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Inspector Black und das Mysterium des toten Zwillings

Eine KuroFye-FF (Kap.10 lädt)
von

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Ein Grund zum Leben

Dienstag Nachmittag in Clow City und Kurogane Suwa verstieß gegen eine seiner eisernsten Regeln.

Lass nie einen Verdächtigen aus den Augen, wenn du seine Wohnung durchsuchst! Und obwohl man es kaum eine Durchsuchung nennen konnte, wenn der leitende Ermittler nur neben einem Regal stand und die Titel der Bücherrücken las, war es sicher nicht clever gewesen, Fye de Flourite Zeit für sich allein zu geben.

Was war also der Grund, warum der Schwarzhaarige sich gnädig gezeigt hatte? Mitleid mit dem Hinterbliebenen? Empathie?
 

Ja und nein.

Ja, es gab Momente, da konnte er den Kummer des Blonden nachempfinden.

Nein, das war nichts, das ihn über seine eigenen Regeln hinwegsehen ließ.

Der Grund war weit trivialer. Er hatte Kopfschmerzen.

Die Hitze machte Kurogane schläfrig und er versuchte immer noch mit all den Informationen klar zu kommen, die seit dem heutigen morgen auf ihn einströmten. War es wirklich erst neun Stunden her, dass er den Fall angenommen hatte? Es fühlte sich mehr als eine Woche an.

Diese kleine Ruhepause war angenehm. Selbst wenn der blonde Irre gerade dabei sein sollte, sein Schlafzimmer von belastendem Material zu bereinigen. Und nebenbei konnte der Detective Inspector sich einen Eindruck vom Arbeitszimmer des Toten machen.
 

In einem Anflug von Neugier griff der Schwarzhaarige nach dem ersten Buch der ’Märchenchronik’ und schlug den Einband auf.
 

Ein Meer aus Blumen

Oder

Wie Rotkäppchen zur Schnüfflerin wurde

Von Yuui de Flourite
 

Darunter war eine Widmung.
 

Jeder Mensch braucht ihn.

Einen Grund um zu leben.

Eine Person, die ihm wichtig ist, die ihn mit der Welt verbindet.

Ich glaube daran, dass es für jeden Menschen einen zweiten gibt, der nur zu dem anderen gehört; der dafür geboren wurde, jenen ersten zu komplettieren.

Einen solchen Menschen zu finden ist schwer, und doch hören wir nicht auf, nach ihm zu suchen. Aber ist die Suche nach dem anderen das, was uns am Leben erhält, bis wir ihn gefunden haben?

Nein.

So lange wir diesen einen Menschen nicht gefunden haben, machen wir unser Leben verzweifelt an jenen fest, die uns am wichtigsten sind. So lange ich denken kann, habe ich für dich gelebt und du für mich. Und deshalb hoffe ich fast, nie dem Menschen zu begegnen, der das ändern wird. Nicht, so lange du noch suchst.

Dieses Buch ist für dich, Fye.
 

Dein dich liebender Bruder,

Yuui
 

Er klappte das Buch wieder zu.

Rieb sich die Nasenwurzel und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Diese Bücher würden ihm sicher keinen Hinweis auf das Mordmotiv oder den Täter geben, sie gaben nur Auskunft über den Verfasser.

Und die Beziehung zu seinem Bruder.
 

Sie hatten sich nahe gestanden.

Das war nicht verwunderlich bei eineiigen Zwillingen, teilten sie doch Erbmaterial und Aussehen, doch die de Flourites schienen sich noch näher gestanden zu haben.
 

So lange ich denken kann, habe ich für dich gelebt und du für mich.
 

Kurogane wusste, dass es sein Beruf war, alles über das Opfer und sein Umfeld herauszufinden, warum also fühlte es sich so an, als ob er gerade eine Grenze überschritten hatte?
 

Einen Grund um zu leben.

Eine Person, die ihm wichtig ist, die ihn mit der Welt verbindet.
 

Und was, fragte er sich, passierte wohl wenn man diese Person verlor?

Wenn die Verbindung zur Welt gekappt wurde...

Neun Stunden zuvor

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

Beta-Leser: Nea (aus dem Elbenwaldforum)
 

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—Yet when we came back, late, from the Hyacinth garden,

Your arms full, and your hair wet, I could not

Speak, and my eyes failed, I was neither

Living nor dead, and I knew nothing,
 

T. S. Eliot, The Waste Land - I: The Burial of the Dead
 

Sie waren ein junges Team, daran gab es keinen Zweifel, aber wenn es um ungewöhnliche Mordfälle ging, dann waren sie die besten, die für den Job infrage kamen. Assistant Chief Yuuko Ichihara wusste das, aber ihr war auch klar, dass sie der Charakter des leitenden Inspectors in Schwierigkeiten bringen konnte, wenn sich die Presse einschaltete.

Kurogane Suwa war ein Mann mit zahlreichen Fähigkeiten. Er besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Menschenkenntnis, den Respekt und das Vertrauen seiner Mitarbeiter. Er vertraute sowohl seinen Instinkten als auch seinem Verstand und hatte die seltene Gabe zu wissen, wann er von welchem Gebrauch machen musste. Und er war ein Muster an Selbstbeherrschung, es sei denn man drückte die falschen Knöpfe (und davon schien es eine Menge zu geben).

Seine Reizbarkeit war ganz nützlich in Verhören, aber völlig fehl am platze, wenn es um Reporter ging, denn dann entglitt dem sonst so schweigsamen Ermittler das ein oder andere Detail, das lieber ungesagt geblieben wäre.

Aber, wenn die Informationen korrekt waren, die Yuuko erhalten hatte, dann hatte die schnelle Aufklärung des Falls Vorrang vor der Vermeidung unangenehmer Schlagzeilen.

Sie nahm den Hörer ihres Telefons ab und wählte Kuroganes Nummer.
 

~*+*~

Es war fünf Uhr morgens und die Sonne würde bald aufgehen. Sommer in Clow City. Das bedeutete Hitze, Lärm und einen drastischen Anstieg der Kriminalität. Besonders in diesem Viertel der Stadt. Und die Tatsache, dass er bis auf ein dunkelrotes Hemd komplett in schwarz gekleidet war, half auch nicht gerade die Wärme erträglicher zu machen.

DI Kurogane Suwa stieg aus seinem nachtblauen Ford Focus, der dank des rücksichtslosen Fahrstils seines Inhabers schon die ein oder andere Schramme hatte. Die Seitenstraßen, durch die er wandelte waren dekoriert mit Dreck, Erbrochenem und einer gebrauchten Nadel hier und da; verlassen bis auf einen Kerl in zu großem Sweatshirt und ausgebleichten Jeans, der neben einer überquellenden Mülltonne saß, die graue Kapuze über den Kopf gezogen.

Kurogane warf ihm kaum mehr als einen flüchtigen Blick zu, aber lang genug um die blasse Haut und die geröteten Augen zu bemerken. So, wie der Junge zitterte, war es wahrscheinlich ein Junkie auf Entzug. Der Ermittler zweifelte nicht daran, dass es nicht lange dauern würde, bis der Kerl den Ring an seinem Mittelfinger verkaufte um an neuen Stoff zu kommen.

Es war doch immer dasselbe in diesem Viertel.

Die leer geräumten und halb verwahrlosten Industrielagerhallen waren der ideale Treffpunkt für Drogendealer, Mafiabosse und illegale Street Fight Events, mobile Spielhöllen und dergleichen mehr.

Das Gebäude, auf das der Schwarzhaarige zusteuerte, machte einen überwiegend unbeschadeten Eindruck, nur wenige Graffiti an den grauen Wänden und die meisten Fenster waren noch heil. Der Lieferanteneingang der Lagerhalle war bereits mit gelbem Band abgesperrt und darüber hing ein Schild, das ein schwarzes Hündchen zeigte, das auf einem weißen Kissen schlummerte. Daneben, in kursiven Lettern der Schriftzug SWEET DREAMS.

Das Lagerhaus war im Besitz einer Firma, die Matratzen herstellte, die aber vor wenigen Wochen bankrott gegangen war. Das war gut, denn so würde ihnen der Inhaber nicht im Nacken sitzen.

Kurogane schob das Absperrband nach oben um sich besser hindurch ducken zu können.

„Also, was haben wir bisher?“, fragte er ruppig, ohne Zeit für eine Begrüßung zu verschwenden. Das war auch nicht nötig, sein Team war diesen herrischen Tonfall von ihm längst gewohnt. Syaoran Li war seinem Vorgesetzten bereits entgegen gekommen, zückte seinen Notizblock und berichtete dann: „Das Opfer ist ein gewisser Yuui de Flourite, Schriftsteller. Kriminalromane. 35 Jahre alt, besaß sowohl die amerikanische als auch die französische Staatsbürgerschaft. Er war momentan dabei, sein neuestes Buch zu promoten, ’Dornröschens ewiger Schlaf’.“

Kurogane gab ein anerkennendes Grunzen von sich. Syaoran war schnell und gründlich, wenn es darum ging, Informationen zu beschaffen, aber der leitende Ermittler hatte selbst erst vor einer halben Stunde den Auftrag bekommen und bei der Zeit, die der Junge für gewöhnlich brauchte, um aus dem Bett zu kommen, war es unmöglich, dass Syaoran schon Zugang zu einem Computer hatte. Obwohl, bei den Handys heutzutage...

„Hatte er einen Ausweis dabei?“

„Wir haben die Leiche noch nicht angerührt. Tomoyo hat ihn erkannt, anscheinend ist sie ein Fan seiner Bücher. Von ihr habe ich auch die Infos“, gab der brünette Junge zu.

„Die Prinzessin ist also noch nicht da?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, denn Kurogane hatte jedem Mitglied seines Teams ausdrücklich eingeschärft, nichts an der Leiche zu verändern, so lange nicht ausreichend Fotos gemacht worden waren und Sakura Kinomoto ihr okay gegeben hatte.

„Sakura-chan ist erst zum Revier gefahren, um ihre Ausrüstung zu holen.“

Die Blitze einer Kamera erhellten in fast regelmäßigen Intervallen die Lagerhalle.

„Onii-san, sieh an, du bist auch schon wach“, neckte Tomoyo Daidouji den schwarz gekleideten Mann, der drei Köpfe größer war als sie. Jeder, der die Beiden ausreichen kannte, wusste, dass die beiden wirklich wie Geschwister waren, obwohl sie unterschiedliche Eltern und Nachnamen hatten. Weil Familie mehr war als die Bande, die durch Genetik festgelegt waren.

Tomoyo war das einzige Kind der Daidouji-Familie, die im Besitz der Piffle Princess Company war – und damit gehörte ihnen quasi auch die halbe Stadt. Die junge Frau mit dem dunklen Haar, das im richtigen Licht violett schimmerte, hatte es also mitnichten nötig, zu arbeiten, aber so konnte sie mehr Zeit mit ihrem großen Bruder verbringen. Außerdem hatte sie Kunst und Fotografie studiert und ein gutes Auge für Details.

„Wissen wir schon, von wem der anonyme Tipp kam?“

„Von einem Mobiltelefon, aber der Besitzer hat es kurz nach dem Anruf ausgeschaltet, deshalb konnten wir es nicht per GPS orten“, sagte Syaoran und Kurogane grummelte nur.

Unwichtig. Darüber konnte er sich auch noch später den Kopf zerbrechen.

Tomoyo senkte die Kamera und legte eine Hand an ihre Wange, als sie sagte: „Es ist wirklich ein Jammer. Er hatte so einen lebhaften Schreibstil. Und Rotkäppchen hatte gerade ihre große Liebe gefunden...“

„Rotkäppchen?“ Kurogane wirkte sichtlich irritiert.

„Die Heldin seiner Romane. Wenigstens hat er Glück gehabt. Nicht viele Menschen sterben so schön. Und so süß.“

Kurogane musste seiner Adoptivschwester recht geben, hütete sich aber das laut auszusprechen. Sie liebte es ihn, damit aufzuziehen. Ihm war nur nicht ganz klar, was sie mit süß meinte, bis ein zarter Duft an seine Nase drang.

Marzipan.

Yuui de Flourite war auf fünf übereinander gestapelten Matratzen gebettet worden, weiße Marzipanrosen umringten das flachsblonde Haar, das im Nacken mit einem Armband aus Zuckerperlen zu einem Pferdeschwanz gebunden worden war. Das Opfer trug eine schwarze Lederhose, dazu ein einfaches Hemd, dessen oberste zwei Knöpfe geöffnet waren und um seinen Hals war ein roter Umhang gebunden worden.

Kurogane war es kaum aufgefallen.

Auch der tiefrote Fleck auf dem reinen Stoff, direkt über der Stelle, wo das Herz lag interessierte ihn nicht sonderlich, seine ganze Aufmerksamkeit war von dem Gesicht des Verstorbenen eingenommen. Die Arme des Schriftstellers waren ausgestreckt worden, die linke Hand umklammerte einen Rosenkranz[1], das Gesicht war zur Seite geneigt worden. Während auf dem linken, geschlossenen Lid eine rote Marzipanrose thronte, war das rechte geöffnet, sodass man die Iris sehen konnte. Sie war von einem solch intensiven Blau, wie man es selten sah.

Kupfersulfatblau.

Die jugendlichen Gesichtszüge des Mannes (handelte es sich wirklich um einen Mittdreißiger?) waren zu einer Maske der Hilflosigkeit und Resignation erstarrt, sein Mund stand noch leicht offen, so als wäre er mitten im Luftholen erstarrt.

„Onii-san?“, fragte Tomoyo leise.

Kurogane holte Luft, merkte dadurch erst, dass er für einen kurzen Moment aufgehört hatte zu atmen. Normalerweise war er unempfindlich für Kitsch, aber etwas an diesem Anblick rührte an ihm. Es erinnerte entfernt an etwas aus seiner Kindheit.
 

(„Heute ist also dein Geburtstag, ja?“)
 

Wer war es noch, der das gesagt hatte? Der Ermittler wusste es nicht mehr.

Seine glutroten Augen wanderten weiter.

An dem Mittelfinger der rechten Hand glitzerte ein silberner Ring.

Das nicht enden wollende Kribbeln in seinem Nacken verstärkte das Gefühl von Déjà vu.

Rot.

Blau.

Silber.

Und dann fiel es ihm ein.
 

Der Polizeibeamte drehte sich um und eilte davon. Er bekam noch so am Rande mit, wie Syaoran seinen Namen rief und dass es außerhalb der Lagerhalle begonnen hatte zu nieseln. Kurogane rannte sogar beinahe in die kleine Kinomoto hinein.

Rot und Blau.

Verklärte Augen, rot umrändert, die starr vor sich hin starrten. Ein silberner Ring am Mittelfinger der zitternden Hände.

Die Mülltonne, an der er vorbei geschlendert war kam nun in Sicht und mit ihr auch zwei dünne Beine, die in Blue Jeans steckten, die an den Körper gezogen waren. Seine Arme ruhten auf den Knien. Der hagere Mann zitterte nicht mehr, als Kurogane vor ihm zum stehen kam, tatsächlich bewegte er sich überhaupt nicht.

„Hey!“

Keine Reaktion.

„Ich rede mit dir, Mann!“ Der Schwarzhaarige packte den vermeintlichen Junkie am Oberarm und zerrte ihn auf die Füße, zog ihm gleichzeitig die Kapuze aus dem Gesicht.

Kurogane wurde konfrontiert mit zwei leuchtend blauen Augen, in denen zwar Leben steckte, die aber ausdruckslos durch ihn hindurch sahen. Das Gesicht des Toten, das in einem letzten Flehen um Hilfe erstarrt war, fand er hier wieder, die blasse Haut schimmerte feucht, benetzt von dem Sprühregen, der auf sie nieder ging.

Eineiige Zwillinge.

Kurogane unterdrückte das Bedürfnis, ein wenig Leben in den Kleineren zu schütteln, stattdessen brüllte er ihn an: „Haben Sie die Polizei angerufen?“

Endlich schien sich etwas in dem Blonden zu regen. Er hob den Blick und... lächelte. Es sollte friedlich aussehen, wurde aber dominiert von der Bemühung nicht in Tränen auszubrechen.

„Sie haben ihn also gefunden, ja? Meinen kleinen Bruder...“

Kurogane fasste das als ’ja’ auf und drängte weiter. „Wie lautet Ihr Name?“

Es schien, als hätte der Zwilling nicht verstanden, er vergrub nur die Hand in dem vom Regen matten Haar und blickte gen Himmel, wo die Sonne langsam aufging.

„Fye...“, murmelte er nach einigen Sekunden.

Fye also. Fye de Flourite.

„Hören Sie, wenn Sie am Tatort waren, müssen Sie mit auf’s Revier kommen. Sie können in meinem Wagen warten -“

„Nein.“ Fye atmete noch einmal tief durch, dann sagte er ganz ruhig: „Erst muss ich ihn noch einmal sehen.“
 

--

To be continued...

~^.^~

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[1] Der christliche Gebetsschmuck, nicht die Pflanzen.
 

Für meine Verhältnisse ist das echt nicht viel. ^^ Nicht mal 2000 Wörter, aber ich werde erst warm. Ach ja, meine beta-leserin ist noch die nächste Woche im Urlaub und ich muss in der Zeit 2 Vorträge halten, davon existiert einer noch nicht mal ansatzweise. Außerdem muss noch 1 Protokoll verfasst werden und nach den 2 Wochen beginnt die Prüfungszeit. Mit anderen Worten, Kapitel 2 kann sich noch etwas ziehen. Sagen wir, so in zwei Wochen?
 

Vorschau:

[...]So weit kam es noch, dass sie jetzt schon Verdächtige mit Vornamen ansprachen. Denn das war der Blonde in erster Linie: ein Verdächtiger. Ein Zeuge. Jemand, der Aufschluss über den Lebensstil des Opfers geben konnte.[...]

Die Lüge im Angesicht des Todes

Beta-Leserin: Nea (Süße, du musst mir noch mal deinen Animexx-Namen senden ^.~)

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

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Every glance is killing me

Time to make one last appeal... for the life I lead

Stop and stare - I think I'm moving but I go nowhere

Yeah, I know that everyone gets scared

I become what I can't be
 

One Republic, “Stop and Stare”
 

Kuroganes Rückkehr wurde mit ungläubigem Schweigen quittiert.

Der groß gewachsene Mann akzeptierte keine Fremden an seinem Tatort so lange nicht alle Beweise gesichert waren, ganz egal ob es sich dabei um die Presse oder andere Ermittler handelte. Und nun brachte er einen Passanten an?

Wäre die Ähnlichkeit zwischen dem Opfer und jener Person weniger offensichtlich gewesen, dann hätte Syaoran-kun sicher versucht, seinen Mentor darauf anzusprechen. Stattdessen begann der junge Mann damit, die Marzipanrosen um die Leiche herum einzutüten und als Beweismaterial zu beschriften.

Da er nichts sagte, war es Sakura, die das Schweigen brach.

„Guten morgen Kurogane-san“, sagte sie und schenkte den beiden Ankömmlingen ein warmes Lächeln. Es lag nicht in ihrer Natur, die Motive ihrer Mitmenschen zu hinterfragen. Die junge Rechtsmedizin war ein vertrauensseliger Mensch, der Ruhepol des Teams und sie behandelte jeden mit Respekt und Freundlichkeit, ganz egal, ob es sich dabei um einen Toten oder einen Lebenden handelte. Mit Ausnahme vielleicht ihres großen Bruders, der der Einzige war, der sie wütend machen konnte.

Kurogane fiel auf, dass sie an der rechten Hand bereits einen Gummihandschuh trug und die Augen des Toten geschlossen haben musste.

Gut.

Das würde den Anblick wenigstens etwas erträglicher machen und das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war ein Nervenzusammenbruch.

„Hören Sie, ich weiß die Frage mag Ihnen merkwürdig erscheinen, aber es ist wichtig für’s Protokoll, dass das Opfer... dass er identifiziert wird. Also – ist das Ihr Bruder? Ist das Yuui de Flourite?“
 

Auf dem Gesicht des blonden Zwillings spiegelte sich keine Regung, kein Hinweis auf den Konflikt in seinem Inneren, an der er zu zerbrechen drohte. Alles in ihm wollte leugnen, dass das hier wirklich geschah, dass er zuvor das Gesicht eines Fremden mit dem seines Bruders verwechselt hatte, ein Hirngespinst geschaffen aus Zwielicht und Befürchtungen, aber hier war er.

Hier war der Mensch, der ihm am wichtigsten war und es gab niemanden, mit dem er ihn verwechseln konnte, aber das war nicht richtig. Fye durfte nichts passiert sein. Es musste doch noch einen andere Erklärung für diesen Moment geben, eine andere Wahrheit, in der das nicht Fye war.

Und dann gab dieser Inspector ihm die Lösung. Eine Möglichkeit, es noch etwas länger zu leugnen, noch ein wenig länger intakt zu bleiben.

Ist das Yuui de Flourite?

Richtig.

Nicht Fye, es war nicht Fye, durfte nicht Fye sein und es gab niemanden sonst, der ihm glich außer... außer Yuui. Denn Yuui und Fye waren gleich.

Yuui konnte ruhig sterben, denn Yuui war nicht wichtig, so lange Fye lebte und atmete.

Dies war der Moment, an dem Yuui de Flourite beschloss, sich selbst zu belügen und seine eigene Existenz auszulöschen, weil es das Einzige war, dass ihn daran hinderte in sich zusammen zu sinken und so lange zu schreien, bis der Lärm auch noch den letzten Rest seines Verstandes getilgt hätte.

Yuui beschloss zu sterben. Yuui war tot. Ja, es war eine Lüge, aber so lange er daran festhielt und so lange andere daran glaubten, konnte Fye noch ein wenig länger existieren.

„Ja,“ flüsterte er nach einem Moment, der ihm wie eine Ewigkeit erschien. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Worte auszusprechen, aber erst wenn sie gehört wurden, würde sein Beschluss zur Realität. „Das ist Yuui.“

Eine warme Hand schloss sich um seine und „Fye“ zuckte zusammen.

„Keine Sorge,“ sagte die junge Frau mit dem fuchsbraunem Haar und den leuchtenden grünen Augen, die ihn aufmunternd anlächelte, „Wir kümmern uns um ihren Bruder. Ich werde ihn mit größter Achtung behandeln.“

Warm. Ihre Hand und ihr Lächeln war so warm, dass es für ihn fast nicht zu ertragen war. Zuerst starrte er sie nur an, dann nickte er.

„Danke...“

„Sie können mich Sakura-chan nennen. Das tun eh alle. Und das da ist Tomoyo-chan und das ist Syaoran-kun.“

Kurogane warf der Rechtsmedizinstudentin einen grimmigen Blick zu und beschloss ihr später einen Vortrag zum Thema „Es ist unsere Aufgabe Hinterbliebene zu befragen und nicht uns mit ihnen anzufreunden“ zu halten.

„Hatte er irgendwelche Feinde?“, unterbrach Kurogane die Zweisamkeit und erinnerte Sakura damit, dass es nicht ihr Job war Händchen zu halten.

„Feinde?“

„Leute, denen er Geld schuldete, verärgerte Fans, verflossene Geliebte... eben jeder, der einen Groll gegen ihn gehegt haben könnte.“

„Alle haben Yuui gemocht - “

Kurogane rollte mit den Augen, hätte er jedes Mal einen Cent bekommen, wenn dieser Satz fiel, wäre er jetzt Millionär.

„- er war ein wenig verrückt und ziemlich launisch, wie es sich für Autoren gehört, aber er war sehr gewissenhaft was seinen Job betraf. Er kam nie zu spät zu öffentlichen Terminen, war höflich und scherzte mit seinen Fans und hielt sich an die Abgabe-Fristen. Er war kein Spieler und machte keine Probleme selbst wenn er getrunken hatte.“ Es tat nicht weh, all das preiszugeben, all diese kleinen Wahrheiten über den Teil von sich, den er aufgegeben hatte, so lange er es schaffte, seine eigenen Worte nicht mit dem Körper in Verbindung zu bringen, der nur wenige Meter entfernt lag.

„Hat er je Drohbriefe bekommen?“, fragte Kurogane weiter, den kleineren Mann nicht aus den Augen lassend.

„Jeder Schriftsteller bekommt Drohbriefe“, antwortete „Fye“.

„Wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?“

Diese Frage sollte unbeantwortet bleiben. Sie machte es „Fye“ schwer sich selbst anzulügen, da sie ihn dazu zwang sich zu erinnern. An die Stimme seines Bruders, die seiner eigenen gar nicht mehr so ähnlich klang, an die Art und Weise, wie sie sich verabschiedet hatten.

Hatte er ihn zum Abschied umarmt?

Was waren seine letzten Worte an

(Fye)

„Yuui“ gewesen?

Er wollte sich nicht erinnern. Zu erinnern hätte bedeutet zu erkennen, dass der Abschied für immer war.

Der Inspector neben ihm seufzte, als er merkte, dass er aus dem Blonden vorläufig nichts mehr heraus bekommen würde. „Tomoyo, fahr Mister de Flourite bitte zum Revier.“

„Fye“, beharrte der Blonde.

„Wie bitte?“

„Ich würde mich wohler fühlen, wenn Sie mich beim Vornamen nennen würden.“

Er musste es hören. Damit er es selbst leichter glauben konnte.

„Fye-san also!“, erwiderte Tomoyo begeistert, hakte sich bei dem Angesprochenen unter und führte ihn freundlich aber bestimmt vom Tatort weg. „Sagen Sie, Fye-san, was machen Sie eigentlich beruflich?“
 

Fye-san.

Kurogane runzelte die Stirn.

Natürlich.

So weit kam es noch, dass sie jetzt schon Verdächtige mit Vornamen ansprachen. Denn das war der Blonde in erster Linie: ein Verdächtiger. Ein Zeuge. Jemand, der Aufschluss über den Lebensstil des Opfers geben konnte.

Er zuckte mit den Schultern. „Okay, Prinzessin, sag mir, was du siehst!“

Syaoran hatte bereits einen Großteil der Rosen weg geräumt und reichte nun der jungen Frau die Hand, damit die sich daran abstützen konnte, wenn sie auf den Matratzenstapel stieg. Als kletterte sie in eine Kutsche und nicht auf ein wortwörtliches Totenbett.

Junge Liebe im Angesicht des Todes... wie prosaisch. Zu prosaisch für Kuroganes Geschmack.

Sakura legte eine Folie aus, um keine Fremdspuren auf der obersten Matratze zu hinterlassen und kniete sich dann darauf. Sie ließ sich einen weiteren Latexhandschuh hinauf reichen und begann vorsichtig mit der Inspektion. „Keine Ligaturmale am Hals. Und keine petechialen Einblutungen im Auge, er ist also nicht gewürgt worden, bevor man ihm die Wunde in der Brust zugefügt hat. Ich kann auch keine Leichenflecke erkennen, und...“ sie nahm behutsam die Hand des Toten in ihre Finger, beugte die leblosen Finger so als könne sie ihm bei einer unbedachten Bewegung weh tun, „...die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt.“ Sakura beugte sich noch etwas weiter über das hübsche Gesicht des Toten und holte eine LED-Taschenlampe aus ihrer Tasche, mit der sie in Ohren und Nase leuchtete. „Keine Insektenaktivität zu beobachten.“

Der Tod eines Menschen bedeutete den ultimativen Verlust an Privatsphäre für alle, die darin verwickelt waren, am meisten aber für den Verstorbenen selbst. Und zusätzlich zu der Penetration durch den Menschen nahmen sich die Insekten dem Toten an, legten ihre Eier im weichen Gewebe ab, damit die nächste Generation ein Festmahl erhalten sollte.

Insekten waren lästige kleine Biester, aber ein hilfreicher Indikator zur Bestimmung des postmortalen Intervalls, kurz PMI.

„Zusammengefasst würde ich sagen, er kann nicht länger als ein paar Stunden tot sein“, rief Sakura herunter, um die unausgesprochene Frage zu beantworten. „Keine Abwehrspuren an Armen und Händen, es gab also keinen Kampf. Die Wundränder in der Brust sind klein und rund, ein wenig ausgefranst. Sieht nach zwei Einschüssen aus. Syaoran-kun, gibst du mir bitte eine kleine Papiertüte und einen angespitzten Spatel?“

Der Brünette Junge tat wie geheißen und seine Freundin pulte die Partikel unter den Fingernägeln hervor. Diese würden später im Labor von Syaorans Bruder nach DNS und Fasern untersucht werden.

Um den Todeszeitpunkt noch genauer einzuschätzen, maß die junge Frau die Lebertemperatur, eine weit invasivere Prozedur als die vorigen oberflächlichen Untersuchungen. Unter Betrachtung von Parametern wie Luftfeuchte und Umgebungstemperatur ließ sich der Todeszeitpunkt damit ziemlich genau bestimmen. Ein geübter Rechtsmediziner hätte eine Vorabschätzung geben können, aber auf den Revier gab es da nur Ichirou „Icchan“ Mihara und er fuhr über die Sommerferien die Spätschichten um die Nachmittage mit seiner Frau und den Zwillingstöchtern verbringen zu können. Deshalb waren sie ganz auf Sakura angewiesen, aber vielleicht war das auch besser so denn Icchan war – höflich gesagt – merkwürdig.

„Okay, ich bin soweit fertig.“ Die junge Frau setzte sich an den Rand der Matratze und streckte die Hände nach Syaoran aus, der prompt rot wurde, als sie sich an seinen Schultern aufstützte. Als er auch noch Sakuras Hüften stützen musste, damit sie nicht hinfiel (seine Freundin war sehr tollpatschig), verdunkelte sich sein Gesicht, bis es etwa die Farbe einer reifen Kirsche erreicht hatte.

Die beiden waren schon zusammen, seit Kurogane den Jungen vor einem Jahr ins Team geholt hatte, aber sie benahmen sich immer noch als wären sie erst einige Wochen frisch verliebt. Beziehungen am Arbeitsplatz waren zwar offiziell nicht so gern gesehen, aber so lange die Arbeit nicht drunter litt, störte es Kurogane nicht.

„Wie bist du hergekommen, Kleine?“, fragte der Schwarzhaarige. Sakura und Syaoran waren erst vor einem Monat in eine gemeinsame Wohnung gezogen und besaßen nur ein Auto, aber Kurogane konnte sich nicht vorstellen, dass sie die U-Bahn genommen hatte mit ihrem Ausrüstungsköfferchen unterm Arm.

