Metall. Vielleicht auch nur tückisches Trugbild seiner überreizten Wahrnehmung. In jedem Fall mehr, als er von jeder anderen Seite hätte erkennen können.

Ein Schritt nach Links, langsam, tastend, dann ein weiterer. Irgendetwas Weiches war unter der Sohle von Ravins Stiefeln, wurde prompt vom Gewicht seines Körpers zerquetscht und gab ein plastikartiges Knistern von sich. Eine Tüte? Eine Folie? Der Weißhaarige konnte es beim besten Willen nicht sagen, bemühte sich aber anschließend um einen noch vorsichtigeren Schritt, um die unerwartete Geräuschquelle nicht noch weiter zu strapazieren. Seine Hände waren prüfend vor den Körper ausgestreckt, suchten nach Hindernissen, nach Begrenzungen... nach dem rettenden Ausgang aus der Nacht, die ihn umfing...

Und stießen dann unvermittelt gegen etwas Hartes, Kaltes. Ravin fuhr prüfend mit seinen Fingerkuppen nach allen Seiten, konnte aber kein Ende der offensichtlich pechschwarzen Barriere ausmachen und stufte sie so kurzerhand als Wand ein. Dies konnte allerdings vieles bedeuten. Zum Beispiel eine erlösende Nähe zu dem Vorhang, der ihn überhaupt erst in diese missliche Lage geführt hatte. Oder die größtmögliche Entfernung zu selbigem Punkt der gigantischen Arena, nämlich die ihm exakt gegenüberliegende Mauer.

Ravin atmete tief durch und besann sich zur Ruhe. Vorhang hin oder her - auf jeden Fall hatte er eine Zimmerwand vor sich. Und Wände besaßen im Allgemeinen Türen. Die verschlossen sein konnten. Die aber zumindest schon einmal einen guten Ansatz boten, aus der pechschwarzen Hölle entkommen zu können, in die er sich höchstpersönlich manövriert hatte. So tastete sich der Weißhaarige langsam und vorsichtig an der glatten, im Vergleich zur Luft sogar angenehm kühlen Fläche entlang, suchte nach Unebenheiten, nach Metall, eben nach irgendetwas, das auf einen Ausgang gleich welcher Art hinweisen konnte.
 

Ein sicherlich gut durchdachter Schritt, der aber nach jenem uralten Gesetz von Ursache und Wirkung erstmals in eine vollkommen falsche Richtung führte.

Das sollte auch der junge Soldat schon sehr bald begreifen - allerdings auf eine Art und Weise, die er lieber gar nicht hatte kennen lernen wollen. Leider schien das seinen unsichtbaren Jäger herzlich wenig zu interessieren, denn dieser war mit einem Mal genau über ihm. Ravin sah seinen Schatten, er sah ihn sogar noch Sekundenbruchteile, bevor der rasende Schmerz in seinem Bein aufflammte, der ihn einen Augenblick lang im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie zwang. Doch dieses Erkennen nutzte ihm herzlich wenig, denn schon im nächsten Moment wurde sein ganzer Verstand, seine Konzentration, seine bis zum zerreißen gespannte Wahrnehmungsfähigkeit ergriffen und entflammt von einem wahren Sturm aus Flammen, der ihm wenige Sekunden lang die Luft zum Atmen raubte.

Er merkte kaum, wie er vornüber kippte, wie er hart auf dem Boden des Technikraumes aufschlug und sich zu allem Überfluss auch noch ein verhältnismäßig dünnes, dafür aber freundlicherweise noch von einer überaus scharfkantigen Plastikdichtung umschlossenes Kabel mitten in sein Knie bohrte. Der dumpfe Schmerz des Aufpralls wurde förmlich verschluckt von dem wahrhaft brutalen Stechen, das sich ihm wie eine ganze Armada glühender Dolchklingen in den Oberschenkel rammte. Es kostete Ravin unendlich viel Kraft und beinahe noch mehr Überwindung, den Blick zu senken, um den Herd dieser hinterhältigen Attacken zu analysieren, und im ersten Moment konnte er ohnehin nichts erkennen, da die plötzliche Bewegung ein derart hysterisches Flimmern vor seinen Augen wachgerufen hatte, dass ihn beinahe endgültig der Schwindel übermannte.

Ravin blinzelte tapfer und nahm schließlich einen erstaunlich kleinen, schneeweißen Gegenstand wahr, der aus dem schwarzen Stoff seiner Hose hervorragte. Er streckte seine Hand danach aus, schloss sie um das weiche Ende geheimnisvollen Schmerzensbringers und zog daran - eine Aktion, die er noch im selben Augenblick aus tiefstem Herzen bereute. Denn wenn schon das Eindringen des Geschosses schmerzhaft gewesen war, so war sein Entfernen nur noch mit dem Wort unerträglich zu beschreiben. Einen Moment lang rechnete der junge Soldat allen Ernstes damit, sein Bein schlicht und einfach explodieren sehen zu müssen und er sackte unweigerlich weiter in sich zusammen, unfähig, sein Gewicht noch länger mit den Armen abstützen zu können. Ein Zittern lief durch seine Muskeln, so heftig wie bei einem todbringenden Fieberschub, und für den Zeitraum einiger Sekunden musste er nicht nur beinahe, sondern tatsächlich das Bewusstsein verloren haben, denn als er langsam wieder zu Sinnen kam, da lag er auf dem Rücken, die Arme fest um den Körper geschlungen.

Von dem Schmerz war nicht mehr viel übrig geblieben.

Die Erkenntnis irritierte Ravin so sehr, dass er sich im ersten Augenblick sogar noch ungleich gelähmter fühlte als zuvor. Dann jedoch stemmte er beide Hände gegen den Boden und rappelte sich zwar unbeholfen, aber dennoch erfolgreich wieder auf. Ein unangenehmes Pochen war an jener Stelle übrig geblieben, an der ihn - ja was eigentlich? - getroffen hatte, das dann und wann auch noch zumindest in die Richtung des Stechens abglitt, als das es sein unseliges Dasein begonnen hatte. Doch es war trotz allem eines - erträglich. Es erlaubte Ravin zu denken, zu handeln und sich endlich nach jenem mysteriösen Etwas zu bücken, mit dem die ganze Leidensgeschichte überhaupt erst begonnen hatte.

Der Weißhaarige warf einen letzten, prüfenden Blick nach oben, doch sein tödlicher Schatten war nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich, schoss es ihm durch den Kopf, machte sich dieser gerade auf die Suche nach einer Möglichkeit zum Abstieg. Keine sonderlich beruhigenden Aussichten, und ein sehr überzeugendes Indiz mehr für die Tatsache, dass ihm langsam aber sicher die Zeit davonlief. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mit einer raschen Bewegung das tückische weiße Etwas aufzuheben, dessen Auswirkungen immer noch lebhaft mitten in seinem Oberschenkel hausten, um sich an seinem Fleisch gütlich zu tun.

Es war eine Feder. Oder zumindest etwas, das auf den ersten Blick einer Feder glich, auf den zweiten Blick jedoch vielmehr einer äußerst extravaganten Waffe, denn der Schaft des gebrechlichen Gebildes glänzte zweifellos metallisch, war gute zehn Zentimeter breit, aber hauchdünn, und roch merkwürdig. Obwohl Ravin nicht einmal die geringste Ahnung davon hatte, wie eine Feder denn eigentlich hätte riechen müssen, erschienen ihm die schwachen Ausdünstungen dieses reichlich unsympathischen Artenvertreters in jedem Fall... bemerkenswert. Und das auf eine ganz und gar unangenehme Art und Weise.

Von der zerbrechlich feinen Klinge des seltsamen Wurfgeschosses rannen dünne Fäden roten Blutes, über dessen Ursprung Ravin natürlich nicht lange nachdenken musste. Was ihn jedoch umso mehr verwunderte, das war ein fast schön bläulich schimmernder, zähflüssiger Schleim, der sich in einer derart dünnen Schicht um das silbrige Metall gelegt hatte, dass er dem jungen Soldaten überhaupt erst auf den zweiten Blick ins Auge fiel. Hier und dort, wo das weitaus dunklere Blut die blanke Oberfläche nicht in Beschlag genommen hatte, da blitzte die seltsame Flüssigkeit auf fast schon schüchterne Art und Weise hervor. Und nun, da er sie erst einmal bemerkt hatte, war sich Ravin mit einem Mal fast schon sicher, dass es ebendieser Hauch von Blau sein musste, der den seltsamen Geruch verströmte, den Ravin weder kannte noch einzuordnen vermochte.

Ihm blieb keine Zeit mehr, sich länger über dieses Mysterium den Kopf zu zerbrechen, denn noch in der nächsten Sekunde gesellte sich zu dem pochenden Schmerz in seinem Oberschenkel ein zweiter, der ihn diesmal geradewegs in die Schulter traf und der ihm beinahe noch brutaler erschien, als sein unliebsamer Vorgänger es bereits gewesen war. Der Weißhaarige keuchte, ließ sich von dem schneeweißen Angreifer jedoch keineswegs mehr überraschen oder überwältigen. Stattdessen fuhr er auf dem Absatz herum, straffte seinen Körper, so weit es eben noch möglich war, und stürzte dann humpelnden Schrittes geradewegs in die Dunkelheit hinein.

Es war ein Spießrutenlauf, wie er ihn selten zuvor in seinem Leben hatte ertragen müssen. Denn obwohl Ravin aus seinem Fehler gelernt und die zweite tödliche Feder in weiser Voraussicht an ihrem Platz zwischen Hals und Schulterblatt hatte ruhen lassen, war der halbseitig stark behinderte Lauf durch das Labyrinth aus halsbrecherischen Kabelsträngen, Pfosten, Pulten und Dunkelheit fast schon mehr, als er kräftemäßig bewältigen konnte. Was seine Aufgabe nicht unbedingt erleichterte war die ganz und gar unliebsame Tatsache, dass er dann und wann auch noch das Kunststück bewältigen musste, den Federgeschossen auszuweichen, die sich scheinbar von allen Seiten zu einer blutigen Hetzjagd zusammengeschlossen hatten.

Von wegen Suche nach einer Möglichkeit zum Abstieg, schoss es ihm durch den Kopf. Der Sweet Slaughter hatte seinen Posten hoch über Ravins Kopf keineswegs aufgegeben - im Gegenteil. Noch während er halb lief, halb humpelte, während er sich mit aller Kraft seines Willens dazu zwang, die Schmerzen in seinem Körper zu ignorieren, die sich mittlerweile von ihren Herden gelöst hatten und munter durch seine Arme und Beine bis in die Brust hinein wanderten, begriff er, dass er die ganze Zeit über nur einem grausamen Spiel gefolgt war, dessen Regeln der Schlachter höchstpersönlich bestimmt hatte. Er hatte sich blind und naiv in eine Ecke treiben lassen, hatte seinem Gegner Zeit gegeben, Zeit zu zielen - Zeit zum Angriff.

Nun war die eigentliche Jagd eröffnet worden, die Jagd auf ein angeschossenes, hilfloses Beutetier, das eigentlich überhaupt keine Chance mehr hatte. Das aber nichtsdestotrotz um sein Leben lief, obgleich seine Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden schienen, bis Ravin irgendwann wirklich und wahrhaftig meinte, dass sich seine Füße in tonnenschwere Gewichte verwandelt hatten und auf seinen Schultern prall gefüllte Sandsäcke lasten würden.

Eine Last, die zu tragen er zwar gerade noch imstande war - die aber wirklich schnelle Bewegungen zu einem Ding der Unmöglichkeit werden ließ, zumal der Weißhaarige ohnehin kaum noch die Konzentration aufzubringen vermochte, auf das schwarze Wirrwarr zu achten, das den Boden wie zentimeterdicke Spinnennetze bedeckte und ein sicheres Laufen schon unter normalen Umständen verwehrt hätte. Auch ohne zwei Wunden, deren fast schon lachhaft geringes Ausmaß einen ganz und gar unverhältnismäßigen Orkan von Schmerzen in ihm toben und wüten ließ.

Es war genau dieser Mangel an Reaktionsfähigkeit, der seiner Flucht ein rasches, aber unschönes Ende bereiten sollte. Denn obwohl er die Feder, die in einer schnurgeraden Bahn fast unmittelbar auf ihn zuraste, mehr intuitiv als wirklich mit Augen und Ohren wahrnehmen konnte, war er schlicht und einfach nicht mehr im Stande dazu, ihr noch ausweichen zu können. Alles, was Ravin in einer letzten Woge von Überlebenswillen noch zustande bringen konnte, war ein reichlich unbeholfener Schritt nach vorne - ein Schritt, der ihn gerade noch davor retten konnte, dass sich das harmlos surrende Geschoss tatsächlich in seinen Nacken bohren konnte.

Stattdessen traf es ihn in den Rücken. Und rief dabei eine Reaktion in ihm wach, die bei weitem über das Maß hinausging, als er ertragen konnte. Hatten die vorigen gefiederten Pfeile geschmerzt, sogar ganz unglaublich stark geschmerzt, so war ihnen doch zumindest ein gütiger Vorzug eigen gewesen - der Schmerz hatte sich zumindest mehr oder weniger auf den Punkt begrenzt, an dem sie die Haut des jungen Soldaten durchstoßen hatten. Gut, diese Grenzen waren später noch gehörig verwischt worden, aber bis dahin war das Pochen, das Stechen und Hämmern doch zumindest auf ein einigermaßen erträglichen Grad zurückgeschraubt worden.

