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Toris

Schnee fiel unaufhörlich durch die Luft, landete auf seinem Kopf und durchnässte seine Stiefel. Jemand hielt seinen Arm fest und zerrte ihn in eine Richtung, in die er gar nicht wollte. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber er konnte nicht. Alles tat ihm weh.

Jemand rief ihn beim Namen, aber es war nicht sein Name. Ein paar Schritte weiter lag jemand mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Er trug eine Art Rüstung oder altmodische Uniform, auf der einige dunkelrote Flecken zu sehen waren. Dieselben roten Flecken, die durch seine eigenen Kleider gedrungen waren.

„Feliks! Wach auf, Feliks! Steh schon auf!“

Er wusste, dass er selbst rief, aber es war weder seine Stimme noch verstand er, was die Worte bedeuten sollten. Der Mann auf dem Boden zitterte leicht und hob dann den Kopf. Sein Gesicht war blass und ein wenig Blut war aus seiner Nase gelaufen, aber er erkannte ihn trotzdem. Es war der komische kleine Mann mit der hohen Stirn.

„Hilf mir, Feliks! Bitte!“

Feliks sah ihn an, und einen Moment lang blitzte wieder diese hilflose Wut in seinem Blick auf. Dann grinste er und begann, zu lachen. Warum lachte er? Was gab es da zu lachen? Es war kalt und ihm tat alles weh. Das Lachen hallte wie von nicht vorhandenen Wänden wider, wurde lauter und lauter, bis es seinen gesamten Kopf zu füllen schien. Die Schmerzen wurden immer stärker, bis er glaubte, es nicht mehr auszuhalten, ohne zu schreien.

Das Kind erwachte schweißgebadet und sah geradewegs in das Gesicht des Mannes, den es vor ein paar Tagen getroffen hatte. Vor Schreck wich es tiefer in sein Kissen zurück.

„Hey“, sagte Feliks und grinste schief. „Ich bin's nur.“

Das Kind sah ihn mit großen Augen an. „Ich hatte einen Albtraum“, flüsterte es.

„Ja? Was für einen?“

„Es hat geschneit, und du hast auf dem Boden gelegen und gelacht. Und mir hat alles wehgetan.“

Feliks runzelte die Stirn. „Du meinst, deine Erinnerungen kommen zurück?“

„Nein“, sagte das Kind langsam, „ich glaube nicht. Es war nur ein Traum.“

Nachdenklich sah Feliks es an. „Du bist wirklich Liet“, murmelte er.

„Ich habe darüber nachgedacht“, sagte das Kind. „Was bedeutet es, wenn ich es wirklich bin?“

„Was es bedeutet?“ Feliks lachte, doch dann hielt er inne und legte erneut die Stirn in Falten. „Gute Frage, eigentlich. Es bedeutet jedenfalls, dass du dich auf mich verlassen kannst. Und dass du potentiell unsterblich bist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Erinnerungen wiederkommen, sobald du wieder das Alter erreichst, in dem du gestorben bist.“

„In dem ich gestorben bin?“, wiederholte das Kind mit großen Augen.

„Also so ungefähr zwanzig. Ich hoffe, dass es so funktioniert. Es gibt leider keine Bedienungsanleitung für dich, wo man das nachlesen könnte, haha...“

„Warum bin ich gestorben?“, fragte das Kind.

Feliks legte den Kopf schief. „Weiß ich auch nicht genau“, gab er zu.

„Was vermutest du denn?“

„Eeej, wieso interessiert dich das? Du lebst doch, und das wird auch so bleiben.“

„Hat mich jemand umgebracht?“, fragte das Kind und klammerte sich an seinem Kissen fest. „Gibt es jemanden, der mich umbringen möchte?“

„Keine Ahnung!“ Feliks schüttelte den Kopf. „Was stellst du nur für Fragen, Liet? Klar hat Gilbert unzählige Male versucht, dich umzubringen, aber ich habe keine Ahnung, ob er es jetzt noch will. Falls er noch lebt.“

„Es ist nur“, murmelte das Kind, „dass ich plötzlich jemand bin, der ich vorher nicht war. Und ich muss doch wissen, was ich jetzt tun muss. Wer mein Freund ist und wer mein Feind. Wem ich vertrauen kann und wem nicht. Und...“