„Dita hat mich mitgenommen, sie und Zima mussten ohnehin grad zu einem Einsatz in der Nähe. Ein Einbruch in einem Juweliersgeschäft, wenn ich mich recht entsinne.“ Dita und Zima gehörten zur Einheit für Kapitalverbrechen und waren gezwungenermaßen Partner, da Dita eine etwas komplizierte Persönlichkeit war. Sie mochte klein sein, aber ihr Temperament und ihre laute Stimme machten das wieder wett. Niemand hatte freiwillig mit ihr zusammenarbeiten wollen, also hatte Chief Assistant Yuuko Ichihara sie einfach einem Neuling zugeteilt. Und es schien zu funktionieren. Zima schien die schwierige Art seiner Partnerin nicht zu stören, um genau zu sein gab es kaum etwas, das sein duldsames Lächeln erschüttern konnte.

„Okay, schau noch mal nach, ob der Leichenwagen schon kommt und fahr dann mit ihm zurück. Und wir zwei-“, er deutete auf Syaoran, „suchen nach dem Ort, wo unser Opfer erschossen wurde. Irgendwas sagt mir, es war nicht auf diesen Matratzen.“
 

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To be continued...

~^.^~

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MASSIVE TWIN CONFUSION! XD.

Ja, ihr dachtet bestimmt: „A-ha, mal wieder die Horitsuba Namensverteilung“ oder „Schon wieder eine FF in der Yuui für die Story den Löffel abgeben muss.“. ABER NEIN!

Okay, ich habe trotzdem den Zwilling von Kuro-tans Seelenpartner gekillt. Metaphorisch. Aber das heißt nicht, dass er nicht mehr vorkommt. Tja, ich habe also die Namensverteilung von Tsubasa beibehalten und zudem eine Situation geschaffen, in der Yuui ebenfalls zu Fye wird. Ich bete, dass es glaubwürdig herüber kommt.

Was nicht heißt, dass Fye so ängstlich und verschlossen wird, wie der Junge, den König Ashura bei sich aufnahm. Das ist gar nicht möglich, weil die Zwillinge hier mehr Zeit miteinander verbracht haben, sodass die Beziehung zwischen Beiden noch inniger ist.
 

Vorschau:

[...]„Du wusstest, dass ich ausgehen würde.“, verteidigte er sich, was seinen Bruder keineswegs zufrieden stellte.

„Ja, aber nicht, dass es ein Date ist!“[...]

Yuui und Fye

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

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Einer von zweien liebt immer etwas mehr

Einer von zweien schaut immer hinterher

Einer von zweien fühlt sich schwer wie Blei

und der Andere...
 

Ich&Ich, „Einer von Zweien“
 

Einatmen.

Ausatmen.

Einatmen.

Ausatmen.

Lächeln.

Denk nach!

Seine Gedanken kreisten um das Handy. Fyes Handy, das sich in Yuuis Besitz befunden hatte, als der schwarzhaarige Inspector ihn aufgelesen hatte. Yuui, sich immer noch nach Willenskräften einredend, dass er derjenige sei, der in Kürze in der Leichenhalle liegen würde, hatte den gesamten Inhalt seiner Hosentaschen für die Dauer seines Aufenthalts am Eingang des Reviers abgegeben. Viel war es nicht gewesen, lediglich sein Hausschlüssel und Fyes kleines hellblaues Mobiltelefon.

Yuui – „Fye“ – hatte es angestarrt wie ein fremdartiges Objekt, bis Tomoyo mit beruhigenden Worten auf ihn eingeredet und ihn zur Küche geführt hatte. Die junge Frau hatte sich mit den Worten entschuldigt, dass sie den Film ihrer Kamera in die Fotoabteilung bringen müsse.

Also wartete er und versuchte die Gedanken und Erinnerungen zu ignorieren, die seinen Verstand plagten und die dabei immer zu einem Punkt zurück kehrten.

Das Handy. Damit hatte es angefangen.
 

„Also wirklich, es ist doch immer wieder dasselbe mit dir Yuui! Wo hast du es denn jetzt schon wieder liegen lassen?“, fragte Fye lachend. Er stand schon vor der Haustür, bereit zu gehen und warf einen letzten Blick in das Wohnzimmer, in dessen Mitte das rote Sofa stand, als er mit ansehen musste, wie sein älterer Zwilling sämtliche Kissen darauf umdrehte und hinter sich warf, als ginge es um sein Leben. Er versenkte sogar die Hände zwischen den Polsterritzen um sicherzugehen, dass sich das gesuchte Objekt nicht dort versteckte.

„Ich hab’ es nicht verlegt. Ich sagte doch, dass es in diesem Haus Kobolde geben muss. Oder dieses Handy ist ein Transformer. Ein bösartiger Descepticon, der Freude daran hat, sich zu verstecken.“

„Ein Transformer. Genau. Es liegt nicht daran, dass du vielleicht schusselig bist.“

„Ah, verdammt. Ich hatte Ashura doch versprochen anzurufen. Er wollte mit mir noch die Termine für die Lesungen und die Signierstunden durchgehen“, jammerte Yuui.

„Soll ich dich anklingeln?“

„Nein, ich hab’s vorhin ausgemacht. Glaube ich...“ murmelte es aus den Tiefen der Sofagarnitur.

„Hier, nimm meins“, bot Fye an und kramte aus seiner Hosentasche ein kleines Mobiltelefon. Yuuis blonder Schopf tauchte auf der Rückenlehne auf und musterte das technische Gerät über die Distanz des Flurs hinweg.

„Aber...“ Misstrauisch.

„Jetzt nimm schon, ich brauche es heute Abend nicht. Die PIN kennst du ja inzwischen, du benutzt es ja oft genug.“

Yuui entging die verborgene Spitze nicht, aber etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit. Der Schriftsteller verengte seine Augen wie eine Katze auf der Pirsch, sprang auf die Lehne, sodass das Möbelstück nach hinten umkippte und landete mit einem Satz vor seinem Bruder.[1] „A-HA! Was hast du denn vor, dass du dabei nicht gestört werden willst? Und...“ Yuui trat noch einen Schritt näher, schnuppernd. „... Ist das etwa Aftershave? Du hast ein Date und sagst mir kein Wort?!“

Fye konnte es nicht mehr leugnen, denn er war bereits rot angelaufen. „Du wusstest, dass ich ausgehen würde.“, verteidigte er sich, was seinen Bruder keineswegs zufrieden stellte.

„Ja, aber nicht, dass es ein Date ist!“

„Yuui, wir hatten eine Abmachung.“

„Wie heißt er denn?“

„Sag’ ich dir nicht.“

„Wo hast du ihn kennen gelernt? Ist er eher sexy oder niedlich?“

Fye schwieg. Yuui schmollte.

Er griff sich das Handy und kehrte dessen Besitzer den Rücken zu.

„Ja, toll, mach dir nur einen schönen Abend und lass mich hier allein, ganz ohne Beschäftigung... ohne jemanden zum reden... ohne Liebe...“

Der jüngere und ruhigere der beiden de Flourites schmunzelte über dieses melodramatische Verhalten und lehnte sich gegen den Rücken seines Bruders, schlang die Arme um seinen Hals. Fye hauchte seinem Zwilling einen Kuss auf die Schläfe, sobald dieser den Kopf ein wenig zurück lehnte.

„Warte nicht auf mich, Bruderherz. Es kann spät werden. Ich hab’ dich lieb.“
 

Es sollte spät werden.

Zu spät.

Ein scharfer Schmerz holte „Fye“ in die Wirklichkeit zurück und er bemerkte erst jetzt, dass sich seine Fingernägel regelrecht in die Handflächen gebohrt hatten und eine einzelne Träne über seine Wange rollte. Als er sich entspannte, blieben rote Halbmonde auf der Haut zurück. Jemand hatte ihm einen Tee vor die Nase gestellt. Tomoyo-chan?

Er hatte es nicht bemerkt.

„Fye“ versuchte mit dieser Erinnerung umzugehen. Sie passte nicht zu dem, was er sich selbst vorlügen wollte, aber im Moment war das nicht wichtig. Sein Verstand hatte sich noch nicht geklärt, nicht neu geordnet und so lange dieses Chaos existierte konnten zwei sich widersprechende Wahrheiten darin existieren.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte eine Stimme, die zu einem jungen Mann mit zwei verschiedenfarbigen Augen gehörten, die hinter dünnen Brillengläsern verborgen waren. Das rabenschwarze Haar stand ihm an einigen Stellen ungebändigt vom Kopf ab.

„Fyes“ Hirn erfasste die optischen Informationen und die Synapsen feuerten sofort.

Watanuki-kun.

„Verzeihung,“ setzte der Hinzugekommene an, als sein Blick träge erwidert wurde, „aber sind Sie nicht...“

„Fye de Flourite“, sagte der Blonde, bevor der Junge auf falsche Ideen kommen konnte, während sein Gehirn neuen Nachschub an Informationen lieferte. Leicht reizbar. Neigt zu Überreaktionen und schreit öfter laut in der Gegend rum. „Ich weiß ja nicht, für wen sie mich halten, aber Sie verwechseln mich sicher mit meinem Bruder.“ Bekannter von Shizuka Doumeki. Beschwert sich ständig, dass er Doumeki das Mittagessen zubereiten muss, tut es aber trotzdem jeden Tag wieder.

Es war nicht nötig, nach Informationen über Doumeki-kun zu suchen, der Blonde erinnerte sich ganz genau an Ashuras persönlichen Assistenten.

Watanuki-kun glaubte seine Lüge.

Er selbst tat es nicht.

„Ich bin übrigens Kimihiro Watanuki. Könnten Sie ihren Bruder für mich grüßen?“

Yuui kannte Watanuki nur flüchtig.

„Yuui ist tot.“

Ein letzter Versuch, das empfindliche Verleugnungsgebilde aufrecht zu erhalten.

Er kannte den jungen Mann, der gerade hastig Beileidsbekundungen zusammen stotterte. Und er kannte seinen Freund, Doumeki, weil der in Yuuis Verlag arbeitete.

Fye kannte keinen von den beiden, weil Yuui sein Bestes getan hatte, seinen Bruder aus der ganzen Sache heraus zu halten, denn Fye war es unangenehm im Lichte der Aufmerksamkeit zu stehen.

Und weil der Blonde wusste wer der Junge vor ihm war, konnte er nicht Fye sein. Er war nicht Fye, war es nie gewesen, aber er konnte auch nicht mehr Yuui sein. Und am Ende war es egal, wer er war oder wer von ihnen welchen Namen trug, denn nichts davon änderte den Fakt, dass sein Bruder tot war.

Sein geliebter kleiner, bescheidener Bruder, der alle seine Launen ertrug, der einen himmlischen Karottenkuchen machen konnte und dem es unangenehm war dafür gelobt zu werden.

Der mit einem Blick wusste, wie es ihm ging.

Seine andere Hälfte, sein Gegenteil und Spiegelbild.

Es war egal, wer von ihnen welchen Namen trug, denn sie waren immer zusammen gewesen, Yuui und Fye, trotz all ihrer Unterschiede. Und nun hatte man ihm seinen Bruder weg genommen, und er blieb zurück, nur noch die Hälfte seiner selbst.

Seit 28 Jahren galt diese Wahrheit, dass Yuui und Fye zusammen gehörten. Der eine konnte ohne den anderen nicht sein.

Der hinterbliebene Zwilling stand auf, schwankend. Ihm war so entsetzlich elend; ein Gefühl, das im Kopf begann und sich dann bis zum Magen ausbreitete.

„Entschuldigung, Watanuki-kun, aber könntest du mir sagen, wo hier die Toiletten sind?“

„D-den Gang runter, gleich rechts“, stammelte der bebrillte Junge.

Armer Watanuki. Die Antwort hatte ihn ziemlich vor den Kopf gestoßen.

Der Blonde verließ die Küche, beschleunigte bei jedem Schritt das Tempo, bis er den Gang entlang hetzte, seiner Umwelt keine große Beachtung schenkend. Er stieß die Tür der Toilette auf und stürzte sch in die erste freie Kabine, bevor sich die Übelkeit entgültig seiner bemächtigte.

Der schmächtige Mann hatte nichts zum Frühstück gegessen und so würgte er nur bittere Galle hervor, bis sein Hals davon brannte.

Nach einiger Zeit, als sein Körper beschloss, dass er keine Kraft mehr für einen weiteren Krampf hatte, ebbte das Würgen zu kurzatmigem Schluchzen ab.

Er sank in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man zertrennt hatte. Sein Bruder war die Fäden gewesen, das Band, das ihn an die Welt kettete, und wenn Fye nicht mehr da war, um ihn zu binden und ihn aufrecht zu halten, was hielt ihn dann noch in dieser Welt? Was sprach dagegen, ihm zu folgen?

Fye, seine Motivation, sein erster Leser.
 

„Du musst dieses Buch unbedingt an einen Verlag schicken!“ Fyes Stimme übertönte kaum das Rauschen des Wasserhahns in der Spüle, als er mit dem Kopf zu dem gebundenen Stapel auf dem Küchentisch deutete, während er eine Schüssel voll Erdbeeren abspülte. Sie waren für ihren Geburtstagskuchen gedacht.

Die Zwillinge wurden achtzehn.

Es war Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen.

„Hm, ich weiß nicht, Fye, es ist nicht besonders gut“, murmelte Yuui der gerade versuchte, eine der Erdbeeren zu mopsen und dafür einen nassen Klaps auf die Finger bekam. Fye trocknete seine Finger an einem Handtuch ab.

„Erzähl nicht so einen Unsinn. Es ist großartig. Bewegend, lustig, leicht zu lesen aber auch nicht zu oberflächlich. Glaub mir, Brüderchen, Schreiben ist das, was du am besten kannst.“ Es war auch das einzige, in dem Yuui Fye übertraf, das wussten Beide, auch wenn keiner es ansprach. Yuuis andere besondere Fähigkeiten lagen darin, Stimmen zu imitieren oder zu schauspielern. Aber da der ältere der beiden nie eine Schauspiel-AG belegen wollte, bestand keine Aussicht, von einem Talentsucher entdeckt zu werden. Und Synchronsprecher konnte Yuui immer noch werden, wenn das mit der Schriftstellerei nichts wurde.

„Aber was, wenn ich berühmt werde, was ist dann mit dir? Dann musst du genauso berühmt werden, sonst macht es keinen Spaß! Hm... warte, wie wäre es mit Konzertpianist?“

„Du hast seit Jahren kein Klavier angerührt.“

„Ich spreche von dir. Du wirst Konzertpianist oder Fernsehkoch und ich ein Bestsellerautor. Dazu muss ich mir natürlich ein cooles Pseudonym zulegen, um die Leite zu verwirren. Was hältst du von Yvan D. Falcon? Oder Ytzakh Dean Ferris, oder...“

„Muss das sein? Kannst du denn nicht zu dem Namen stehen, den du dir selbst gewählt hast?“

„Aber... ich dachte... was spricht denn dagegen?“

„Es wäre eine neue Lüge.“

„Romane schreiben ist eine Lüge an sich. Man setzt sich hin und erfindet Personen, die nicht existieren und lässt den Leser Dinge glauben, die nie passiert sind.“

„Ja, aber du hast auch mal gesagt, dass man Bücher liest, um eine eigene Wahrheit darin zu finden. Dass man, wenn man genügend glaubwürdige Lügen aneinander reiht und fest genug daran glaubt, dass sie wahr werden, die einzige Realität geboren werden kann, in der jede einzelne dieser Lügen wahr ist? Und dass das nur möglich ist, weil der Mensch nur das als real empfindet, was er wahrnimmt?“

„Ja, schon...“, druckste Yuui herum, den Finger nachdenklich an die Unterlippe gelegt, „aber da war ich betrunken, als ich das gesagt habe!“

Fye lachte und nahm das Manuskript in seine Hände, drückte es seinem Bruder an die Brust. „Versprich es mir einfach...“
 

„Was hast du über den Zwilling heraus bekommen?“, fragte Kurogane hitzig. Nein, hitzig traf es nicht ganz. Er kochte innerlich. Geschlagene zwei Stunden hatten er und der Junge damit zugebracht, die Fabrikhalle abzusuchen, während Sakura und der Fahrer des Leichenwagens die sterbliche Hülle von Yuui de Flourite abtransportiert hatten. Und was hatte das Team gefunden?

Zwei Kugeln, die sich durch vier Matratzen gebohrt hatten, bis sie stecken geblieben waren. Eine beträchtliche Pfütze Blut, die die Stelle markierte, an welcher der Autor ursprünglich erschossen wurde. Keine Hülsen. Keine Haare, Zigarettenstummel oder Kontaktlinsen.

Mit anderen Worten: keine Spuren, die weitere Schlüsse auf den Täter oder den Tathergang zuließen.

Mit anderen Worten: sie hatten nichts.

Außer einer beschissenen Erbse, die auf der untersten Matratze des „Totenbetts“ gelegen hatte. Dieses Gemüse setzte ganz neue Maßstäbe im Bereich „nichts haben“.

Aber vielleicht würde ein Gespräch mit dem Bruder des Opfers einen Startpunkt liefern.

„Tja, er ist genauso alt und so groß wie sein Bruder“, berichtete die junge Frau mit einem Lächeln, das ihren Adoptivbruder um seine Beherrschung ringen ließ.

„Tomoyo...“ Selten hatte die Aussprache eines Namens so mörderisch geklungen.

„Um ehrlich zu sein war ich erstaunt, dass sie Zwillinge sind. Jegliche Fanseiten im Internet erwähnen zwar einen Bruder, aber nichts über seinen Beruf oder sein Alter. Fye-san hat mir erzählt, er besitzt ein kleines Café namens Cat’s Eye. Sein Bruder hat den Namen ausgesucht. So wie es aussieht haben er und Yuui zusammen gewohnt.“

„Das ist alles?“, eine Augenbraue des schwarzhaarigen wanderte fragend nach oben. Normalerweise lieferte Tomoyo ihm mehr.

„Onii-san, ich sollte mit ihm reden und ihn nicht verhören. Ich habe nur erfahren, dass er erst eine Ausbildung zum Konditor gemacht hat und dann mit seinem Bruder nach Italien gezogen ist, um auch noch eine Koch-Ausbildung abzuschließen. Der Arme war nicht gerade in Plauderlaune, kann ich dir sagen.“ Nachdenklich legte Tomoyo eine Hand an ihre Wange.

Kurogane nickte. In dieser frühen Phase der Trauer musste man vorsichtig sein, was man den Verbliebenen abverlangte, sonst bekam man überhaupt keine Auskunft mehr oder sie waren bestenfalls durcheinander. Unkorrekt und Unbrauchbar. Und der griesgrämige Inspector hasste es seine Zeit mit faschen Infos zu vergeuden!

„Also, wo hast du den Kerl gelassen?“, fragte Kurogane mit einem Seitenblick. Tomoyo war schnurstracks zur Küche marschiert, aber er konnte niemanden entdecken.

„Ich habe... ups. Er war doch eben noch hier.“

Kurogane fuhr sofort seine Stacheln aus. „Was soll das heißen, er war?“ Durch die enorme Lautstärke, die der Große an den Tag legte, blickten sich sofort alle nach dem ungleichen Geschwisterpaar um.

„Nun, er ist nicht mehr hier!“ Tomoyo kicherte, als wolle sie sagen ’ist das nicht selbstverständlich?’.

„Das seh’ ich selber! Verdammt, du solltest den Kerl doch nicht aus den Augen lassen.“

„Als ich ihm vorhin einen Tee gekocht habe, wirkte er noch ganz in sich vertieft. Es sah nicht so aus, als hätte er heute noch etwas vor.“

Oh, er war kurz davor ihr den Hals umzudrehen, kleine Schwester hin oder her.

„Ähm... Inspector? Sir?“ Miyuki-chan, die brünette Praktikantin, war zu ihnen getreten, Sie nuschelte etwas, da sie einen Ordner zwischen die Zähne geklemmt hatte (er hatte wohl nicht mehr auf den wackeligen Stapel in ihren Armen gepasst) und wie gewöhnlich erinnerte ihr Outfit mit der weißen Bluse und dem kurzen blauen Rock, dessen Farbe perfekt zu ihren Augen passte, eher an eine Schuluniform als irgend etwas anderes. „Sir, da ist so ein Mann auf der Damentoilette und es scheint ihm nicht gut zu gehen.“[2]
 

Natürlich hatte sich am Ort des Geschehens schon eine Traube tuschelnder Damen eingefunden, durch die sich Kurogane erst mal einen Weg bahnen musste. Die Aktion brachte nur weiteres Getuschel und vereinzeltes angewidertes Quietschen.

Kurogane fand den Blonden auf Knien vor, blasser als zuvor und die Arme um die Schüssel verkrampft. Der Deckel war herunter geklappt, aber der säuerliche Geruch verriet, was Fye hier getan hatte.

„Falsche Tür, Kleiner!“, knurrte der Polizist.
 

Bruder... lass uns ein Spiel spielen. Nennen wir es das Yuui-Fye-Spiel. Ich bin Yuui und du bist Fye.

Und so lange wir spielen... so lange wir fest daran glauben, kann uns niemand trennen. Hast du gehört, Brüderchen?

Wir werden zusammen sein, du und ich, ich und du. Yuui und Fye –

Was sagst du?

Nein, das ist keine Lüge, nur ein kleines Versteckspiel. Wir gehen einfach fort, Hand in Hand, und lassen unser altes Leben und unsere alten Namen zurück, dann wird ER uns nicht finden. Und wenn er uns nicht finden kann, dann kann er uns auch nicht trennen.

Das verspreche ich dir.

Es war möglich. Lügen konnten die Wahrheit werden. Er hatte es schon einmal geschafft, eine Wahrheit zu schaffen, aber da war Fye noch an seiner Seite gewesen. Nun blieb ihm nur noch der Name seines Bruders. Und sein Talent.

Er war Schriftsteller, das Lügen lag ihm also im Blut. Und Fye – dieser neue Fye, den Yuuis Lügen geschaffen und in dessen Rolle er geschlüpft war – durfte noch nicht sterben. Erst wenn er die Wahrheit über den Tod seines Bruders kannte.

Er würde spielen, um denjenigen aus seinem Loch zu zerren, der ihm seinen Zwilling weg genommen hatte und dann würde er dafür sorgen, dass diese Person mit ihm unter ging. Wen juckte es da, dass er lügen und manipulieren musste? Dieser Fye war ein Konstrukt, die Gesetze der Welt galten für ihn nicht mehr. Er war nur noch eine Hülle mit einem letzten Auftrag.

„Flasche Tür, Kleiner!“

Ein Schatten legte sich über Fye und er blickte auf. Ein schwarzer Schatten, mit zwei blutroten Augen, die in dieser Finsternis glühten wie die letzten zwei Laternen in einer ausgestorbenen Allee, wie...

Er lachte, als ihm klar wurde, dass er selbst in einer so absurden Situation wie dieser noch prosaische Vergleiche anstellte.

Fye de Flourite – Magier der Worte.

Er vergrub die Hand in den blonden Zotteln seiner Stirn sich wohl bewusst, dass Kurogane jede seiner Bewegungen registrierte. Natürlich, der grimmige Inspector war schon als Junge ein aufmerksames Kerlchen gewesen.

„Na so was. Was für ein Missgeschick!“, Fye setzte ein unbeschwertes Lächeln auf, und redete daher, als handelte es sich um eine winzige Lappalie, nicht bedeutender als eine verschüttete Tasse Tee. „Tja, ich hab einen etwas empfindlichen Magen und muss mich in der Eile wohl vertan haben.“

„Wie kann man sich denn da vertun, hä? An der verfluchten Tür ist eine Figur aufgemalt, die einen Rock trägt!“, brüllte Kurogane.

Aber, aber, Kuro-chan... du bist so groß geworden, nur dein Temperament hat sich nicht geändert, stellte der Blonde fest, während sein Gegenüber zu dem Schluss gekommen war, dass der Kerl komplett übergeschnappt sein musste. Kauerte auf den Boden des Frauenklos, wie ein Irrer lachend und die beste Erklärung, die ihm einfiel war ’ich hab’s halt nich gemerkt’? Was glaubte dieser Clown denn, wo die Pissoirs abgeblieben waren, einfach mal vergessen, einzubauen?

„Auch Männer tragen manchmal Röcke“, verteidigte sich der Kleinere, „In Schottland zum Beispiel.“

Schottland.

Kurogane öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus.

SCHOTTLAND.

Der Schwarzhaarige packte des Handgelenk des Blonden und zerrte ihn mit sich. „Fein, Mr. McFlourite, dann kommen Sie mal mit.“

„Oh, sind wir schon bei den Spitznamen angekommen, Kuro-sama?“, fragte der Gezogene und die offensichtliche Falschheit seines Lächelns dabei war unangenehm. Es sprach von dem verzweifelten Versuch, den Verstand zu bewahren. Und das machte es Kurogane fast unmöglich sauer auf den Kerl zu sein.

Aber auch nur fast.

Noch nie hatte ihm irgendjemand einen Spitznamen verpasst, sogar seine Mutter hatte ihn immer nur ihren ‚lieben kleinen Jungen’ genannt, wohlgemerkt, bevor er im Alter von fünfzehn Jahren begonnen hatte, wie verrückt zu wachsen.

„Nenn mich nicht Kuro-sama!“

„Wie denn dann? Kuro-tan? Kuro-rin? Oder lieber Kuro-chan?“
 

(„Niemand sollte an einem so bedeutenden Tag allein sein, Kuro-chan.“)
 

Okay.

Vielleicht hatte es doch schon mal jemanden gegeben, der ihn so genannt hatte, aber Kurogane konnte sich nicht mehr erinnern, wer das gewesen sein sollte, und er fand es wichtiger, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wieso er Stimmen hörte.

Vermutlich Schlafmangel.

„Mr. Black, vielleicht? Blackman? Schwarzköpfchen? Schwärzli?“
 

...das würde noch ein langwieriges Verhör werden.
 

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To be continued...

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[1] Das traut ihr ihm nicht zu? Ich sage nur Kobato Folge 20: : Fye und die Schaukel, if ya know, what I mean. Nicht zur Nachahmung geeignet.

[2] Ich hab’ „Miyuki-chan im Wunderland“ leider nie gelesen, ich weiß also nicht, ob das Mädchen irgendwelche Eigenarten beim Sprechen hat. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass sie Tomoyo schöne Augen macht, sobald Kurogane weg ist.
 

Dieses Kapitel ist wiederum ziemlich lang geworden, weil ich unbedingt die Beziehung der Zwillinge so genau wie möglich ausleuchten wollte. Außerdem repräsentiert es auch etwas Yuuis „Werdungsprozess“ zu Fye und ich wollte, dass er inhaltlich abgeschlossen ist. Im nächsten Kapitel werde ich ihn also nur noch Fye nennen, ganz ohne Gänsefüßchen. Noch etwas: Zu Ende von diesem Kapitel kommt an einigen Stellen schon fast wieder der Fye durch, den wir alle so lieben. Wenn man das im Kopf hat, mag er in Kap. 4 etwas OOC erscheinen, aber genau betrachtet ist er das nicht. Ich sage das jetzt, weil ich möchte, dass ihr vor dem Lesen von Kapitel vier bedenkt, dass obwohl ich mich bemüht habe, einige Parallelen zu Tsubasa zu schlagen, die Beziehung zu Kurogane und Fye noch eine andere, distanziertere ist. Fye ist schließlich hier (noch?) nicht auf Kurogane angewiesen. Ich habe also versucht, ihn in einigen Momenten ein wenig mehr darzustellen wie in der Zeit in Infinity.
 

Vorschau:

[...]Die zwei tiefblauen Augen hefteten sich auf den Schwarzhaarigen. Gekränkt? Wütend? Schwer zu sagen.

„Keiner von uns beiden hat sich je dessen geschämt, was wir waren.“[...]

Dialog zu dritt

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

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Didn’t want to feel again

This heart has had enough

Desperate hurting all alone […]

All I want is someone to tell me I’m crazy

It just might save me

Stanfour – this is life without you

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Lügen war eine Kunst, zumindest wenn man es zu Geld machen wollte.

Wenn man schrieb war es unwichtig, wie viele Lügen man auftischte, so lange es glaubwürdig blieb. Lesen war Hypnose, die einfachste Form der Telepathie, bei der man völlig Unbekannte an einen Ort mitnahm, an dem sie noch nie waren. Das funktionierte natürlich nur, so lange der Leser sich darauf einließ, so lange er den Worten glaubte.

Wenn man aufhörte zu glauben, war der Bann gebrochen.

Und der Trick beim effektiven und glaubwürdigen Lügen bestand darin sich auf die Dinge zu verlassen, die man wusste.
 

Drei Männer – ein Büro.

Ein Großraumbüro genauer gesagt, das die drei Schreibtische der Mordermittler, zwei weiße Tafeln und ein Sofa beinhielt. Entgegen der Bezeichnung war es nicht wirklich groß, Yuuko Ichihara gab nämlich nur das Nötigste an Budget aus.

Der größte Schreibtisch gehörte natürlich Kurogane und Fye saß auf der Seite eben jenes Schreibtisches, die für Fremde vorbehalten war; der Inspector und sein jüngerer Kollege ihm gegenüber. Syaoran hatte Papier und Kuli gezückt und schaute aus seinen rehbraunen Augen erwartungsvoll drein.

„Für’s Protokoll, das hier ist eine Befragung, kein Verhör, Sie sind also nicht festgenommen. Sie können jederzeit gehen, wenn Ihnen danach ist. Haben Sie das verstanden?“, begann Kurogane.

„Mh-hm“, sagte Fye, was wohl einen Laut der Zustimmung darstellen sollte. Der Blonde verstand nur zu gut, dass die höflichen Worte kaum mehr als eine Floskel waren, dass Kurogane sich dann nur noch hartnäckiger die Informationen beschaffen würde, die er suchte. Man konnte gehen, ja – aber das würde die Sache nur hinausschieben und zudem Verdacht erregen.

„Wann haben Sie ihren Bruder das letzte Mal lebend gesehen?“

Die Frage des Ermittlers klang etwas schroff und andere hätten sich vielleicht daran gestoßen, aber der Blonde wirkte entspannt, ein wenig in sich gekehrt.

„Gesten Abend. Bevor er ausging.“

„Und wann war das?“, hakte der Schwarzhaarige nach.