Diesmal fühlte es sich so an, als ob Ravins gesamter Körper von der Mitte heraus zerreißen würde, auf einen Schlag und doch quälend langsam, in jedem Fall aber derart infernalisch, dass der Weißhaarige sich nicht mehr länger auf den Beinen halten konnte. Von seinem eigenen Schwung getrieben taumelte er noch zwei oder drei Schritte vorwärts, bevor schlichtweg vornüber kippte, mit der Schulter aufschlug (natürlich - wie hätte es auch anders sein können? - geradewegs mit der Schulter, in der es sich die zweite treffsichere Feder bequem gemacht hatte), eine unglückliche Rolle seitwärts vollführte und noch einige Meter über Kabel und Boden schlidderte, bis er schließlich an einem der stählernen Pfeiler zum Liegen kam.

Mehr oder weniger.

Denn der Schmerz, der immer noch durch jede einzelne Faser seines Körpers raste, war viel zu schlimm, als dass er ihm Ruhe und Benommenheit hätte gewähren können. Mit dem letzten Treffer war auch das fast schon krampfartige Zittern zurückgekehrt, diesmal jedoch von einer bislang unbekannten Hartnäckigkeit beseelt, die das überaus qualvolle Gesamtbild nicht unbedingt beschönigen wollte. Und so sehr er sich auch bemühte, nun wollte es Ravin nicht mehr gelingen, die Schmerzensschreie zurückzuhalten, die ihm heiß und unbarmherzig in der Kehle brannten, ohne wirklich Linderung bringen zu können.

Vermutlich wäre genau dieser Zustand sein sicherer Tod gewesen, hätten die trüben Augen des jungen Soldaten nicht in genau diesem Moment einen schwachen, aber doch unübersehbaren Lichtstreifen wahrgenommen, der gute drei Meter zu seiner Linken in das Schattennetz des Technikraumes sickerte. Zugegeben - es war ein mehr als nur kläglicher Leuchtstreifen am Horizont, aber er ließ Ravin nach einigen weiteren Sekunden der Lähmung doch zumindest eines begreifen: Wie nahe er dem Ausgang tatsächlich gekommen war.

Zwei, drei Meter... keine unbedingt große Distanz. Aber trotzdem mehr, als er jetzt auch nur in Gedanken bewältigen konnte. Seine Beine schienen wie gelähmt zu sein, waren vom Pulsrasen des Schmerzes in ein dumpfes Kribbeln hinübergeglitten. Der Rest seines Körpers fühlte sich in etwa so an, als ob man ihn mit Benzin übergossen und dann auf den Gipfel eines Scheiterhaufen gefesselt hätte - er brannte, stach ab und an, zeichnete sich aber in jedem Fall dadurch aus, dass er ganz verflucht weh tat.

Und trotzdem: Was waren schon zwei Meter? Kaum mehr als vier, vielleicht auch fünf seiner unbeholfenen Schritte. In seiner momentanen Verfassung immer noch ein schier unüberwindlicher Kraftakt, sicher... aber wirklich unmöglich? Nein, das konnte nicht sein, das konnte und durfte nicht sein, dass er sich von lächerlichen zwei oder drei Metern das Leben nehmen ließ! Die Chancen, dass er dem Sweet Slaughter überhaupt noch entkommen konnte, mochten nicht unbedingt zu seinen Gunsten ausfallen, soviel stand fest. Aber sie wurden ganz bestimmt nicht besser dadurch, dass er jetzt resignierte und mit samt seiner Schmerzen und der lähmenden Schwäche liegen blieb.

Ravin zwang sich zu einem tiefen Atemzug (der - wie nicht anders zu erwarten - in erster Linie dazu beitrug, das Messer, das ohnehin schon in seiner Lunge gesteckt hatte, noch das eine oder andere Mal im Kreise zu drehen), dann hob er mit einer nahezu unvorstellbaren Kraftanstrengung die Arme und schloss seine Hände fest um die metallenen Verstrebungen des Pfeilers, der seiner unsanften Schlitterpartie auf noch viel unsanftere Art und Weise ein Ende gesetzt hatte. Und obwohl es eine weitere Explosion durch seinen gesamten rechten Arm trieb, spannte er die Muskeln in beiden Schultern, zog sich Strebe um Strebe nach oben, bis er schließlich keuchend und am ganzen Körper zitternd auf die Füße kam.

Immerhin - er stand. So weit, so gut. Nun erwartete ihn der weitaus schwierigere Teil der Geschichte, das Kapitel mit dem unschönen Namen Fortbewegung, das zu lesen er eigentlich nicht einmal die geringste Lust verspürte. Das er aber leider Gottes auch nicht einfach überblättern konnte, und da ihm eben keine Wahl blieb, fügte er sich sogar erstaunlich schnell in sein Schicksal und setzte vorsichtig einen Fuß nach vorne.

Falsche Strategie.

Schon allein die Zeit, in der sich die eine Fußsohle im Schwebezustand zwischen Himmel und Erde befand, reichte beinahe aus, um ihn postwendend wieder zu Fall zu bringen. Und das unausweichlich folgende Aufsetzen des verletzten Beines, das sich erschrocken von der plötzlichen Last des Körpergewichtes bei aller Taubheit doch noch einmal zu einem empörten Schmerzensstich hinreißen ließ, gab ihm endgültig den Rest. Ravin hatte es einzig und allein der stützenden Anwesenheit besagten Pfeilers zu verdanken, dass er nicht mit sofortiger Wirkung wieder zusammenbrach - ein Sturz, der mit großer Gewissheit sein letzter gewesen wäre, denn noch einmal würde er die Kraft zum Aufstehen nicht mehr zusammentreiben können, das wusste er mit einer wahrhaft entsetzlichen Gewissheit.

Aus irgendeiner Richtung ertönte ein Geräusch. Ravin konnte es weder orten noch bestimmen, doch es tat sein übriges dazu, ihm die tödliche Gefahr ins Bewusstsein zurückzurufen, in der er immer noch in unverändertem Maße schwebte. Aber was sollte er tun? Selbst wenn es ihm gelingen würde, die Finsternis des Technikraumes hinter sich zu lassen, stand ihm immer noch der Weg aus der ETU-Arena samt anschließendem Fußmarsch auf die Siegesfeier bevor. Und dass er es nicht mehr fertig bringen würde, sich durch das Labyrinth der Lüftungsschächte hinaus ins Freie zu kämpfen, wenn er kaum zwei Schritte aufrecht zustande bringen konnte, das war mehr als nur einleuchtend.

Und trotzdem - irgendetwas in ihm pochte beharrlich darauf, dass die Situation doch einiges von ihrem Schrecken verlieren würde, wenn er seinen Feind nur endlich sah... wenn er wusste, mit wem er es denn eigentlich zu tun hatte. Denn das zumindest war ein Rätsel, das er vor seinem Tod noch in jedem Fall zu klären beabsichtigte. Allerdings konnte er das ganz bestimmt nicht erreichen, wenn er auch noch die nächsten Stunden damit zubrachte, sich um Gleichgewicht und Atem ringend an den ewig gleichen Stützpfeiler zu klammern, also riss er sich zusammen und tat das Einzige, was ihm in dieser ganzen absurden Lage überhaupt noch einfiel.

Er begann zu rennen.

In dem Moment, in dem Ravin begriffen hatte, dass ihn Vorsicht nicht weiterbringen konnte, schmiss er kurzerhand alle Bedenken und Zweifel über Bord und warf sich stolpernd vorwärts, geradewegs dem blassen, staubigen Lichtschein entgegen. Er wusste, dass er ganz unweigerlich stürzen musste, sobald er stehen blieb oder auch nur sein Tempo verlangsamte. Aber da er keines von beiden ernsthaft plante, kam der rettende Ausgang tatsächlich Schritt für Schritt näher, umhüllte ihn schließlich mit der drückenden Schwere seines Stoffes, nur um ihn dann in Gestalt eines Stromkabels mit neuerlicher Wucht aus der Bahn zu werfen.

Doch auch dieser letzte Angriff kam zu spät. Ravin überwand die magische Schranke zwischen Licht und Dunkelheit, taumelte noch einige Meter halt- und orientierungslos nach vorne und verlor dann endgültig das Gleichgewicht. Er hatte einen Punkt erreicht, an dem er mit völliger Sicherheit auf den Boden aufgeschlagen wäre, unfähig, sich noch mit Armen oder Beinen oder sonst wie abfangen zu können. Und doch tat er es nicht.

Noch bevor er dem spiegelnden Grund des Laufstegs, auf dem er sich mittlerweile wieder befand, auch nur Nahe kommen konnte, griffen zwei Hände unter seine Arme und zogen ihn mit einer kraftvollen Bewegung auf die Füße.
 

Im ersten Moment verspürte Ravin nicht einmal das Bedürfnis, sich zu wehren. Wieso auch? Da war jemand, der ihn aufgefangen, der ihn vor dem sicheren Fall und weiteren Schmerzen bewahrt hatte... jemand, der lebte, der atmete, der die Sicherheitskräfte und die Polizei und vielleicht am besten auch gleich noch einen Notarztwagen rufen konnte. Erst einige Sekunden später drang eine zweite Nachricht bis in das umnebelte Bewusstsein des jungen Soldaten vor, dass dieser jemand ihm eventuell auch Arme und Beine abhacken, ihm die Haut vom Körper ziehen und ihn im Schulmädchenoutfit auf dem Laufsteg kreuzigen konnte.

Diese überaus unangenehme Erkenntnis änderte jedoch nicht unbedingt viel daran, dass Ravin schlicht und einfach nicht mehr die Kraft dazu fand, sich aus dem Griff des Unbekannten befreien zu können. Das kribbelnde Taubheitsgefühl erklomm fröhlich weiter seinen Körper, zudem hatte er wieder zu zittern begonnen und beides zusammen war nicht unbedingt förderlich für eine gesunde Koordinationsfähigkeit. Langsam und mit größerer Mühe, als ihm lieb war, hob der Weißhaarige seinen Blick und sah-

Zunächst einmal gar nichts. Nur verschwommene Flecken undefinierbarer Farbe waberten vor seinem Blickfeld umher und es vergingen wiederum etliche Sekunden bis Ravin begriff, dass ihm nach seiner verlustreichen Schlacht gegen die Schmerzen in seinem Körper Tränen in den Augen standen. Er hob mit einer matten, kraftlosen Bewegung die Hand, um sie wegzuwischen, blinzelte einige Male - und war nun endlich dazu imstande, sein Gegenüber erkennen zu können.

Davon einmal abgesehen bot sich ihm die vielleicht einmalige Gelegenheit, geradewegs in das aalglatte Antlitz eines überaus entgeistert dreinblickenden Marque Venelles zu sehen, der ihn auf solch fassungslose Weise musterte, als ob ihm zur Sekunde der Geist seiner Großmutter in die Arme gestürzt wäre.

"Oh mein Gott, Ravin... was ist mit dir geschehen?"

Der Firmenbesitzer stammelte mehr, als dass er wirklich sprach, und auf seiner Stirn begannen sich einmal mehr dicke, selbst im fahlen Grau des verlassenen ETU noch glitzernde Schweißtropfen zu bilden. Ravin brachte es nicht mehr fertig, ihm noch eine Antwort geben zu können, und das lag keineswegs nur an seiner körperlichen Schwäche. Die Gedanken in seinem Kopf hatten zu rasen begonnen, drehten sich wieder und wieder im Kreis, ein Kreis, der ihn nicht weiterbringen konnte und wollte, der ihn förmlich zerriss zwischen zwei Polen, in die seine müden Geistesrungen zu streben versuchten.

Es war die brennende, wenngleich auch angesichts seiner allgemeinen Verfassung herzlich überflüssige Frage, was er von Venelles Anwesenheit zu halten hatte. Einerseits war es verdammt noch mal sehr, sehr unwahrscheinlich, dass sich ausgerechnet ein stinkreicher, partysüchtiger Konzernchef mitten in der Nacht rein zufällig in einen verlassenen Veranstaltungssaal verirrte. Und eigentlich hätte schon die bloße Anwesenheit jedes anderen Menschen voll und ganz ausgereicht, um ihn nicht nur spontan zum Hauptverdächtigen zu machen, sondern am besten gleich an Ort und Stelle als Sweet Slaughter zu identifizieren. Aber Venelle...

War es überhaupt möglich, dass ausgerechnet Venelle diese Mordserie begangen haben konnte? Er, der doch eigentlich den größten Schaden durch sie davontrug (von den Opfern einmal abgesehen, versteht sich), er, dessen gewinnträchtigste Veranstaltung und somit Haupteinnahmequelle auf dem Spiel stand, konnte dieser schmierig grinsende Mann es wirklich fertig bringen, sich das Messer so tief ins eigene Fleisch zu rammen? Ravin wusste, dass der Evershine New Diamonds Award bereits mehr als nur einmal Gefahr gelaufen war, schlicht und einfach zu platzen, und das wäre einer äußerst schwerwiegenden Katastrophe gleichgekommen. Bei all dem Geld, das Venelle in den Schönheitswettbewerb investiert hatte, war selbst ein Mann von seiner Kontogrößenordnung darauf angewiesen, ebenso auch wieder etwas zurückzubekommen.

War es tatsächlich möglich, dass Venelle die Firma und damit seine eigene sowie die Existenz Tausender anderer Menschen einfach so aufs Spiel setzte? Wahnsinn hin oder her, dies war doch ein reichlich gewagter Schritt für einen ökonomisch denkenden Mann, dem sich zudem im gesamten Universum etwa zehn Milliarden andere Gelegenheiten geboten hätten, nach Herzenslust und auf weit weniger selbstzerstörerische Art und Weise zu schlitzen und zu morden und zu häuten. Von der kleinen aber entscheidenden Tatsache einmal abgesehen, dass er es ja immerhin höchstpersönlich gewesen war, der Aya überhaupt erst auf den Fall aufmerksam gemacht hatte - und welcher Mörder setzte einen Bluthund auf die eigene Fährte an?