„Du kannst mir vertrauen“, sagte Feliks überzeugend. „Den Rest erkläre ich dir bei Gelegenheit. Du hast zwei... sagen wir mal, Seelenverwandte, denen du wahrscheinlich trauen kannst. Raivis und Eduard. Ach, und Alfred, klar, der ist schließlich ein Held. Und... wow!“ Er riss die Augen auf. „Heißt das, du erinnerst dich nicht einmal mehr an Natalia?“

„Natalia?“, wiederholte das Kind ratlos. „Wer ist das?“

Feliks lachte lauthals und ein wenig hämisch auf. „Nein, das gibt’s nicht! Es ist wirklich unglaublich, Liet!“

„Was ist denn mit ihr?“, fragte das Kind, das sich nicht entscheiden konnte, ob es verwirrt oder wütend sein sollte. „Sag mir, was mit ihr ist!“

Bevor Feliks antworten konnte (falls er das vorhatte), klopfte es an der Tür. Er wurde schlagartig ernst und stand auf. „Ich muss dann wieder“, sagte er.

„Warum?“, fragte das Kind erschrocken. „Ich will nicht, dass du gehst. Du musst mir noch so viel erzählen!“

„Ich komme wieder“, sagte Feliks beruhigend. „Ganz sicher. Aber davor habe ich noch etwas zu erledigen.“

„Was denn?“

Es klopfte erneut, diesmal drängender. „Ich muss los“, sagte Feliks hastig und griff nach den Händen des Kindes. „Wenn du wieder Träume hast, geh davon aus, dass alles wahr ist. Ach ja... dein Name ist immer Toris gewesen, hörst du? Toris Lorinaitis. Aber ich nenne dich Liet.“

„Warum?“, fragte das Kind perplex.

„Weil ich es kann! Tak!

Feliks zog das Kind zu sich heran und drückte es kurz an sich. Dann trat er zurück, öffnete die Tür und verließ den Raum. Das Kind blieb reglos auf dem Bett sitzen und hörte, wie die Tür wieder verschlossen wurde.

„Toris“, murmelte es vor sich hin, um bloß nichts zu vergessen. „Toris. Ich heiße Toris, aber Feliks nennt mich Liet.“

Es hob eine Hand und zählte hastig an seinen Fingern ab. „Ich habe Raivis und Eduard, denen ich wahrscheinlich trauen kann. Ich habe Alfred, der ein Held ist. Gilbert wollte mich mal umbringen. Und... wie war ihr Name? Natalia... wer kann Natalia sein?“

Das Kind verstummte ratlos, riss sich dann aber zusammen. „Ich heiße Toris“, murmelte es und nickte leicht. „Toris.“

Langsam begann der Name, vertraut zu klingen.
 

„Also?“

Feliks hob den Kopf und sah den Mann vor sich mit leicht gerunzelter Stirn an. „Es geht ihm gut“, sagte er langsam.

„Natürlich geht es ihm gut“, erwiderte der Mann trocken. „Wir haben uns an unseren Teil der Abmachung gehalten.“

„Ja“, murmelte Feliks und wusste nicht, ob er darüber erleichtert oder verärgert war. Erleichtert, weil es Toris gut ging, oder verärgert, weil er jetzt keine Entschuldigung dafür hatte, seinen Teil der Abmachung nicht einzuhalten.

„Wir werden sofort aufbrechen.“

„Sofort?“, wiederholte Feliks verblüfft. „Aber ich...“

„Wir handeln so schnell wie möglich. Haben Sie Ihre Sachen schon gepackt?“

„Ja“, antwortete Feliks. „Ja, eigentlich...“

„Sehr gut“, erwiderte der Mann und drehte sich um. „Holen Sie sie und kommen Sie nach draußen.“

Er ging den Gang hinunter und ließ Feliks stehen, der den Kopf hängen ließ. „Alles für Liet“, murmelte er und ballte die Fäuste an seinen Seiten. „Alles für meinen Liet... es tut mir Leid, Feli, aber das musst du verstehen.“



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