Fye legte die Hände in den Schoß und starrte eine Weile darauf, grübelnd. „Direkt nachdem er gestern mit seinem Verleger telefoniert hatte, also gegen neun Uhr“, brachte er schließlich hervor, „Yuui hatte es ziemlich eilig und ich weiß noch, wie er mich angebettelt hat, ihm für das Gespräch mein Handy zu leihen. Wir haben kein Festnetz, weil seine Fans immer die Nummer heraus finden und dann permanent anrufen. Tja, und sein eigenes Handy hat er ständig verlegt.“

Syaoran machte sich eine Notiz, die Gesprächsnachweise zu überprüfen, während sein Vorgesetzter fortfuhr: „Hatte er gesagt, wo er hin wollte oder mit wem er sich traf?“

„Nein.“

Die Augenbraue des Größeren schnellte augenblicklich in die Höhe ohne dass er sich auch nur die Mühe machte, seine Überraschung zu verbergen. Er war nie gut darin gewesen zu bluffen oder zu schauspielern und in Verhören stellte das für gewöhnlich einen Nachteil dar.

Nicht so bei Kurogane.

Die Leute wurden nervös, wenn sie merkten, dass er ihnen nicht glaubte. Das kombiniert mit einem gut platzierten unangenehmen Schweigen hielt die Leute am Reden. Momentan beschloss er, mit offenen Karten zu spielen. „Sie erwarten also ernsthaft, dass ich glaube, Ihr Zwillingsbruder“ – die Hauptbetonung lag auf dem Wort Zwilling – „mit dem Sie zusammen gelebt haben, hat Ihnen nicht gesagt, was er vorhatte?“

„Ich erwarte gar nichts von Ihnen“, antwortete der Blonde.

Und Syaoran blickte irritiert von seinem Block auf. Selbst er hatte die Kälte in der Stimme des Blonden bemerkt. Für einen Moment und mit diesem ernsten Gesichtsausdruck wirkte Fye tatsächlich älter als der Mann, der ihn gerade verhörte. Wirkte so alt, wie er tatsächlich war. Dann zog dieser Augenblick vorbei wie ein Schatten und die feinen Gesichtszüge des Blonden ließen ihn wieder wie einen Studenten aussehen.

Kurogane ballte die Hände zu Fäusten und kniff seine Augen zusammen, sodass die roten Iriden noch intensiver leuchteten.

Keine Regung im Gesicht seines Gegenübers.

„Haben Sie ihn nicht gefragt, mit wem er sich treffen wollte?“, fragte Syaoran-kun vorsichtig. Der brünette junge Mann hatte ein ungutes Gefühl und war sich nicht sicher, was geschehen würde, wenn sich das Schweigen noch länger ausbreitete.

Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. Fye de Flourite gab sich plötzlich freundlich und entgegen kommend: „Natürlich. Aber mein Bruder wollte nicht antworten, also habe ich ihn nicht gedrängt. Ein Zwilling zu sein ist manchmal etwas schwierig...“ – Syaoran schmunzelte ob dieser Worte – „...besonders, wenn man charakterlich so grundverschieden ist wie wir. Die Leute neigen dazu, uns gleich zu behandeln, deshalb hatten Yuui und ich einen Deal.“ Fye machte eine kurze Pause. Seine Zungenspitze fuhr die Innenseite seiner Oberlippe entlang, zeichnete die Zahnreihe nach.

’Yuui und ich’. Das klang so falsch.

„Mein Bruder hatte gestern ein Date, das konnte ich sehen. Wir haben uns vor langer Zeit darauf geeinigt, dass wir die Geliebten des Anderen nicht kennen lernen, so lange es keine ernsthafte Beziehung wurde. Man verwechselt uns oft. Hin und wieder haben wir uns einen Scherz erlaubt und das mit Absicht provoziert, aber nie wenn es um Gefühle ging. Wir wollten nicht, dass jemand verwirrt oder verletzt wurde. Darum habe ich nicht gefragt.“
 

Jemand.

Kurogane war die Betonung auf diesem Wort aufgefallen. Jemand – das schloss die Zwillinge selbst mit ein. Und das bedeutete, dass sie bereits einmal verletzt worden waren. Das erklärte den Deal.

„Mann oder Frau?“, fragte der Schwarzhaarige. Sein Gegenüber schien überrascht. Blinzelte. Und schwieg. „Was ist, haben Sie die Frage nicht verstanden?“, knurrte der Inspector, den dieses Verhalten deutlich nervte.

„Sie“ – der Blonde zeigte auf Kurogane, so als wolle er den Größeren mit seinem Finger durchbohren – „sind kein Fan, nicht wahr?“

„Fan wovon?“ Dating? Homosexuellen? Heterosexuellen? Was wollte der Kerl von ihm?

„Der Bücher. Yuuis Bücher.“

„Beantworten Sie einfach die verdammte Frage!“ Kurogane wurde unwirsch. Seine nicht vorhandenen literarischen Vorlieben gingen ja wohl keinen was an!

Fye kniff die Augen zusammen und zog eine Schnute, die ihn wie eine lauernde Katze aussehen ließ. „Kann ich mich darauf verlassen, das alles, was ich sage, in diesem Raum bleibt?“

Ein bisschen spät diese Frage zu stellen, mein Freund.

Syaoran erwiderte die übliche Floskel: dass die Polizei von Clow City nicht beeinflussen könne, was die Presse schrieb, wenn sie erst einmal Wind von der Sache bekommen hatte, aber innerhalb des Reviers galt strikte Diskretion.

Der Zwilling nickte und fuhr fort: „Es war ein Mann. Auf den offiziellen Fanseiten steht zwar, dass Yuui nicht schwul war, aber das hat Ashura-san, sein Verleger verlauten lassen, nachdem die ersten Gerüchte darüber auftauchten.“

„Hat Ihr Bruder sich etwa geschämt?“

Die zwei tiefblauen Augen hefteten sich auf den Schwarzhaarigen. Gekränkt? Wütend? Schwer zu sagen.

„Keiner von uns beiden hat sich je dessen geschämt, was wir waren.“

„Warum dann?“

„Um mehr Bücher zu verkaufen, natürlich. Um das Image des amüsanten und romantischen Junggesellen am Leben zu halten. Yuui hatte fast ausschließlich weibliche Fans und bekam eine Flut von Liebesbriefen jeden Tag.“

Ein Wunder, dass er überhaupt ein Liebesleben hatte, wenn die ganze Welt ihn für hetero hielt.

„Oh, nicht die ganze Welt, es gibt ja immer noch Leute wie Sie, Inspector, die ihn nicht kannten.“

Kurogane stutzte. Konnte der blonde Schlacks etwa Gedanken lesen? Ein Blick in Syaorans irritiertes Gesicht sagte dem Beamten, dass er die vorherige Bemerkung wohl laut ausgesprochen hatte.

Und was soll das überhaupt heißen, ’Leute wie mich?’ Und wieso zwinkert mir dieser Idiot gerade zu?

„Also!“, rief Kurogane aus und starrte auf den Notizblock seines jungen Mitarbeiters, damit man nicht mitbekam, wie peinlich ihm diese Angelegenheit war. „Ihr Bruder verließ die Wohnung gegen neun und ging zu einem Date. Was hat Sie dazu bewegt ihn zu suchen? Und wie haben Sie ihn gefunden?“

„Ich wurde angerufen. Das war gegen... ich weiß nicht, so drei Uhr morgens. Die Rufnummer war unterdrückt und als ich ran ging, sagte mir eine tiefe Stimme, dass mein Bruder in ziemlichen Schwierigkeiten steckte. Man nannte mir eine Adresse und sagte, dass ich ihn lieber schnell abholen sollte, bevor ihm noch was zustößt. Und dann wurde aufgelegt. Es hätte auch nur ein Scherz sein können, aber das konnte ich nicht riskieren, nicht, wenn es um Yuui ging. Ich hab’ mir also das erstbeste angezogen, das ich fand und mir ein Taxi gerufen. Yuui hatte das Auto“, führte der kleinere Mann an. „Tja und dann... ich fand ihn und...“

Fye stieß ein kurzes und freudloses Lachen aus, aber der Ausdruck in seinen Augen lag im Schatten der blonden Zotteln. Es war schwer zu sagen ob ihm nach Weinen zumute war, aber die Art, wie er sich auf die Unterlippe biss ließ vermuten, dass dem so war. Fye schien mehr mit sich selbst zu reden, als er fortfuhr: „Er sah märchenhaft aus, finden Sie nicht? Fast wie Dornröschen oder Rapunzel... aber Rapunzel wurde enthauptet und Dornröschen vergiftet. Ich... ich wusste es sofort, als ich es sah. Ich musste nicht einmal nah heran gehen, es war die Art, wie seine Augen mich anstarrten, er blickte nie so, es war nicht... nicht real. Ich lief weg, in der Hoffnung.... ich weiß nicht, was ich hoffte, ich wollte nur nicht dort sein. Und das nächste, woran ich erinnerte, war, dass ich im Regen stand und...“

Zwei glutrote Augen im heran brechenden Morgen. Das war das Erste, an das er sich wieder entsann. Wie er unsanft auf die Beine gezogen und mit Worten bedacht wurde, die er gar nicht hörte.

„Entschuldigung“, unterbrach Syaoran die Gedanken des Älteren, „aber heißt das, Sie haben nicht die Polizei angerufen?“

„Ich weiß es nicht.“
 

„Haben Sie die Polizei angerufen?“

„Sie haben ihn also gefunden, ja? Meinen kleinen Bruder...“
 

Richtig. Als Kurogane im Regen danach gefragt hatte, hatte er von dem Kleineren keine brauchbare Antwort bekommen, lediglich eine, die ihn hatte vermuten lassen... Der Inspector schalt sich selbst mit Regel Acht: Nimm nie etwas als gegeben hin. Prüfe es doppelt nach. [1]

Der Blonde hatte eben nicht gelogen. Was den Rest betraf, da war der groß gewachsene Mann sich gar nicht so sicher.

Für gewöhnlich durchschaute er Lügner sofort.

Die Meisten, die etwas zu verbergen hatten, versuchten es hinter einer Maske aus Überheblichkeit oder erzwungener Emotionslosigkeit zu verstecken, aber dieser Mann... er beantwortete jede Frage offen und kooperationsbereit, einige mit diesem unheimlich falschen Lächeln. Unmöglich zu sagen, ob das nur Show war oder nicht auf seine momentane emotionale Lage zurück zu führen war. Aber... wie viel konnte ein Café-Besitzer schon zu verbergen haben?

Um das beurteilen zu können, brauchte Kurogane mehr Informationen.

„Okay. Wir werden ihre Wohnung, insbesondere die Räume ihres Bruders durchsuchen müssen. Einwände?“ Das Knurren, das diese Worte begleitete machte Fye klar, dass der Ermittler sich herzlich wenig um etwaige Einwände scheren würde. Er kam dem Blonden vor wie ein Hund, der sich ein Stück Fleisch geschnappt hatte und es nun Zähne fletschend verteidigte.

„Heute noch?“, fragte Fye beinahe heiter.

„Sicher! Je früher, desto besser.“

„Na wenn das so ist...“ – DA! Da war es wieder, dieses Grinsen und die Luft um das blasse Gesicht glitzerte schon fast vor aufgesetzter Heiterkeit – „... dann warte ich in der Zwischenzeit lieber hier, was?“
 

Einatmen.

Ausatmen.

Lächeln.

Es war ganz einfach.

Selbst Schriftsteller waren Teil eines Dienstleistungsgewerbes und das erforderte auch die Gabe zu lächeln, ganz egal, wie es im Inneren aussah. Der Kunde war König.

Bei der Polizei legte man jedoch keinen Wert auf diesen Grundsatz. Fye beobachtete den misstrauischen Blick, den der Größere ihm zuwarf und nahm seinerseits eine Bewertung vor. Das Resultat: Erstaunlich.

Misstrauen führte zum Hinterfragen. Und das war der Weg, der zur Wahrheit führte. Der Schwarzhaarige könnte ihm einige Probleme bereiten, so einfach würde er Fye nicht mit seinen Lügen davon kommen lassen, aber der Charakter des Größeren hatte auch seine Vorteile. Fye hatte Entschlossenheit in diesen roten Augen gesehen. Und wenn Kuro-chan sich tatsächlich nicht geändert haben sollte, wenn der Kern seines Wesens noch derselbe war wie vor vierzehn Jahren, dann steckte in diesem gebräunten, muskulösen Körper eine große Portion Ehrgeiz und Stolz.

Der Inspector würde nicht ruhen, bis der Fall abgeschlossen war.

Das war etwas, von dem Fye glaubte Gebrauch machen zu können. Er glaubte, Kurogane diesen Fall anvertrauen zu können, aber der Ermittler würde sicher nicht zulassen, dass man sich in diesen Fall einmischen würde.
 

Keiner von Beiden wusste, dass es bereits um sie geschehen war.

Nicht im emotionalen Sinne, doch die Fäden, die ihr Schicksal lenkten, hatten bereits angefangen sich zu verweben. Bald würden neue Verbindungen hinzukommen, Pakte geschlossen durch Worte oder durch Blut, die dazu führen würden, dass keiner den anderen mehr vergessen kann.

Als Kurogane Suwa vierzehn Jahre alt war, bewahrten ihn die beherzten Arme eines jungen Schriftstellers vor einem Aufprall, der dem Jugendlichen einige ernsthafte Verletzungen eingebracht hätte. Nun, als er das doppelte dieses Lebensalters erreicht hatte, war es an der Zeit diesen Gefallen zu erwidern.

Es war vorherbestimmt.

Hitsuzen.
 

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To be continued...

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[1] “Never take anything for granted – double check!“ Gibbs-Regel. ^^ Komm einfach nicht davon los.
 

Für die, die vielleicht keine Scanlation gelesen haben (ich besitze den Manga trotzdem komplett): Hitsuzen ist jener Term, den Yuuko permanent verwendet und bedeutet so viel wie „inevitable“ (unvermeidlich) oder „meant to be“. Die Übersetzung, die in meinem Manga steht, ist „Fügung“, aber mit gefällt „meant to be“ am besten.

Und... im nächsten Kapitel hat Syaoron endlich seinen großen Auftritt (Yeah! >.<) Ich habe nur Angst, dass er etwas OOC gerät, weil er bis jetzt in Shiritsu Horitsuba Gakuen nicht sehr oft aufgetaucht ist.

Was den Titel des Kapitels betrifft... mir fiel partout nichts ein, aber es ging hauptsächlich um das Verhör und obwohl doch drei Leute im Raum sind, sind es eigentlich nur Fye und Kuro, die wirklich versuchen, das Wesen des Anderen zu erfassen, daher ein Dialog (= Zwiegespräch?) zu dritt. Fye hat natürlich einen Wissensvorsprung... aber hat er den nicht immer? O.O
 

[...]„Maaah!”, mäkelte Fye herum und lehnte sich im Sitz zurück, die Arme ausstreckend. „Das ist doch aber langweilig. Und da wir uns jetzt öfter sehen...“

„Wer sagt, dass wir uns öfter sehen?”[...]

Mit Herz und Handschellen

Beta: Mr. H

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

P.S.: Der Song, der später im Autoradio läuft ist „Only you“ von Josh Kelley

--
 

Du siehst mich fragend an, mein Freund

Dein Lachen wirkt verkehrt, mein Freund.

Weil du nicht anders kannst, mein Freund.

Weil du es so wählst.
 

Mia, „Mein Freund“
 

Der nächste Schritt war simpel.

Zuerst ließ Kurogane sich von Fye den Namen und die Kontaktdaten von Yuui de Flourites Verleger Ashura geben, inklusive der Nummer seines Telefonanschlusses bei Ushagi Books.

Dann galt es noch, seinen Teammitgliedern einzelne Aufgaben zuzuweisen. Er gab Syaoran den Auftrag, alles über die Flourite-Zwillinge heraus zu finden, was er nur konnte: Biografie, finanzieller Status, sogar die verdammte Testamentsregelung. Geld war das zweithäufigste Mordmotiv, direkt nach Verbrechen aus Leidenschaft. Tomoyo sollte sich auf die Zeitungen stürzen. Auf jeden Artikel und jeden Klatsch, den die Presse in den letzten zwei Monaten über das Opfer gedruckt hatte. Als das geregelt war und er dafür Sorge getragen hatte, dass dieser emotional instabile Kerl, den er vorerst an der Backe hatte, definitiv nicht wieder abhauen würde, schaute er im Labor vorbei.

Syaoron Li, der Jüngere der beiden Syao-kuns, war gerade über ein Mikroskop gebeugt und drehte am Feintrieb. Neben jenem Mikroskop saß ein weißes Wesen, das aussah wie ein überdimensionierter Sahnetrüffel mit Hasenohren.

„Guten Morgen, Kurogane-san!“, rief das Fellknäuel begeistert aus, sodass Syaoron aufblickte und den Schwarzhaarigen ebenfalls mit einem knappen „Hi!“ begrüßte. Der quittierte die Geste mit einem neutralen Grummeln.

„Hast du die Anruferliste aus dem Telefon extrahiert?“

Die Frage war an Syaoron gerichtet, aber wie auf ein Stichwort riss Mokona die Augen weit auf und spuckte mit einem Laut, der ganz wie „Mekyo“ klang, Fyes Handy und ein Blatt Papier aus.

„Mokona hat die Daten analysiert!“ rief das weiße Fellknäuel, das gern von sich selbst in der dritten Person sprach, begeistert aus. Mokona hüpfte auf den Schopf widerspenstiger schwarzer Haare, den Kurogane sein Eigen nannte und führte dort einen kleinen Freudentanz auf, während es „Lob mich, lob mich!“ sang.

„Geh von meinen Kopf runter, blöder Kloß!“

Mokona tat wie geheißen und ließ sich auf die Schulter des Mannes fallen, bevor sie sich an seinen Hals schmiegte. Alles ziehen und zerren half nichts – wenn Mokona auf kuscheln aus war, gab es kein Entrinnen. Mit rauchendem Gemüt steckte Kurogane die Telefonliste ein und beschloss, sie sich am Abend vorzunehmen. „Siehst du dir schon den Fingernageldreck vom Opfer an?“

„Ja. Wie erwartet gab’s nicht viel zu sehen. Ein paar weiße Baumwollfasern, ein paar Hautzellen. Die DNS-Analyse steht noch aus, ich brauche noch die Vergleichsproben vom Opfer. Sakura hat gesagt, die kommen voraussichtlich noch heute Abend, wenn Mihara-san[1] wieder da ist“, gab Syaoron Auskunft. Das mochte Kurogane so an dem Jungen, er brachte die Dinge immer auf den Punkt. „Wissen wir schon wer es ist oder soll ich die DNS noch durch die Datenbank laufen lassen?“

„Mokona wird herausfinden, wer es ist!“, unterstützte die weiße Kugel den Vorschlag, „Leute zu finden ist eine von Mokonas 108 Geheimtechniken!“

„Der Bruder hat ihn bereits identifiziert. Ein gewisser Yuui de Flourite.“

Syaoron blinzelte. Blickte den Größeren an. In den bernsteinbraunen Augen lag ein Ausdruck, den Kurogane nicht zu deuten vermochte. Nicht, dass das etwas bedeutete. Der jüngere Li-Zwilling hatte ein wahres Pokerface. „Der Autor?“

„Ja.“

„Und sein Bruder...“ Furchen bildeten sich zwischen den kräftigen Augenbrauen des jungen Mannes. Grübelnd? Besorgt?

„Hier im Revier. Kanntest du die beiden?“

Etwas arbeitete unter dem brauen Schopf. Syaoron war zurückhaltend und das war ungewöhnlich. Eigentlich war Syaoran der ernstere und schüchterne von Beiden (und auch der leichtgläubigere). Er schüttelte den Kopf. „Kann man so nicht sagen. Ich bin oft im Cat’s Eye. Dem Café von Flourite-san.“

„Hm.“

„Wie geht’s ihm?“

„Kommt drauf an. Manchmal ist er total neben der Spur und nicht ansprechbar und im nächsten Moment grinst er einen an und plaudert munter drauf los. Wenn du mich fragst, ist er komplett hinüber.“

„Das ist doch verständlich, oder?“, fragte Syaoron und blickte dabei auf den Boden, „er hat immerhin seinen Zwilling verloren. Vermutlich waren sie seit ihrer Geburt nie lang voneinander getrennt. Wir haben uns im Café zwar nie lange unterhalten, aber Flourite-san hat immer sehr glücklich gewirkt, wenn er von seinem Bruder gesprochen hat. Wenn man den anderen dann plötzlich verliert ist das, als würde man einen Teil von sich selbst verlieren.“

Daher weht also der Wind. Um die komplizierte Beziehung zwischen Zwillingen wirklich zu verstehen musste man schon selbst ein Zwilling sein. Syaoron malte sich sicher gerade aus, wie es ihm gehen würde, sollte Syaoran etwas zustoßen.

Mokona schien es auch zu bemerken, denn das sonst so aufgekratzte Wesen zeigte sich plötzlich besorgt: „Syaoron-kun? Bist du in Ordnung? Tut dir was weh?“

So viel zum Thema.

Sie hüpfte wieder zu dem Jungen und kuschelte sich an seine Wange, in der Hoffnung, den jungen Forensiker so ein wenig aufmuntern zu können. Dieser tätschelte den weichen Kopf des Wesens und rang sich zu einem Lächeln durch. „Schon gut. Ich war nur ein wenig traurig.“

„Dann muss Mokona dich aufheitern! Soll ich ein Lied für dich singen?“, jubelte sie.

„Nein, mir geht’s schon wieder besser.“

Kurogane musste über die Szene schmunzeln, wurde aber sofort wieder ernst, als Mokona in seine Richtung blickte. Und mit eben dieser Miene – die selbst ein Fremder als aufgesetzt erkannt hätte – wuschelte der Schwarzhaarige dem Kleineren durch die Haare, als wäre er ein kleiner Junge. Die Li-Zwillinge würden für ihn immer „die Jungs“ bleiben, ganz egal wie alt sie waren.

„Richtig so. Lass dich bloß nicht von diesem Knäuel von der Arbeit ablenken!“, murmelte Kurogane als sei dies der wahre Grund für diese anerkennende Geste.

„Mokona ist keine Ablenkung!“, schimpfte das Wesen, als der Inspector das Labor wieder verließ, „Sie ist eine große Hilfe!“
 

Die Vorschriften waren Gesetz.

Keiner wagte sich, von ihnen abzuweichen. Was nicht hieß, dass man sie respektierte. Kurogane empfand die meisten davon als hinderlich, aber die Maßnahmen, die Yuuko ergreifen würde, wenn man dagegen verstieß, waren eine Auflehnung nicht wert. Normalerweise.

Aber ein gewisser blonder Café-Besitzer hatte schon einmal Fluchtpotenzial bewiesen und wen Worte nicht banden, der musste halt mit eisernen Ketten gebändigt werden. Also hatte ein gewisser schwarzhaariger Ermittler Fye kurzerhand an dem Sofa des Großraumbüros fest gekettet. Mit seinen Handschellen. Obwohl der blonde Clown nicht verhaftet war. Nun, man konnte Kurogane zumindest zugute halten, dass er Fye auf eine Weise angekettet hatte, die aufrechtes Sitzen auf dem Sofa noch möglich machte.

Trotzdem würde die alte Hexe den Inspector ordentlich dafür büßen lassen, wenn sie ihn erwischte.

Der große, braun gebrannte Mann konnte seine Vorgesetzte nirgends in der Nähe entdecken, als er die Tür seines Büros aufstieß.

„Hey, Blonder!“

Keine Reaktion.
 

Es war bereits nach dreizehn Uhr und Fye hatte sich vom Schlaf übermannen lassen. Nachdem er fast die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, nachdem ihn einzig Adrenalin und der nicht ignorierbare Lärm seiner eigenen Gedanken wach gehalten hatten, gab es jetzt nichts mehr, das die Erschöpfung zurück hielt. Sein Kopf ruhte auf dem angeketteten Arm (der wiederum auf der Sofalehne platziert war) und er hatte seinen schmächtigen Körper in eine halb seitliche, leicht gekauerte Position gezwängt. Seine Haare, die zu Beginn seiner Fahrt noch feucht vom Nieselregen gewesen waren, waren nun ein einziges Chaos. Das Sweatshirt und das T-Shirts darunter waren ein wenig nach oben gerutscht und gaben den Blick frei auf einen blassen flachen Bauch über tief geschnittenen Jeans, der sich langsam hob und senkte.

Und sich hob...

Und senkte.

Kurogane räusperte sich.

Nicht mal ein Zucken.

„Ach verdammt!“

Er kramte in der Hosentasche nach den Schlüsseln. Kurogane kniete sich vor das Sofa und beugte sich über die reglose Gestalt des Blonden. Kurz darauf hörte man das metallische Klicken, als der Schlüssel die Handschellen entriegelte.

„Wow, hätte ich gewusst, dass man hier im Schlaf überfallen wird, dann hätte ich mich früher schon von Ihnen verhaften lassen.“

Was --- wann war dieser Kerl aufgewacht? Wann?

Ein Paar erschöpfter blauer Augen starrte den großen Mann von unten her an. Fye raffte sich zu einem verschmitzten Grinsen an und... zwinkerte.

Kurogane wurde rot.

Und er hasste sich dafür, aber er konnte einfach nicht anders. Es passierte nun mal auch nicht alle Tage, dass fremde Männer ihm irgendwelche anzüglichen Angebote machten. Bei Frauen konnte man schon damit rechnen, die flirteten ständig, in der Hoffnung, dass man mal ein Auge zudrückte. Dieser Missbrauch körperlicher Reize widerte ihn an. Es war also ein Segen für ihn, dass er gegenüber jener Reize immun war.

Lust war flüchtig und ablenkend. Und im meisten Falle hatte sie rein gar nichts mit Zuneigung zu tun. Er musste es wissen, denn er hatte aus Bequemlichkeit die ein oder andere Beziehung mit einer Frau gehabt, aber früher oder später hatten sie ihn alle verlassen, sich über seine kalte und abweisende Art beschwerend. Ihm war die Anwesenheit jener Frauen nicht unangenehm gewesen; er hatte Dankbarkeit darüber empfunden, dass sie nicht versuchten ihn zu ändern, aber darüber hinaus waren nie Gefühle da gewesen. Und er hatte nie eine von ihnen angerührt.

Hätte Kurogane sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, dann hätte er festgestellt, dass es einen Fehler in seiner Logik gab, dass das nicht bewies, dass Lust und Liebe einander ausschlossen, aber er dachte nicht oft über die Vergangenheit nach. Es gab auch keinen Grund dazu, denn er brauchte keine Beziehung und erst recht keine Frau in seinem Leben. Er hatte Sakura und Tomoyo; Mädchen, die es wert waren, beschützt zu werden. Er hatte die Li-Zwillinge und seine Mutter und eine handvoll anderer Leute, die ihm am Herzen lagen und für die er erreichen wollte, dass Clow City ein besserer Ort wurde. Das waren Kuroganes Erfahrungen in Sachen Liebe; Begierde war nie Teil seines Lebens gewesen. Der Gedanke, sich gänzlich abhängig von einem Menschen zu machen und blind für alles andere zu sein, widersprach dem, wonach er strebte.

Es hätte ihn verärgern sollen, dass der blonde Idiot ihm unterstellte, sich von eben diesem niederen Trieb übermannen zu lassen und darüber hinaus machte Fye auch noch unmissverständlich klar, dass er kein Problem damit hatte, das Objekt der Begierde zu sein. Es war absurd, einfach nur absurd! Vor allem da der Zwilling gerade jetzt nicht besonders reizvoll für wen-auch-immer aussah, mit seinen verwuschelten Strähnen, die dringend Ordnung bedurften und den dunklen Ringen unter diesen kristallblauen Augen. Die den Größeren mit Schlafzimmerblick taxierten. Nur das Lächeln auf den blassen Lippen wirkte einladend und verschmitzt, ein Versprechen auf weitere Spitznamen, die im rauen Flüsterton in der Dunkelheit ausgetauscht werden würden...

Das Rot auf den Wangen wurde dunkler.

Vorstellungskraft konnte manchmal echt ein Fluch sein.
 

„Inspector Black ist schüchtern!“, frohlockte Fye, als er sah, wie der Schwarzhaarige auf seine Neckerei reagierte.

„ICH BIN NICHT SCHÜCHTERN!“, schnauzte der nur zurück.

„Aber, aber, Kuro-rin...“ er setzte sich auf, wodurch die Distanz zwischen ihnen noch geringer wurde. „Das ist doch nichts wofür mach sich schämen muss, nur weil man sich zu jemandem hingezogen fühlt --“

„HALT DIE KLAPPE, IDIOT!“ Kurogane stand auf, so eilig er konnte und machte sich daran lauthals aus dem Raum zu stapfen, ohne zu sehen, wie sich ein Schatten über die Augen des blonden Mannes senkte. Fye verschränkte die Finger ineinander und bettete sie auf seinem Schoß. Er hatte geahnt, dass er es mit seinen Scherzen zu weit treiben würde, dass er damit eine heftige Reaktion provozierte. Und obwohl es nur ein Spiel gewesen war, fühlte er sich plötzlich elend und allein. Er war noch nie gut mit Ablehnung klar gekommen, ganz egal ob von einem Fremden oder von jemandem der ihm nahe stand.

„Na wird’s noch?“ Eine raue Stimme ließ ihn aufblicken. Kurogane hatte im Türrahmen inne gehalten und über die Schulter zurück geblickt. Sein Gesicht lag im Halbschatten, aber Fye meinte Ungeduld in den blutroten Augen sehen zu können. Kuro-chan... wartete? Auf ihn?

„Ich würd’ die Durchsuchung heut’ noch durchziehen wollen, wenn’s recht ist.“

Der Blonde blinzelte verwirrt. Durchsuchung?

Und dann fiel es ihm wieder ein.

Der Grund, warum er hier war. Warum man ihm Handschellen angelegt hatte.

In jenen Minuten direkt nach dem Aufwachen, wenn Körper und Geist sich noch in einem Zustand seliger Orientierungslosigkeit befanden, hatte Fye geglaubt, dass alles okay wäre. Er hatte keinen Gedanken an seinen Bruder verloren, weil er vergessen hatte... dass er nicht mehr da war. Wieso war es ihm nicht eingefallen? Wieso hatte nicht allein der Anblick des grummeligen Inspectors die Erinnerungen an die letzten Stunden geweckt?