Es war absurd, es widersprach aus tiefstem Herzen einem objektiv sinnvollen Plan, es widersprach dem altbekannten Ursache und Wirkung ebenso sehr wie jedem anderen Gesetz der Logik, das Ravin jemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hatte. Und trotzdem täuschte es nicht über die anfängliche, immer wiederkehrende Frage hinweg, was um alles in der Welt Venelle in die an und für sich vollkommen menschenleere ETU-Arena geführt hatte, noch dazu zu einer Zeit, die für solch einen spontanen Überraschungsbesuch ja doch alles andere als üblich war. Warum hatte er die zweifellos immer noch - oder besser gesagt: die jetzt erst so richtig rauschende Party verlassen, seine Party, wo er sich ausgiebig an jenem Ort aufhalten konnte, der ihm wohl von allen Orten des gesamten Planetensystems mit großem Abstand am liebsten war: im Zentrum aller Aufmerksamkeit?

Von welcher Seite man das Problem auch betrachtete, es machte schlichtweg keinen Sinn, und so zog es Ravin nach einer kurzen, wenig erholsamen Atempause vor, sich erst einmal wieder aus dem Griff des Firmenbesitzers zu lösen und zwei unsichere Schritte nach hinten zu taumeln. Seine Augen waren starr und lauernd auf Venelles Gesicht gerichtet - oder sie versuchten es zumindest, denn es bereitete dem Weißhaarigen immer noch größte Mühe, überhaupt irgendeinen Punkt klar fixieren zu können. Und er war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob diese Schwierigkeiten wirklich nur von der Tatsache herrührten, dass sich sein Blick viel zu lange an die fast vollkommene Dunkelheit hatte anpassen müssen.

"Ravin, was ist passiert?" erkundigte sich Venelle ein zweites Mal und schien nun sogar noch ein kleines bisschen verwirrter zu sein als zuvor. "Mein Gott, du zitterst ja! Und... was machst du überhaupt hier?"

"Das - das Gleiche könnte ich sie fragen!" stieß Ravin mit einiger Mühe hervor. Es kostete ihn zunehmend Kraft, sich noch aufrecht auf den Beinen halten zu können, aber er spannte aller Schmerzen zum Trotz sämtliche Muskeln an, die zu erreichen er irgendwie noch imstande war und schaffte es so zumindest erfolgreich, den unvermeidlichen Zusammenbruch um etliche Momente nach hinten zu verlagern.

"Mich?" Die Frage des jungen Soldaten schien Venelle aus irgendeinem Grund unheimlich zu irritieren und er blickte ihn einige Momente lang stumm und unverwandt an, bevor er sich ein Lächeln auf die Lippen zauberte und in fast schon heiterem Tonfall antwortete. "Nun, im Gegensatz zu dir und allen anderen Models besitze ich einen Schlüssel zu diesem Teil des Gebäudes. Ist ja sozusagen mein Baby, du verstehst, und bei Babes sind die Ein- und Ausgänge ja generell das Wichtigste. Ich für meinen Teil bin noch einmal hergekommen, weil ich irgendwo in diesem großen, großen Zimmerchen hier mein Feuerzeug verloren haben muss. Vor der Show hat ich's nämlich noch und das Ding liegt mir verflucht noch mal am Herzen. Ich mag vielleicht nicht so aussehen, als ob ich mir aus Sentimentalitäts-Quatsch sonderlich viel machen würde, aber das ist ein Familienerbstück und ich möcht es doch zu gerne einmal irgendwann an Marque Venelle Junior weitergeben."

Ravin bemaß den schwarzhaarigen Firmenchef mit einem weiteren kritischen Blick, dann ließ er langsam und prüfend seine Hände in die Hosentaschen wandern. Erst in die Linke, dann in die Rechte, was sich vom Ergebnis her relativ gleich blieb - sie waren leer. Der Weißhaarige schloss einen Moment lang die Augen (wirklich nur einen Moment, da ihm ansonsten ganz unzweifelhaft endgültig der Gleichgewichtssinn abhanden gekommen wäre) und suchte nach der Erinnerung an jenen Moment, als Ayas Stimme in seinem Ohr erloschen war, als er zum ersten Mal von seinem Verfolger und seinen tödlichen Federn Notiz genommen hatte... als er seine Aufmerksamkeit von dem kleinen, silbern verzierten Gegenstand mit Namen Feuerzeug - Venelles Feuerzeug - auf eine ganze Reihe anderer, wichtigerer Dinge gelenkt und es dabei schlicht und einfach vergessen hatte.

Das Ergebnis dieser Suche war und blieb einmal mehr dasselbe: Keines, und so gab er sie kurzerhand auf und fand sich mit der Tatsache ab, dass Venelles kostbares Familienerbstück von einem bestimmten Punkt an schlicht und einfach aus seiner Wahrnehmung verschwunden zu sein schien. Ein trauriger Fakt, der ihn an und für sich nicht weiter bekümmerte oder interessierte. Und den er auch eigentlich nur deshalb wieder aufgriff, weil er in seinem inneren Krieg zwischen Misstrauen und Erleichterung immer noch nicht so recht wusste, was er sonst hätte sagen können.

"Das Feuerzeug liegt irgendwo dort hinten", sagte er mit einer vagen Kopfbewegung in Richtung des pechschwarzen Technikraumes, die sofort mit einem schmerzhaften Hieb mitten in seinen Nacken bestraft wurde. "Aber ich würde dort nicht hingehen. Es ist ziemlich dunkel."

"Na, dafür hat man ja schließlich den Lichtschalter erfunden", grinste Venelle und vollführte mit beiden Armen eine schwungvolle Bewegung, die Ravin aus irgendeinem Grund an jene ewig lächelnden Kreaturen erinnerte, wie sie auf den zahllosen Shoppingkanälen in den unendlichen Weiten des IV hausten, um ihre minderwertigen, völlig überteuerten, dafür aber mit einer Unzahl an Bonusbeigaben (wenn sie jetzt sofort anrufen...!) und Bonusbeigaben zu den Bonusbeigaben überladenen Produkte anzupreisen. Nicht, dass Ravin sich jemals für diese Art von Kanälen interessiert hätte. Aber angesichts ihres scheinbar unerschöpflichen Paarungs- und Reproduktionswillens war es mittlerweile ja fast schon zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden, das IV-Gerät auch nur für fünf Minuten in Betrieb zu nehmen, ohne nicht über mindestens vier, fünf dieser gut gelaunten Dauerwerbesendungsmoderatorenpärchen zu stolpern.

Was eigentlich momentan auch überhaupt nichts zur Sache tat, aber die zunehmende Schwäche, die sich Ravins Bewusstsein bemächtigt hatte, ließ seine Gedanken wie es schien bisweilen in rechts abstruse Richtungen abschweifen.

"Ich weiß nicht, wo die Lichtschalter sind", antwortete er kurz. "Der Raum ist sehr groß und es gibt einige Schalter dort. Von denen die meisten allerdings gar nicht in Betrieb zu sein schienen."

"Da kann man aber von Glück reden, dass ich mir hier auskenne wie in meiner Hosentasche", lachte der Firmenbesitzer und strich sich mit der Hand durch sein glänzend schwarzes Haar. Ein dünner, kaum wahrzunehmender Film schien auf seinen Fingern zurückzubleiben - und weckte dabei ungute Erinnerungen im zunehmend träger werdenden Verstand des jungen Soldaten.

Erinnerungen an zwei, drei Federn (über die genaue Anzahl konnte er beim besten Willen keine Prognose mehr stellen, da die Schmerzen in seinem Körper mittlerweile schlichtweg überall Quell und Nahrung zu finden schienen) zum Beispiel, die immer noch weiß und blutig in seiner Haut steckten. Und die Venelle aus irgendeinem mysteriösen Grund bislang entweder nicht bemerkt zu haben schien, oder sie einfach nicht für erwähnenswert genug gehalten hatte, um auch nur ein einziges Wort darüber verlieren zu müssen.

Ravin fühlte eine neuerliche Woge von Misstrauen in sich hochkochen, und mit einem Mal wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Der Firmenbesitzer war ganz offensichtlich drauf und dran, sich auf eigne Faust in das apokalyptische Labyrinth aus Stahl, Kabeln und Finsternis zu begeben, was in einem Fall seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Nämlich in dem Fall, wenn er tatsächlich nicht den Sweet Slaughter, sondern einfach nur einen latent sentimental veranlagten Menschen auf der Suche nach einem Familienerbstück vor sich hatte. In jedem anderen Fall war der sichere Tod dann wohl eher auf seiner eigenen Seite...

Der junge Soldat rang noch einige weitere Augenblicke mit sich selbst, bevor er zögerlich wieder das Wort ergriff.

"Ich... würde da trotzdem nicht reingehen."

"So", erwiderte Venelle in unangenehm verzeihendem Tonfall und zog seine glänzenden Brauen in die Höhe - eine Bewegung, die wohl jede andere Stirn in tiefe Falten hätte legen müssen, nicht aber die des Konzernchefs. Stattdessen machte er einen beschwörend langsamen Schritt in die Richtung des Weißhaarigen und hob wie in beruhigender Absicht die Hände. "Und warum sollte ich das nicht, tun, Ravin?"

"Sie müssen nicht so mit mir reden als ob ich verrückt wäre. Irgendjemand ist in diesem Raum. Er hat mich verfolgt. An Ihrer Stelle würde ich das Gebäude wirklich lieber verlassen."

"Du bist so verstört, Ravin, warum denn?" Der Blick seiner dunklen Augen fing den des jungen Soldaten auf merkwürdig beschwörende Art und Weise ab. Sein Atem ging ruhig, fast schon zu ruhig, als ob die gesamte Szenerie mit einem Mal in ein lähmendes Zeitlupentempo geraten wäre, in eine unnatürliche Stagnation, der sich Ravin beim besten Willen nicht mehr zu entziehen vermochte. "Vor was sollten wir denn davonlaufen, Ravin? Vor wem? Hier ist doch niemand außer uns..."

Der Weißhaarige konnte gerade noch feststellen, dass die letzten Worte des Firmenchefs ganz und gar nicht die beruhigende Wirkung erzielten, zu deren Zweck sie höchstwahrscheinlich gedacht worden waren.

Dann ging mit einem Mal alles ganz schnell.

Venelle machte einen erstaunlich kraftvollen Satz nach vorne, packte Ravin bei den Schultern und hatte ihn im nächsten Moment auch schon zu Boden gerissen. Aus einem glücklichen Umstand heraus, der in Anbetracht seiner momentanen Situation allerdings auch schon verflucht einsam dastand auf weiter Flur, bohrte sich dabei die stählerne Feder, die ihm immer noch fest im Rücken steckte, nicht einfach nur tiefer in sein Fleisch hinein, um bei dieser Gelegenheit mit Lunge, Herz und Co Bekanntschaft machen zu können, sondern knickte vielmehr zur Seite ab - was zwar nicht unbedingt weniger schmerzhaft, aber zumindest weit weniger gefährlich war. Allerdings blieb Ravin nicht lange Zeit darüber nachzudenken, wie nah er nun tatsächlich am Tode vorbeigeschrammt war, denn noch bevor er auch nur an eine adäquate Reaktion zu denken vermochte, hatte Venelle seine Arme mit den Knien fixiert, den Körper des jungen Soldaten unbarmherzig mit dem eigenen zu Boden gedrückt, das Gesicht bis auf wenige Zentimeter zu ihm hinabgesenkt.

Er lächelte noch immer. Allerdings war es nun ein Lächeln, das mit dem werbewirksamen Verziehen der Mundwinkel, wie es sich die IV-internen Verkaufsprofis wohlein Leben lang antrainiert hatten, nicht einmal mehr das Geringste gemeinsam - wenn man von einigen ganz speziellen, besonders erfahrenen Vertretern der Gattung einmal gnädig absah. Was Ravin nun in den Augen des Firmenbesitzers las, war Wahnsinn, nackter, reinster Wahnsinn, der sich wie ein stählerner Ring um seinen Hals legte, ihm Luft und Sprache verbat und ihn vielleicht zehn, zwanzig Sekunden lang sprichwörtlich lähmte.

"Diese Nacht gehört ganz allein uns, hörst du?" lächelte er, während seine Hände irgendetwas aus den Taschen seiner hellgrauen Anzughose hervorkramten. Wäre Ravin tatsächlich noch dazu imstande gewesen, seinen Kopf bewegen und den Blick drehen zu können, hätte er wohl trotz allem immer noch Probleme gehabt, besagten Gegenstand auch wirklich zu erkennen, denn Venelle hielt ihn fest von seinen gebräunten, über und über von goldenen Ringen blitzenden Fingern umschlossen und führte ihn dann mit einer derart raschen Bewegung an den Mund, dass selbst Ravins Iriden ihre liebe Mühe damit hatten, dieser noch folgen zu können.

Dann ließ der Firmenbesitzer das unbekannte Stück Glas fallen (zumindest schloss Ravin aus dem Geräusch, mit dem es auf dem Laufsteg aufprallte, dass es sich um Glas handeln musste), legte beide Hände an Ravins Wangen und beugte sich dann blitzartig nach vorne, um seine Lippen mit mehr als nur sanfter Gewalt auf die des Weißhaarigen zu pressen. Eine Handlung, mit der Ravin beim besten Willen nicht gerechnet hatte und die ihn deshalb umso mehr verwirrte, umso mehr paralysierte. Und umso mehr mit einem tiefen Gefühl von Abscheu und Ekel erfüllte, ohne dass er noch die Kraft besessen hätte, um sich ihr widersetzen zu können. Sein Körper schien mit jeder Sekunde schwächer zu werden, die er in Venelles erbarmungslosen Griff zu verbringen gezwungen war, ebenso wie sich dessen Gewicht zu verzehnfachen schien.