„Hey, ich warte!“

„Ich komme schon...“ rief der Blonde hinterher, seine düstere Gedanken in falsche Heiterkeit hüllend.
 

Die Autofahrt wurde zu einer Zerreißprobe für Kuroganes Nerven. Er war ein ruhiger Mensch, wenn man ihn in Ruhe ließ. Außerhalb der Arbeit konnte er sogar richtig sanftmütig sein, da seine Griesgrämigkeit vor allem die abschrecken sollte, die ihn versuchten blöd anzuquatschen. Die meisten schreckte das ab, sodass es nur wenige Menschen gab, die ihn aus der Haut fahren lassen ließen, darunter Tomoyo und ihre Mutter Sonomi, die ziemlich hysterisch werden konnte.

Aber die beiden waren nichts gegen die Grinsebacke, die ganz instinktiv seine wunden Punkte zu erwischen schien. Deshalb hielt der Schwarzhaarige es für klüger, während der Fahrt den Mund zu halten und die Person auf seinem Beifahrersitz komplett zu ignorieren. Leichter gedacht als getan, denn Fye ließ sich nicht so einfach ignorieren. Erst spielte er am Autoradio herum und stellte nach einigen Minuten Rauschens und Liedfetzen einen Sender ein, der munter-fröhliche Pop-Songs dudelte. Kurogane fragte sich, ob er für den blonden Schlacks wie jemand aussah, der gern Popsongs hörte.
 

~ I'm feeling it - I got a ton a time

You're movin your body

I'm reeling in - I gotcha on my line

You won't swim away this time
 

“Hey, Mr. Black!”
 

~ Cause you started it…
 

“Für dich immer noch Inspector Suwa.”
 

~ And you seem into it…
 

„Maaah!”, mäkelte Fye herum und lehnte sich im Sitz zurück, die Arme ausstreckend. „Das ist doch aber langweilig. Und da wir uns jetzt öfter sehen...“

„Wer sagt, dass wir uns öfter sehen?”
 

~ Don't you dare act surprised
 

„…dann wäre es doch besser, wenn wir uns gleich anfreunden. Und Freunde geben sich nun mal Spitznamen. Wie wär’s mit Kuro-tan?“

„Vergiss es.“

„Okay, dann nicht.“ Und damit schwieg der Blonde.
 

~ Cause only you know what is on my mind

I wanna see you

I'm leaving on the lights
 

Genau drei Sekunden lang.

„Du, Kuro-puu, wie kommt’s, dass du mich vorhin nicht angeschnauzt hast?“
 

~ Don't go act all sweetness, ‘Cause honey that's not right

Come on, you know oh oh - what is on my mind
 

„Mein Name ist KUROGANE! Ist das denn so schwer zu merken?“ Wenn der Idiot schon auf Vornamen bestand, dann wenigstens auf den richtigen. „Und wovon zur Hölle redest du?“
 

~ You know the game - You’re wearing it

And you make the rules…
 

„Vorhin, als du dich an mir vergreifen wolltest...“
 

~ I'm breaking them
 

„ICH WOLLTE WAS?“
 

~ And it's feeling good
 

„... du hast mich weder weg geschubst, noch eine dämliche Schwuchtel genannt, obwohl es dir doch ziemlich unangenehm war.“
 

~ For sure you can't deny
 

„Nicht alle Polizisten sind homophobe Mistkerle,“ war der einzige Kommentar dazu.

„Ach so.“
 

~ Cause you started it…
 

„Wie, ’ach so’?“
 

~ And you seem into it…
 

„Och nichts.“[2] Der Blonde blickte weg, grinsend wie ein Honigkuchenpferd.
 

~ Don't you dare act surprised
 

„Aber eben wolltest du noch was sagen!“

Fye starrte grinsend aus dem Fenster und Kurogane musste feststellen, dass der Kleinere durchaus schweigen konnte, aber genau dann, wenn man wollte, dass er antwortete.
 

~Cause only you know what is on my mind

I wanna see you…
 

Die Wohnung der de Flourites sah aus, als wäre darin eingebrochen worden. Kissen und Chipstüten waren auf dem Boden verstreut, eine Decke lag als einziges Knäuel auf dem Sofa und einige Schubladen waren geöffnet worden. Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Glasschüssel mit cremigen Resten drin, eine halb leere Flasche Eierlikör, Sprühsahne und ein Glas Apfelmus. Kurogane wusste nicht, was es mit dem Zeug auf sich hatte, aber man konnte wohl von einer faulen Fernsehnacht und einem überstürzten Aufbruch ausgehen. Die Wohnung passte schon mal zur Aussage des Blonden.

„Entschuldige die Unordnung“, murmelte Fye, „aber mein Bruder ist sonst derjenige, der immer aufräumt.“

Kurogane erwiderte nichts, da es nichts Angemessenes zu erwidern gab.

„Kuro-sama?“

„Mein Name ist Kurogane!“, presste der Schwarzhaarige zwischen seinen Zähnen hervor, aber er hatte so das dumme Gefühl, dass er dem Kleineren die Sache mit den Spitznamen nicht so schnell austreiben konnte.

„Hast du vor mein Zimmer auch zu durchsuchen?“

„So war’s geplant.“

„Könnte ich vorher noch mal hinein? Nicht lange, nur ein paar Minuten.“ Die glutroten Augen richteten ihren Blick auf das Gesicht des Blonden, aus dem für den Moment alle aufgesetzte Fröhlichkeit verschwunden war. Der Inspector erwog kurz, nach dem Grund zu fragen, entschied dann aber, dass das sinnlos war. Fye würde es ihm nicht sagen und seine – Kuroganes – Antwort würde nein lauten.

„...Ich habe auch nicht vor, irgendetwas zu entwenden, ich brauche nur ein wenig Zeit zum Nachdenken. In vertrauter Umgebung.“ Flehender Blick aus butangasblauen Augen.

Die Antwort lautete nein.

Die Antwort musste nein lauten, etwas anderes ließen weder die Vorschriften noch Kuroganes eigene Prinzipien zu.

„Kuro-chan?“

„Fünf Minuten. Nicht mehr.“

„...“

„...“

„...wirklich?“ Fye war über die Antwort überrascht, aber bei weitem nicht so verwundert wie der, der sie ausgesprochen hatte. Doch einmal Gesagtes ließ sich nicht zurück nehmen. Also musste Kurogane damit leben.

„Dann stehst du mir wenigstens nicht im Weg rum, während ich arbeite.“ Es war eigenartig, den anderen zu duzen. Aber Fye weiter zu Siezen, nachdem der sich partout auf das „du“ versteift hatte, wäre noch merkwürdiger gewesen.
 

Der kleinere Mann nickte und verschwand in Fyes Schlafzimmer. Einem Ort wohl gehüteter Ruhe. Das Bett war fein säuberlich gemacht, es hatte ja niemand darin geschlafen (dasselbe galt für Yuuis Bett, aber das war etwas, womit Fye sich gerade nicht belastete). Auf dem Fensterbrett standen einige Pflanzen mit leicht gelblichen, herab hängenden Blättern, die sein Bruder versucht hatte aufzupäppeln. Weil Yuui ständig vergaß – Korrektur, vergessen hatte – sie zu gießen.

Fotos der Zwillinge auf dem Nachttisch.

Ein gerahmtes Orchideen-Bild hing über dem Bett.

Fye lief genau zwei große Schritte, bis sein Schienbein die Bettkante berührte. Er ließ sich auf die Matratze fallen und vergrub das Gesicht in den Kissen. In dem vanillefarbenen Stoff hing noch der Duft des Shampoos seines Bruders. Er wollte ihn festhalten, diesen Geruch, diesen Moment, einfach alles. Am liebsten hätte er die Zeit angehalten, damit er diesen Ort nie mehr verlassen musste.

Alles in diesem Raum war durch und durch Fye und jetzt gehörte es ganz ihm.

--

To be continued...

~^.^~

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[1] Er ist zu cool, um Icchan zu sagen. XD

[2] Wer wissen will, was es heißt, wenn ein Mann „och nichts“ sagt, der höre sich „Was ich grade denke“ von Bodo Wartke an und denke dabei an die zwei in der Clover Bar.
 

Tja, wieder mal ein „Mir fiel kein besserer Titel ein“-Kapitel. Es sollte übrigens nicht wirklich eine Anspielung auf die gleichnamige Fernsehserie sein, die habe ich so gut wie nie gesehen (obwohl Henning Baum rockt!). Aber meine Ma hat die gern geguckt und da Kuro-tans weiche Seite hier ein wenig durchscheint UND ich total auf die Handschellen abfahre, habe ich mich dafür entschieden.

Kapitel sechs setzt nach dem Prolog an, wer mag, kann jetzt also den Prolog noch einmal lesen. ^^

Für jene, die December Baby verfolgen: es tut mir so leid, dass ich es nicht mehr rechtzeitig geschafft habe. Viel fehlte nicht mehr von letzten Kapitel aber ich war gestern abend so müde um halb zwölf, ich konnte einfach nicht mehr. Und heut' morgen hab' ich glatt verschlafen. -.- Ich komme voraussichtlich erst im Januar wieder zum hoch laden...
 

[...]Der Blonde starrte auf die Stelle, an welcher der Schwarzhaarige eben noch gestanden hatte. In seinem Leben gab es zur Zeit nichts, das Anlass zur Freude gab, aber als er sich Kuro-wanwans Gesichtsausdruck noch einmal vor Augen rief, stahl sich ein diebisches Schmunzeln auf die blassen Lippen.[...]

Privatsphäre

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

Erwähnung real existierender Schriftsteller inbegriffen.

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Ich will nicht lügen und ich tu es doch

Ich wollt’ es üben und das tu ich noch

Ich würd’ gern sagen, was mich quält geht vorbei

Und dann, dann sehe ich uns zwei
 

Juli, “Wenn du mich lässt”
 

Fünf Minuten vergingen.

Zehn Minuten.

Kurogane stieß einen lautlosen Fluch aus und legte das Buch weg, in dem er geblättert hatte.

War ja klar gewesen. Das hab’ ich nun davon.

Er überlegte, einfach in den Raum zu platzen und schob es dann noch ein wenig vor sich her. Fein, wenn Blondie so lange nachdenken musste, konnte er sich derweil all den schmutzigen kleinen Details widmen, die zuerst verschwiegen wurden. Kurogane schnappte sich die Packung Wegwerfhandschuhe, die er aus seinem Wagen mitgenommen hatte und fing mit der Durchsuchung an. Er beschloss, bei dem Ort zu beginnen, an dem Erfahrungsgemäß die schmutzigsten Geheimnisse lauerten.
 

Das Bad war schnell gefunden. Es war der einzige Raum, dessen Tür weiß gestrichen war, die anderen waren als Buche-Nachbildung belassen worden. Kurogane drückte die silberne Klinke aus kaltem Edelstahl herunter, trat ein und – atmete scharf ein. Das Badezimmer war riesig, gemessen an den Verhältnissen, in denen der Schwarzhaarige lebte. Der Boden war in einem weiß-schwarzen Schachbrettmuster gefliest, wies eine Eckduschkabine für zwei und eine ebenso große Wanne auf, außerdem eine Toilette und eines dieser Fußreinigungsbecken.

Okay, die Zwillinge waren reich.

Über dem Waschbecken hing wie erwartet ein kleines Arzneischränkchen, dessen drei Türen mit Spiegeln versehen waren. Rechte Tür: Zahnputzzeug, Diverse Pflegeprodukte. Haargel.

Nächste Tür: Medikamente. Hustensaft, Zäpfchen, Salbe gegen Insektenstiche. Das heftigste, was man hier vorfand war Aspirin. Nichts, was auf eine Sucht oder eine chronische Erkrankung schließen ließ, sie hatten nicht mal einen blöden Inhalator.

Die linke und letzte Tür: Rasierzeug. Pinsel, Aftershave für empfindliche Haut, Rasierschaum und –klingen.

Rasierklingen...

(So lange ich denken kann, habe ich für dich gelebt und du für mich.)

Kurogane blickte auf seine Uhr. Zwanzig Minuten, seit Fye sich zurück gezogen hatte. Das Vierfache des Zeitlimits, das ihm gegeben wurde. Was gab es da so lange zu bedenken? Was...

(Eine Person, ..., die ihn mit der Welt verbindet.)

Etwas beunruhigte ihn. Vielleicht lag es ja nur an der Widmung, die er gelesen hatte und die Fragen, die sie in seinem Kopf aufgeworfen hatte, aber es gefiel ihm gar nicht, dass der blonde Idiot gar nichts von sich hören ließ. Und um die Paranoia komplett zu machen, hörte der Inspector plötzlich Syaorons Stimme in seinem Verstand widerhallen.

(„Wenn man den anderen dann plötzlich verliert ist das, als würde man einen Teil von sich selbst verlieren.“)

Die nachmittägliche Sonne glitzerte auf den scharfen Klingen des Rasierers.

„Scheiße!“

Kurogane machte auf dem Absatz kehrt.

Daran, dass der Blonde sich eventuell etwas antun könnte, hatte er noch gar nicht gedacht. Bis jetzt natürlich. Er dachte an das aufgesetzte Lächeln. Die emotionalen Schwankungen. Wenn Fye sich etwas antat... Sie würden ihren wichtigsten Zeugen verlieren. Scheiße noch mal, sie würden ihren einzigen Zeugen verlieren.

Kurogane stürmte in Fyes Raum ohne anzuklopfen. Und blickte in ein Paar leuchtend blauer Augen. Die verwirrt zurück blickten. Der Besitzer dieser blauen Iriden stand vor einem offenen Kleiderschrank, nur mit eng anliegenden Unterhosen und einem locker um die Schultern liegendem, weißem Hemd bekleidet. Letzteres wurde eben zugeknöpft.

„Nanu, Kuro-rin, du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Geist traf es, irgendwie. Obwohl ’Erscheinung’ der wohl passendere Begriff gewesen wäre, so blass wie die Haut des älteren Mannes schimmerte, sie leuchtete schon fast, dort wo die schräg durchs Fenster einfallenden Sonnenstrahlen auf goldene Härchen trafen.[1]

Der Beobachtende war wie festgefroren, da sein Hirn mit der Widersprüchlichkeit dessen, was er sah und dessen, was er erwartet hatte, kämpfte. Und seiner Bewegungsfreiheit beraubt blieb ihm nur eines übrig; weiter zu starren.

„Wenn du vorhattest, mich nackt zu erwischen bist du aber ein wenig zu spät!“, sagte der Blonde und setzte ein Grinsen auf.

„SEH ICH WIE EIN SPANNER AUS?! Deine Zeit ist um.“ Und um diesen Trottel hatte er sich eben noch Sorgen gemacht?

„Ich weiß, aber du hast mich nicht ermahnt, also dachte ich, wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich auch gleich umziehen.“ Fye schlüpfte in eine hellblaue Hose mit Drei-Viertel-Länge. „Es sei denn natürlich, meine Kleidung zählt auch zu den Beweisstücken.“

„Schlaf nicht ein dabei“, schnauzte Kurogane und stapfte Türen knallend wieder aus dem Zimmer.

Der Blonde starrte auf die Stelle an welcher der Schwarzhaarige eben noch gestanden hatte. In seinem Leben gab es zur Zeit nichts, was Anlass zur Freude gab, aber als er sich Kuro-wanwans Gesichtsausdruck noch einmal vor Augen rief, stahl sich ein diebisches Schmunzeln auf die blassen Lippen. Kuro-pon ist schüchtern, dachte er nun schon zum zweiten Mal an jenem Tag. Man erwartete von einem so großen, männlichen Kerl nicht gerade, dass er so leicht in Verlegenheit geriet. Es bot eine gute Möglichkeit, von unangenehmen Themen abzulenken. Ja, er konnte den Großen ruhig öfter necken.

Fye griff nach einem Paar Socken aus der Schublade und als er sie auseinander ziehen wollte, fiel ein kleiner Gegenstand heraus und purzelte unter das Bett.

Nanu?

Fye legte sich auf den Boden. Natürlich war es unter dem Bett seines Bruders ebenso ordentlich wie der Rest des Zimmers, sodass das Objekt schnell auszumachen war. Es war ein kleiner Schlüsselanhänger aus Kautschuk in Form eines Pinguins. Der Blonde nahm ihn an sich. Unter dem Kopf, da wo der Hals des Vogels sein sollte, war eine Furche, denn was wie ein Schlüsselanhänger aussah, war in Wirklichkeit ein USB-Stick. Yuui hatte ihn Fye letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt.

Was machte der Datenträger also an so einem Ort? So etwas gehörte in den Schreibtisch, nicht zwischen die Socken wie ein Geheimvorrat an Pot.

Zumal...

Sein Zwilling war ein Café-Besitzer gewesen, wenn er Daten hatte, die es zu sichern gab, dann betrafen sie das Cat’s Eye. Aber dafür reichten auch ein einfaches Laptop-Passwort und einige Sicherheitskopien aus. Warum die Geheimhaltung?

Fye steckte den Datenträger in seine Hosentasche. Vielleicht würde er ihn später Kuro-chi geben, aber nicht bevor er nicht selbst einen Blick darauf geworfen hatte.
 

Was für ein Saustall.

Das Bett war gemacht, aber das schien auch das einzig Ordentliche im (ausgehauchten) Leben von Yuui de Flourite gewesen zu sein. Unter der Lampe auf dem Nachttischchen lag ein Roman: „Bartimäus – die Pforte des Magiers“ von Johnathan Stroud. Der Teppich war dekoriert mit T-Shirts und Hosen in knalligen Farben, auf dem Schreibtisch türmten sich Papiere und Formulare, darüber hing eine Kork-Pinnwand mit Notizzetteln, die an wichtige Termine erinnern sollten.

Das Genie, das versuchte das Chaos zu überblicken.

Kurogane begann mit dem Nachtschränkchen. In der obersten Schublade befanden sich ein Schokoriegel, ein Notizblock mit Kuli, darunter ein Tagebuch. Der schwarzhaarige DI blätterte kurz durch, sich auf die Daten konzentrierend und staunte nicht schlecht. Zwischen den meisten Einträgen lagen Monate, wenn nicht sogar Jahre. Schien, als wäre Yuui de Flourite kein passionierter Tagebuchschreiber gewesen. Aber wer brauchte auch ein Tagebuch, wenn er einen Zwilling hatte, dem er alles erzählen konnte?

Der Inhalt des zweiten Schubfachs hätte kleine Mädchen zum Erröten gebracht. Massageöl, Vaseline und eine Packung Kondome. Von letzterer war das Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Da ist wohl jemand seit Jahren nicht mehr zum Schuss gekommen.

„Nicht jeder Homosexuelle ist eine Schlampe, Kuro-sama.“ Fye stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Hab ich das laut gesagt?“, fragte Kurogane und schluckte. Es schien, als hätten sie beide mit ein paar Vorurteilen zu kämpfen.

„Ja~ha!“ Schmollend.

Kurogane hielt es nicht für nötig sich zu entschuldigen, nur weil er die Wahrheit gesagt hatte. Der Blonde hingegen schien es für seine Pflicht zu halten, die Ehre seines Bruders zu verteidigen: „In der Öffentlichkeit zu stehen macht einsam.“

„Das war eine Feststellung, keine Wertung.“

Der Ältere schien darüber nachzugrübeln, ob er das dem anderen so durchgehen lassen wollte.

„Kann ich dir helfen?“

„Das Passwort für den Laptop“, brummte der große Mann, während er den Kopf unter die Bettkante steckte. Er fand Staub, einige Heftchen, Schuhkartons und noch mehr Staub. Kurogane ignorierte die Heftchen und zog die Kartons hervor.

„Was ist mit dem Passwort?“, hakte Fye unschuldig nach. Die Arme hinter dem Rücken verschränkend beugte er sich ein wenig nach unten, um besser sehen zu können, was der Inspector so trieb.

„Kennst du es?“ Der Mann strubbelte sich den Staub aus den Haaren.

„Natürlich. Ich bin... ich war sein Zwilling. Yuui und ich hatten keine Geheimnisse voreinander.“

„Abgesehen von dem Deal.“

Fye stimmte nicht zu, sondern lächelte nur und wechselte das Thema: „In den Kisten wirst du Fotos finden. Yuui hat nie viel von Alben gehalten.“

Er kippte den Inhalt des ersten Kartons aus. Polaroids. Eine ganze Menge davon. Die Bilder waren nicht geordnet, nur auf der Rückseite war mit Kuli das Datum gekritzelt worden. Gegebenenfalls stand noch eine Notiz dabei wie „Schulaufführung“ oder „Eröffnung des Cat’s Eye.“

„Wer ist die Kleine?“ Kuroganes großer, gebräunter Finger deutete auf das Foto, das einen der Zwillinge – vermutlich Fye – neben einem jungen Fräulein im Dienstmädchenoutfit zeigte. Sie hatte braune Augen und ein weißes Häubchen thronte auf ihren rotbraunen Haaren, die ihr offen bis auf die Schultern fielen. Die Strähnen, die noch länger waren, hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten.

„Das ist Kobato-chan. Kobato Hanato, falls du ihren vollständigen Namen wissen möchtest. Sie arbeitet als Bedienung in meinem Café und... OH GOTT!“

„Was?“

„Ich hab’ vergessen, sie anzurufen. Dass das Cat’s Eye geschlossen bleiben muss. Aber du hattest mein Handy beschlagnahmt... arme Kobato-chan. Wie ich sie kenne, sitzt sie vermutlich immer noch vor der Tür und wartet darauf, das ich komme um aufzuschließen.“

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Doch. Sie hat ziemliches Sitzfleisch.“[2]

Der auf dem Boden sitzende seufzte und widerstand dem Drang, sich die Hand vor die Stirn zu schlagen. Das klang so absurd, dass es schon wieder zu dem blonden Schlacks passte, eine solch merkwürdige Person einzustellen. Besagter Schlacks rückte etwas näher an den Fotostapel und ließ sich dann auch auf dem Boden nieder, ein Bild herauspickend. „Und das hier ist Yuui mit seinem Verleger Ashura. Das müsste kurz nach dem Erscheinen des ersten Romans der Märchenchronik gewesen sein.“

Zwei Männer im Anzug lächelten in die Kamera, jeder hatte ein Sektglas in der erhobenen Hand. Der Größere hatte glattes schwarzes Haar, das er, mittig gescheitelt, im Nacken zu einem Zopf zusammen gefasst hatte. In den goldenen Augen lag ein Ausdruck milder Nachsicht, während Yuui de Flourite von einem Ohr zum anderen strahlte. So unterschiedlich konnten die Zwillinge nun auch wieder nicht sein.

„Uuuuh! Und hier ist er als Rotkäppchen bei der Schuleinführung zu sehen!“, rief Fye begeistert aus und während er mit kätzischer Freude ein Polaroid ansah bemerkte er gar nicht, wie der kritische Blick zweier Lithiumflammenroter Augen sich auf ihn richteten.

Keine Regung. Kein Schwärmen in alten Zeiten, kein Tränenausbruch... sein Verhalten deutet nicht darauf hin, dass er trauert. Kurogane runzelte die Brauen so stark, dass sie sich schon fast in der Mitte trafen. Da stimmte was nicht. Fye bemerkte seinen Blick und schenkte ihm ein Grinsen, das zu viele Zähne zeigte. Der Größere wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Foto in seiner Hand zu. Der Schriftsteller trug darauf eine rot umränderte Brille mit Halbmondgläsern.

„Du hast nicht nach der Brille gefragt“, sagte er.

„Huh?“

„Als ich dich zum Tatort gebracht hatte, hast du nicht gefragt, ob wir seine Brille gefunden haben. Du hast auch nicht gesagt, dass sie fehlte. Und Kontaktlinsen trug er auch nicht, die hätte Sakura bemerkt.“

Ein kurzer Moment der Irritation, dann stahl sich das allbekannte Grinsen, das die Augen nie erreichte zurück auf die blassen Lippen. „Er brauchte keine. Seine Augen waren in Ordnung, in dem Gestell ist nur normales Glas. Yuui hat die Brille nur bei öffentlichen Auftritten getragen. Meinte, sie ließe ihn klüger aussehen.“

Kurogane schnaubte, sagte aber nichts dazu. „Dein Bruder hatte nicht grad viele Freunde, nicht wahr?“

„Wie ich schon sagte, Ruhm macht einsam. Man weiß nie, wem man vertrauen kann. Und außerdem... hatte er ja mich.“ Fye fügte nicht an ’und ich hatte ihn’, aber der Andere hatte so das Gefühl, dass er es dachte. Die schmale blasse Hand, die eben noch begeistert Fotos hoch gehalten hatte, sank nun kraftlos auf die überkreuzten Beine. Das maskenhafte Lächeln hielt stand, doch die kristallblauen Augen verloren an Leuchten, wurden trüb. Der Blonde wirkte wie ein liegen gelassenes Spielzeug. Ein Plüschclown, den man in der Ecke liegen gelassen und vergessen hatte.

Ja, Fye wirkte einsam. Aber der Inspector war nicht überzeugt, dass das alles war. Nachdem er einige der Fotos studiert hatte, eröffnete sich ein Bild von Yuui de Flourite, das von einem freundlichen, lebenslustigen Menschen zeugte. Jemandem, der durch seine offene Art keine Probleme gehabt haben dürfte Kontakte zu knüpfen, richtige Freunde zu finden, auf die er sich verlassen und denen er vertrauen konnte.

Hatte der Schriftsteller sich nicht an andere binden wollen?

Und wenn ja... warum?
 

Diese Nacht schlief Kurogane unruhig. Zum Teil mochte das an der Fülle der Informationen liegen, die mit dem neuen Fall einher gingen, aber ein weiterer Grund war, dass er versuchte, sich an etwas zu erinnern. Sein Unterbewusstsein drängte ihn dazu, aber egal, wie oft der Inspector in Gedanken den Tagesablauf rekapitulierte, er konnte es nicht einordnen. Er fand keinen Anhaltspunkt.

Es widersprach seiner Natur.

Vergangenes war vergangen. Erledigt. Nicht mehr zu ändern. Und es sollte keinen Einfluss auf die Gegenwart haben. Die Vergangenheit spielte keine Rolle.

Das Telefon klingelte.

Eine sehr große Hand tastete schläfrig den Nachttisch nach einem Handy ab. Der Besitzer der Hand stöhnte entnervt auf, nahm aber den Anruf entgegen und murmelte etwas, das entfernt nach „Suwa“ klang.

#Kuro-tan?#, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung, begleitet von verhaltenem Schluchzen. Schlagartig war der Inspektor wach. Na ja, wacher. Die Anzeige des Digitalweckers malte neongrün die Ziffern 23:17 in die Dunkelheit. Wenigstens noch vor Mitternacht.

„Was gibt’s?“

#Du...# – ein Schniefen – #..du hast gesagt, ich darf die Stadt nicht verlassen.#

Richtig, das waren seine Worte gewesen, als er Fye seine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte. Aber warum fing der Kerl jetzt davon an? Und wieso klang es so, als würde er weinen?

„Und weiter?“, brummte Kurogane als ihm die Augen wieder zu zufallen drohten.

#Es ist nur so, ich kann nicht in der Wohnung bleiben. Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich zieh’ heute noch in das Kaiser Pinguin Hotel. Falls du also noch Rückfragen hast, du findest mich dort unter dem Namen Flowright.# Fyes Stimme wurde mit jedem Wort sicherer.

„Mh-hm“, murmelte der Schwarzhaarige, als er sich zur Seite drehte, das Handy nur halbherzig fest haltend. Er war sogar zu müde, um den Blonden anzuschnauzen, warum er damit nicht bis zum nächsten morgen gewartet hatte.

#Hab’ ich dich geweckt?#

„Ja.“

#Tschuldigung.#

Ein weiteres Grummeln, dann legte der Größere auf und ließ Handy und Arm neben seinem Kopf auf das Kissen sinken. Keine Minute später war er wieder tief eingeschlafen.
 

Fye lauschte eine Weile dem Tuten der gekappten Verbindung und schaltete dann auch sein Mobiltelefon ab. Das ja Yuuis Telefon war. Kurogane hatte das Gerät im Zuge der Durchsuchung in der Küche gefunden. Im Kühlschrank.

Der Zwilling wischte sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel.

„Tut mir Leid, ich wollte Ihnen keinen Kummer bereiten“, meinte Fyes ungeplanter Gast, aber der Angesprochene schüttelte nur den Kopf. Er kehrte zum Sofa zurück und ließ sich neben den brünetten jungen Mann fallen, der noch einen gefassten Eindruck machte.

„Schon gut. Ich bin froh, dass du erst zu mir gekommen bist und mir alles erzählt hast. Jetzt weiß ich wenigstens, dass mein Bruder in seinen letzten Stunden in der Gesellschaft eines Freundes war.“

„Aber, was soll ich denn jetzt tun?“, rief der Kleinere aus, „Ich will Ihnen nicht noch mehr Ärger bereiten, aber ich kann Kurogane-san unmöglich anlügen!“

„Ich verstehe. Dann ist es vielleicht besser, wenn du vorerst nicht zur Arbeit kommst. Lass dich krank schreiben oder so.“

„Aber...“

„Sieh mal, Syaoron-kun, wenn du hingehst und deiner Chefin erzählst, was du mir erzählt hast, dann wird man dich so oder so von dem Fall ausschließen, richtig?“

Der jüngere Li-Zwilling blickte zu Fye auf, sein Gesichtsausdruck war vollkommen ernst. „Kurogane-san wird schrecklich wütend sein, wenn er herausbekommt, dass Sie ihn belogen haben.“

Der Blonde zwang sich zu einem Lächeln. Es hatte nicht den gewünschten Effekt, denn anstatt Selbstsicherheit auszustrahlen wirkte er einfach nur müde. „Ich weiß.“ Er wusste auch, dass es für ihn nützlicher gewesen wäre Syaoron zu überreden an dem Fall weiter zu arbeiten. Das hätte ihm jemanden beschert, der ihn auf dem Laufenden hielt. Aber das wiederum hätte bedeutet die Sympathie, die der Junge für seinen Bruder hegte, schamlos auszunutzen und das brachte er nicht über sich.

„Weißt du, ich glaube Fye mochte dich wirklich gern.“

Der Brünette senkte den Kopf, als hoffte er so die Tränen verbergen zu können, die schon wieder in seinen Augen brannten, wie immer, wenn er an Fye – „seinen“ Fye – zurück dachte. Er konnte jedoch nicht das Zittern in seiner Stimme verhindern, als er fragte: „Wie kommen Sie darauf?“

„Er hat absolute Diskretion bewahrt, als ich versucht habe ihn über dich auszuquetschen. Er wusste genau, wenn er mir auch nur die kleinste Information gab, würde ich nicht eher ruhen, bis ich alles über dich heraus gefunden hätte. Es ist ihm bestimmt nicht leicht gefallen mir gegenüber Stillschweigen zu bewahren, aber er muss wohl geglaubt haben, dass du es wert bist.“

Syaorons Tränen flossen nun doch ungehindert und Fye lehnte den Kopf des jungen Mannes an seine Schulter, damit er seine Trauer dort verstecken konnte. Nein, er hätte sich lieber einen kleinen Finger abgeschnitten als den Jungen für seine Zwecke zu missbrauchen. Außerdem hatte er schon eine Idee, wie er den grummeligen Inspector ein wenig unter Druck setzen konnte.

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To be continued...

~^.^~

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[1] Fye: *glitzernd* „Sag mal... du hast aber nicht vor, mich hier als Twilight-Vampir da stehen zu lassen?“ Ich: „Eher würd’ ich sterben.“ -.-

[2] Ganz im Gegensatz zu dem Plüschtier, das sie ständig „verliert“
 

Geht man davon aus, dass mein Original-Fye dem Yuui aus Horitsuba entspricht, dann ja, haben wir hier ein wenig SyaoYuui. Schlagt mich, wenn ihr wollt, aber ich glaube, die beiden könnten wirklich canon sein.

Wer sich näher für das Pairing interessiert – ich habe kürzlich „December Baby – Yuui und der Junge“ hochgeladen. Dort findet man auch die Erklärung, warum es so still um mich wurde.
 

Vorschau:

[...]Die zweite Option wäre ein Verbrechen gewesen, aber dann hätte es eine Polizeiakte gegeben... und Schlagzeilen. Da sie über die Eltern nichts wussten, ließ sich diese Theorie schlecht nachweisen, aber manchmal erbten Kinder von ihren Eltern nicht nur schlechte Gewohnheiten... [...]

Das Verbrechen in einer Nussschale

Oh Gott. Dieses Kapitel kommt mir vor wie eine pure Notwendigkeit. Fühlt euch frei, Notizen zu machen. XD
 

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

Erwähnung real existierender Schriftsteller inbegriffen.

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For this dance we move with each other

There ain't no other step

Than one foot

Right in front of the other
 

One Republic, “Marchin’ On”
 

Der nächste Morgen begann frisch und schlug innerhalb von wenigen Stunden zu subtropischen Verhältnissen um. Zudem war es Mittwoch, die Mitte der Woche... nicht gerade der beste Zeitpunkt, um sich einen neuen Job zu suchen, noch dazu, wenn es nur auf unbestimmte Zeit war. Aber Kobato Hanato war ein Mädchen, das in ärmlichen Verhältnissen lebte und obwohl ihr Boss ihr bezahlten Urlaub zugesagt hatte, so lange das Cat’s Eye geschlossen bleiben würde, wollte sie nicht daheim bleiben. Das Mobiliar ihrer Wohnung bestand eigentlich nur aus einem Futon und anstatt sich zu Hause zu langweilen, war sie sich sicher, dass irgendwo in der Stadt jemand ihre Hilfe gebrauchen konnte.

In ihrem Bestreben stets und bei allem ihr Bestes zu geben, eilte sie durch die Straßen und fragte jeden Passanten, ob sie ihm helfen könne. Was zu einigen merkwürdigen Situationen führte. Die Details sind der Fantasie des Lesers überlassen, es sei nur so viel gesagt: sie konnte sich glücklich schätzen, niedliche Kleider zu tragen, die ihre gute Figur verbargen.[1]

Vor einem Elektroladen blieb sie plötzlich stehen und blickte auf die im Schaufenster ausgestellten Fernseher, die alle auf die Nachrichtensender eingestellt waren.

Kobato-chan schlug sich die Hände vor den Mund und... kreischte. Der Ton war so markerschütternd, dass sich sogar ihr eigenes langes Haar zu sträuben und aufzurichten schien. Leute drehten sich nach ihr um und begannen zu tuscheln, aber die Sechzehnjährige bemerkte es nicht. Sie war zu beschäftigt damit zu fragen: Warum hat Fye-san mir kein Wort davon erzählt?
 

Kurogane parkte seinen Wagen auf dem Parklatz des Präsidiums. Während er die Asphaltdecke überquerte, riss er plötzlich den Kopf zu Seite. Hatte da nicht gerade eben jemand geschrieen? Er schüttelte den Kopf, überzeugt, dass es sich wohl doch nur um ein Hirngespinst gehandelt hatte und betrat dann den Seiteneingang des Backsteingemäuers.

Als er an seinem Büro angelangt war, stellte er fest, dass Syaoran und Tomoyo am vorigen Abend bereits eine weiße Tafel mit den Tatortfotos präpariert hatten. Die Bilder waren in einer Art Mind Map ausgerichtet. Sakura saß neben der Tafel und las sich in Icchans Obduktionsbericht ein.

„Wo steckt der andere Bengel?“, fragte Kurogane, dem nicht entgangen war, dass Syaoron fehlte.

„Er kommt heut nicht“, antwortete Syaoran, „Er hat sich gestern Abend den Arm gebrochen und ist momentan noch im Krankenhaus. Aber Mokona hat mir seine Notizen von gestern gegeben.“

„Wie hat er denn das angestellt?“ knurrte Kurogane und versuchte zu rekapitulieren, ob der Junge irgendwelche gefährlichen Sportarten machte. Basketball und Bogenschießen waren die einzigen, die ihm einfielen.

„Sein Bücherregal ist umgekippt.“

Der Detective Inspector zuckte mit den Schultern und murmelte: „Na ja, was soll’s. Lässt sich ja nicht ändern. Dann fangen wir mal an zusammenzufassen, was wir über das Opfer wissen.“

Das war das Stichwort für den jüngeren Li-Zwilling. Der junge Mann holte seinen Notizblock hervor und begann laut vorzulesen: „Yuui de Fluorite, Schriftsteller. Alter: 35 Jahre wenn man den Fanseiten im Internet und seinem Führerschein glauben will, aber das Geburtsdatum ließ sich nicht verifizieren.“

„Was meinst du damit?“, hakte Tomoyo nach, die neben Sakura auf einem der Schreibtische saß und die Beine baumeln ließ.

„Mokona hat in den Rechnern der französischen Behörden nach einer Kopie der Geburtsakte gesucht aber da war nur der Hinweis darauf, dass das Dokument verschollen ist. Der erste Hinweis auf die Zwillinge ließ sich vor achtundzwanzig Jahren finden, als sie in einem französischen Waisenhaus aufgenommen wurden. Alles davor liegt im Dunkeln, ich konnte nicht einmal die Namen der Eltern ermitteln, geschweige denn, was ihnen zugestoßen ist. Sie wurden noch im selben Jahr eingeschult und absolvierten die Grundschule in nur fünf Jahren. Mit zwölf Jahren kamen sie in einer Pflegefamilie in Bangor, Maine unter. Ich habe mir das extra noch mal von der Einwanderungsbehörde bestätigen lassen. Es existieren keine Jugendstrafakten und keiner von beiden ist jemals auffällig geworden, sieht man davon ab, dass Yuui-san es in die Zeitung geschafft hat, als er mit fünfzehn Jahren einen regionalen Kurzgeschichtenwettbewerb gewann. Nach dem High School Abschluss zogen die Zwillinge nach Clow City, studierten am Tsubasa Science College Lebensmittelchemie. Fye-san brach das Studium nach dem ersten Semester ab und machte eine Ausbildung als Konditor, Yuui-san wechselte in den Studiengang Chemie. Während der Studienzeit schrieb er schon die ersten Bücher, überwiegend Vampirromane, die sich aber nur mäßig verkauften.“

„Bis 1994!“, warf Tomoyo dazwischen, „Nachdem Interview mit einem Vampir von Anne Rice verfilmt wurde, stieg die Nachfrage nach Vampirromanen stark an und Yuui-samas Romane wurden in neuer Auflage mit größerer Stückzahl herausgebracht. Das ist eigentlich ein Jammer, denn so wurde ein erster Roman in den Schatten gestellt, der absolut nichts mit Vampiren zu tun hat. Kinder Valerias, so hieß er, glaube ich. Der war richtig gut, aber er ist leider vergriffen. Ich kann mich gar nicht mehr richtig an die Geschichte erinnern, aber er war so traurig und hatte so viel Tiefgang... im Vergleich dazu ist die Schwingen der Nacht Reihe nur seichte erotische Massenproduktion. Gerade so, als hätte er vergessen...“

„Tomoyo!“ unterbrach Kurogane den Vortrag seiner kleinen „Schwester“ barsch, „Heb’ dir das für deinen Buchclub auf.“

„Ich dachte nur, die Werke zu interpretieren könnte Aufschluss über den Autor geben“, erklärte die Fotografin und warf sich ein paar ihrer langen dunkelvioletten Strähnen über die Schulter.

„Schon, aber wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Syaoran kratzte sich verlegen am Kopf und wartete ab, ob die Diskussion damit beendet war, bevor er fortfuhr: „Ähm... ja. Von da an ging’s mit der Karriere steil bergauf. Die Flourite-Zwillinge zogen für drei Jahre nach Italien, wo Fye-san eine Ausbildung zum Koch machte und Yuui-san die ersten drei Bände seiner Märchen-Chronik verfasste, die aber nach wie vor bei ’Ushagi Books’ hier in Clow City verlegt wurden. Als die Zwillinge dann in die Vereinigten Staaten zurück kehrten, arbeitete Fye-san für ein italienisches Restaurant-Café während Yuui-san gelegentlich durch die Bundesstaaten reiste um seine Romane zu promoten.“ Der Junge machte eine Pause, blätterte.

„Wie sieht es mit der finanziellen Situation aus? Wer bezahlt die Wohnung? Wer hat das Café bezahlt? Gibt es Testamente oder Versicherungen?“

„Das ’Cat’s Eye’ wurde erst vor knapp einem Jahr eröffnet, als Besitzer ist nur Fye de Flourite eingetragen, das legt also nahe, dass er das Café aus seinem eigenen Kapital bezahlt hat, die Zwillinge besitzen nämlich kein gemeinsames Konto. Das Appartement ist gekauft, nicht gemietet, als Besitzer ist Yuui de Flourite eingetragen. Keiner von beiden besitzt eine Lebensversicherung, aber Fye-san hat eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Beide haben Testamente verfasst, aber der Notar wollte mir den Inhalt natürlich nicht verraten. In Ermangelung weiterer Verwandte ist der Begünstigte wahrscheinlich der jeweils andere Zwilling.“

’Moment. Der Junge hat sogar den Notar angerufen? Wann bitte hat er geschlafen?’ Den schwarzen Schatten unter Syaorans Augen nach zu urteilen hatte der Brünette überhaupt nicht geschlafen. Kurogane schwor sich, dem Jungen später eine Standpauke zu halten.

„Sonst noch etwas?“

„Beide spendeten regelmäßig Geld für eine Organisation, die sich um Waisenkinder kümmert, deren Eltern Krankheiten oder Verbrechen zum Opfer fielen.“

„Kleine?“, sagte Kurogane und Sakura blickte zu dem größeren Mann herüber. Sie wusste genau, dass das an sie adressiert war, da der Detective Inspector Tomoyo als einziges Mitglied des Teams mit Vornamen anzusprechen pflegte. Oder mit überhaupt irgendeinem Namen.

„Hast du die medizinischen Akten der Zwillinge?“

„Nur die von Yuui-san. Um alte Verletzungen besser identifizieren zu können. Warum?“

Himmel, wer hatte nur das mit dem –san eingeführt? Sonst hieß es doch auch nur „das Opfer“ oder „der Verstorbene“... und dabei wäre es vermutlich auch geblieben, wenn sich dieser grinsende Idiot nicht dazwischen gedrängt hätte. „Versuch, auch die von dem Anderen zu kriegen. Ich will wissen, ob einer von Beiden eine unheilbare Krankheit hatte. Nicht, dass wir unsere Zeit hier wegen einem Gnadentod verschwenden.“

Inspector Kurogane Suwa war kein Mensch, der viel Vertrauen in die Freundlichkeit der menschlichen Natur setzte. Er erkannte Gutherzigkeit, wenn er ihr begegnete, wusste aber gleichzeitig, dass das die Ausnahme war. Ganz besonders wenn es um das Thema Geld ging.

Altruistik?

Ein Mythos. Der Mensch kümmerte sich einen Scheißdreck um die Dinge, die ihn nicht betrafen; also mussten die Zwillinge betroffen sein. Betroffen gewesen sein. Was auch immer. Spenden dienten nur der Beruhigung des eigenen Gewissens, deshalb vermutete Kurogane, dass die Eltern der Zwillinge ebenfalls einer Krankheit zum Opfer gefallen waren. Die zweite Option wäre ein Verbrechen gewesen, aber dann hätte es eine Polizeiakte gegeben... und Schlagzeilen. Da sie über die Eltern nichts wussten, ließ sich diese Theorie schlecht nachweisen, aber manchmal erbten Kinder von ihren Eltern nicht nur schlechte Gewohnheiten...

„Okay. Tomoyo hast du was herausgefunden?“

„Das letzte Buch, das Yuui de Fluorite heraus gebracht hat, hat für ziemlich viel Wirbel gesorgt. Es gab sogar einige Fans, die bei den Terminen für die Lesungen Proteste angezettelt haben. Natürlich kann man diese Leute kaum zu den wahren Fans zählen, die in der Lage sind, den wahren Tiefgang und die Schönheit von Yuui-samas Werken...“

„Tomoyo!“ Kuroganes Zähne knirschten vor Ungeduld. „Der Grund für den Krawall.“

„Erinnerst du dich noch daran, wie ich gestern sagte, Rotkäppchen habe endlich ihre wahre Liebe gefunden? Im ersten Roman begegnet sie einem Wolfsmädchen namens Mimi, die beiden werden so etwas wie Rivalinnen, können sich nicht wirklich ab, aber das Schicksal will es so, dass die beiden einander immer wieder begegnen und Mimi rettet Rotkäppchens Leben bei der ein oder anderen Gelegenheit, verliert sogar ein Auge dabei. In dem, neuesten Werk wird Mimis Vergangenheit ein wenig näher beleuchtet, die voller Blut und Schuldgefühlen ist, aber als Rotkäppchen davon erfährt, muss sie feststellen, dass es ihr egal ist, was...“

„Der Grund, keine komplette Rezension!“

„Es stellt sich heraus, dass Mimi die Erwählte von Rotkäppchens Herzen ist. Und weil die Romane in einer Art Märchenwelt spielen, werden sie von vielen Kindern gelesen, deren Eltern ein Problem mit der neuen Wendung hatten. Es gab Proteste, der Roman sei sodomitisch und homoerotisch, dabei ist Erotik genau das, was in diesem Buch nicht vorkommt, ganz im Gegensatz zu den Vampirromanen, die strotzen nur so davon.“

„Wie schlimm war es?“, hakte der Schwarzhaarige nach und erstickte somit eventuelle literarische Ausschweifungen schon im Keim.

„Fliegendes Gemüse und Bücherverbrennungen. Vor allem in den kleineren, streng christlichen Gemeinden mit einem Durchschnittsalter von 50.“

Kurogane blinzelte verständnislos.

„Die christlichen Fans wollten sicher gehen, dass man nicht alle Anhänger ihrer Religion für kleingeistige, verstockte und homophobe Idioten hält, deshalb haben sie Stellungnahmen auf der Homepage hinterlassen“, fügte das violetthaarige Mädchen hinzu. Ihr Bruder starrte auf das Tatortfoto, das die Hand des Toten zeigte, die einen Rosenkranz festhielt. Sicher kein Zufall.

„Aber die de Fluorites selbst gehören keiner Religion an?“

„Oh, wie das mit Fye-san ist, weiß ich nicht, aber Yuui-sama hat auf seiner Website geschrieben, dass er einige Zeit lang ein Hexer war. Das hat ihm auch den Spitznamen ’Magier der Worte’ eingebracht.“

„Ein Hexer“, echote Kurogane.

„Ein Wiccaner.“

Verständnislose Blicke auch von Syaoran und Sakura.

„Fälschlicherweise oft mit Satanisten verwechselt. Aber das war, bevor er richtig berühmt wurde und als er beitrat, hörte er auf, Vampirromane zu schreiben. Wiccanismus ist eine friedfertige, sehr naturorientierte Glaubensrichtung. Rotkäppchen zeigt deutliche Züge einer Wiccanerin, aber keiner der Fans hat sich je beschwert, weil Religion an sich nie ein Thema der Bücher war. Die Fähigkeit, an etwas zu glauben, ja. Aber keine Theologie.“

„Was haben die Kritiker gesagt?“

„Das, was sie immer sagen. Pseudoharmonischer Soft-Crime-Schwachsinn. Die Verkaufszahlen hat das allerdings nicht beeinflusst; die meisten Leser scheren sich nicht viel um die Kritiken.“

Wodurch die Möglichkeit, dass der Autor es sich mit einem der Kritiker verscherzt hatte, unwahrscheinlicher erschien. Kurogane massierte sich die Schläfen. Er musste das ganze erst mal verarbeiten. Dafür gab er sich ganze zehn Sekunden, dann fragte er Sakura nach ihren Ergebnissen.

„Icchan hat den Todeszeitpunkt eingegrenzt auf zwischen ein und zwei Uhr morgens.“

Der Schwarzhaarige Inspector blickte auf die Telefonliste, die sein Detective Sergeant ihm gegeben hatte. Er hatte sie bereits mit den Telefonnummern abgeglichen, die Fye ihm gegeben hatte und festgestellt, dass der Blonde die Wahrheit gesagt hatte. Der letzte Anruf, der von Fyes Handy getätigt worden war, war an den Verleger des Opfers gegangen; der letzte eingegangene Einruf stammte von einer unterdrückten Rufnummer, Uhrzeit: 2:48 Uhr.

„Der Autor war also schon tot, als der Bruder angerufen wurde. Ein oder zwei Stunden sind definitiv genug um die Leiche zu drapieren.“

„Der Täter hat also angerufen, nachdem er die Vorbereitungen abgeschlossen hatte!“. Schlussfolgerte Syaoran und machte ein ernstes Gesicht, „Wozu? Wollte er sicher gehen, dass Fye-san seinen Bruder unbedingt in dieser Aufmachung sah? Das würde ja bedeuten...“

„Dass diese Anordnung von größter Wichtigkeit ist“, beendete Sakura den Satz. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie dran war ihre (beziehungsweise Icchans) Ergebnisse vorzutragen. „Die Schusswunde war definitiv die Todesursache. Beide Kugeln durchschlugen das Herz von vorn in einem annähernd rechten Winkel, keine von ihnen streifte eine Rippe. Icchan meinte, das sei das Werk eines Profis gewesen. Die Ergebnisse der Blutanalyse sind noch nicht da, aber die Leber war nicht außergewöhnlich groß und das Gewebe zeigte keinerlei Anzeichen von Zirrhose, das Opfer war also kein Alkoholiker. Und auch kein Raucher – die Lunge war frei von Ablagerungen.“

„Schmauchspuren?“

„Weder an den Händen, noch an der Eintrittswunde, der Schütze hatte also in einiger Entfernung gestanden. Wenn man den Eintrittswinkel der Kugel bedenkt, muss der Täter seinen Arm ganz gerade ausgestreckt haben und seine Schulterhöhe müsste auf derselben Höhe wie Yuui-sans Herz gelegen haben, vorausgesetzt, beide standen auf gleicher Ebene. Mit anderen Worten, der Schütze war definitiv kleiner als Yuui-san.“

„Es gab keine Abwehrspuren richtig?“, hakte Syaoran nach und Sakura-chan nickte. „Es gab also kein Handgemenge. Und da Yuui-san nicht in den Rücken geschossen wurde, hat er seinen Mörder also gesehen. Und er hat sich nicht vom Fleck gerührt, als der Schuss abgegeben wurde.“ Der Brünette grübelte, spielte in Gedanken einige Szenarien durch, die zu dieser Situation geführt haben könnten. „Der Täter hätte ein Bekannter oder auch ein Fremder sein können. Das lässt sich schwer sagen, so lange wir nicht wissen, wie genau der Tathergang war. Aber in der Halle gab es keine Videokameras. Bleibt also nur die Frage, wieso hatte Yuui-san sich in die Fabrikhalle locken lassen, mitten in der Nacht?“

Das war die Frage aller Fragen.

„Vielleicht...“, murmelte Tomoyo, „Yuui-san hatte doch eine Verabredung, nicht wahr?“

Syaoran rieb sich den Hinterkopf und brachte sein ohnehin wuscheliges braunes Haar noch mehr durcheinander. Er sagte: „Schon, aber wir wissen nicht mit wem. Oder ob seine Verabredung irgendetwas mit den Umständen seines Todes zu tun hatte.“

Tomoyo war nicht nur ein großer Fan von Yuui de Flourites Büchern, von Klatsch und Tratsch und nicht zuletzt von Sakura, nein, sie sah sich auch viel zu viele Krimis an, die natürlich selten etwas mit der Realität ihres Jobs zu tun hatten, daher verwunderte niemanden, wie haarsträubend ihre Theorie war: „Was, wenn der Mörder ein Auftragskiller war, der den Auftrag hatte, Yuui-sama um den Finger zu wickeln? Wenn der Aufenthaltsort Teil des Dates war? Candlelight-Dinner mitten in der Nacht, bei Vollmond, absolut ungestört, als würde der Rest der Welt nicht mehr existieren...“ Tomoyo bekam glitzernde Augen bei dem Gedanken, während Sakura nur schmunzelte.

„Ich weiß nicht, ich könnte mir romantischere Orte vorstellen“, meinte das fuchshaarige Mädchen lachend.

„Aber wenn das Feuer der Leidenschaft erst mal Besitz von einem ergriffen hat, dann ist es egal, wo man ist, so lange man bei der Person ist, die man liebt.“ Die Fotografin zwinkerte ihrer Freundin zu, die prompt rot wurde im Gesicht.[2]

„Haben wir denn schon den Wagen des Opfers gefunden?“, platzte Kurogane dazwischen, dem das Liebesgeflüster langsam etwas zuviel wurde. Arbeit und Privates sollte nun mal getrennt bleiben.

Syaoran schüttelte den Kopf. „Ich habe mir von Fye-san das Nummernschild und die Beschreibung geben lassen und die Informationen an die Streife weiter gegeben, aber bis jetzt keine Rückmeldung.“

Der DI nickte, blätterte einen Ausdruck von Mokonas Analyse der Kugeln durch. Wie zu erwarten war, stammten beide aus derselben Waffe. Neun Millimeter. Das war schlecht. Jeder Idiot konnte sich eine 9mm zulegen; und die meisten Polizisten besaßen eine.

Hinzu kam, dass die Riefungen des Profils nicht in der Datenbank verzeichnet waren.

Der Lauf jeder Waffe ist anders, bedingt durch die Herstellung. Wenn eine Kugel abgefeuert wird, entstehen durch die Fehlstellen und Unregelmäßigkeiten im Lauf Riefen an den Rändern des Projektils, auch das Kugelprofil genannt. Während die Größe, Zusammensetzung und Form der Kugel eine Aussage über das Kaliber der Waffe gab (vorausgesetzt, das Projektil war nicht zu stark verformt), entsprach das Kugelprofil einem Fingerabdruck und war für jede Waffe einzigartig. Es war üblich, das Profil einzuscannen und mit einer Fallnummer in einer Datenbank abzuspeichern. Dass die Datenbanksuche keinen Treffer ergeben hatte, bedeutete also, dass die Tatwaffe nicht bereits vorher bei einem Verbrechen verwendet wurde. Zumindest für kein Verbrechen in den Vereinigten Staaten.

„Bengel?“

„Ja, Kurogane-san?“

„Sag dem Fellknäuel, es soll die Kugel noch durch die italienische und die französische Datenbank jagen, wenn wir Zugriff kriegen.“

„Ist gut.“

„Die Frage ist nur, was hat es mit dem Süßkram auf sich? Und wo kommt der her?“, murmelte Kurogane mehr zu sich selbst als zu seinem Team.

Schweigen.

„Ich könnte Syaoron anrufen und fragen, ob es einen Weg gibt, festzustellen, welche Firma das Marzipan herstellt, aber so lange wir nicht wissen, in welchem Laden es gekauft wurde, bekommen wir keine Liste der Käufer.“

„Ich frage mich...“, setzte Tomoyo an und legte eine künstlerische Pause ein.

Die Pause wurde länger. Und länger.

„Wenn du was sagen willst, dann sag es auch!“, schnauzte Kurogane und Tomoyo kicherte.

„Ich dachte nur gerade, das sieht mir ganz nach einer Botschaft aus, nicht? Und da der Täter sogar riskiert hat, Fye-san persönlich anzurufen, sollten wir vielleicht-“

„Kommt nicht in Frage!“

„Aber, Onii-san, was, wenn es eine Anspielung auf die Bücher ist? Die Rosen, die Erbse und die Matratzen.“

„Du hast die Bücher doch auch gelesen, also sag du mir, was das Ganze soll.“

„Das ist was anderes“, winkte Tomoyo ab, „Ich kannte den Autor nicht so gut. Vielleicht steckt da noch etwas dahinter, das dem einfachen Leser verborgen bleiben würde.“

„Und wenn schon. Ich will nicht, dass dieser Kerl mir in meiner Ermittlung herum pfuscht.“

„Welcher Kerl denn, Kuro-puu?“, fragte eine heitere Stimme an der Tür.

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To be continued...

~^.^~

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[1] Kobato Band 2, Splash-Page von Kapitel 15. Ich dachte nur: OMG, das Mädchen hat Brüste! Allerdings hat das wohl seinen Sinn, dass sie Kleider trägt, die elfjährigen schmeicheln würden, es passt besser zu ihrer Persönlichkeit. Kobato ist... das genaue Gegenteil einer Lolita.

[2] Ob Tomoyo hier wohl wirklich auf Sakura und Syaoran anspielt, wie Sakura vermutet, bleibt eurer Interpretation überlassen...
 

Und? Was habe ich gesagt? Pure Notwendigkeit, weil es ja ein Krimi ist, aber leider null KuroFye-Action. Tja, wenigstens habt ihr ein wenig von der Teamdynamik mitbekommen. ^.^ Das nächste Kapitel macht es wieder wett, ich verspreche es. Und das übernächste erst! Oh, glaubt mir, die richtig guten Sachen kommen noch. Ich wünschte nur, ich wäre nicht so tranig im Hochladen. Gott, es tut mir ja so Leid…

*heult rum*

Der Kapiteltitel ist übrigens eine Anspielung auf die englische Redewendung „in a nutshell“, was so viel bedeutet wie „grob zusammengefasst“ oder „aufs nötigste reduziert“. Auch wenn der Titel etwas mehr an Däumelinchen erinnert, aber das ist bestimmt okay, wegen der Märchenchronik.
 

Vorschau:

[...]Selbst wenn Fye diesen Blick falsch interpretiert hätte; die ruhige, eisige Stimme des Inspectors ließ keinen Zweifel offen, dass der Schwarzhaarige seine ganze Beherrschung aufbringe musste um den Hinterbliebenen nicht an die nächstbeste Wand zu nageln.[...]

Fehlstellen

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

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Hey, have you heard

The radio news?

They say that soon all hell will break loose.
 

Milow, “Dreamers and Renegades”
 

„Raus hier!“

„Waaas?“ Fye zog eine Schnute wie ein Fünfjähriger, dem man den Lolli weg genommen hatte. „Aber ich bin extra hergekommen, weil man mir gesagt hat, dass mein Fachwissen gebraucht wird.“

'Fachwissen? Welches Fachwissen denn? Wäre mir neu, dass wir hier Pasta kochen und Küchlein backen, verdammt!'

„Wer hat das gesagt?“, knurrte Kurogane den Blonden an, aber die Person, der sein stechend roter Blick galt, war Tomoyo. Seine Schwester gab ein verhaltenes und unschuldiges „Ohoho“ von sich. Schuldig im Sinne der Anklage.

„Das ist unwichtig. Wobei brauchst du denn meine Hilfe, Mr. Black?“

„MEIN NAME IST KUROGANE! UND AUF DEINE HILFE KANN ICH VERZICHTEN!“

Syaoran beobachtete den Wortwechsel verdutzt. Er hatte noch nie gesehen, dass sein Mentor sich so aufregte. Das hieß, außerhalb des Verhörraums. Tomoyo verfolgte das Ganze mit einem unheimlichen Glitzern in den Augen, während Sakura lächelnd anmerkte: „Es ist schön zu sehen, dass ihr Beiden euch so gut versteht.“[1]

Kurogane warf ihr einen Blick zu, der Sibirien zum Kochen gebracht hätte.
 

Ein schwarzer Schatten flog durch die Luft, lautlos, formlos. Und er landete genau im Gesicht des Inspectors.

„Kurogane-san! Du sollst augenblicklich zu Yuuko-san!“ rief der Schatten aus und entpuppte sich als schwarzes Fellknäuel mit Hasenohren.

„Herrje, was ist denn das?“, fragte Fye lachend, was das Wesen dazu verleitete auf die Handfläche des Blonden zu hüpfen. „Mokona ist Mokona!“, verkündete es, als sei das selbstverständlich.

„Freut mich dich kennen zu lernen, Mokona. Ich bin Fye. Bist du... ein Junge oder ein Mädchen?“ Er stellte seine Frage so behutsam wie möglich, er wollte die Gefühle dieser Kreatur nicht verletzen. Es schien jedoch Leute zu geben, die nicht so umsichtig waren.

„Es ist ein Computer“, knurrte ein gewisser, für seine Unhöflichkeit berüchtigter Inspector, „Hey, Fellknäuel. Was will die alte Hexe von mir?“

„Das hat Yuuko-san nicht gesagt. Aber um sie zu zitieren...“ der schwarze Mokona machte eine Pause und als er wieder zu sprechen begann, erklang die dunkle Stimme (anders hätte nicht einmal Fye sie beschreiben können, sie war nicht rauchig, eher ätherisch, tief und durch und durch lebendig) einer Frau: „Kurogane... wenn du nicht sofort in meinem Büro erscheinst, dann werde ich dafür sorgen, dass du nicht einmal mehr einen Job als Straßenfeger bekommst.“ Ein herrisches Lachen ertönte, dann verbeugte sich Mokona.