Der junge Soldat spürte, wie ihm irgendeine kühle, geschmacklose Flüssigkeit in den Mund hineinlief und presste ganz instinktiv seine Zunge gegen den Gaumen, um ihr den Weg hinab in die Speiseröhre verwehren zu können. Eine Reaktion, mit der Venelle bereits gerechnet zu haben schien, denn er platzierte nun seinerseits eine seiner immer noch leicht klebrigen, süßlich riechenden Pranken auf Ravins Gesicht und verschloss ihm mit dieser einen beiläufigen Geste auf derart effektive Weise sämtliche Atemwege, dass er sich früher oder später zu schlucken gezwungen sah. Und so ein Gefühl entfachte, als ob ihm der gesamte Hals von innen nach außen gefrieren würde, gleichermaßen eisig kalt wie auch brennend heiß, fast schon ätzend wie Säure, und trotz des Mangels an Geschmack ganz unzweifelhaft ekelhaft.

Er hustete, würgte, und spürte dann, wie sich sein Mund erneut mit Flüssigkeit füllte, die ihm nun allerdings reichlich warm über die Lippen hinweg die Wange hinablief und einen auch ganz und gar nicht mehr neutralen, sondern stark metallischen Geschmack mit sich brachte. Ravin bemerkte kaum, wie Venelle seinen Kopf zur Seite drehte, er war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen, was ihm einige Momente später auch tatsächlich wieder gelang. Das flimmernde Schneegestöber vor seinen Augen verblasste langsam und gewährte ihm einen Blick auf sein eigenes Gesicht, das ihm auf fast schon apathische Weise aus der spiegelnden Fläche des Laufsteges entgegenstarrte.

Zumindest aus dem Teil des Spiegelbodens, der nicht von einer kleinen, tiefroten Seenlandschaft und somit geblendet war. Flecken, deren Ursprung sich Ravin genau so lange nicht erklären konnte, bis sich sein Blick wieder vollständig geklärt hatte und er mit einem Mal realisierte, dass seine bleiche Haut keineswegs mehr so rein und makellos war wie gewohnt, sondern vor allem im unteren Teil des Gesichtes ebenfalls von einer dunklen Flüssigkeit befleckt war, deren genaue Farbe er im Halbdunkel des ETU nicht genau ausmachen konnte - die er allerdings auch gar nicht auszumachen brauchte, um sie dennoch zweifelsfrei als das zu identifizieren, was sie war.

"Wie kann solch ein kalter Mensch wie du nur so warmes Blut haben, Ravin", flüsterte Venelle mit einem fast schon manischen Zittern in der Stimme, das dem jungen Weißhaarigen die Gedanken sozusagen vorwegnahm. Dann begann er, mit dem hellen Stoff seines Jacketts nahezu behutsam über Ravins Gesicht zu streichen. Hielt kurz inne, musterte ihn kritisch und wiederholte dieselbe Prozedur dann von neuem, bis das geschäftige Zucken seines Kopfes schließlich in ein zufriedenes Nicken überging. "Das passt gar nicht zu dir, Ravin. Du sollst perfekt sein für das Fotoshooting, weißt du? Ach... du bist perfekt. So unglaublich perfekt... der Schönste von allen bist du."

"Foto-shooting?" stieß Ravin keuchend hervor und musste feststellen, dass ihm auch das Sprechen zunehmend Mühe breitete. Überhaupt schien das bislang nur als kribbelnde Taubheit vorherrschende Gefühl mit einem Mal überhand zu nehmen, seine Arme und Beine nach und nach regelrecht aufzufressen, bis nicht mehr auch nur das Geringste von ihnen zu spüren war. Dem Weißhaarigen war, als würde er schweben, eingehüllt in ein betäubendes Nichts, das jeglichen Reiz mit gnadenloser Vehemenz von seinen Sinnes- und Nervenzellen fernzuhalten wusste.

"Du bist mein Meisterwerk, Ravin", antwortete Venelle mit bebender, tiefster Ergriffenheit, und wieder begann es in dem dunklen Braun seiner Augen zu flackern, als ob sich eine ganze Wohngemeinschaft defekter Glühbirnen in der Schwärze seines Kopfes eingemietet hätte. "Dir gehört die letzte Seite meines Buches... ich habe lange gesucht, so lange, und nun endlich wird mein Lebenswerk vollkommen sein!"

"Was... was für ein... Buch?!"

"Mein Buch, Ravin, mein Buch", lächelte Venelle. "Und es ist ein ganz besonderes Buch. Es wird der Bestseller des Jahrhunderts, du wirst schon sehen. So viele Menschen gibt es auf dieser Welt, und sie alle wissen nicht, was Schönheit ist, was wahre Schönheit ist. Ich möchte es ihnen zeigen."

"Soll... soll das heißen..." Ravin musste sich zunehmend beherrschen, seinen Mund auch tatsächlich noch die Worte formen zu lassen, die er sich im Geiste zurechtgelegt hatte. Selbst sein Gesicht schien von jener plötzlichen Lähmung befallen worden zu sein, und mit einem Mal begriff der Weißhaarige, wie wenig Zeit ihm tatsächlich noch blieb. "Sie... haben sie... foto- fotografiert... für ein Buch... wollen... es... ver-veröffentlichen?"

Venelle nickte, langsam und bedeutungsschwer.

"Ich habe lange gesammelt, Ravin, sehr lange. Nicht alle Menschen haben es... dieses... dieses Leuchten... so ein Licht, das in ihnen ist. Und es ist versteckt, gut versteckt. Aber man kann es befreien. Ich kann es befreien. Du musst keine Angst haben, mein schöner Ravin, es wird dir nicht weh tun. Ich wollte dich nicht verletzen, aber du bist ja so schnell gerannt. Jetzt musst du nicht mehr davonlaufen, jetzt gebe ich dir Flügel. Und dann sollst du fliegen, Ravin. Solch ein Engel wie du muss fliegen."

Bei seinen letzten Worten hatte Venelle einen versunkenen Blick in den schwarzen Himmel über ihnen geworfen, hinauf zu dem Wald aus Metall, Scheinwerfern und Kabeln, und irgendetwas an diesem Blick wollte Ravin ganz und gar nicht gefallen. Gleichzeitig wusste er, dass er Venelle hilflos ausgeliefert war, unfähig, sich zu bewegen, ja auch nur zu schreien, selbst wenn ihn noch jemand hätte hören können... er konnte nichts tun, als dem seelenlosen Grinsen, der abstoßenden lächelnden Grimasse des Firmenbesitzers aus großen, aber ebenfalls langsam müde werdenden Augen entgegenzustarren und darauf zu hoffen, dass wenigstens die letzten Worte des professionellen Lügners der Wahrheit entsprochen hatten und was auch immer er nun mit ihm vorhatte tatsächlich... nicht weh tun würde.

So oder so: Es war vorbei.

"Mach dir keine Sorgen, Ravin, du wirst wundervoll aussehen." Venelles Tonfall schien zunehmend schleppender, abwesender zu werden, mehr zu sich selbst als an eine tatsächliches Gegenüber gerichtet. Ein entrücktes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Aber ganz lasse ich dich nicht gehen. Du bleibst bei mir, Ravin. Du bist mein Meisterwerk. Du wirst fliegen. Doch erst einmal hol ich mir dein Herz."

Er hatte seine Worte kaum ausgesprochen, da zauberte er auch schon einen zweiten Gegenstand aus seiner Tasche hervor, und diesen Gegenstand konnte Ravin im Gegensatz zu seinem Vorgänger sogar sehr gut erkennen, fast besser, als ihm selber lieb war. Es war ein Messer, allerdings ein recht altes Messer und nicht sehr groß obendrein. An und für sich also eine Waffe, die der junge Soldat wohl in keiner anderen Situation als wirklich bedrohlich oder gar Furcht einflößend erlebt hätte. Nur leider war dies keine... andere Situation und in seiner gegenwärtigen Lage hätte wohl keine noch so moderne, noch so präzise tötende Schusswaffe ein derartiges Grauen in seiner Brust wachrufen können, wie dieses rostige Messerchen es zustande brachte.

Falls es überhaupt Rost war, der an seiner Klinge haftete, verbesserte er sich noch im nächsten Augenblick in Gedanken. Und bereute es gleichzeitig zutiefst, denn diese neue Erkenntnis verlieh Venelles Schnittwerkzeug noch zusätzlich etwas durch und durch Alptraumhaftes, das es auf den ersten, ebenfalls schon erschreckenden Blick hin noch nicht besessen hatte. Die kleine Waffe musste sehr lange nicht mehr gereinigt worden sein, denn an ihrer ursprünglich metallischen, unregelmäßig geformten Schnittfläche klebte eine dicke, bräunlich rote Kruste, aus der hier und dort noch das eine oder andere Haar herausragte.

Venelle bedachte das schmutzige Mordinstrument mit einem fast schon liebevollen Blick, legte es dann noch einmal zur Seite und machte sich stattdessen daran, Ravin sein pechschwarzes Oberteil über den Kopf zu ziehen. Er musterte den Körper des jungen Soldaten, murmelte irgendetwas Unverständliches und lächelte dann wieder, noch ungleich entzückter und wahnsinniger als zuvor. Seine rechte Hand schloss sich um den hölzernen Griff seines Messers und verursachte ein leises Klacken, als das Gold der Ringe gegen den schäbigen, leicht abgewetzten Rundkörper prallte. Beinahe gleichzeitig fuhr er mit der linken Hand prüfend über Ravins Brust, hielt dann inne, als er fast unmittelbar über der Gegend seines Herzens angelangt war und setzte dann langsam und bedächtig die Klinge auf die bleiche Haut.

Dann legte er einen Finger auf das verkrustete Metall und drückte es nach unten.

Im gleichen Moment musste Ravin feststellen, dass er sich zumindest in einer Beziehung geirrt hatte: War er zunächst fälschlicherweise davon ausgegangen, dass jenes schartige kleine Messerchen weder spitz noch scharf sein konnte, so wurde er nun auf überaus schmerzhafte Art und Weise eines Besseren belehrt. Die Klinge grub sich nämlich nahezu augenblicklich und widerstandslos in sein Fleisch, nicht sonderlich tief, aber immer noch tief genug, um einen brennenden Schmerz über seinen Brustkorb jagen zu lassen. Ravin musste die Hände zu Fäusten ballen und die Zähne fest aufeinanderbeißen, um einen neuerlichen Schmerzenschrei unterdrücken zu können, denn diesen einen Triumph konnte und wollte er dem Sweet Slaughter ganz einfach nicht gönnen. Wie lange seine Beherrschung noch vorhalten würde, war jedoch eine ganz andere Frage, denn der erste Schnitt Venelles war ja wie schon erwähnt noch nicht einmal sonderlich tief gewesen, und ebenso wenig hatte er die Klinge bereits bewegt. Viel zu sehr schienen die Augen des Firmenbesitzers gefesselt zu sein von dem Anblick seines Opfers, wie es zitterte, wie es litt, wie es ihn mit stummen Blicken anflehte...

Wie es zitterte? Litt? Flehte?

Wie... wie es seine Hände zu Fäusten geballt hatte, um den glühenden Schmerz in seinem Körper ertragen zu können?

Ravin begriff den tieferen Sinn dieser Erkenntnisse erst, als es beinahe schon zu spät war. Und auch dann war er von ihnen mehrere Sekunden lang so überwältigt, dass er seinen so plötzlich und unerwartet errungenen Vorteil kaum für sich zu nutzen wusste und um ein Haar wieder verspielt hätte. Denn schon hatte Venelle seine Hand wieder fester um den Griff des Messers geschlossen, bereit zum nächsten Schnitt, der vielleicht schon der Letzte gewesen wäre. Oder zumindest der Letzte, den Ravin noch bewusst und lebendig wahrnehmen würde. Denn dass er wahrnahm, dass er fühlte, stand ganz außer Frage. Sein Körper fühlte sich immer noch an wie betäubt, aber keinesfalls mehr wie gelähmt.

Und er konnte sich bewegen.

Er konnte die Hände zu Fäusten ballen...

Was dann geschah, war weit mehr Reflex als willentlicher Akt, kostete aber gleichzeitig mehr Kraft, als Ravin jemals für möglich gehalten hatte. Eine Kraft, in deren Besitz er sich niemals gewähnt und die Ursprung wohl in nichts anderem als blanker Todesangst begründet hatte, begleitet von einem tiefen, mächtigen Überlebenswillen, der jedes andere Gefühl, jeden logischen Gedanken mit einer wahren Sturmflut von Adrenalin hinfort wischte. Und obwohl es sich so anfühlte, als ob kein Blut, sondern tonnenschwerer Stahl in seinen Adern zirkulieren würde, brachte der Weißhaarige es irgendwie fertig, seine Arme zu heben, seine Finger fest um Venelles Handgelenk zu schließen und dann die zugehörige Hand samt Messer von seinem Körper wegzureißen.

Eine Reaktion, die den Firmenbesitzer derart zu überwältigen schien, dass er einen Moment lang nichts anderes tat als mit offenem Mund und starrem Blick sozusagen in der Bewegung einzufrieren. Es mochten nur wenige Augenblicke sein, in denen er in dieser reichlich unvorteilhaften Pose erstarrt war, vielleicht Sekunden, vielleicht Sekundenbruchteile, aber es war Zeit genug für Ravin, um wieder zur Besinnung zu kommen. Obwohl es ihn immer noch unendlich viel Mühe kostete, jede Bewegung etwa zehnmal so anstrengend zu sein schien als gewohnt, sammelte er alle Kraft, die er nur irgendwie in seinem ganzen Körper finden konnte, und stieß Venelle dann mit einem unbeholfenen Ruck von sich. Zugegeben - es war kein unbedingt fester Stoß, und um Endeffekt kroch Ravin auch mehr unter dem Körper des Evershine Cosmetics-Inhabers hervor, als dass er sich wirklich von ihm befreite.

Der Effekt jedoch blieb derselbe. Zumindest für wenige Augenblicke war Ravin frei, frei vom unerbittlichen Griff des braun gebrannten Mannes, der nun mit einem reichlich verduzten Gesichtsausdruck auf dem Boden zu seinen Füßen saß, aber vor allem frei, sich zu bewegen. Und dies war eine Chance, die er in keinem Fall verstreichen lassen durfte. Mit zittrigen Fingern umfasste Ravin den spiegelglatten Bühnenrand und zog sich daran vorwärts, Stück für Stück, bis er irgendwann sogar wieder so viel Gefühl in seine Beine zurückgekehrt war, dass er ihnen die anspruchsvolle Aufgabe zutraute, sein eigenes Gewicht tragen zu können. Er stüzte sich mit beiden Armen auf dem kühlen Boden ab, sammelte noch einmal jedes Fünkchen Energie, das noch irgendwo in seinem geschunden Leib überlebt hatte, und stemmte sich dann mit aller Kraft hoch.

Das Manöver hätte vielleicht sogar funktioniert, wäre da nicht im selben Augenblick ein Blitz knapp über Ravins Knöchel in sein Bein eingeschlagen. Der Schmerz kam so plötzlich, so unerwartet, dass er nicht einmal mehr die Chance hatte, sich noch dagegen wappnen zu können. Er brach haltlos in sich zusammen und schlug hart auf dem spiegelnden Glas der Bühne auf, knapp zehn Zentimeter von ihrem Rand entfernt, von jenem Labyrinth aus Sitzen und Schatten, das ihm vielleicht sogar noch hätte Zuflucht gewähren können. Zumindest lange genug, um per Portable Transmitter um Hilfe zu rufen - vorausgesetzt, dass das Gerät nach seiner halsbrecherischen Odyssey überhaupt noch intakt war...

Doch all diese Bedenken und Pläne waren jetzt so oder so hinfällig, denn mit Ravins Fall stürzte gleichsam auch jenes brüchige Gerüst aus letzter Kraft und Lebenswillen in sich zusammen, das er mit so viele Mühe errichtet und das ihn doch letztlich nicht gerettet hatte. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, ließ ihn keuchend um Atem ringen - eine Anstrengung, die seine momentanen körperlichen Fähigkeiten ganz offensichtlich überstrapazierte, die ein trockenes Husten aus seinen Lungen trieb und ihn mehr als nur einen Moment fürchten ließ, er müsse hier und auf der Stelle einen ganz und gar unrühmlichen, dafür aber umso schmerzhafteren Erstickungstod sterben.

Eine Befürchtung, die sich zwar nicht bewahrheiten sollte, die seine ganze Situation aber auch kaum mehr hätte verschlimmern können. Denn Venelle war wieder auf die Beine gekommen, zog mit einer angedeuteten Drehbewegung sein verunstaltetes Messer aus Ravins Unterschenkel und war noch im nächsten Moment wieder über ihm, die Augen flackernd, die Lippen zu einem bizarren Grinsen verkrampft. Seine Gesichtsmuskeln waren von einem unkontrollierten Zucken ergriffen worden, in den Mundwinkeln des sonst so charmant-beherrschten Mannes hatte sich Speichel angesammelt, der bei jedem Atemzug winzige Blasen warf und ihn so im ganzen abstoßenden Gesamtbild mehr denn je als das entlarvte und darstellte, was er auch tatsächlich war: ein Wahnsinniger.

Ein leises Kichern passierte die Lippen des Firmenbesitzers.

"Du wirst doch nicht vor mir weglaufen, Ravin", stieß er mit seltsam verzerrten Stimme hervor, die mit seinem gewohnt selbstbewussten, einwickelnden Smalltalk nicht mehr auch nur die geringste Ähnlichkeit hatte. "Wie schön du bist, Ravin... so wunderschön..."

Seine Knie bohrten sich mit der unbarmherzigen Gewalt seines gesamten Körpergewichtes in Ravins Unterarme, während er in einer tranceartigen Bewegung die Hand hob und zärtlich über Ravins Wange strich, eine seiner endlos langen, schneeweißen Haarsträhnen zwischen seinen Fingern hindurchgleiten ließ. Dann schlossen sich seine Lippen, verwandelten sich vom Grinsen zum Lächeln, das jedoch gleichermaßen nur zur absurden, widerwärtigen Perversion eines positiven menschlichen Gefühlsausdrucks werden konnte, halb gierig, halb verzückt.

Dann riss er mit einer ruckartigen Bewegung sein Messer in die Höhe, schloss beide Hände um den zu diesem Zweck eigentlich viel zu kleinen Holzgriff und zielte geradewegs auf Ravins Kehle.

"Du gehörst mir, Ravin!"

Er spannte die Muskeln in seinen kräftigen, braungebrannten Armen an, riss seine dunklen Augen weit auf und ließ dann mit einer fließenden Bewegung die blutbefleckte Klinge hinabsausen.

Oder zumindest versuchte er es. Denn auf halben Wege, als das verkrustete Metall des Messers und Ravins Halsschlagader noch gute zwanzig oder dreißig Zentimeter voneinander entfernt waren, lief mit einem Mal ein Ruck durch den Körper des Mannes - und ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. Hatte er Ravin zuvor wenigstens noch auf eine irrsinnige Art und Weise fixiert, so trat nun mit einem Mal ein Ausdruck vollkommener Leere in seinen Blick. Venelles Mund öffnete sich ein kleines Stück weit, gerade genug, um einen tiefen, gurgelnden Laut von sich zu geben, gefolgt von einem feinen, hellroten Blutstropfen, der sich kaum von der gesunden Bräune seiner Haut abheben konnte. Auf dem hellen Grau seines Anzugs breitete sich in der oberen Mitte der Brust ein dunkler Fleck aus.

Im nächsten Moment erschlaffte sein ganzer Körper, sank kraftlos über Ravin zusammen und begrub ihn förmlich unter seinem erdrückenden Gewicht. Es kostete den jungen Soldaten einige Mühe, noch einmal den Kopf zu heben und über Venelles leblosen Leib hinweg zu blicken. Er sah, dass eine der Türen geöffnet, vielleicht sogar aufgebrochen worden war und fünf über und über in Schwarz gehüllten Gestalten mehr oder minder freiwilligen Einlass gewährt hatte. Doch von dieser sicherlich weder gewalt- noch geräuschlosen Aktion hatte Ravin ebenso wenig mitbekommen wie auch von dem Geräusch des Schusses, der sich aus der Waffe des vordersten Mannes gelöst hatte.

Ravin nahm gerade noch am Rande wahr, wie ebendieser Schütze nun den Kopf wandte und seinen ebenfalls bewaffneten und uniformierten Mitstreitern irgendetwas zurief, wie sich der gesamte Trupp in Bewegung setzte und eilig in seine Richtung lief.

Dann verlor er das Bewusstsein.
 

"And the Winners are..."

In dem bis unter die Decke mit Menschen angefüllten Saal herrschte vollkommene Stille. Die zahlreichen Klimaanlagen taten ihr bestes, die drückende Hitze wenigstens auf ein erträgliches Maß herunterzukühlen, doch es war ein aussichtsloser Kampf, in dem es keine rechten Gewinner geben wollte. Die Luft war und blieb verbraucht, dabei bestenfalls - lauwarm; in jedem Fall nicht sonderlich angenehm, aber das interessierte in diesem Augenblick wohl keinen der zahllosen Journalisten und sonstigen Besucher des ETU, die sich in jener warmen Sommernacht zusammengefunden hatten, um dem großen Finale des noch viel größeren Evershine New Diamonds Awards beizuwohnen.

Der Ansager auf der Bühne machte eine bedeutungsvolle Pause, dann verzog er seine dezent schimmernden Lippen zu einem süffisanten Grinsen.

"Das wüssten Sie jetzt wohl gerne, meine Damen und Herren und natürlich meine lieben Nachwuchsmodels. Und Sie werden es auch erfahren - aber erst nach einer kurzen Unterbrechung. Unsere sehr geschätzten Zuschauer vor den IV-Geräten bekommen jetzt exklusiv noch einmal die Gelegenheit, sich die neusten Verbraucherinformationen ansehen zu dürfen. Schalten Sie nicht um, es geht gleich weiter!"

Er grinste noch einmal, verneigte sich dann mit einer übertrieben altmodischen Geste und verließ beschwingten Schrittes die Bühne.

"So ein Lackaffe", kicherte Aya und nahm einen tiefen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die sie schon die gesamten zurückliegenden zweieinhalb Stunden in ihren Händen gehalten hatte - und deren perlende Frische sich mittlerweile auch dementsprechend in Grenzen hielt. Aber das kümmerte die junge Wissenschaftlerin herzlich wenig. Überhaupt war alles, was momentan wirklich zählte, die ganz unwahrscheinlich beflügelnde Tatsache, dass sie inmitten einer bunt gewürfelten Menschenmenge in einem der doch erstaunlich bequemen Sitze der Evershine Theater Utopia-Arena saß und mit eigenen Augen die wohl großartigste Veranstaltung bewundern durfte, die das unansehnliche Gebäude jemals in seinen steinernen Mauern hatte beheimaten dürfen.

"Also ich finde ihn doch ganz besonders sympathisch!" D schenkte ihr von ihrer Rechten aus ein breites Grinsen, bevor er sich mit einem wohligen Seufzer in den tiefroten Klappsitz zurücksinken ließ. "Und dass wir uns nun schon mehrere Stunden lang von seinem schüchternen Lächeln bezaubern lassen dürfen, das verdanken wir einzig und allein dir, meine liebste Chefin. Danke!"

"Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, in wie weit du das nun ernst meinst und in wie weit nicht, aber ich kann es mir doch denken und fühle mich jetzt einfach mal geschmeichelt!"

"Nur geschmeichelt?" meldete sich Ronin von der anderen Seite ihres Platzes zu Wort. "Aya, du darfst das nicht einfach so mit einem lapidaren ,Ich fühle mich geschmeichelt' abtun, was du getan hast, könnte man schon besten Wissens und Gewissens als Heldentat bezeichnen, und damit meine ich nicht nur die Tatsache, dass wir denk dir diese eigentlich schon seit Monaten ausverkauften Eintrittskarten ergattern und somit diese unglaublich überwältigende und schon allein von der Atmosphäre her ganz sicherlich einmalige Show sozusagen live und in Farbe bewundern dürfen, nein, und das ist natürlich noch viel, viel, viel wichtiger, du hast immerhin Ravin das Leben gerettet und... und..." Er hielt einen Moment inne und tat etwas, von dem Aya bislang nicht einmal für möglich gehalten hatte, dass er dazu überhaupt imstande war: er rang nach Worten.

"Und was?" lächelte sie ihn aufmunternd an.

"Und dafür, da bin ich dir wirklich dankbar, wirklich, wirklich, denn schon die Vorstellung, dass Ravin fast gestorben wäre und das eigentlich gleich zweimal in den letzten Wochen, die ist viel, viel zu schrecklich für mich, denn Ravin ist doch noch viel zu jung und viel zu schön, um zu sterben und ohne Ravin hätte doch meine ganze Arbeit gar keinen so rechten Sinn mehr!"

"Ich nehm das ganze jetzt einfach mal als so schmeichelhaft an, wie es wohl gemeint war, nicht so, wie es dann im Endeffekt geklungen hat - und freue mich darüber", lachte die junge Wissenschaftlerin, wurde aber im nächsten Moment sogar weitaus ernster, als sie es an diesem rauschenden Abend überhaupt irgendwie für möglich gehalten hatte. "Ehrlich gesagt, es hätte mich schon sehr belastet, wenn ich gleich bei meinem ersten Auftrag einen Mitarbeiter verloren hätte."

"Kann man nur vom Glück reden, dass du so schnell reagiert und die Polizei gerufen hast", fügte D mit einem bekräftigenden Nicken hinzu.

"Oh Gott, ich weiß eigentlich gar nicht mehr so recht, warum ich das überhaupt getan habe. Versteht mich jetzt nicht falsch... es war natürlich das einzig Richtige, aber... es war so... so wie eine... eine Eingebung. Als Ravin plötzlich nicht mehr geantwortet hat. Aber aufgelegt hatte er ja auch noch nicht, und dann kamen da nur so komische Geräusche aus dem Hörer..." Trotz der äußerst knapp um die Grenze des Erträglichen herumkriechenden Temperatur lief mit einem Mal ein kalter Schauer über Ayas Körper. "Ich darf mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sie nur eine Minute später eingetroffen wären..."

"Sind sie aber nicht, also lass es."

"Das sagst du so leicht, D! Aber Ravin... Ravin sah so schrecklich aus... überall Blut..."

"Aber jetzt ist er wieder auf den Beinen und sein größtes Problem ist wohl die Zeit, die diese schmierige Ansagertype da auf Teufel komm raus zu schinden versucht, um ein paar freundlichen IV-Sendern auch ja noch Gelegenheit zu verschaffen, sich noch um den einen oder anderen Credit bereichern zu können. Ich will nämlich gar nicht wissen, wie viel man da so pro Minute für einen Spot in diesem Werbeblock eigentlich blechen muss... so viel verdien ich im ganzen Jahr nicht, glaub mir!"

"Trotzdem... das muss so furchtbar für ihn gewesen sein! Und außerdem..." Aya hielt kurz inne und legte einen Finger an die Lippen, während sich ein unübersehbarer Hauch von Irritation in ihre dunklen Augen stahl. "Da gibt es eine Ungereimtheit in dem ganzen Fall, die mir einfach nicht einleuchten will..."

"Was denn?" erkundigte sich D mit einem neugierigen Grinsen, das nichts Gutes verheißen wollte. "Sag mal, vielleicht kann ich dir ja helfen!"

"Hm... das wage ich zwar aus... irgendeinem Grund zu bezweifeln, aber gut. Es geht um dieses Gift. Du weißt schon, das von wegen lächelnd sterben und so... ich habe Spuren davon in Ravins ebenso wie in Seans Körper gefunden... das war diese erste Leiche, die ich bekommen habe, weißt du noch? Jedenfalls steht es eigentlich mit hundertprozentiger Sicherheit fest, dass in beiden Fällen das gleiche Gift verwendet wurde. Es ist ein äußerst komplexes Nervengift und ich habe mir die Freiheit herausgenommen, es ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen... und deshalb ist das, was geschehen ist, eigentlich vollkommen unmöglich."