Sakura und Tomoyo applaudierten angesichts solcher Imitationskunst. Kurogane stieß einige nicht-jugendfreie Verwünschungen aus und stapfte aus dem Büro, allerdings nicht ohne dem blonden Idioten einzuschärfen, dass er die Nacht in einer Zelle verbringen würde, sollte er es wagen sich in die Ermittlungen einzumischen. Fye erwiderte ein „Ja ja“ und winkte dem Schwarzhaarigen hinterher.

„Also, Mokona ist ein Computer, ja?“, fragte er, den Kopf der schwarzen Kreatur tätschelnd.

Tomoyo erhob ihren Zeigefinger, bestrebt Fye aufzuklären: „Es ist vielmehr ein interaktiver Roboter, eine Datenbank und ein ständiger Begleiter und verfügt über eine ausgeprägte KI. Man kann es aber auch als Kommunikationsmittel benutzen. Es gibt sie in schwarz und weiß, aber das hier sind Prototypen. Dieses Kerlchen hier ist Larg und ganz egal, was mein herzloser großer Bruder sagt, haben sie sehr wohl eine geschlechtsspezifische Persönlichkeit. Larg ist ein Junge, Soel, die Weiße, ist ein Mädchen.“

„Wir können Sie nutzen, weil Tomoyos Firma sie herstellt“, fügte Syaoran hinzu.

„Wow, Tomoyo-chan, du hast eine eigene Firma?“

„Sie gehört meinen Eltern. Die Mokonas wurden entwickelt, um die Verbrechensbekämpfung einfacher zu machen. Die Piffle Princess Company hat vor, alle Polizeireviere in den USA mit ihnen auszustatten. Und umweltfreundlich sind sie auch noch, sie werden durch Bioethanol betrieben.“

„Fuiii, wie cool! Aber... warum hast du mich denn nun angerufen, Tomoyo-chan?“

Das Lächeln der Tatortfotografin hatte etwas verschlagenes an sich.

Syaoran und Sakura schauten unbehaglich drein.
 

Das Büro des Chief Assistants war die reinste Folterkammer. Nur dass ihre Waffen anderer, besonderer Natur waren. Stickige, von Räucherstäbchenduft geschwängerte Luft, Unmengen an Briefbeschwerern, Fächern und anderen Dekorartikeln mit Schmetterlingsemblemen hatten sich im Laufe der Jahre in dem kleinen Raum angesammelt – ein Alptraum für jeden gestandenen Mann – aber das Schlimmste war diese Frau selbst.

Yuuko Ichihara. Das Urgestein des CCPD.

Sie arbeitete schon seit Jahren für das Departement, dennoch war ihr Alter unmöglich abzuschätzen, denn sie sah keinen Tag älter aus als dreißig. Höchstens. Und wenn das allein nicht Grund genug war sich vor ihr zu fürchten, dann musste man nur einen Blick auf sie werfen. Rote Augen, die eines Dämons durchaus würdig waren. Ein riesiges Dekolleté, das der Schwerkraft trotzte und das von ihrer Kleidung meist nur notdürftig bedeckt wurde. Unnatürlich lange Beine, betont durch viel zu kurze Säume und Strapsstrümpfe.

Meine Damen und Herren; Yuuko Ichihara – jeder Zentimeter purer Sex.

Kurogane hatte sich von ihr abgestoßen gefühlt seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Er musste gar nicht erst an der Bürotür klopfen, da Watanuki bereits davor stand; die Tür mit einem Fuß offen haltend, während er Tee in der einen und Gebäck in der anderen balancierte. Der gebräunte Mann hielt die Tür offen, damit der Junge sich freier bewegen konnte. Watanuki bedankte sich hastig für die Geste, überbrachte seiner Chefin die Tasse und das Gebäck und rannte dann schon fast aus dem Büro (allerdings nicht ohne sich zum Abschied noch einmal vor Kurogane zu verbeugen).

Kurogane beneidete den Jungen nicht. Yuukos privater Sklave – oh, Verzeihung, Sekretär – zu sein war seine private Vorstellung der Hölle. Schlimmer noch als mit vollem Magen und einer Horde Clowns auf der größten Achterbahn der Welt zu sitzen. Aber der Inspector machte seine Arbeit der Arbeit wegen und nicht für die Person, die ihm vorgesetzt war.[2] Und das ließ er diese Hexe auch oft genug wissen.

„Du hast mich rufen lassen?“, fragte er. Seine Stimme nahm dabei einen besonders ruppigen Tonfall an, den er sich extra für seine Chefin aufgespart hatte.

„Wie steht es mit den Ermittlungen?“, fragte Yuuko gemächlich. Sie platzierte ihre langen Beine auf der Platte ihres Schreibtischs, während sie sich in ihrem Chefsessel zurück lehnte und genüsslich an dem Tee schlürfte. Trotz der entspanntem Haltung blitzten ihre Augen angriffslustig hinter den Scheiben ihrer Lesebrille. Madame trug heute ein Outfit, das stark an „Kill Bill“ erinnerte, nur dass sie unter der rot-schwarzen Jacke kein T-Shirt trug sondern schwarzes Spitzenmieder.

Mit wenigen Schritten trat der Schwarzhaarige an den Schreibtisch und nahm ihr gegenüber Platz; die Arme in einer Abwehrhaltung verschränkt.

„Wir haben gerade erst angefangen“, verteidigte er sich.

„Soll heißen?“ Die Frage wurde begleitet von dem Klackern von Porzellan, als Yuuko erneut zum Trinken ansetzte, wobei sie das Gesicht ihres besten Ermittlers jedoch keine Sekunde aus den Augen ließ.

Kurogane schilderte die Tatsachen kurz angebunden: „Einige Indizien, aber nichts konkretes. Der Bruder des Opfers ist ziemlich auskunftsbereit, aber was vor allem fehlt sind Verdächtige. Und ein Motiv.“

Das war noch optimistisch ausgedrückt. Eigentlich fehlte alles, was zur Aufklärung des Mordes nötig wäre. Und diese Frau wusste verdammt genau, dass es Tage, ja sogar Wochen dauern konnte, die Spuren von einem Tatort zu untersuchen. Was sollte also die Eile?

„Konnte die Leiche vom Tatort geborgen werden, bevor die Presse erschien?“ Klack! Die Tasse wurde wieder abgestellt.

„Ich hab’ noch nicht mal einen Reporter gesehen, als wir von dort abgezogen sind.“ (Eine wahre Seltenheit, denn egal wie entlegen der Ort des Geschehens war, diese Aasgeier fanden immer ihren Weg dorthin und sie hörten den Polizeifunk ab.)

„Das heißt“, hakte CA Ichihara noch einmal nach und allein der Nachdruck mit dem sie das tat hätte Kurogane stutzig machen müssen, „Keiner aus deinem Team hat in irgendeiner Weise auch nur ein Wort mit der Presse geredet?“ Die Frau schnappte sich ihre Gabel und spießte damit ihr Eclair auf, sodass die Sahne unter dem Schoko-Teigmantel hervorquoll.

„Ganz sicher nicht!“, sagte der Schwarzhaarige und bemerkte dabei gar nicht, wie er immer lauter wurde. Es ging ihm auf die Nerven, ständig mit derselben Frage konfrontiert zu werden. Man konnte es schon als Beleidigung auffassen, nicht umsonst hatte er seinem Team (vor allem Syaoran) eingeschärft, dass die Presse aus einer Meute gnadenloser, ausbeuterischer Bastarde bestand, die ihrer eigenen Mutter das Wort im Munde verdrehen würden, wenn das eine Schlagzeile ergab.

„Und wie...“ Yuuko erhob die Stimme, was immer ein ganz schlechtes Zeichen war. „... ist dann das zu erklären???“

Sie zückte die Fernbedienung und schaltete den lokalen Nachrichtensender ein.
 

#... Fangemeinde ist erschüttert. Die Leiche des Bestsellerautors wurde gestern morgen von der Clow City Police aufgefunden und abtransportiert. Bis jetzt gibt es noch keine Stellungnahme zum Stand der Ermittlungen# - ’Ha!’, dachte der Inspector triumphierend - #...aber aus einer zuverlässigen Quelle wurde uns berichtet, dass es sich eindeutig um Mord handelt. Schauplatz des grausigen Verbrechens war ein Matratzenlager in der Nähe des Hafens. Der leitende Ermittler dieses Falls ist Kurogane Suwa, der-#
 

Der Chief Assistant schaltete den Fernseher wieder aus.

Kurogane war blass geworden, soweit sein Teint es zuließ. Diese... diese Wichser hatten ihn namentlich erwähnt! Wie kamen die dazu? Wie sind sie überhaupt an diese Informationen... ’Oh! Darum also der ganze Frage-Antwort-Zirkus.’

„Ist das schon in den Zeitungen?“, murmelte er, auf das erloschene Bild des Fernsehers starrend.

„Noch nicht. Der Artikel hat es wohl nicht mehr in die Morgenausgabe geschafft.“

'Sehr witzig.’ Die CC Times besaß keine Abendausgabe.

„Es war also niemand am Tatort, der da nicht hingehörte“, sagte Yuuko anklagend. Ihre Worte waren eine Schlussfolgerung aus Kuroganes Behauptung und gleichzeitig eine Provokation, weil die Nachrichten bewiesen hatten, dass dem nicht so war.

Als dem Ermittler klar wurde, was passiert sein musste, entgleisten seine Gesichtszüge zu einer Mimik, die ganz klar ’Oh Scheiße!’ besagte. Er konnte nichts dagegen machen, er war nun mal ein offenes Buch. „Der Bruder des Opfers,“ räumte Kurogane ein, „aber er war schon am Tatort, er hat die Leiche immerhin gefunden.“

Er konnte es sehen. Die schwarze Wolke unkontrollierter Wut, die sich über dem Gemüt seiner Vorgesetzten zusammenbraute. Sie knallte eine Schublade ihres Schreibtisches auf und im nächsten Moment mündete ihrer Arm in einer Handpuppe, die aussah wie eine Ente mit Matrosenmütze.[3] Mit einem Satz (und schneller als man SCHEISSE denken konnte) saß die alte Hexe auf ihrer Arbeitsplatte und der harte Holzschnabel der Ente schnellte mit einem lauten ’Bonk’ auf Kuroganes Stirn nieder.

„Und du hast dir nicht die Mühe gemacht dem Kerl zu sagen, dass er tot ist, wenn er damit an die Presse geht?!“

BONK. BONK-BONK.

Kurogane rammte eine seiner großen Hände in den Schnabel, und benutzte sie als Schild. Damit die Beule auf seiner Stirn nicht noch mehr wuchs. Warum musste ausgerechnet er eine so durchgeknallte Chefin haben? „DER WOLLTE DOCH SELBER NICHT, DASS DIE PRESSE WAS ERFÄHRT!“

„Huh?“ Yuuko blinzelte. Sie zog die Handpuppe zurück und musterte ihren Untergebenen mit jenem verschlagenen Blick, der mehr als nur ungute Ahnungen in Kurogane weckte. Er war in voller Alarmbereitschaft.

„Und du hast ihm geglaubt...“ Nachdenklich, nicht vorwurfsvoll. „Du hast dich anlügen lassen.“ Jetzt machte sie sich einfach nur über ihn lustig. Nach einem kurzen, verhaltenen Kichern fragte sie, wo dieser Bruder sich aufhielt.

Kurogane verschränkte die Arme vor der Brust. „Vorhin stand er noch vor meinem Büro.“
 

~*+*~

Das einzigen Geräusche in dem kleinen Drei-Mann-Büro waren das Quietschen von Edding auf der weißen Polymertafel, begleitet von dem stetigen Gemurmel des Blonden.

„Die Erbse und die Matratze sind natürlich eine Anspielung auf Henrietta, die Prinzessin auf der Erbse; die Süßigkeiten könnten auf Hänsel und Gretel hindeuten. Oder aber aufs Schlaraffenland, denn Hänsel und Gretel waren noch nicht Thema der Märchenchronik, außerdem würde man da eher Pfefferkuchen erwarten. Dass es überwiegend Marzipan-Rosen sind, soll bestimmt auf Dornröschen hinweisen.“

Fye trat einen Schritt zurück und begutachtete das Rearrangement der Fotos. Er schien zufrieden mit der Anordnung und setzte sich erst mal auf den Schreibtisch des Inspectors.

„Ich kannte diese Märchen gar nicht. Na ja außer Dornröschen“, merkte Sakura-chan an.

Fye schmunzelte. „Grimms Märchen sind ja auch eher im europäischen Raum verbreitet, weil sie von einem deutschen Brüderpaar nieder geschrieben wurden, Jakob und Wilhelm Grimm. In Amerika sind die bekanntesten dieser Märchen vor allem die, die von Walt Disney als Zeichentrickfilme adaptiert wurden.“

Märchen... Brüder... Hatten die Täter (Fye war überzeugt davon, dass es mehrere gewesen sein mussten, bei der Menge an Vorbereitung, die diese Tat erfordert hatte) sich deshalb für diese „Dekoration“ entschieden? Weil es sich um Märchen von Brüdern handelte oder lag es daran, dass er – dass Yuui diese als Vorlage für seine Romane gewählt hatte? Fye war sich nicht einmal sicher, ob beides nicht auf das gleiche hinauslief. Die Zwillinge hatten Grimms Märchen geliebt, schon seit sie ganz klein waren. Hatte ihre Begeisterung etwas damit zu tun gehabt, dass Jakob und Wilhelm Brüder gewesen waren? Er wusste es nicht mehr. Das lag in dem Bereich jener dunklen sieben Jahre, die er hatte vergessen wollen. Nicht, weil diese Zeit Schrecken barg... sondern weil es gefährlich war, sich daran zu erinnern.

„Was ich nicht verstehe, ist... was soll das Ganze? Warum macht sich jemand die Mühe...“ Fye ließ den Satz unvollständig, aber Syaoran-kun wusste auch so, worauf er hinaus wollte.

„Na ja, wenn man davon ausgehen würde, dass es ein unzufriedener Fan war, dann ist das vielleicht auch ein symbolischer Mord an den Romanen... irgendwie.“

Fye nickte abwesend. Von Syaorans Standpunkt aus machte das Sinn, aber Syaoran hielt das Opfer ja auch für Yuui. Aber... wenn der Junge Recht hatte? Wenn es wirklich Yuui war, der hatte sterben sollen? 'Nein,' schalt Fye sich selbst. 'Wer immer das war, hat sich keinen Fehler erlaubt. Sie wussten, dass es Fye war.' Wenn nicht... dann hatte er die Presse umsonst ins Spiel gebracht.

Warum Fye? Warum sein Bruder? Wer sollte einen Groll gegen einen Café-Besitzer hegen? Genau da lag das Problem. Die Organisation des Verbrechens war systematisch, nicht emotional. Groll als Motivation passte nicht dazu. Keine Affekttat. Fye zu töten machte keinen Sinn, es sei denn...

Die Bücher.

Die Marzipanrose auf dem linken Auge.

Es war eine Drohung.

Nein, es war mehr als eine Drohung; das ließ sich nicht vergleichen mit unheimlichen, verschandelten Fotos und aggressiv formulierten E-Mails. Es war psychische Folter. Es war...

„Hey. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.“

Der Blonde schreckte aus seinen Gedanken auf und spürte ein Prickeln auf seiner Haut. Das Gefühl wurde durch keine Berührung ausgelöst; es war ein stechend roter Blick, der ihn traf. Der so viel Wut enthielt, dass es schmerzte. Kuro-tan war zurück. Und er brüllte nicht herum, was irgendwie viel schlimmer war, als wenn der Inspector seine Stimme erhoben hätte. Wenn Kuro-sama brüllte, wusste er wenigstens, woran er war.

Aber selbst wenn Fye diesen Blick falsch interpretiert hätte; die ruhige, eisige Stimme Kuroganes ließ keinen Zweifel offen, dass der Schwarzhaarige seine ganze Beherrschung aufbringe musste um den Hinterbliebenen nicht an die nächstbeste Wand zu nageln.

„Onii-san...“ Tomoyo wollte beschwichtigend dazwischen gehen, aber eine einzige Handgeste von Kurogane brachte sie zum Schweigen. Er schritt auf Fye zu, der keinen Versuch machte zu entkommen, sondern den Größeren mit Neugierde musterte.

„Raus“, sagte Kurogane und die Anweisung war schneidend und scharf wie ein Skalpell.

„Ich...“

„RAUS!“

Fye senkte den Blick und rutschte in einer flüssigen Bewegung von der Schreibtischplatte. Die Hände in den Hosentaschen vergrabend, atmete er kurz aus und hob dann den Blick wieder, entschlossener als zuvor.

„Die Rose passt nicht ins Bild“, merkte er an. Keine Entschuldigung, kein Flehen um Gnade. Der Blonde war sich sicher, dass sein Gegenüber ohnehin unempfänglich für sein Bitten sein würde, also ließ er es ganz bleiben und konfrontierte ihn stattdessen mit einer Tatsache. Als Kurogane nichts erwiderte, nahm Fye das als Erlaubnis hin, weiter zu sprechen: „Eine einzelne Marzipanrose, blutrot. Warum wurden für das Arrangement sonst nur weiße verwendet? Diese Rose ist etwas anderes, sie ist wichtig. Sie liegt nicht zufällig an diesem Platz. Und sie hat nichts mit den Märchenmotiven zu tun, die diesem Mord zugrunde liegen. Yuui war blind auf diesem Auge. Ein kleiner Laborunfall. Ich wollte dir lediglich die Arbeit ersparen, das selbst heraus zu finden.“

Fye schob sich an dem Schwarzhaarigen vorbei, der, die Hände zu Fäusten geballt, noch immer denselben Punkt im Raum fixierte. Erst da bemerkte Fye die Frau, die im Türrahmen stand. Obwohl „stehen“ wohl kaum der Begriff war, der Yuukos Pose gerecht wurde; sie nahm mit ihrer Ausstrahlung den ganzen Türrahmen ein, ja, sie beherrschte den Türrahmen regelrecht. Im Gegensatz zu ihrem Untergebenen schien sie nicht willens den „Gast“ gehen zu lassen. Sie starrte ihn mit einem gierigen Grinsen an.

„Oh, hallo!“, grüßte Fye freundlich, mit einem strahlenden Lächeln, an dem nichts echt war.

„Sie sind der Bruder von Yuui de Fluorite?“, hakte Yuuko-san mit falscher Höflichkeit nach.

„Sein Zwilling, um genau zu sein“, war die heitere Antwort.

„Ich seh' schon.“

'Wenn du es siehst, du alte Hexe, warum fragst du dann?,' fluchte Kurogane innerlich, doch war es nicht CA Ichihara, der seine größte Wut galt. Er hatte sich an der Nase herum führen lassen. Er, Detective Inspector You-ou Kurogane Suwa, hatte den absurden Fehler gemacht, einem Beteiligten auch nur eine Sekunde lang zu glauben (er würde nicht so weit gehen, es vertrauen zu nennen) und war grausam dafür bestraft worden. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass der blonde Übeltäter genauso dafür bezahlen musste. Doch Yuuko schien ihre eigenen Pläne zu haben was den Blonden betraf. Denn als Kurogane sich unter den besorgten Blicken seiner Teammitglieder in seinen Schreibtischsessel fallen ließ und seine zwei meist gehassten Personen anstarrte, klang Yuuko nicht im mindesten tadelnd.

„Und Ihnen haben wir es wohl zu verdanken, dass sich gerade die Presse auf den Fall stürzt, hmm?“, fragte sie. Im Plauderton!

„Nicht direkt. Ich habe Yuuis Verleger angerufen und ihm geraten, es öffentlich zu machen.“

„Warum?“ Plauderton mit versteckter Schärfe.

„Um sicher zu gehen, dass sie sich keine Fehler leisten. Das würde dem Image ihres Reviers ziemlich schaden, nicht?“

Blickkontakt. Höfliches Schweigen.

Das Lächeln auf beiden Gesichtern hielt dem Psychoduell stand.

„Können wir auf die Kooperation dieses Verlegers bauen?“

„Natürlich. Vorausgesetzt, sie halten ihn und mich auf dem Laufenden.“

Yuuko war interessiert. Obwohl es in ihrem Beruf fast ausschließlich um Mord, Totschlag und Diebstahl ging, war die Position eines Chief Assistants verdammt langweilig. Die Menschen, die in die Fälle involviert waren, waren verdammt langweilig. Aber dieser junge Mann – gemessen an ihrem Alter war er wirklich jung – war anders. Er mochte überaus freundlich wirken, und doch hatte es ihn nur einen Wimpernschlag und keinerlei Skrupel gekostet, die Polizei auszuspielen.

Das machte ihn interessant.

Und nun, da Yuuko auch noch seine Verhandlungsqualitäten kannte, konnte sie Kurogane keinen Vorwurf machen, dass der dem Blonden auf den Leim gegangen war. Fye de Fluorite beherrschte eine ganz andere Klasse der Manipulation als normale Menschen (zu denen Yuuko sich selbst nicht zählte). Und doch musste er ein guter Kerl sein, sonst hätte Kurogane ihn gar nicht erst auf fünf Schritte an sich heran gelassen. Aber gute Kerle manipulierten ihr Umfeld nicht.

Das war ein Widerspruch, der die ganze Sache noch interessanter machte. Aber das faszinierendste an diesem Fall war das Verhalten des leitenden Inspectors in Fyes Gegenwart. Obwohl der Schwarzhaarige vor Wut brannte, war er nicht handgreiflich geworden. Er hatte Fye für sein Vergehen nicht büßen lassen und das lag sicher nicht an der Anwesenheit der „Kinder“ - Kurogane schien Syaoran, Sakura und Tomoyo vergessen zu haben. Die drei Mitarbeiter wirkten sichtlich fehl am Platze und wie könnten sie auch nicht? Wenn Fye und Kurogane auf diese intensive Art stritten, dann umgab die Beiden eine Aura, die keinen Anderen duldete. Als wären sie in einer anderen Raumzeit, wurden sie blind für ihre Umgebung.

Ein solcher Zustand war selten.

Konnte es sein, dass diese beiden Männer eine Verbindung zueinander besaßen, die sich rational nicht erklären ließ? Das bedurfte weiterer Observierung.

„Es wäre möglich, dass wir Ihre Wohnung erneut durchsuchen müssen“, teilte Yuuko dem Blonden mit.

„Kein Problem. Ich wohne derzeit ohnehin im Hotel. La mia casa è la Sua casa.

„Unseretwegen? Nein, wie schrecklich.“
 

Kurogane grummelte lautlos vor sich hin. Jetzt war das Gespräch endgültig zu Geplänkel verkommen. Er wusste nicht mal mehr, auf wen er denn nun am meisten wütend war: seine geisteskranke Chefin, weil sie die blonde Grinsebacke nicht verhaften ließ; die blonde Grinsebacke, oder sich selbst. Weil er mit sich hatte spielen lassen. Das würde Blondie noch bereuen.

„Du kannst bei mir wohnen,“ hörte Kurogane Tomoyo sagen.

„Nicht doch, Tomoyo-chan, das ist nicht nötig.“

„Natürlich nicht“, pflichtete Yuuko dem Cafébesitzer bei, „er wird bei Kurogane wohnen.“

Grabesstille.

Eine Sekunde lang konnte man den Wasserspender gluckern hören.

„WAS?“

Okay, jetzt war es offiziell. Die Hexe hatte endgültig ihren Verstand verloren. Kurogane war schneller wieder auf den Beinen, als man „Mitbewohner“ sagen konnte. Fye blinzelte irritiert.

„Und warum lehnst du nicht ab, verdammt?“, brüllte der Inspektor den Blinzelnden an.

„Aber Kuro-pon... warum denn nicht?“

'Hä? HÄ?'

„So kannst du mich besser auf dem Laufenden halten und ich kann dir schneller dabei helfen die Indizien zu interpretieren. Aber... wenn ich dir zur Last falle...“ Der Blonde zog ein Gesicht wie ein ausgesetztes nasses Kätzchen, was aus irgendeinem (Kurogane völlig schleierhaften) Grund die Frauen im Raum dazu veranlasste, ihn trösten zu wollen. Tomoyo ergriff Fyes Hand, Sakura murmelte ein paar aufmunternde Worte und Yuuko warf einen giftigen Blick in die Richtung des Schwarzhaarigen. Sie kam Hüften schwingend auf ihren besten Ermittler zu und flüsterte so leise, dass es wie das Zischen einer Schlange klang. „Sag mal, wie dämlich bist du eigentlich? Das ist die Gelegenheit heraus zu finden, was dieser Typ vor uns geheim hält.“

Dagegen gab es keinen Protest, der gebräunte Mann war viel zu überrascht darüber, dass die Hexe ausgesprochen hatte, was er nur vermutet hatte. Fye verbarg irgendetwas.

„Du feuerst mich, wenn ich den Idioten nicht bei mir wohnen lasse, richtig?“

„Sicher.“

„WARUM FRAGST DU MICH DANN NOCH, WENN ICH OHNEHIN KEINE WAHL HABE?“

„Buhuuuu, Kuro-tan mag mich nicht...“

„Aber nicht doch, Fye-san, er ist nur etwas schüchtern.“

„KLAPPE, TOMOYO!“
 

Und so wurden unter obskuren Bedingungen zwei Männer mehr oder weniger freiwillig Mitbewohner. Jeder verfolgte damit sein eigenes Ziel, doch eines hatten sie gemeinsam: sie erwarteten nicht, dass diese Zweckgemeinschaft sie sonderlich verändern würden.

Wie sollten sie sich doch täuschen.

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To be continued...

~^.^~

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[1] Jepp, das ist eigentlich Himawari-chans Satz, aber noch habe ich keinen Platz für sie hier drin gefunden...

[2] Das ist kein Widerspruch zu Nihon-Kurogane. Die Loyalität meines Kuroganes gilt nur Tomoyo und seinem Team, nicht Yuuko.

[3] siehe xxxHolic Band 3, S. 24-26
 

Wohoo, weiter geht’s. Diesmal habe ich mir hoffentlich nicht zu viel Zeit gelassen. Langsam nähern wir uns meinem Lieblingskapitel. Und langsam nähern wir uns dem Punkt, da ich keine Vorlagen mehr habe, da ich tatsächlich mal neue Kapitel schreiben muss. O.O
 

[...]„Wer sagt, dass es keinen Grund gibt?“, fragt der Blonde und blickt den Jungen an. Er lächelt, friedlich und warmherzig. Kurogane fühlt ein kurzes Ziehen in der Brust, wie einen kleinen Krampf, aber das Gefühlt verschwindet so schnell wie es gekommen ist und macht einem Kribbeln Platz.[...]

Hör auf deinen Körper

Disclaimer: Alle Charaktere sind Bestandteil des CLAMPversums und gehören nicht mir, ebenso wenig wie die Songtexte oder Zitate, die ich verwende. Ich will kein Geld machen, ich will nur unterhalten.

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Oh boy, you wake me and shake me

I'll break the bullet in my hand

I attack, but you fight back

The redder the love, the better

You make it all ache

I'm breathing, I'm breathing life again

Ingrid Michaelson, „Palm of Your Hand“
 

… Und so kam es, dass Fye de Fluorite an einem Mittwoch Abend mit nichts weiter als einer Reisetasche (die er, als hätte er's geahnt, ihm Hotel gar nicht erst richtig ausgepackt hatte) in die spartanisch eingerichtete Wohnung von Kurogane einzog. Auf unbestimmte Zeit.

Der Blonde verlor kein Wort über den Platzmangel, die Risse in der Decke oder das hässliche durchgesessene Sofa in der Stube. Stattdessen sagte er nur: „Wow, Kuro-chan, du bist aber ordentlich. Erwartet man gar nicht bei einem Junggesellen.“

Kurogane erwiderte nichts, er war sich nicht sicher, ob sich der Kleinere über ihn lustig machte. Gemessen an dem Palast von einer Wohnung, in dem die Fluorite-Zwillinge gelebt hatten, musste das hier weit unter dem Niveau liegen, was er gewohnt war.

„Aber ein paar Pflanzen könnten nicht schaden. Sieht etwas trist aus.“

Trist. Nicht 'heruntergekommen' oder 'renovierungsbedürftig'. Der Schlacks schien das ernst zu meinen.
 

Fye beanspruchte die Couch für sich. Kurogane machte sich nicht die Mühe ihn umzustimmen. Aber spätestens am Freitagmorgen wurde klar, dass es keine Rolle spielte, wer wo zu schlafen gedachte. Weil Fye nicht schlief. Man konnte es an den dunklen Rändern unter seinen Augen sehen, an der Art, wie er manchmal ganz aufgekratzt war und im nächsten Moment still wurde und blinzelte.

Und blinzelte... und weg nickte... und wieder aufschreckte.

Nicht einmal am Tag schlief er. Er konnte gar nicht; es gab genau zwei Dinge, die ihn davon abhielten.
 

„Kuro-sama...“ Ein Flüstern, das fast ein Stöhnen war.

Gedämpfte Laute der Lust lagen in der Luft.

Fye atmete schwer. Ein Schweißtropfen rann die blasse Haut des Halses und verharrte in der kleinen Mulde des Schlüsselbeins.

„Kuro-rin...“, keuchte er erneut, diesmal lauter.

Quietschende Bettfedern.

„Was... denn...?“ Atemlos.

„Wie hältst du das nur aus?“, jammerte der Blonde auf dem Boden liegend. „Es ist so heiß! Und die zwei nebenan werden einfach nicht müde!“

Wie als hätte das Pärchen aus der Nachbarwohnung den Kommentar gehört, verkürzte sich das Quietsch-Intervall noch. Das gedämpfte Stöhnen wurde lauter, fordernder. Kurogane schien immun dagegen. Fye hingegen biss sich auf die Unterlippe. Wäre er nicht so müde gewesen, hätte er es sogar genossen zuzuhören.