"Aya, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber du sprichst in Rätseln."

"Ich weiß", seufzte die Wissenschaftlerin und strich sich eine Strähne ihres langen Haares hinter das Ohr. "Aber die ganze Sache ist ja auch ein Rätsel. Und wenn sie es nicht wäre... ja, dann wäre Ravin jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben."

"Was tuschelt ihr da von wegen Ravin und nicht mehr am Leben?!" erkundigte sich eine halb besorgte, halb empörte Stimme hinters Ayas Rücken, der allerdings aller Besorgnis und Empörung zum Trotz keinerlei weitere Beachtung geschenkt wurde.

"Danke, aber jetzt bin ich immer noch nicht schlauer", fuhr D stattdessen in noch ein bisschen leiserem Tonfall fort.

"...was du auch niemals werden wirst, aber egal." Aya rang sich ein kurzes Lächeln ab, bevor sie in nachdenklichem Flüsterton weitersprach. "Dieses Gift, das Venelle verwendet hat, ist in gewissen Kreisen unter dem Namen Love Potion bekannt, weil es dort in deutlich geringerer Dosis dazu verwendet wird, um Menschen sozusagen... gefügig zu machen. Benutzt man es allerdings in einem Maße, wie es hier bei Ravin der Fall gewesen ist, lähmt es den menschlichen Körper zuverlässig binnen weniger Sekunden. Es lähmt ihn, und es hört auch nicht einfach nach ein paar Minuten wieder auf, ihn zu lähmen. Verstehst du, was ich meine, D? Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich, dass Ravin sich nach der Einnahme dieses Giftes noch bewegt hat!"

D antwortete nicht sofort, sondern begnügte sich stattdessen damit, einige Sekunden lang schweigend den ratlosen Blick der Wissenschaftlerin zu erwidern. Es mochten nicht viele Sekunden sein, aber sie reichten doch immerhin aus, um Aya etwas erkennen zu lassen, das zu finden sie nicht einmal zu hoffen gewagt hatte - und schon gar nicht an dem Ort, der ihr als mögliche Fundstelle wohl als Letztes in Sinn gekommen wäre: in den Augen ihres Schwarzhaarigen Mitarbeiters. Denn was sie dort sah, war ein stummes, aber unübersehbares Geständnis, das Geständnis, dass er ihr tatsächlich helfen konnte, weil er die Antwort auf ihre Frage längst schon kannte.

Und dass er dieses Wissen aus irgendeinem Grund keineswegs mit seiner Vorgesetzten zu teilen plante.

"Was ist los, D?" hakte sie in weitaus eindringlicherem Tonfall nach, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. "Was verschweigst du mir? Nein - versuch erst gar nicht, es zu leugnen! Ich sehe genau, dass du etwas weißt, das ich nicht weiß. Und ich hasse es, wenn andere Menschen Dinge wissen, die ich nicht weiß, vor allem dann, wenn ich diese Dinge eigentlich wissen möchte und..."

"Er ist kein Mensch."

"...und dann immer diese betretenen Blicke - oh, was sag ich jetzt, dass sie nicht merkt, dass ich ihr etwas verschweige? Weil wenn ich schweige, dann wäre es ja wieder auffällig und das darf es ja nicht sein und überhaupt - bitte was hast du gesagt?!"

"Ravin, er ist kein Mensch." D hielt seinen Blick gesenkt, sodass er mit einem Mal regelrecht... betreten wirkte. "Wahrscheinlich hat das Gift deshalb nicht so recht auf seinen Körper gewirkt. Oder zumindest hat es anders gewirkt. Was ja auch irgendwie wieder aufs Gleiche herauskommt."

"D... was soll das heißen, Ravin ist kein Mensch?" Zwischen Ayas Augenbrauen bildete sich ganz unweigerlich jene tiefe Falte, die wie so oft das Gefühl von Irritation entlarvte, das sich in ihrem Inneren eingenistet hatte und sich dort ganz offensichtlich äußerst wohl zu fühlen schien. "Was soll er denn sonst sein?"

"Und so etwas höre ich aus deinem Munde, Aya", entgegnete der Schwarzhaarige kopfschüttelnd und konnte sich ein spöttisches Zucken un seine Mundwinkeln nun doch nicht mehr ganz verkneifen. "Ich will ja nichts sagen, aber das ist wirklich peinlich. Oder, um es anders auszudrücken: ein echtes Armutszeugnis."

"Vielen Dank!" murmelte die junge Wissenschaftlerin finster, doch noch im gleichen Atemzuge stahl sich ein verräterischer Hauch von Röte auf ihre Wangen und sie ließ hastig den Blick in Richtung ihrer Wasserflasche sinken, die immer noch lauwarm und müde in ihrem Schoß vor sich hinsprudelte. Und glücklicherweise ihre beiden Hände so fest in Beschlag nahm, dass Aya schlicht und einfach gar nicht dazu imstande war, sich vor versammelter Mannschaft selbst ohrfeigen zu können, so gern sie es auch getan hätte. Denn mit einem Mal fügten sich zahlreiche Puzzleteile in ihrem Kopf zu einem simplen, aber dennoch erstaunlich sinnvollen Gesamtbild zusammen. Und nun, da sie dieses so einfache Ganze endlich erkennen konnte, da erschien es ihr mit einem Mal ganz und gar unbegreiflich, dass es ihr nicht eigentlich schon von Anfang an aufgefallen war. "Ravin ist... ein Cyborg?"

"Genau das", stimmte D überflüssigerweise zu.

"Schau nicht so belehrend", grummelte Aya und rückte sich mit einer entnervten Bewegung die Brille zurecht. "Ich habe so etwas eigentlich schon länger vermutet."

"Das hast du nicht", stellte der Schwarzhaarige ruhig und sachlich fest.

"Na schön, dann habe ich es eben nicht. Hätte ich aber eigentlich tun müssen. Das war so... einfach. Diese ganze Sache von wegen Alkohol, so eine Reaktion ist bei einem normalen Menschen ja doch recht... ungewöhnlich. Und dann sein Aussehen. So perfekt kann man doch eigentlich gar nicht mehr sein! Von seinem Verhalten will ich lieber gar nicht erst anfangen..."

"Musst du auch nicht, ich weiß nämlich auch so, was du meinst", grinste D und hob die Schultern. "Na ja, ich gebe zu, ich war auch erst ein bisschen erstaunt, als ich es erfahren habe. Man hat ja doch irgendwie immer noch diese Vorurteile, dass Cyborgs eben nicht so... menschlich wären wie wir Menschen. Und Ravin ist ja noch ein besonderes Exemplar, den meisten merkt man es ja heutzutage gar nicht mehr an. Aber Ravin... ich glaube, er kann einfach nicht anders." D rückte mit seinem Kopf ein wenig näher an das Ohr seiner Chefin heran, und als er weitersprach, war seine Stimme noch einmal deutlich gesenkter als zuvor. "Die haben irgendetwas mit ihm gemacht, weißt du? Ich kenne Ravin zwar nicht besonders gut... ich glaube, das tut eigentlich niemand... aber sein Verhalten ist wirklich nicht natürlich. Und ich bin mir fast sicher, dass INFERIA schon ganz genau wusste, wie und warum sie ihn so... ähm... gebaut haben..."

"Ach, eigentlich ist es gar nicht so unüblich, dass man Cyborgs irgendwelche Chips mit einbaut, um ihr Verhalten so in eine bestimmte Richtung zu lenken", gab Aya in nicht minder leisem Tonfall zurück. "Theoretisch weiß ich sogar sehr viel darüber. Aber wenn ich Ravin so ansehe und mir das vorstelle..."

D antwortete lediglich mit einem neuerlichen Schulterzucken, und mit einem Mal wusste die Wissenschaftlerin nicht mehr, was sie noch zu diesem Thema hätte sagen können. Denn obwohl sie im Laufe ihres Studiums eigentlich alle Eventualitäten und Untiefen der Humantechnologie kennen gelernt und erforscht hatte, fühlte sie sich nun doch... irritiert. Und es war ganz und gar kein angenehmes Gefühl, das sich da so schamlos in ihrer Brust hatte breit gemacht, in jedem Fall aber kein passender Begleiter für diesen zauberhaften Abend, und so nahm sie einen weiteren tiefen Zug von der abgestandenen Hallenluft, bevor sie mit lauterer Stimme neuerdings das Wort ergriff.

"Übrigens gibt es da noch so eine Sache, die mir einfach nicht einleuchten will."

"Soso?" grinste D und nahm einen Schluck aus seiner metallisch roten Coladose. "Bisschen viele Mysterien für einen einzigen Abend, meinst du nicht?"

"Ja, aber das ist wirklich merkwürdig!" entgegnete Aya, wobei sie sich ganz besonders um einen heiteren Grundton ihrer Stimmte bemühte, der ihr irgendwann im Laufe des vorangegangenen Gesprächs abhanden gekommen sein musste. "Hört mal zu: Wir wissen ja mittlerweile, dass Venelle unser Mörder gewesen ist. Man hat da auch scheinbar ein ganz schön makabres Fotoarchiv aus seinen Privatsachen zu Tage gefördert... sagt mal, würdet ihr euch eigentlich irgendwie seltsam vorkommen, wenn ihr erfahren würdet, dass euer ehemaliger Vorgesetzter ein psychopatischer Massenmörder gewesen ist? Das ist jetzt nicht meine eigentlich Frage, das fällt mir nur gerade so ein."

"Weißt du, Aya", antwortete D lächelnd, während er die junge Wissenschaftlerin einer kurzen, fast beiläufigen Musterung unterzog, "eigentlich würde mich diese Neuigkeit bei manchen Vorgesetzten gar nicht so sehr verwundern."

"Mich würde es allerdings auch nicht wundern, wenn man als dein Vorgesetzter zum Massenmörder mutiert", gab Aya in zuckersüßem Tonfall zurück. "Aber was mich eigentlich viel mehr interessiert ist, warum Venelle mich überhaupt um Hilfe gebeten hat... er hat mich ja quasi auf sich selbst angesetzt, statt einfach fröhlich und unerkannt weiter vor sich hinzumeucheln. Und das macht nun wirklich keinen Sinn!"

"Hm... na ja... das kommt ganz darauf an", entgegnete der Schwarzhaarige und grinste.

"Was kommt worauf an?"

"Auf den Standpunkt. Wie meistens eigentlich. Von deinem Standpunkt aus betrachtet macht diese ganze Aktion, von wegen dich rekrutieren und auf den Sweet Slaughter ansetzen wahrscheinlich wirklich keinen Sinn, da muss ich dir voll und ganz Zustimmen."

"Und von welchem Standpunkt aus müsste ich auf die Sache zurückblicken, um sie zumindest ansatzweise verstehen zu können? Jetzt bin ich aber wirklich gespannt!"

"Dann pass mal gut auf, Aya, und stell dir vor, ich wäre ein stinkreicher, psychopathischer Firmenbesitzer."

"Du siehst aber nicht so aus wie ein stinkreicher Firmenbesitzer, D", stellte Aya trocken fest und runzelte die Stirn. Der Schwarzhaarige winkte mit einer beiläufigen Geste ab, ohne das Grinsen auf seinem Gesicht zu verlieren.

"Und du verfügst über genauso viel Fantasie wie die meisten Akademiker, nämlich gar keine", konterte er mit einem Augenzwinkern. Dann ließ er seine Finger einige Male über die wenigstens noch ansatzweise kühle Oberfläche seiner Coladose gleiten, bis sich ein dünner Film von Kondenswasser auf seiner Haut gebildet hatte, und strich sich durch sein kurzes schwarzes Haar. "Siehst du, jetzt habe ich schon mal die passende Frisur. Also, weiter im Text. Gehen wir doch einmal davon aus, ich bin reich und möchte es auch bleiben, ebenso wie ich psychopatisch bin und das natürlich auch nur äußerst ungern ändern würde, wär ja auch irgendwie schade drum. Für beides benötige ich diesen großkotzigen Modelcontest hier, immerhin brauch ich ja Frischfleisch für die Fotos und dazu noch ein bisschen Kohle, da sag ich doch auch nicht nein."

"Soweit kann ich dir folgen. Aber wie weiter?"

"Tja, du kannst dir vielleicht denken, dass meine schöne kleine Mordserie beim Management, bei diversen Co-Veranstaltern, Firmen- und Werbepartnern et cetera natürlich nicht unbedingt gut ankommt. Oder anders ausgedrückt: Mir wird von allen Seiten mächtig aufs Dach gestiegen, also bin ich förmlich dazu gezwungen, irgendjemanden einzuschalten, der sich der Sache annimmt. Sonst laufe ich ja Gefahr, dass mein Goldeselchen mir ins Wasser fällt und ertrinkt."

"Ja, aber warum hat er denn dann nicht einfach die Polizei gerufen, sondern mich?"

"Diese Frage solltest du dir vielleicht lieber selber beantworten", gab D mit einem noch ungleich breiten Grinsen auf dem Gesicht zurück. "Und dann eventuell auch mal den einen oder anderen Gedanken daran verschwenden, ob der Ruf, der dir vorauseilt, wirklich der ist, für den du ihn hältst."

Aya bekam noch am Rande mit, wie ihr langsam aber sicher die Kinnlade nach unten sank, während sich inmitten ihres Kopfes eine grausame, aber unumgängliche Wahrheit zurechtzulegen begann, die ihre Laune wahrscheinlich binnen weniger Sekundenbruchteile bis auf den Grund eines siebenstöckigen Kellergebäudes hinabgerissen hätte - wäre nicht im selben Moment das Licht auf der Bühne zu neuem Leben erwacht, um die geschniegelte Gestalt eines anzugtragenden Mannes auszuspucken, der mit einem Mikro in der Hand und einer gehörigen Portion Gel in den Haaren lächelnd vor die Massen des Publikums trat.

"Und da sind wir wieder, meine Damen und Herren", säuselte er begleitet von einer raumgreifenden untermalenden Geste in sein Mikrofon, nachdem er sich noch einige Augenblicke lang im Applaus und in den Schreien der Menge gesonnt hatte. "Jetzt geht es ums Ganze, jetzt geht es darum, wer die neuen Gesichter des Hauses Evershine im Jahre 7395 werden - jetzt geht es um den Sieger und die Siegerin des Evershine New Diamonds Awards! Aber bevor ich die Namen der beiden glücklichen Gewinner verkünde, bitte ich noch mal um einen tosenden Beifall für unsere Zweit- und Drittplatzierten!"

Er vollführte eine geschmeidige Kopfbewegung in Richtung eines mit Schärpen und Blumensträußen bewaffneten Häufchens junger Männer und Frauen, die alle nicht so recht zu wissen schienen, ob sie nun glücklich oder enttäuscht dreinblicken sollten. Dann räusperte er sich und winkte einer jungen, klapperdürren Blondine in einem signalroten Paillettenkleid zu, die sich prompt in Bewegung setzte und mit einem kurzen entzückenden Lächeln in das gesichtslose Grau der Massen einen goldenen Umschlag hinter ihrem Rücken hervorzauberte. Der Ansager nahm ihr das metallisch schimmernde Stück Papier bedeutungsvoll nickend aus der Hand und machte sich dann in fast schon unverschämter Langsamkeit daran, die Lasche zurückzuklappen, um ein mattsilbernes Kärtchen hervorzuzaubern.

Dann zog er beide Augenbrauen hoch, bemühte sich um einen anerkennend-überraschten Blick und sandte dann ein letztes Grinsen zu dem momentan eher bemitleidenswert als glamourös anmutenden Rest der wartenden Models, der sich in seinem Rücken zu einer bildschönen, wenn auch nicht sonderlich stabil erscheinenden Mauer aufgereiht hatte. Ein weiteres Räuspern, gefolgt von einem tiefen, sicherlich vollkommen überflüssigen Atemzug - dann ließ er den Umschlag samt Kärtchen sinken und hob stattdessen das Mikrofon an seinen Mund.

"Und jetzt ist es soweit, der Evershine New Diamonds Award ist entschieden - und die Gewinner sind Li-Anh Shaozu und Ravin Lancis!"

Der Sturm, der in den folgenden Minuten im überhitzten Halbdunkel des ETU losbrach, war schlicht und einfach nicht mehr in Worte zu fassen. Eigentlich war es auch überhaupt nicht mehr dunkel, denn überall flackerten grelle Blitzlichter auf, durchschnitt ein infernalisches Kreischen, Klatschen und Johlen die Luft, dass es beinahe schon in den Ohren schmerzte. Doch das war Aya so egal wie selten zuvor etwas in ihrem Leben, hatte sie selbst doch keinesfalls vor, hinter dem Jubel der Massen zurückstecken zu müssen. Der schmierige Ansager hatte seine Worte kaum über die Lippen gebracht, als es sie schon nicht mehr auf ihrem Sitz gehalten hatte, und jetzt fiel sie in den Rausch des Beifalls, des Schreiens und Lachens ein, so als ob sie nicht im Publikum eines Schönheitswettbewerbs, sondern um knappe vierzehn Jahre verjüngt in der zweiten Zuschauerreihe auf dem Konzertes einer höchst angesagten Boygroup befände.

Und es kümmerte sie nicht auch nur das kleinste bisschen, ob sie am nächsten Tag nun heiser und gehörlos sein würde, ob sie sich vor versammelter Mannschaft zum Affen machte oder ihren Mitarbeitern just in diesem Augenblick auch noch das letzte bisschen Respekt vor ihrer Person raubte, das diese wohl sowieso niemals wirklich besessen hatte. Es war, als ob irgendeine höhere Macht kurzerhand jene Lampe abgeschaltet hatte, die ansonsten in vierundzwanzigstündigem Dauerbetrieb ihr fahles, unheilvoll blasses Licht auf die Schatten der Vergangenheit gerichtet hielt, um sie präsent und lebendig zu halten. Und nun, ohne diese gewohnte Last auf ihren Schultern, fühlte sie sich so frei und losgelöst wie schon lange nicht mehr.

Was hätte sie auch daran hindern sollen? An diesem einen überwältigenden Abend schien eigentlich jeder einzelne im gesamten gigantischen Saal in einer Art übermütig heiteren Feierlaune zu schweben, ganz gleich ob Teenager, Banker, Mutter, Anwalt oder Geschäftsmann, irgendwie war doch alles, einfach alles nur eine einzige Party, eine Party, an der ein halber Quadrant Anteil hatte. Und dieser Gedanke allein war weiß Gott ein verflucht berauschendes Gefühl.

Die Menge beruhigte sich erst wieder, als die strahlende Li-Anh mit Krönchen, Blumen und einer blau-silbernen Schärpe bedacht worden war und nun ein Mikrofon in die Hand gedrückt bekam, um sich unter Tränen und auf rührendste Art und Weise bei Freunden, Familie und Jury zu bedanken - überhaupt bei allem, ohne die ihr Sieg niemals möglich gewesen wäre und die von Anfang an immer zu ihr gehalten und an sie geglaubt hatten. Ein letzter Handkuss ins Publikum, dann nahm der Ansager der jungen Frau das Mikrofon wieder aus der Hand und gab es mit einem anerkennenden Nicken an Ravin weiter.

Was gleichzeitig jenen Moment einläutete, von dem Aya nicht nur den ganzen Morgen über, sondern mindesten schon anderthalb Wochen lang Tag und Nacht geträumt hatte.

"Ich möchte mich bei der Jury und dem Publikum bedanken", begann der Weißhaarige zu sprechen und rang sich ein Lächeln ab, das zwar unbestreitbar umwerfend war, das aber dennoch nicht so recht zu der Kälte in seiner Stimme passen wollte. Eine Tatsache, die außer Aya allerdings niemand so recht zu bemerken schien, stattdessen wurde von einigen Seiten her ein fast schon an Hyperventilation grenzendes Kreischkonzert im Publikum laut, was ganz unweigerlich wieder die Erinnerung an den Auftritt einer gewissen Boygroup in der jungen Wissenschaftlerin weckte. Sie schüttelte den Kopf, rief sich gewaltsam in die stickige ETU-Arena zurück und harrte mit einem verzückten Lächeln auf den Lippen jenem schönsten aller Augenblicke, der sie an diesem ganzen Abend und überhaupt noch erwarten sollte.

"Am allermeisten möchte ich mich aber bei meiner Chefin bedanken, Dr. Aya Mitsuyuki von INFERIA Technologies", fuhr Ravin mit einem weiteren, sogar noch ein wenig überzeugenderen Lächeln auf den Lippen fort und veranlasste deren Herz spontan zu einigen Salti rückwärts bis knapp in die Halsgegend hinauf. "Sie hat mich überhaupt erst auf diesen Wettbewerb aufmerksam gemacht und ohne ihre Unterstützung wäre ich sicherlich nicht so weit gekommen!"

Besagte Aya war gerade noch damit beschäftigt auszuprobieren, wie weit sie ihre Mundwinkel nach oben verziehen konnte, als sie mit einem Mal ein unsanfter Stoß in die Seite traf.

"Du solltest dich was schämen, Aya", raunte ihr D mit vorwurfsvoller Miene zu, die sie jedoch lediglich mit einem weiteren Lächeln quittierte. "Dazu hast du ihn gezwungen!"

"Ich habe ihn darum gebeten", verbesserte sie sanft und schlug ihre langen Wimpern einige Male auf und nieder. "Oder kannst du mir vielleicht eine bessere, günstigere und vor allem weitreichendere Werbung verraten? Und die haben wir uns meiner Meinung nach nun wirklich verdient, wo doch unser erster Klient schon gleich nicht mehr... zahlungsfähig ist."

"Und als nächstes lässt du ihn deine Telefonnummer verkünden und Visitenkarten ins Publikum schmeißen, oder was?" Er rümpfte die Nase und bedachte seine Vorgesetzte mit einem gespielt verächtlichen Kopfschütteln. "Dass du dir für so was nicht zu schade bist... aber halt, gerade fällt mir noch so eine Ungereimtheit auf: Wer veranstaltet eigentlich diesen ganzen Zirkus hier, jetzt, da Venelle nicht mehr unter den Lebenden weilt?"

"So weit ich weiß wurde der Evershine-Konzern von einer der führenden Firmen aus dem Alpha-Quadranten aufgekauft, dem... Mesaya-Konzern, wenn ich mich nicht irre. Die haben ihren Hauptsitz auf der Erde und strecken jetzt ihre Fühler nach neuen Ecken des Universums aus. Das ist auch eine Form von Vermarktungsstrategie, weißt du? Aber von solchen Dingen scheinst du ja nicht sonderlich viel Ahnung zu haben, mein lieber D."

Der Schwarzhaarige sparte sich eine Antwort, vielleicht ganz einfach deshalb, weil ihm keine mehr einfiel, die amüsant oder schlagfertig genüg gewesen wäre, und nach einigen Augenblicken tat Aya es ihm gleich und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer in ihren samtroten Sitz zurücksinken. Die junge Wissenschaftlerin nahm einen tiefen Schluck von ihrem abgestandenen Mineralwasser, das mit einem Mal eigentlich gar nicht mehr so schlecht zu schmecken schien.

Dann wandte sie ihren Blick aufs Neue dem wunderschönen Paar auf dem Laufsteg zu und betrachtete mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit die beiden makellosen Gestalten, bis diese irgendwann im Flackern der Blitzlichter vor ihren Augen verblassten.
 

Akte 3c/ Ende
 

PS: Viele Grüße an Yoko-chan... wie war das, du errätst nie, wer der Täter ist? ^_____^



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  TiaChan
2005-03-04T23:43:45+00:00 05.03.2005 00:43
So, lange Zeit nachdem ich's eigentlich gelesen habe... ^^;; hier nun mein Kommentar zu 3b und 3c, die ich ja mehr oder weniger hintereinander las. ^_^;;
Erst einmal bin ich froh, dass Ravin nach 3a nicht gestorben ist... und auch später nicht. ^^; Aber gut, wir hatten ja inzwischen alle genug Zeit, nachzudenken und darauf zu kommen, dass das wirklich nicht ging (zumindest nicht in deiner Geschichte... es gibt ja bestimmte Manga-Ka, denen ich sowas zutrauen würde.... >.> aber Levitation ist ja zum Glück von dir ^-^), aber an der Stelle sah's eben zuerst so aus, als wär das möglich *drop*

Weiter finde ich diese Stelle wirklich gut, wo man meinen könnte, Ivy hätte die Morde begangen. Ich hab mich da eigentlich auch gefragt, warum sie dann auch die Männer umbringt, aber doch ist es irgendwie so endgültig und glaubwürdig geschrieben, dass man's fast doch glauben könnte. ^^; Der einzige kleine Hacken da war: Ich hatte das Gefühl, man hat davor kaum was von ihr gelesen. Es sind mehrere Charas aufgetreten, aus denen du uns ja ständig die Verdächtigen auswählen lassen wolltest, aber über die meisten hat man eigentlich nur sehr wenig gewusst, fand ich. Die einzigen Ausnahmen waren... (*drop* jetzt hab ich die Namen vergessen. tra-la-la... das hab ich nun davon, wenn ich den Kommi erst so spät schreib -.-)... der Mörder eben (aber da fiel es mir wirklich schwer, zu glauben, dass er wirklich selbst die Morde begeht. Es kommt zwar öfter vor, dass der Täter die Polizei ruft.. aber hier war's ein bisschen was anderes..... dafür ist es am Schluss aber immer noch nicht unwahrscheinlich. Denn man sieht ja: der Mensch ist wahnsinnig, da gibt es dann kein unmöglich mehr.) .. ach ja, und dieser.. Grinsen, wie der auch immer hieß, über den hat man auch etwas mehr gelesen, aber eigentlich ja auch nichts, was ihn verdächtig machen würde und der stirbt ja auch relativ bald.
Naja, irgendwas Positives hat es auch wiederum, dass man über die Personen nur so wenig erfährt: irgendwie macht es die Geschichte etwas noch .. unheimlicher. ^^; Es ist ständig die Rede von vielen Leuten, aber man weiß nichts (oder so gut wie nichts) von diesen vielen Leuten, sie haben keine Persönlichkeiten, da kann sich dann jeder als Mörder entpuppen. ^^;