„Hör' einfach nicht hin.“

„Geht nicht. Lenk mich ab!“

„Ich arbeite. Es gibt Leute, die tun so was.“ Und tatsächlich. Der Schwarzhaarige Inspector saß in dem Sessel vor seinem Wohnzimmertisch und starrte auf den Monitor von Yuuis Laptop mit ausdruckslosem, hoch konzentriertem Gesicht.

„Du solltest eine Pause machen und was trinken. Du schwitzt“, gab Fye zu Bedenken.

Das Thermometer zeigte 36 °C im Schatten an, Tendenz steigend. Es war Samstag, sieben Uhr morgens; vier Tage nach dem Auffinden von Yuui de Fluorites Leiche.

„Und gegessen hast du auch noch nichts!“, fügte er noch hinzu.

„Hm.“

„Wenn du mich weiter ignorierst, gehe ich rüber und sag' den Beiden, dass sie aufhören sollen.“

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

„Deine Selbstbeherrschung ist bemerkenswert.“

Einer der Beiden des Nachbarpärchens fing regelrecht an zu schreien. Kurogane machte sich nicht mal die Mühe, das Radio anzumachen um die Geräusche auszublenden. Fye – von Hitze und Müdigkeit gelähmt auf dem Sofa sitzend – strich sich die klebrigen Haarsträhnen aus der Stirn und warf dem Größeren einen trägen Blick zu. Er hätte so einiges darum gegeben, jetzt in den Kopf des Schwarzhaarigen sehen zu können. Was er wohl gerade ansah? Welchen Teil seines alten pikanten Lebens... und vor allem, was dachte Kurogane darüber? Fye fühlte sich ein wenig unbehaglich dabei, dass so ziemlich jeder Aspekt seines Lebens als Yuui so vor Kuro-chan ausgebreitet war, aber er hatte kein Recht, sich zu beschweren. 'Und wenn ich daran denke, dass ich mir bei unserer ersten Begegnung gewünscht habe, dass wir uns besser kennen lernen könnten... und jetzt wäre die Gelegenheit dafür; aber wenn du auch nur ein Wort zu viel über mich erfährst, dann macht das alles zunichte... das nenne ich mal wirklich Ironie des Schicksals.'

Ein letztes leidenschaftliches Aufstöhnen aus zwei Kehlen und Stille legte sich über das Appartement. Vorerst. Aber die Hitze blieb und mit ihr die drückende Luftfeuchtigkeit. Man hatte das Gefühl, dass man schon in Schweiß badete.

Fye hatte Durst.

Öde... es war alles so trostlos... wüst.

Wüst.
 

And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief...“, flüsterte Fye als das unerbittliche Wetter in ihm die Zeilen jenes Gedichtes wieder in Erinnerung rief.

And the dry stone no sound of water. Only

there is shadow under this red rock

(Come in under the shadow of this red rock)...“
 

Kuroganes Finger verharrte über der Entertaste, als er aus dem Nichts vertraute Zeilen hörte. Sie riefen die Erinnerung an jenen Nachmittag im Sommer wach... aber welcher Sommer...
 

And I will show you something different from either

Your shadow at morning striding behind you

Or your shadow at morning rising to meet you

I will show you fear in a handful of dust.
 

Wieso? Wieso erinnerte er sich daran? Wieso gerade jetzt?

Sein Kopf schmerzte. Ihm war schwindelig.
 

(„Was war denn das?“, fragt der kleine schwarzhaarige Junge den Mann, der neben ihn im Gras sitzt. Eine milde Brise erfasst sie beide, spielt mit den blonden Strähnen des Älteren, sodass es schwer ist, seine Gesichtszüge klar zu erkennen.

„Ein Gedicht von T. S. Eliot. 'The Waste Land'.“

„Und warum zitierst du mitten am Tag ein Gedicht ohne ersichtlichen Grund?“, fragt der Junge ein wenig unwirsch. Er versteht das Verhalten seiner neuen Bekanntschaft nicht, und er mag es nicht etwas nicht zu verstehen. Aber er ist noch jung und will alles in Erfahrung bringen, dass er nicht versteht.

„Wer sagt, dass es keinen Grund gibt?“, fragt der Blonde und blickt den Jungen an. Er lächelt, friedlich und warmherzig. Kurogane fühlt ein kurzes Ziehen in der Brust, wie einen kleinen Krampf, aber das Gefühlt verschwindet so schnell wie es gekommen ist und macht einem Kribbeln Platz. Das Kribbeln breitet sich in seinem ganzen jugendlichen Körper aus und setzt sich unter seiner Haut fest. Kurogane wird rot und blickt zur Seite.

Sein Herz schlägt schneller.)
 

Herzrasen.

Kopfschmerz und Herz pochten im Einklang. Das war... unmöglich.

Absolut unmöglich.

Er konnte hören, wie Fye vom Sofa aufstand. „Ich geh duschen“, sagte er, aber seine Stimme klang merkwürdig, als hätte sie einen kleinen Nachhall.

„Hm-mh.“ Kurogane wurde schlecht. Er hatte keine Ahnung, warum. Er stützte seinen Kopf auf seine Hand, als könne das etwas daran ändern.

Es war unmöglich.

Er war Fye noch nie begegnet. An diesen Kerl hätte er sich erinnert. Wer war die Person dann, die er im Park getroffen hatte? Oder spielte sein Hirn ihm nur einen Streich?

Das Geräusch von fließendem Wasser drang aus einem anderen Zimmer an sein Ohr. Der Schwarzhaarige atmete schwerer. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Etwas, das nichts mit dieser Erinnerung zu tun hatte.

Nasser Stoff legte sich in seinen Nacken. Ein Handtuch. Sein Handtuch.

Was...?

Kurogane blickte auf und das, was er sah kam wirklich unerwartet. Der Blonde vermied es ihn anzusehen, aber in seinem Gesicht zeigte sich geringe Sorge ab. Er stellte ein Glas Wasser neben den Laptop.

„Du solltest wirklich etwas essen und etwas trinken, Kuro-chan.“
 

(„Kuro-chan...“ Der Mann neben ihm bedenkt ihn mit einem aufrichtig fürsorglichen Blick aus klaren blauen Augen, „Du musst wirklich -)
 

„Nicht, dass du noch einen Sonnenstich kriegst.“

„Ich bin gar nicht in der Sonne“, murrte der Größere, der es gar nicht gern hatte, wenn man ihn bemutterte.

„Aber du schwitzt. Und die Hitze schlägt schnell auf den Kreislauf. Soll ich erst Frühstück machen?“

„Keinen Hunger.“

Jetzt sah Fye ihn an. „Hast du keinen Hunger oder willst du nichts essen, weil dir übel ist?“

„Was geht dich das an?“

„Kuro-chan, ich mein's ernst, das ist gefährlich. Übelkeit ist das erste Anzeichen. Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen.“

„Vielleicht solltest du mich einfach in Ruhe lassen“, knurrte Kurogane zurück, mürrisch wie immer. Sein Kopf schwamm vor Übelkeit, vor Schmerz, vor Schwindel... man konnte sich eine Ursache aussuchen. Das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte, war sich auch noch mit dem Blonden herum zu ärgern.

Der wiederum setzte ein Grinsen auf. Ein unheimliches Grinsen von der Art, wie man es sonst nur bei Yuuko sah. „Wie du willst. Ist deine Entscheidung. Aber wenn dir schwarz vor Augen wird, Mr. Black“ - Fye kicherte über das alberne Wortspiel – „und du zusammen klappst, dann muss ich dich wohl oder übel in dein Bett schleifen. Also, wenn du das mit deinem großen, männlichen Ego verkraften kannst...“ Er zuckte mit den Schultern, die Handflächen zu einer flapsigen Geste erhoben. Und schlenderte in die Küche.

Der Schwarzhaarige ließ sich das durch den Kopf gehen. Und bemerkte, dass ihm nicht mehr ganz so heiß war. Er schwitzte auch nicht mehr so stark. Seine Hand wanderte zu dem feuchten Handtuch in seinem Nacken, das die Ursache für die Linderung war.

Es gab zwei Möglichkeiten: dem Rat zu folgen oder ihn zu ignorieren und womöglich vollständig abhängig von dieser Person zu sein. Ersteres war das kleinere Übel. Und eine kleine Pause konnte wirklich nicht schaden. Grummelnd rutschte der Schwarzhaarige auf das harte Sofa herüber und bettete seinen Kopf auf der Armlehne, sich das Handtuch auf die Stirn legend.

Fye lunzte vorsichtig aus der Küche in die Stube. 'Du hast dich wirklich gar nicht verändert, Kuro-chan,' stellte er zum wiederholten Male fest, 'man muss dich immer noch zu deinem Glück zwingen.' Der Blonde beschloss, das Frühstück noch etwas hinaus zu zögern, um dem Anderen keinen Anlass zu liefern sich wieder aufzusetzen.
 

Der Mensch besitzt zwei verschiedene Arten von Gedächtnis, wenn man Yuuko Ichihara glauben kann. Ich spreche natürlich nicht von der Yuuko dieser Welt, sondern von der Hexe der Dimensionen.

Der Sitz dieser beiden Gedächtnisse und ihre Natur sind dabei grundverschieden. Das Gedächtnis der Seele ruht in unserem Herzen und in unserem Bewusstsein. Es umfasst alles, das wir wahrnehmen und dem wir eine Bedeutung beimessen. Und es umfasst jene Erinnerungen, die man als episodisch bezeichnet. Das Gedächtnis des Körpers hingegen (auch prozedurales Gedächtnis genannt) ist in unserem Hirn verankert und das meiste davon liegt im Unterbewusstsein. Handlungen, die wir so oft durchgeführt haben, dass sich dafür Nervenbahnen gebildet haben. Jede sensorische Erinnerung wird unterhalb der Großhirnrinde gespeichert, egal, ob wir dem eine Bedeutung beimessen oder nicht. Das Gedächtnis des Körpers kann man ohne Einwirkung von außen nicht verlieren. Im Gegenteil, da beide Formen der Erinnerung miteinander vernetzt sind, kann im Falle einer Amnesie die Stimulation des Körpergedächtnisses dazu führen, dass man sich wieder erinnert.

Dazu bedarf es meist nur weniger Reize. Das gilt natürlich nicht nur für die Amnesie; sondern ebenso für Erinnerungen, die wir bewusst vergessen haben oder die verloren gingen unter der Last weit schlimmerer Ereignisse.

Meist ist es ein Duft, der uns zurückführt; er nimmt uns bei der Hand und leitet uns. Es ist ein abstrakter Prozess, da wir so viele Düfte kennen und doch gibt es zu wenig Worte um sie zu beschreiben.

In Kuroganes Fall war da noch die Wärme, die auf seinem Gesicht brannte und die, während er in ein leichtes Dösen versank, jenen Tag vor vierzehn Jahren wieder ins Bewusstsein führte.
 

(Die Schultage kommen ihm lang vor, nur die Nachmittage erscheinen ihm meist noch länger. Heute ist ein besonderer Tag, aber für den Jungen fühlt er sich nicht besonders an.

Er war früh aufgestanden, hatte gefrühstückt und sich von seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn geben lassen, bevor er zur Schule ging. Dann hatte er die Unterrichtsstunden abgesessen wie jeden Tag: vor sich hin starrend und obskure Kritzeleien in seinem Hefter hinterlassend.

Kurogane ist ein intelligenter Junge, das ist sein größtes Problem. Der Unterricht unterfordert ihn, langweilt ihn ohne Ende. Die Lehrer halten sein mangelndes Interesse für Faulheit und der Teenager macht sich nicht die Mühe diese Ansicht richtig zu stellen. Er weigert sich ebenso, auf eine Schule für begabtere Kinder zu wechseln und seine Mutter drängt ihn nicht dazu. Sie drängt ihn ohnehin nie und was die Schule betrifft, möchte sie für ein so stabiles Umfeld wie möglich sorgen.

Für Kurogane bedeutet das Monotonie, aber er will sich nicht die Schwäche geben sich darüber zu beschweren. Die Zeit nach der Schule verbringt er im Kaiser Pinguin Park, so lange seine Mutter arbeitet. Außer dienstags, da hat er Kendo-AG.

Heute ist Mittwoch. Heute sollte ein besonderer Tag sein.

Er verschränkt die Arme vor der Brust, als er die Kinder auf dem Spielplatz beobachtet. Schaukeln und Wippen sind nichts für ihn; auch das Klettergerüst stellt schon lange keine Herausforderung mehr dar. Aber er klettert gern.

Sein Blick wandert weiter zu den gekiesten Wegen, die sich durch den Park schlängeln und erspäht zwei große Ginko-Bäume zu beiden Seiten. Ihre Äste reichen weit herüber, ja, berühren sich fast. Ein rostrotes Eichhörnchen huschte den Stamm herauf, sauste in die leuchtend grüne Blätterkrone und hüpfte Galant von dem einem Baum zum anderen.

Der Junge grinst.

Nun ist seine Neugier doch geweckt.

Auf die Äste zu gelangen ist schwierig, sie beginnen fast oberhalb seiner Reichweite und die Rinde bietet seinen großen, von Schwielen gezeichneten Fingern wenig Halt. Aber er hätte es gar nicht anders gewollt. Er zieht seine Turnschuhe aus und legt sie neben seinen Ranzen an den Stamm, weil er barfuss in den Zehen mehr Gefühl hat und beginnt mit dem Aufstieg; stützt sich auf jeder noch so schmalen Auswuchtung ab. Als endlich der erste Ast in eine bequeme Reichweite gerät, schwitzt Kurogane bereits heftig und seine Finger- und Zehenkuppen brennen. Er hievt sich hinauf. Hier ist er sicher, hier ist er daheim. Das dichte Blätterwerk schützt ihn vor den neugierigen Blicken der Passanten.

Hinzu kommt die Euphorie etwas erreicht zu haben Er liebt es, seine eigene Stärke und Geschicklichkeit auszutesten. Er will seine Grenzen herausfinden.

Kurogane blickt zu dem zweiten Baum herüber und versucht die Distanz zwischen den Ästen abzuschätzen. Auf den ersten Blick mag es nur wie wenige Zentimeter aussehen, aber der Schwarzhaarige ist klug genug, sein eigenes Gewicht zu bedenken. Wenn man nur den Bereich des Astes betrachtet, den er sicher betreten kann ohne dass der Ast bricht, dann ist es ein Meter Luftlinie, die er zu überwinden hat. Ein cleverer Junge würde an jener Stelle inne halten und sich das Ganze angesichts der Distanz und der enormen Höhe noch einmal anders überlegen, doch wie bereits angemerkt wurde: Kurogane ist intelligent. Das schließt Cleverness nicht automatisch mit ein.

Er stellt sich aufrecht auf den Ast, stützt sich mit den Händen am Stamm ab und schätzt die Stelle, an der er abspringen muss. Dann sprintet er los.
 

Er schafft genau drei Schritte.

Bis sein Fuß abrutscht.
 

Es folgt eine Schreckenssekunde peinlichen Armruderns, bevor er den Kampf gegen die Schwerkraft verliert.

’SCHEISSE!’

Der Junge fällt mit weit aufgerissenen Augen; er hat noch die Hoffnung sich am Boden irgendwie ninja-mäßig abrollen zu lassen (im Film funktionierte so was immer prima), aber da steht jemand.

Genau. Unter. Ihm.

‚Oh, FU-’ Weiter kommt Kurogane in Gedanken nicht, als er mit etwas Weichem kollidiert – ausgestreckte Arme schließen sich um seinen Oberkörper; was ihm jedoch irgendwie entgeht – und es zu Boden reißt. Seine Ohren rauschen von dem Blut, das durch sie strömt und das Einzige, was das noch übertönt ist das viel zu hastige Pochen seines Herzschlags.

Eine kühle Hand tastet seinen Hinterkopf ab.

„Bist du okay, Kleiner?“

Mit einem sehr unmännlichen „Yiep“ stützt Kurogane seinen Oberkörper von der weichen Unterlage ab. Und wird langsam der Zweideutigkeit der Position gewahr, in der er sich befindet. Die Hände auf der Brust eines komplett Fremden ruhend, die Knie zwischen den Beinen des Anderen. Hinzu kommt, dass der blonde Kerl, auf den er gestürzt ist, noch immer eine Hand an seinem Hinterkopf hat.

Für Außenstehende muss diese Szene ziemlich intim aussehen.

„Hm, also ich kann keine Beule finden. Dein Kopf scheint also okay zu sein“, murmelt der Blonde vor sich hin, dem die erzwungene Nähe nicht im mindesten unangenehm zu sein scheint.

Kurogane sieht zu, dass er wieder auf die Beine kommt. Er klopft sich den Dreck von der Hose und presst dabei ein geknirschtes „Danke“ zwischen geschlossenen Zähnen hervor.

„Was hast du gesagt, Kleiner?“

„Ich sagte ’Danke’. Und ich heiße nicht Kleiner!“

„Aber wenn ich deinen Namen doch nicht kenne...“

Kurogane hat eigentlich damit gerechnet ausgeschimpft zu werden, weil Erwachsene oder zumindest Ältere (es ist schwer einzuschätzen, wie alt dieser junge Mann ist; er kann sechzehn oder auch einundzwanzig sein) das nun mal gerne tun. Aber nichts dergleichen. Der Größere bleibt einfach im Gras liegen und grinst vor sich hin, als habe er nichts Besseres zu tun.

„Hey, Kleiner, hast du mich verstanden?“

„Ich heiße Kurogane, okay? Und ich bin nicht klein!“ Tatsächlich überragt er seine Klassenkameraden um einiges, aber damit musste man ja nicht gleich angeben, nicht?

„Okay, Kuro-chan.“

„Kurogane!“

„Aber sag' mal, Kuro-chan,“ fährt der Fremde fort, „wieso kletterst du nicht lieber da drüben, da ist es ungefährlicher.“

„Das Klettergerüst ist was für Kinder!“, grummelt der Junge. Er setzt sich im Schneidersitz auf die Wiese und verschränkt die Arme vor der noch schmalen Brust.

„Kuro-chan...“ Der Mann neben ihm bedenkt ihn mit einem aufrichtig fürsorglichen Blick aus klaren blauen Augen, „Du musst wirklich besser auf dich aufpassen. Die Kindheit ist eine wertvolle Zeit, bevor man sich's versieht ist sie zu Ende.“

Kuroganes Wangen färben sich glühend Rot, aus Scham und aus Empörung. Wer ist dieser Kerl, dass er ihm einfach solche Ratschläge gibt? Was weiß der denn schon?

„Ich bin kein Kind mehr!“, brüllt der Schwarzhaarige und springt auf, was sein Gegenüber zum Kichern bringt.

„Dass du dich darüber so aufregst, sagt mir aber, dass du doch eines bist.“

„Ich bin heute vierzehn geworden, da...“ Der Junge stockt, als er merkt, dass er zu viel von sich preisgibt. Er kennt diese Person doch nicht, was kümmerte es ihn, was dieser Mensch von ihm denkt?

Das Gesicht des Mannes nimmt einen, sanfteren, ja fast liebevollen Zug an. „Heute ist also dein Geburtstag, ja? Aber...“ seine Augen schweifen über das Gelände, “Wo sind denn deine Eltern und deine Freunde? Feierst du gar nicht mit ihnen?”

„Ich habe keine Freunde.“

„Oh.“

„U-und ich will auch keine!“, fügt der Junge hastig hinzu. Er ist zu jung um Verbitterung zu kennen und vielleicht ist das sein Glück. Er hat seine Mutter und seinen Vater und weiß, dass ihm das genug ist. Das heißt, es wäre genug, wenn sein Vater nicht Meilen weit entfernt an irgendeiner Front in Bosnien-Herzegowina kämpfen würde. Doch selbst daraus kann der Junge noch Trost schöpfen. Er ist stolz, der Sohn eines Marines zu sein und er weiß, dass sein Vater nur deshalb in den Krieg zieht, weil er glaubt so seine Familie am besten zu beschützen.

„Und deine Eltern?“

„Arbeit.“ Das ist noch nicht einmal gelogen. Innerlich bereitet Kurogane sich schon einmal auf die große Welle des Mitleids vor, die gleich angeschwappt kommen würde... und sobald der Typ sein Mitleid bekundet hatte, würde Kurogane gehen. Er hat bereits jetzt die Nase gestrichen voll von diesem Idioten.

Doch das „Oh, du Ärmster“ blieb aus. Stattdessen schenkt der Blonde ihm ein Grinsen, das irgendwie unheimlich war. Der fremde junge Mann springt auf seine Füße und ruft aus: „Hol deine Schultasche!“

Ooookay. Irgendwas geht vor sich, das Kurogane nicht begreift. Und er weiß nicht, ob er es begreifen will. „Wozu?“

„Weil ich dir jetzt ein Eis spendieren werde.“

„Nein.“

„Wieso nicht? Du hast doch momentan nichts Besseres vor, oder?“

Würde der Junge mehr Fantasie besitzen, könnte ihm eine geeignete Lügengeschichte einfallen, aber so kann er nur protestieren: „Meine Mutter hat gesagt, ich darf keine Süßigkeiten von Fremden annehmen.“

„Ach so. Na wenn deine Mutter das sagt...“ Kurogane wird plötzlich eine blasse schlanke Hand hingehalten. „Ich bin Yuui de Fluorite, aber du kannst mich gern Yuui nennen. Ich bin 21, koche gern – vor allem jeden Tag im Labor, ich studiere nämlich Chemie – war früher im Chor und zeichne gerne. Am liebsten schreibe ich aber kleinere und größere Geschichten. Ich wohne mit meinem Bruder zusammen, aber er ist gerade in Italien, macht dort Urlaub. Ich wär' ja gern mitgekommen, aber ich habe Praktikum. Der einzige Grund, warum ich heute früher aus dem Labor komme ist der, dass mein Präparat 24 Stunden kochen muss. Oh, ich kann dir sagen, wo ich wohne, falls du Angst hast, ich könnte dich entführen und du eine Nachricht an deine Mutter hinterlassen willst.“

Kurogane hat nur die Hälfte dessen, was der Andere sagt, verstanden und kann sich keinen Reim darauf machen, was Yuui damit bezweckt. „Warum erzählst du mir das alles?“

„Na-- jetzt sind wir keine Fremden mehr. Wenn überhaupt bist du mir fremder als ich dir und da wir jetzt zumindest flüchtige Bekannte sind – so flüchtig wie ein wenig Diethylether an einem heißen Sommertag – können wir essen gehen.“

„Aber was soll das Ganze?“

Der Blonde lässt seine Hand sinken; der Junge hat sie immer noch nicht geschüttelt. Sein Grinsen wankt nicht ein wenig, doch kommt jetzt eine deutlich traurigere Note hinzu.

„Du bist doch allein unterwegs. Niemand sollte an einem so bedeutenden Tag allein sein, Kuro-chan.“

Kurogane weiß nicht, was es dazu zu erwidern gibt.

„Aaalso – los geht’s!“ Yuui klatscht in die Hände, schnappt sich Kuroganes Schultasche, die er unter dem anderen Baum erspäht hat und zieht den Jungen einfach mit sich, ohne auch nur ein Wort des Widerstands zu dulden.
 

Und so kommt es, dass sie fünfzehn Minuten später wieder unter jenem Ginko-Baum sitzen; jeder von ihnen mit zwei Kugeln Eis in der Waffel. Und das, obwohl der Junge auf Teufel komm raus keine Süßigkeiten ausstehen kann. Deshalb hat er sich wenigstens für die Sorten entschieden, die ihm am wenigsten süß erscheinen: Schokolade und Waldfrucht. Letzteres ist schon abnorm dunkelrot. Schweigend (und auch ein wenig schmollend) wirft er dem Mann neben sich immer wieder verstohlene Blicke zu. Kurogane weiß nicht, ob Yuui sie bemerkt; aber wenn er es tut, so lässt der Blonde sich davon nichts anmerken. Er schleckt einfach genüsslich an seinem azurblauen Kaugummi-Eis. Ernsthaft, wer nimmt sich schon Eis, das nach Kaugummi schmeckt? Und noch dazu in Kombination mit Vanille; passt das überhaupt zusammen?

„Kuro-chan, dein Eis tropft.“

Braune und klebrig-süße Ströme beginnen, seine Finger herab zu laufen und der Junge flucht innerlich, dass er sich so hat ablenken lassen. Aber er wird einfach nicht schlau aus dem Mann. Gibt es denn niemand Anderen, den der Kerl nerven kann?

„Ehrlich, wenn du es nicht auf leckst, tue ich es!“

Kurogane müht sich ab, die klebrige Masse von seinen Fingern zu entfernen, während der Blonde über diese geschockte Reaktion nur grinsen kann.

„Was ist eigentlich mit deinen Freunden?“, fragt der Kleinere dabei, „Nicht, dass es mich interessieren würde.“ Er zuckt mit den Schultern um die Aussage zu bekräftigen.

„Ich studiere eine Naturwissenschaft. Ich besitze weder Zeit noch soziale Kontakte.“ Das Grinsen wird noch breiter. Will der Kerl ihn aufziehen, oder was?

Yuui tippt sich mit dem Finger gegen das Kinn, grübelnd. „Aber ich habe meinen Bruder. Mehr Freunde brauche ich nicht. Oh. Und dich habe ich jetzt natürlich auch.“

„Aber wir sind nicht befreundet!“

„Oooh, Kuro-chan, du weiß wirklich, wie man einem Mann das Herz bricht, was?“

„...“

„Kuro-chan?“

„Du bist schwul, nicht wahr?“, fragt Kurogane als wäre ihm das gerade erst bewusst geworden. Was wohl auch stimmt. Er fragt mit der Direktheit eines Kindes, das noch nicht weiß, wie unhöflich diese Frage eigentlich ist.

„Ist das ein Problem für dich?“

Der Junge denkt kurz drüber nach – er will ehrlich sein – und schüttelt dann den Kopf. „Nein. Ich wollte nur wissen, ob meine Vermutung stimmt.“

„Keine Sorge, ich bin vergeben.“ Yuui zwinkert ihm aufmunternd zu, bevor er sich wieder an sein Eis machte. „Und nicht an Kindern interessiert. Du hast also nichts zu befürchten.“

„Das hatte ich auch nicht geglaubt.“

„Es sei denn, du möchtest, dass ich mich für dich interessiere.“

„Nein danke!“, schnaubte der Junge und blickt weg.

„Ah, Kuro-chan, du bist einfach zu süß, wenn du rot wirst.“

„Ich heiße KUROGANE!“

„Ja, Kuro-chan.“

„Wie war das eben?“

„Was denn, Kuro-chan?“

Kuro-chan... Kuro...)
 

„Kuro-tan?“

Ein Duft, der Duft hüllte ihn ein; frisch und herb. Der Reiz, der diese Erinnerung hervor gerufen hatte. Kurogane hatte immer nach einem Name dafür gesucht und als er endlich einen gefunden hatte, da war bereits so viel Zeit vergangen, dass er sogar schon vergessen, warum er danach gesucht hatte. Und als Tomoyo ihm eines Tages eine Flasche Shampoo schenkte und er dieses spezifische Aroma wieder erkannte, da hatte er die Information in seinem Inneren verschlossen wie ein Schatz.

Es war der Geruch von blauer Zeder.

Yuuis Duft.

Er hatte Yuui vergessen und im Nachhinein fühlte sich das nicht richtig an, denn Yuui war jemand Besonderes gewesen; Yuui hatte ihn gemocht und akzeptiert wie er war, ohne zu tiefe Fragen zu stellen. Sie hätten Freunde sein können. Aber das Schicksal hatte andere Pläne.

An jenem Abend sollte Kurogane noch lange darauf warten von seiner Mutter abgeholt zu werden. Am Ende waren es zwei weibliche Bodyguards der Piffle Princess Company, die ihn mitnahmen. Weil seine Mutter emotional dazu nicht in der Lage gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie man ihn in das Haus von Sonomi Daudouji gefahren hatte – die Frau, für die seine Mutter arbeitete. Er erinnerte sich an den Anblick seiner Mutter, wie sie auf dem Teppich kauerte und so heftig schluchzte, dass sie kaum Luft bekam.

Und da hatte er gewusst, dass sein Vater nicht mehr zurückkehren würde.

Keine zufällige Begegnung im Park konnte gegen so etwas bestehen. Ja, er hatte Yuui vergessen, aber das machte nichts, Yuui war ja jetzt hier; er konnte ihn riechen. Er konnte hören, wie der andere nach ihm rief.

„Kuro-rin? Hey, Frühstück ist fertig...“

Es kostete ihn einiges an Anstrengung die Augen zu öffnen und sobald seine Lider sich hoben, überflutete grelles Licht sein Sichtfeld. Kurogane blinzelte. Eine Silhouette hob sich dunkel gegen das Licht ab, golden schimmerndes Haar, liebevoll blickende blaue Augen... Eine blasse Hand wedelte vor seinem Gesicht herum.

„Aufstehen, Dornrösche– uah!“

Er packte den Blonden am Handgelenk und zog ihn zu sich herunter, sodass die kühlen und leicht feuchten Haarsträhnen sein Gesicht kitzelten. Der Duft von lauer Zeder wurde stärker. Der Schwarzhaarige atmete tief ein, widerstand dem Drang die Augen zu schließen und Gesicht und Hände in dem weichen Haar zu vergraben.

Der Blonde war nur einen Moment lang irritiert, dann setzte er wieder sein erheitertes Grinsen auf. Und brach damit den Bann.

Natürlich war es nicht Yuui. Yuui war tot.

„Also wirklich, so lange war ich nun auch wieder nicht weg, dass du mich gleich so doll vermissen musst. Oder kannst du es etwa nicht ertragen, ohne mich zu sein?“

„Dein Bruder-“, setzte Kurogane an. Sein Tonfall hatte etwas Resolutes an sich. Er machte sich nicht die Mühe auf Fyes Neckereien einzugehen, sollte der Blödmann doch glauben, was er wollte. Diesmal würde Kurogane ihm nicht den Gefallen tun und sich davon beirren lassen.

„Was ist mit ihm?“ Fye schien den Wink verstanden zu haben und das falsche Schmunzeln fiel. Dahinter kam ein ernster Ausdruck zum Vorschein.

„Wie ähnlich wart ihr euch? Charakterlich, meine ich.“

„Ich sagte doch, wir waren grundverschieden.“

„Das reicht mir nicht. Ich will Details.“

„Fein.“ Der Zwilling stieß einen theatralischen Seufzer aus und machte Anstalten, sein Handgelenk aus dem Griff des Inspectors zu freien.