Und die Szene am Ende... O_O Aber da hab ich nicht mehr daran gedacht, dass er stirbt. ^^; Ich hab dazugelernt.. und irgendwie ist es ja oft bei Krimis so, dass der Hauptcharakter am Ende die meisten Probleme bekommt. *drop* Als Leser denkt man dann auch an das unbeendete Telefongespräch.... aber die Szene ist deswegen keinesfalls weniger spannend. Schließlich kam es mir einmal etwas unwahrscheinlich vor, dass bei Ravin diese komische Flüssigkeit nicht gleich gewirkt hat, nachdem die anderen ja ohne Probleme umgebracht worden waren. Das sah ein bisschen danach aus: Yu-chan versucht, die Szene noch mehr in die Länge zu ziehen und spannender zu machen und vernachlässigt dabei etwas die Glaubwürdigkeit... ABER am Ende erfährt man ja, dass er ein Cyborg ist. Von daher wird das auch geklärt.
Ach ja... darauf dass er ein Cyborg ist, bin ich etwas früher gekommen. Aber mit etwas.. Hilfe von Yoko. *drop* Sie hat's mir verraten, ohne es selbst zu wissen. *seufz* ^^;;; (Irgendwas wie: "An dieser Stelle bin ich auch auf etwas draufgekommen, was erst später rauskam" - und das bei der Szene, wo das eine Cyborg-Modell umgebracht wurde und Ravin den Unterschied zwischen Mensch und Cyborg nicht sehen konnte. - Die Menschen sind da alle irgendwie... gemein. -.-)
Irgendwie macht's ihn aber in meinen Augen noch sympatischer, dass er ein Cyborg ist. ^^; *drop* Keine Ahnung warum, vielleicht aus demselben Grund, aus dem ich Seiji ausgedacht hab? Irgendwo... ach, egal. Oder.. an der oben genannten Stelle wirkt er sogar noch menschlicher als die Menschen. ^^; Da wird diese Außenseiter-Tolleranz angesprochen. Irgendwo ist ein Cyborg unter Menschen doch wie ein Mensch unter Elfen. ^^;;;
Naja ich find's eben irgendwie waii. *drop* Aber ich find ja eh alles waii. (s. mein animexx-Steckbrief: waii = positiv)


Was ich bei Levitation aber am allerbesten finde im Vergleich zu deinen anderen Geschichten: Die einzelnen abgeschlossenen Kapitel. Ja, ja, das gibt es eigentlich bei tausend anderen Serien... aber die tausend anderen Serien haben nichts mit deinen Geschichten zu tun, sie sind von anderen Autoren und haben eigene Vor- und Nachteile. Von deinen Geschichten ist es aber - von denen, die ich gelesen hab - die erste, bei der ich auf so etwas stoße: Eine Geschichte (oder besser Episode) ist zu Ende, und trotzdem geht die FanFiction weiter. Wenn man ein Buch liest, will man ja immer, dass es endlich zu Ende geht, damit man weiß, wie es ausgeht, einerseits. Und andererseits will man aber auch auf keinen Fall, dass es zu Ende ist, weil's dann weg ist. Und es ist mir nach Levi 3c eben aufgefallen, dass ich jetzt zwar endlich weiß, wie dieses "Bin ich schön?" ausgeht, aber "Levitation" trotzdem noch lange nicht zu Ende ist, und das hat mich plötzlich sehr, sehr gefreut. ^______^

Also, ich freue mich auf eine Fortsetzung! ^-^

mata ne,
tía
Von:  killerkuerbis
2004-09-20T17:06:37+00:00 20.09.2004 19:06
JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA~~!!!!!! *noch ein paar Minuten so weiterbrüll*
ICH. HATTE. RECHT!!! *vor Freude wie irre durchs ganze Zimmer hüpf*
....
*gaaaanz langsam wieder beruhig und zu Atem komm* ^^;;;
Nun, wir wollen hier ja keine Lobeshymnen über mein geniales detektivisches Gespür beginnen... aber es ist nun mal wirklich so, dass ich meist nicht errate, wer der Täter ist...egal wie viel ich rumrätsle und vermute...
*drop*
Was soll ich zu diesem Kapitel sagen? Es war lang, es musste mit einigen Widerständen kämpfen, bevor es hier online kam... und es war und ist schlicht und ergreifend einfach nur genial. Ich ergehe jetzt nicht in Ergüssen darüber, wie unglaublich außerordentlich gut du mit Worten, mit Satzbau und dem ganzen Kram umgehen kannst; oder wie du es schaffst, mit eben diesen Worten und Sätzen zu fesseln und zu begeistern - das haben andere vor mir getan, das habe ich auch selbst schon oft getan, das weist du hoffentlich.
Ich meine... wie KANN etwas nur soo spannend sein? O_O
Gegen Ende von 3b sah ich mich meinen schönen Verdacht wirklich schon als eine Art fixe Idee abtun... Ich hatte einfach zu viele Informationen, die ich nicht einzuordnen wusste, hab mir den Kopf über 3b zerbrochen, nach jedem kleinsten Indiz gesucht, das meinen Verdacht untermauernd könnte.... aber im Endeffekt hatte ich RECHT! Ich hatte Recht! Ich hatte Recht! Ich-
*räusper*
Ich muss gestehen, ich bin froh darüber, dass ich schon ganz ganz am Anfang, als Venelle das erste Mal auftauchte, beschlossen hatte, ihn nicht zu mögen. Denn irgendwie hat sich diese Abneigung in Abscheu weiterentwickelt. Der Typ ist ja so was von widerlich!!
Diese eine Stelle mit dem "an Marque Venell junior weitergeben" fand ich ja unter anderem irgendwie besonders abstoßend... ich meine...ich konnte den einen schon nicht ab, und noch einer von der Sorte...brrrrr... nein, danke *schüttel* (diese Vorstellung ist natürlich nicht halb so widerwärtig wie die eines Sigfried junior, aber gut, das steht auf einem anderen Blatt...)
Genial fande ich auch die Idee mit dieser Cyborg-Tussi. Das wirft spontan solche Fragen auf wie zum Beispiel, wo Leben aufhört und Maschine anfängt usw...
Aber als dann plötzlich diese Ivy als Mörderin auf dem Plan stand war ich doch *dezent* verwirrt. Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt, aber da war ich dann auch so weit dass ich einfach nicht Unrecht haben WOLLTE. Ich wollte nicht, dass sie der Sweet Slaughter ist. Und sie wars ja auch nicht. ^__^ Aber irgendwo tat sie mir auch leid... und ich muss sagen, als sie einmal sagte, ihr Vater habe ihr immer gesagt, wie schön sie sei...dachte ich mir eigentlich schon, wo der Hase im Pfeffer liegt. (Komische Formulierung irgendwie...aber zutreffend.)
Hm...kommen wir zu meiner Lieblingsszene. Oder eher zu SzeneN. Ich kann mich nämlich irgendwie nicht auf eine beschränken. ^^;
Zuerst einmal die mit Ivy auf dem Dach. Ich fand diese Beschreibungen so schön... wie sie im Wind stand und das alles...und plötzlich so wunderschön war...ich konnte es mir bildlich vorstellen und die Szene war wirklich wirklich schön. *nick*
Meine Zweite Lieblingsszene kommt eigentlich fast danach und geht auch fast in den Schluss hinein, nämlich die in der Technik. Diese Darstellungen des Aussehens des Raumes in seiner völligen Dunkelheit, und die Umschreibungen der Kabel und Pulte und Pfeiler... ich meine, das man solches Zeug auch SO beschreiben kann. Einfach genial! Im Grund war das ganze Kapitel 3c eine einzige Lieblingsszene, aber wenn ich das behaupten würde, könnte ich gleich sagen, dass das ganze Levitation eine einzige Lieblingsszene ist, und da wären wir dann keinen Schritt weiter. (*drop* Was laber ich da eigentlich? O_o)

Und das Ravin...also, dass er kein Mensch ist...das dachte ich einmal, nur ein einziges Mal, und zwar gaaaanz ganz am Anfang, als er gerade das erste Mal aufgetaucht war, da dachte ich es einen winzigen Moment lang - und tat es als Unsinn ab. Immerhin...ich meine, es wäre ja nicht so, als ob du keine Charas hättest, die gefühlskalt wie Eisbrocken rüberkommen oder so... aber ich hab es echt nicht mehr geglaubt und auch im Laufe der gesamten Story daran nicht mehr einen einzigen Gedanken verschwendet. *drop* Naja, und da wären wir wieder bei der Geschichte mit der Frage, wo Leben aufhört und Maschine anfängt, bzw. ob man diese beiden Grenzen so gründlich wie nur irgend möglich verwischen kann, sodass es irgendwann mal nur noch einen geringfügigen bis gar keinen wirklich Unterschied mehr macht. Und ich muss sagen - das ist die fabelhaft gelungen! ^_^ Ich meine, dass Ravin ein Cyborg ist, ist natürlich ein wichtiges Faktum der Story, aber um ihn ins Herz zu schließen, spielt das, finde ich, keine Rolle. Zumindest nicht für mich, und ICH habe ihn schon lange ins Herz geschlossen. ^_^
Und dass er den Wettbewerb gewinnen würde (lassen wir mal außer Acht, dass es zwei Sieger gab ^^;), hätte ich nicht wirklich gedacht. Natürlich habe ich es GEHOFFT. Gehofft und Gewollt...aber irgendwie hätte ich es nicht gedacht... es ist schwer zu beschreiben, ich meine, wer sonst außer Ravin könnte so einen Modelcontest gewinnen... aber trotzdem hätte ich nicht wirklich daran geglaubt. Auch wenn ich mich jetzt natürlich freue, dass er gewonnen hat. ^_^
Soooo, was gibbet jetzt noch?
Von wegen unleserlich! Ich hab's gelesen, ich wüsste, wenn das unleserlich wäre! *schnaub*
Aber gut, dass ist auch etwas, dass ich weis, und das du weist, und das sicher auch noch ein paar andere so sehen. Und jetzt ist es ja oben.
Oh, achso, und ich fand das Ende irgendwie toll. ^^
Ich meine, es ist eigentlich nie so, dass ich Ende mag. Was jetzt nicht daran liegt, WAS da drin steht, sondern einfach an der Tatsache, dass es ein Ende ist. Aber diesmal... irgendwie gefiel mir das Ende. Vielleicht, weil es einfach schön war, vielleicht, weil es witzig war, vielleicht, weil Ronin auftauchte...warum auch immer, ich mag es. ^_^
Jetzt bleibt noch zu hoffen, dass der nächste Mord nicht mehr lange auf sich warten lässt, und somit ein nächstes Kapitel. *an Schule denk* ... *trotzdem weiterhoff ^_^;*
Wenn ich in diesem Comment doch noch irgendwas vergessen haben sollte... fällt es mir sicher zu spät auf. ^^; Die vielen Grüße sende ich natürlich postwendend zurück, zusammen mit noch ein paar Hundert mehr. ^__^
Love you!!
Yoko

PS: Das ist definitiv der längste Comment ever, denn ich je geschrieben habe... aber...das musste einfach sein. Nach so einem Hammerkapitel. Na ja, ich hoffe, du freust dich darüber, auch wenn das Lesen sich vermutlich als längere Angelegenheit herausstellen wird....^^;; (Ich hatte Recht ich hatte Recht ich hatte Recht!!! *freu* Nyahahahahaha....*mit nachhallendem irren Lachen irgendwo im Nichts verschwind* ...)
Von: abgemeldet
2004-09-17T17:16:35+00:00 17.09.2004 19:16
Hi^^
Hoffe ja mal, ich bin der Erste!!!!
Wenn nicht, ist auch egal, Hauptsache ich kann hier mal loswerden, wie VERDAMMT geil dieser Teil war!!!!^___~
Ernsthaft, ich bin ja schon eniges von dir gewohnt, aber das hat echt alles übertroffen. Wo fang ich denn mal am besten an. Ja, ich hab's, ich weiß, ich schreib das so gut wie jedesmal, wenn ich dir einen Kommentar gebe, aber ich muss es einfach loswerden. Deine Wortwahl und die Art wie du schreibst ist nur der Hammer. So bildgewaltig und dann auch oft so richtig fachmännisch. Ich find so was ja immer schrecklich genial^^ Und dann erst der Inhalt! Der "Mord" an Tara war wirklich cool, ich meine, Möge sie in Frieden neu programmiert werden, aber die Idee mit dem Scheinwerfer, der Schiedsrichter gibt volle Punktzahl^____^
Und dann die Sache mit unserer kleinen Selbstmörderin.......das war echt fies, weil ich einen Moment lang wirklich, ernsthaft und wahrhaftig dachte, sie IST der Killer, also, klar, sie war schon eine Killerin, aber halt nicht DER Killer, der Sweet Slaughter. Ich meine, im Grunde gab es ja schon Indizen dafür, dass sie es nciht war, du hast es im Text angedeutet, der liebe empathische Cailan hat es erwähnt und immerhin waren da noch über 17 Seiten übrig, also war es dnekbar klar, dass noch etwas pasieren musste, aber ich bin drauf reingefallen......-__-......naja, ihr Freitod war auch wirklich ergreifend, ich meine, ich mochte sie nicht, so ganz ganz wirklich absolut rein gar nicht, aber so ganz zum Schluss, naja, da tat sie mir halt doch irgendwie leid.......und das du ne Meisterin im Spannungsaufbau bist, brauch ich dir ja ohl auch nicht groß zu sagen, oder?^^.....Die Szene im "Inneren" war ernsthaft gefährlich für herzkranke Leute. Ich muss dazu sagen, ich bin einer der Menschen, die dazu neigen, Protagonisten, die sie mögen, (ob nun im TV oder in Büchern) in spannenden und lebensbedrohlichen Szenen immer Ratschläge zuzubrüllen und tatkräftig mit Händen und Füßen mitzuhelfen^^°, demnach hab ich auch da äußerst heftig vor meinem PC herum gefuchtelt und Ravin wohlgesonnen gerateb, sich doch endlich mal da WEGzubewegen!!*drop*........naja, lassen wir das. Dass es dann der Veranstalter höchstselbst war war dann auch überraschend, obwohl ich ihn dann nachher irgendwie doch in Verdacht hatte, aber kriminalistisch war es echt gelungen, und ich war mir echt sicher, dass Ravin stirbt, ich meine, bei dir (bei mir ja auch, ich geb's ja zu.....-__-), kann man sich ja nie sicher sein, dass die "guten" überleben, aber ich bin froh, dass es Ravin noch gibt.......und das Ende fand ich auch cool, sagte ich schon mal, dass ich Ronin einfach klasse finde?, und das Gespräch von D und Aya war echt lustig, die beiden ergänzen sich hervorragend.........also, alles in allem, beste Unterhaltung, die ich mir auch richtig als Roman vorstellen kann, schick es doch mal an nen Verlag, wenn es fertig ist........in diesem Sinne, dein Chris^^
*smile*


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