Kurogane ließ ihn los.

„Aber erst wird gefrühstückt.“

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To be continued...

~^.^~

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Diesmal keine Vorschau, ganz einfach weil das neue Kapitel noch nicht so weit geschrieben ist, dass ich was Interessantes gefunden hätte. Sorry.

Post und Prost!

Warnung: Ich scheine mich weiter entwickelt zu haben, seit ich begonnen habe diese FF zu schreiben. Entweder das, oder ich laufe erst jetzt zu meiner Hochform auf, jetzt, da es außer den leicht romantischen und traurigen Ansätzen an die Substanz geht, das Rohe, die ehrliche, grausam nackte Wahrheit.

Jetzt kommen langsam die Stellen, an denen ich unflätig werden darf und auch ein wenig schmutzig, also nicht erschrecken.
 

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And the lesson I must learn

Is that I've got to wait my turn […]

Miniature disasters and minor catastrophies bring me to my knees

Well I must be my own master or a miniature disaster will be-

It will be the death of me

KT Tunstall, “Miniature Disasters”
 

Obwohl Kurogane in Amerika geboren und aufgewachsen war, bevorzugte er wie ein Großteil der japanisch stämmigen Einwohner Clow Citys Reis oder Miso-Suppe und grünen Tee zum Frühstück. Er mochte keine süßen Gerichte und es war ihm schleierhaft wie manche Menschen (Leute wie Tomoyo) jeden Morgen Croissants mit Honig oder Marmelade in sich hinein stopfte. Deshalb würde man so etwas auch gar nicht erst in seiner Wohnung finden. Um genau zu sein konnte man überhaupt keinen großen Vorrat an Lebensmitteln erwarten.

Seit er bei der Polizei angefangen hatte und bei den Daidoujis ausgezogen war, bestand sein Frühstück aus drei Tassen schwarzen Kaffees und zwei trockenen Vollkornbrötchen, die er sich unterwegs beim Bäcker holte. Es war eigentlich viel zu kontinental für seinen Geschmack, aber für etwas anderes blieb keine Zeit.

Er hätte wissen müssen, dass seine Vorstellung eines Frühstücks ganz und gar dem widersprach, was sein neuer Mitbewohner sich darunter vorstellte. Nein, wenn man auf den Namen Fye de Flourite hörte, war ein Frühstück eine Kalorienbombe, die ganz im Sinne von Tomoyos Geschmack war.

Die ersten Pfannen türmten sich in der Spüle, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft. Wenn man nah am Herd stand, konnte man auch Zimt und Vanille riechen.

Der Ermittler befürchtete das Schlimmste als er, immer noch ein wenig benommen, in die Küche stapfte. Und wurde nicht enttäuscht.

Sein Küchentisch war ein weißes, klappriges Ding aus Plastik; perfekt geeignet für Campingausflüge aber natürlich fehlte es ihm an In-Door-Schick. Ganz zu schweigen davon, dass Kuroganes lange Beine keinen Platz darunter fanden. Genau dieser winzige Tisch war gerade vollgestellt mit einer Schüssel, in der sich etliche Eierkuchen stapelten und einer Pfanne voller Rührei. Daneben stand ein Teller mit angebratenem, süß dufteten Toast.

„Was. Ist. Das?“

„Ich hab' doch gestern Abend Toastbrot gekauft, schon vergessen? Tja und eben durfte ich feststellen, dass in deinem Kühlschrank gähnende Leere herrscht, bis auf etwas Butter, Milch und sage und schreibe zwei Packungen Eier, die gefährlich nah am MHD sind. Also habe ich mich auf die Suche nach Mehl und Zucker gemacht um noch ein paar Eierkuchen zustande zu bringen. Und weil du keinen Ahornsirup hast, hab ich ein wenig Zucker karamellisiert. Was ist?“

Angewiderter Horror. Mit diesen Worten konnte man den Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen noch am ehesten beschreiben.

„Magst du keine Eier, Kuro-wanwan?“

Er war sogar zu angewidert, um sich über die Verunstaltung seines Namens aufzuregen. „Ich... hasse... Süßes“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor, was Fye zum Seufzen brachte.

„In den Eierkuchen ist kein Zucker. Ich weiß, es sind keine richtigen Crêpes, aber ich habe ein wenig Käse gerieben. Du kannst sie also auch herzhaft essen. Den French Toast magst du dann wohl auch nicht, was? Was isst du dann eigentlich jeden Tag, wenn du nichts zu Hause hast? Du ernährst dich doch wohl nicht nur von Fast Food und Sushi aus dem Convenience Store, oder? Kuro-myuu, das ist gar nicht gesund; besonders, wenn man so einen stressigen Job hat wie du.“

Auf Kuroganes Stirn begann bedrohlich eine Ader zu pochen.

Was glaubte der Kerl eigentlich, wer er war? Seine Mutter?

„Wolltest du nicht was über deinen Bruder erzählen?“

„Stimmt... aber diese Diskussion ist noch nicht vorüber, junger Mann!“ Mit dem Worten wurde ein Holzspatel vor Kuroganes Nase herumgewedelt. Dann schob Fye sich ein paar Eierkuchen auf seinen Teller und träufelte Karamell darüber. Er setzte sich auf die Arbeitsplatte der Küchenanrichte. Es war schließlich offensichtlich, dass an dem Tisch keine zwei Personen Platz hatten. Es war ja kaum noch Platz für Kuroganes Teller.

„Also, zu Yuui...“, murmelte Fye. Er separierte mit der Kante der Gabel ein Stück vom Eierkuchen, tränkte es in der braunen Soße und schob es sich dann in dem Mund. Nach kurzem Kauen, fuhr er fort: „Tja, als wir noch Kinder waren, waren wir uns sogar ziemlich ähnlich. Unsere Eltern waren die Einzigen, die uns auseinander halten konnten. Als wir dann älter wurden, änderte sich einiges. Unser Kleidungsstil, unsere Lieblingsmusik, unsere Singstimmen. Aber wir hatten beide Talent für die verschiedensten Künste. Tanz, Gesang, Schauspiel, zeichnen, schreiben, kochen. An dem ein oder anderen haben wir einfach das Interesse verloren und manche Hobbies mussten wir aus Zeitgründen aufgeben, wie den Chor und das Schauspielern. Yuui verlor das Interesse am Klavierspielen und ich lese lieber als dass ich selbst etwas schreibe. Tja, was den Charakter betrifft... Yuui war schon immer etwas exzentrischer.“

Bei dieser Aussage verschluckte Kurogane sich an seinem Rührei. Er hustete heftig und sein Kopf lief knallrot an, was dem Blonden natürlich nicht entging.

„Was denn?“, hakte Fye nach.

„Du bist auch nicht gerade... zurückhaltend“, erwiderte der Schwarzhaarige. Er bekam wieder einigermaßen Luft, doch seine Schultern zuckten noch – vor unterdrücktem Lachen.

Der Zwilling schien sich die Aussage noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. ‘Hm. Das ist natürlich problematisch.‘ Er mochte jetzt den Namen seines Bruders tragen, aber natürlich nicht dessen Persönlichkeit. Und wenn Kuro-tan nun die Kunden des Cat's Eye befragen wollte, welchen Eindruck der Besitzer des Cafés auf sie machte, oder noch schlimmer: wenn er sich an seine Begegnung mit Yuui erinnerte? Der Schwarzhaarige machte zwar nicht den Eindruck, aber was noch nicht war...

„Alles eine Frage des Umfelds, Kuro-pon.“

„Kurogane!“

Fye ignorierte den gewohnten Protest des Schwarzhaarigen und fuhr mit einer wegwerfenden Geste fort. „Yuui war privat eigentlich sehr zurückhaltend und unsicher, zumindest mir gegenüber. Für die Öffentlichkeit hat er sich natürlich eine schillernde Persönlichkeit zugelegt um seine Unsicherheit zu verstecken. Ich weiß, dass ich vielleicht nicht so wirke, aber ich kann es gar nicht leiden, im Fokus einer breiten Öffentlichkeit zu stehen. Ich hatte in der Schule schon schreckliches Lampenfieber. Ich weiß, dass ich auf andere mitunter etwas aufdringlich wirke“ - Kurogane machte an der Stelle ein Geräusch, das verdächtig nach „Amen“ klang - „Aber auf Arbeit bin ich natürlich etwas ruhiger. Warum fragst du?“

„Ich dachte nur... unwichtig.“

„Unwichtig für mich oder unwichtig für den Job?“, hakte der Blonde nach. Seine Mundwinkel, die bereits die ersten Sirupspuren aufwiesen, zogen sich zu einem verschmitzten Grinsen nach oben. Kurogane quittierte das mit einem „Tch“ und versuchte das Gehörte mit dem in Einklang zu bringen, an das er sich erinnerte. Der Yuui, den er kennen gelernt hatte war bei weitem nicht so aufgekratzt gewesen wie Mr. Sunshine hier, aber beide Zwillinge schienen diese 'Kuro-chan, dich muss man zu deinem Glück zwingen'-Einstellung gemeinsam zu haben. Beide schafften es, ohne Punkt und Komma zu reden. Und er konnte keinen Unterschied in ihren Stimmen feststellen... aber es war auch vierzehn Jahre her, dass er Yuui hatte sprechen hören. Der Mann an den er sich erinnerte hatte eine Menge mit Fye gemein aber der Inspector hatte keinen Grund, an den Worten seines „Mitbewohners“ zu zweifeln. Er musste wohl davon ausgehen, dass die Zwillinge sich mit der Zeit noch weiter auseinander entwickelt hatten.

„Musst du heute noch arbeiten? Ich meine, außer Yuuis Laptop zu durchstöbern?“ Ein Hauch Vorwurf lag in Fyes Stimme. Aber nur ein klitzekleiner. Und ein unbegründeter noch dazu, wie Kurogane fand; als ob er eine perverse Freude daran hätte, sich knapp formulierte Mails und Videos von Schulaufführungen anzusehen. Auf den Anblick von Yuui oder Fye in Röckchen und Umhang hätte er auch verzichten können.

„Wer von euch beiden hat noch mal das Rotkäppchen gespielt?“

Fye blickte von seinem Teller auf, auf dem er eben noch lustlos herum gestochert hatte. Schien glatt so, als würde die Hitze über den Appetit triumphieren.

„Yuui. Er war hin und weg von der Rolle, deshalb hat er sie auch zur Hauptfigur seiner Romane gemacht.“

Keiner von beiden sprach an, dass der rote Umhang, in dem das Opfer zur Schau gestellt hatte sehr an das Outfit bei der Schulaufführung erinnerte.

„Ich muss heute noch die Fanpost vom Verlag abholen“, sagte Kurogane und kehrte damit zum ursprünglichen Thema zurück.

„Oh, du triffst dich also mit Ashura-ou?“

„Wieso nennst du ihn so? Ist der Kerl ein verlorener Königssohn oder was?“

„Nein, nein.“ Er gluckste. „Das ist der Spitzname, den sie ihm beim Verlag gegeben haben Er ist ziemlich gefragt in der Verlagsbranche, außerdem ist sein Nachname wirklich King. Und nein, er ist nicht verwandt mit dem King.“

„... Elvis?“

„Nein, Stephen King. Du weißt schon, der Schriftsteller. Die beide sind weder verwandt noch sind sie sich jemals begegnet.“

Kurogane hatte den Namen schon einmal gehört, konnte ihn aber nicht richtig einordnen. Wahrscheinlich nicht sein Geschmack. Wie auch immer.

„Fährst du allein, Kuro-sama?“ Zwei neugierige blaue Augen, musterten den Schwarzhaarigen, der Messer und Gabel weglegte.

„Willst du etwa mit?“ Der Tonfall des Inspectors ließ keinen Zweifel daran, dass das keine Einladung war, aber Fye schüttelte ohnehin den Kopf. „Dieses Gebäude ist nichts für mich“, sagte er und Kurogane fragte sich, was das bedeuten sollte. „Ich habe ja nur gemeint, weil es vielleicht klüger wäre noch jemanden mitzunehmen, der dir beim Tragen hilft. Ein großes Auto wäre auch nicht schlecht. Und Kisten. Eine Menge Kisten.“

„... von wie viel Post reden wir eigentlich?“

Die Antwort war ein Grinsekatzen-Grinsen.
 

~*+*~

Manche Leute gingen Samstagabend aus, andere machten es sich mit einem geliebten Menschen auf dem Sofa gemütlich und wiederum andere mussten arbeiten. Tomoyo passte es gar nicht, zu Letzteren zu gehören, denn sie hatte Pläne und als Alleinerbin der Piffle Princess Company war sie es nicht gewohnt, diese aufzugeben. Aber Tomoyo war eine clevere junge Dame und sie war fest entschlossen einen Weg zu finden, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. „Du wirst eine Menge Platz brauchen um diese Briefe zu sortieren“, argumentierte sie, als sie am Nachmittag ihren großen Bruder anrief, „und ich habe reichlich davon zu Hause. Wir könnten uns alle bei mir treffen. Mutter ist auf einer Reise nach Indien, wir sind also ungestört.“

#Und die Beweiskette?#, knurrte Kurogane.

„Wenn du darauf bestehst, übernehme ich die Verantwortung für die Briefe. Und unsere Sicherheitsvorkehrungen sind strenger als die im Revier.“

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Tomoyo spielte ihren letzten Trumpf aus. „Miyako-san hat übrigens nach dir gefragt.“

Ein Seufzen. Sie konnte sich nur zu gut den reuevollen Blick vorstellen, den ihr Bruder gerade aufgesetzt hatte.

#Na schön. Ich sag' der Kleinen und den Jungs Bescheid.#

„Ach und Ku-ro-ga-ne...“

Der große Mann stutzte. Die Art und Weise, wie sein Name in die Länge gezogen wurde, gefiel ihm gar nicht. Das bedeutete für gewöhnlich, dass üble Dinge passieren würden.

„Bring doch bitte Fye-san mit, ja?“
 

Der Inspector legte auf, ohne zu antworten, während er aus dem Hörer noch ein gedämpftes „Ohohoho“ verklingen hören konnte. Oh ja, Tomoyo hatte Pläne. Und Tomoyo bekam immer ihren Willen.
 

Dank der tatkräftigen Unterstützung eines ganzen Trupps weiblicher Bodyguards wurden die Möbel im Wohnzimmer des Daidouji-Anwesens näher zu den Wänden verschoben, sodass in der Mitte des Raumes eine freie Fläche entstand, die groß genug war, um dort zu tanzen. In der Mitte stapelten sich bald darauf die Pappkisten, Turm um Turm, die meisten nach Datum sortiert. Darum herum, wie bei einem Lagerfeuer saßen sechs Personen (und zwei plüschige Roboter), wie wiederum weitere, aber leere Kisten um sich versammelt hatten. Es gab ein Farbsystem, natürlich gab es das, Tomoyo hatte sich schon einen Schlachtplan zurechtgelegt und von ihrem großen Bruder absegnen lassen. Keiner von Beiden war ein Experte in Sachen Fanpost, aber sie waren sich einig, dass die in ihrer Stadt ansässigen verrückten Fans zuerst überprüft werden mussten. Zum einen, weil es sich leichter realisieren ließ, zum anderen weil die Leute aus der unmittelbaren Gegend eher die Gelegenheit zu einem Mord hatten. Der abgelegene Fundort der Leiche deutete darauf hin, dass der Täter sich in der Stadt auskannte.

Briefe aus der Stadt kamen in den roten Behälter, Briefe aus dem Bundesstaat in den gelben. Die Post, die aus anderen Bundesstaaten oder sogar dem Ausland kam, sollte in einen grünen und einen blauen Behälter einsortiert werden.

„Und der lilafarbene?“, fragte Sakura als sie alle Platz nahmen, direkt nachdem Tomoyo sie eingewiesen hatte. Die Fotografin lächelte. „Briefe ohne Poststempel.“
 

Das Sortieren war eine stille und langweilige Angelegenheit, weshalb Syaoron nach den ersten fünfzehn Minuten fragte, ob Tomoyo das Radio anmachen könnte. Das vertrieb zwar die Stille, nicht aber den Missmut darüber, dass sie bei dieser Arbeit Handschuhe tragen mussten. Latexhandschuhe zu verwenden blieb ihnen erspart, stattdessen trugen sie welche aus Baumwolle, in denen einem schnell unangenehm warm wurde, aber wenigstens schwamm man nicht in seinem eigenen Schweiß.

Zwei Stunden sollte es dauern bis der stupide Prozess des Sortierens sein Ende fand und gerade dann, als allen schon der Kopf schwamm von Entziffern kleiner und krakeliger Handschriften, sollte es ans Lesen gehen.

Man konnte sich vorstellen, wie sehr Kurogane diese Art der Arbeit zuwider war. Er las selten Bücher und nun war er dazu gezwungen, wieder und wieder dieselben Bekundungen glühender Bewunderung zu lesen. Und das schlimmste war, dass es nie endete. Hatte man einen Brief mit Drohungen oder Beleidigungen in der Hand, galt es, den ganzen vorherigen Stapel noch einmal durchzusehen, um frühere Briefe der Person aufzustöbern. Der Name kam dann auf eine Liste und die Briefe würden später von Profilern überprüft. Syaoron, mit seinem gebrochenen rechten Arm, war dafür zuständig, die Liste in ein Tabellenprogramm einzutippen, während die Anderen lasen.

Syaoran und Kurogane nahmen sich den roten Karton vor; Fye, Sakura und Tomoyo kämpften sich durch die Mehrheit der ’gelben’ Briefe (die vier Kartons füllten, Hallelujah), während die Mokonas mit dem grünen Behälter beschäftigt waren.

Für Fye war die Prozedur einfach merkwürdig. Als Yuui hatte er gern seine Fanpost gelesen; es hatte ihm immer das Gefühl gegeben, seinen Lesern nahe zu sein. Jetzt fühlte er sich abgestumpft dabei. Er war ein schneller Leser, aber weil die Worte ihn nicht mitrissen, war es ermüdend und bald (oder vielleicht auch nicht so bald, die Zeit wurde zäh wie Sirup, daher schwer einzuschätzen) musste er sich strecken – einmal knackte seine Wirbelsäule dabei, wodurch alle zusammenzuckten – und guckte hin und wieder in die Runde. Manchmal wurden Sakura oder Syaoran rot und Tomoyo zeigte ein schmutziges Grinsen, da konnte er sich sicher sein, dass sie einen von den pikanten Briefen erwischt hatten. Die Mokonas kicherten. Aber keine geschockten Gesichter. Keine Morddrohungen. (Gewaltandrohungen oder Beleidigungen schien es schon eine Menge zu geben, denn Syaoron hatte ordentlich zu tun, aber das war eben der übliche Bodensatz der Unzufriedenen. Wenn man seine Werke öffentlich teilen wollte, sah sich plötzlich jeder als Kritiker. Man hatte ihn schon in den Himmel gelobt, so ziemlich jede Krankheit an den Hals gewünscht, die man sich vorstellen konnte; er war im Geiste entweder verführt oder kastriert worden… das Übliche eben.

Er warf dem lila Karton einen sehnsüchtigen Blick zu und nach etwas hin und her überlegen, nahm er sich lieber diese Kiste vor. Fye spürte Kuroganes Blick auf sich ruhen, doch der große Ermittler wies ihn nicht zurecht, was einer Erlaubnis noch am nächsten kam.

„Ich nehme an, Tomoyo kann als Täterin ausgeschlossen werden?“, fragte er schmunzelnd, einen dicken Fanbrief hoch haltend, der denselben Farbton wie die Kiste hatte. Die kleine Tatortfotografin musste lachen. „Herrje, den hatte ich ganz vergessen. Den hatte ich vor einem Monat eingeworfen oder so. Du kannst damit machen, was du willst, Fye-san, ich bin sicher, zur Not können unsere Dienstmädchen mir ein Alibi geben. Von der Videoüberwachung des Anwesens ganz zu schweigen.“

„Wie du meinst.“

Er warf den Umschlag zurück in den Karton und sah sich die Anderen an. Fans, zumindest die, die gerne ein Antwortschreiben hätten, gaben ihre Adresse meist im Brief an anstatt sie auf dem Umschlag zu vermerken, und da diese auch keinen Poststempel besaßen und somit weder einem Datum noch einer Postleitzahl zugeordnet werden konnten, sortierte er sie nach der Handschrift.

Dreizehn Stück, davon fünf die von einer einzelnen Person abgeschickt worden waren. Es gab nur zwei, die dieselbe Handschrift aufwiesen und sage und schreibe sechs Umschläge, die lediglich mit Yuui adressiert waren. In derselben schwungvollen Handschrift, deren Anblick bei dem Blonden ein Kribbeln in der Magengegend auslöste. Er fing mit denen an.
 

Mit einem entnervten Stöhnen und sich die Nasenwurzel massierend verkündete Kurogane eine halbe Stunde später, dass eine Pause fällig war, was von allen mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die jungen Erwachsenen standen auf, streckten ihre Glieder...

„Tomoyo-chan, wo ist denn hier das Bad?“, fragte Fye und Kurogane hätte sich nichts weiter dabei gedacht, wäre ihm nicht zufällig aufgefallen, dass die Finger des Mannes zitterten.

„Den Gang runter, die zweite Tür rechts nach der Küche. Magst du was trinken?“

Er winkte ab. (Was den Ermittler erst recht stutzig machte, da er selbst fast am Verdursten war. Sie hatten alle seit Stunden nichts getrunken.)

„Kurogane, du?“

„Nur Wasser.“

Seine blutroten Augen klebten an dem Älteren, bis der den Raum verlassen hatte. Dann, einer Ahnung folgen, griff er sich den letzten Brief, den Fye in der Hand gehabt hatte. Das Datum über der Anrede ging drei Monate zurück. Hatten sie nicht nur die Post der letzten zwei Monate erhalten? Aber noch rätselhafter als das war der Tonfall des Schreibens selbst.
 

Hey, mein Kätzchen
 

Hab’ dich bei der Buchmesse gesehen. Du unartiges kleines Ding bist immer noch nicht von diesen unanständig engen Hosen los gekommen, was?

Und du hast immer noch diese hinreißende Angewohnheit, mit dem Daumen über deine Unterlippe zu streichen, wenn du über etwas nachdenkst. Du weißt nicht, was das in mir auslöst, oder? Oder kannst du es dir denken?

Du hast mit der kleinen Brünetten aus der ersten Reihe geflirtet aber wir beide wissen, dass das nur Show ist.

Du bist einsam. Du weißt es, ich weiß es. Ich kenne dich besser als irgendjemand sonst. Und du solltest auch einsam sein. Niemand kann dir geben, was ich dir gegeben habe. Ich kenne jeden Zentimeter deines Körpers, jede Kurve, jeden Winkel, ich weiß wie du aussiehst wenn du schläfst. Ich weiß, wie du schnurrst, wenn dich was scharf macht.

Schatz, kein anderer könnte es dir je so besorgen, wie ich es kann. Ich weiß, wie du’s am liebsten hast.
 

J
 

P.S.: In deinem Arbeitszimmer, über den Schreibtisch gebeugt
 

Er musste den Brief zweimal lesen, um zu verstehen, dass die letzte Zeile sich auf den vorletzten Satz bezog und als er langsam zu verstehen begann, was das hieß... Kurogane konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören und ohne zu zögern griff er sich den nächsten Brief. Und den nächsten.

Sechs Briefe, jeweils am achtzehnten des Monats verfasst, alle gespickt mit derselben Mischung aus Schmeicheleien und Obszönitäten.

Kurogane fluchte innerlich. Er wollte das nicht wissen. Scheiße, welches kranke Arschloch schrieb so etwas in einen Brief? Wenn der Kerl wirklich auf diese Weise versucht hatte, Yuui zurück zu gewinnen, dann erklärte es, warum der Autor die Beziehung beendet und diese Briefe nie geöffnet hatte. Und das waren sicherlich nicht die ersten Briefe, die dieser „J“ verschickt hatte. Einiges deutete darauf hin, dass der Kerl Yuui verfolgt hatte. Ein Stalker.

Er hätte ein Triumphgefühl verspüren sollen. Das war eine Spur – und eine heiße noch dazu. Der verschmähte Liebhaber – gab es ein besseres Motiv? Und Fye würde vielleicht den vollen Namen von „J“ liefern können. Er musste den Kerl kennen. Bei dieser Reaktion...

Ah, aber genau das war der Grund, warum sich der Triumph nicht einstellen wollte, nicht? Befangenheit – bis jetzt hatte der Inspector nie Erfahrungen damit machen müssen. Jetzt verstand er, was es bedeutete. Es bedeutete, dass sich einem der Magen zusammenzieht, wenn man mitliest, wie irgendein Widerling beschreibt welch versaute Dinge er mit jemandem anstellen würde. Oder angestellt hatte. Mit jemanden, den man kannte.

Es war, als würde der Typ auf das Bild, das Kurogane sich von Yuui gemacht hatte, spucken. Seinem 14-jährigen Ich wäre schlecht geworden bei solch intimen Details

(erinnerst du dich noch an unseren Ausflug ans Meer? Das Salz auf unserer Haut, an der Innenseite deiner Schenkel, du wolltest nicht, dass ich dich anrühre, weil meine Hände nach Fisch rochen-)

über den lächelnden Fremden zu erfahren, den er gerade erst kennen gelernt hatte. Als Inspector gehörte es zu seiner Arbeit jeden Aspekt von Yuuis Leben zu beleuchten, auch das Sexleben, aber mit der Erinnerung an seine Begegnung mit dem Blonden kamen die Skrupel. In ihm sammelte sich eine Stinkwut auf den Kerl, der es wagte, so über Yuui zu reden.

(-aber am Ende habe ich dich doch bekommen, es war ganz leicht, zwei Flaschen Rotwein und du tust was immer ich will, weil du ein kleines Flittchen bist, mein Schatz, wer würde dich lieben außer mir, wer? Deine Lippen gehören mir, deine Lippen, dein knackiger Arsch, dein Schw-)

Er hätte diesem Schwein gerne eins rein gehauen, nicht nur um seiner selbst und um Yuuis Willen, sondern weil, scheiße, Fye hatte diesen Müll gelesen und wenn es Kurogane schon an die Substanz ging, wie dreckig war Fye dann zumute?
 

~*+*~

Als ein Schwall kaltes Wasser im Gesicht nichts half, hielt er seinen blonden Schopf unter den Wasserhahn und ließ sich den Strahl direkt in den Nacken laufen. Seine Kopfhaut wurde mit dem kalten Nass getränkt und er zwang sich dazu, freier zu atmen, das Gewicht von seiner Brust fortzuschieben.

’Ruhig, ganz ruhig. Das sind nur Worte. Er ist nicht hier, er kann dich nicht anrühren, er kann Fye nichts mehr anhaben, jetzt erst recht nicht. Du bist ihn los. Er wird dich nie wieder belästigen, weil er glaubt, du bist tot und – verdammt, er war mein Bruder. Mein Bruder.’

Es gab nichts Positives an Fyes Tod, nicht einmal das, denn wenn sich jener Person unterzuwerfen bedeutet hätte, dass er Fye wiederhaben könnte, dann hätte er es getan. Vielleicht war er wirklich ein Flittchen.

’Nein. Fye hätte dasselbe für mich getan und wenn ich mich so niedermachen lasse, dann tue ich dasselbe mit ihm. Nein. Nein.’

Wasser rann ihm in die Nase, sodass er zu Husten begann und gleichzeitig traten ihm Tränen in die Augen, mischten sich mit dem Strom, der über sein Haar und seine Ohren rauschte. Er stellte den Hahn ab und hob den Kopf, vorsichtig, so als könne er ihn sich an seiner eigenen Vergangenheit den Schädel anstoßen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte das Bild eines miserabel drein blickenden Typen Mitte Dreißig, der zwar auch jetzt noch aussah wie Ende zwanzig, aber Scheiß drauf, wenn er nur ein bisschen hässlich gewesen wäre, dann wären ihm und Fye all die Strapazen mit jener Person erspart geblieben.

Blieb nur die Frage, wie lange ging das schon so? Wie lange schon sortierte Ashura heimlich die Briefe jener Person aus, damit er – der Autor – sie nicht zu sehen bekam?
 

~*+*~

-ich habe Geduld. Ich werde warten, bis du dich mir wieder zuwendest, denn ich weiß, die Zeit wird kommen. Und bis es so weit ist gehe ich in mich und versuche mich an deinen Duft zu erinnern. Die Erinnerungen an dich sind immer verknüpft mit dem Geruch klammer Laken, warmer Haut und schweißgetränktem Haar. Und angebissener grüner Äpfel. Du isst nur die Grünen. „Es war nur die rote Seite von Schneewittchens Apfel vergiftet“, pflegst du immer zu sagen, wenn man dich drauf anspricht. Und dein Lieblingseisbecher ist dieser schwedische, mit Apfelmus und Eierlikör.

Ich hatte Eierlikör immer am liebsten, wenn ich ihn von deiner Haut lecken konnte. Besonders an jener Stelle, wo du so empfindlich bist. Dieser schmale Streifen Haut, unterhalb deines Nabels und oberhalb des Bereiches, wo dein Schamhaar beginnt.

„Scheiße!“ Sein Brüllen sorgte dafür, dass ihn ein violettes Augenpaar besorgt musterte. Tomoyo war aus der Küche zurückgekommen, mit seinem Glas Wasser in der Hand. „Scheiße, scheiße, scheiße!“, wiederholte er verbohrt und streifte sich die Baumwollhandschuhe ab. Warum tat er sich das überhaupt an? Warum hörte er nicht einfach auf, die Worte dieses Perversen zu lesen? Wie sollte er dem blonden Idioten je wieder in die Augen sehen, nachdem er das gesehen hatte?

’Es ist Yuui, nicht Fye, an den die Briefe adressiert sind,’ ermahnte er sich selbst.

„Probleme?“, fragte Tomoyo. Ohne den üblichen Hauch von Spott, der sonst mitschwang, wenn sie das Offensichtliche aussprach.

„Mit Sicherheit. Aber ich muss noch mehr Details raus bekommen.“ Oh, und er wusste genau, von wem er sie bekommen würde. Und wenn das nichts half, würde er sich diesen Verlegertypen vorknöpfen. Tomoyo schien genau zu wissen, was in dem Hirn ihres Bruders vorging.

„Sei nett.“

„Ich hatte nicht vor, es aus ihm raus zu prügeln.“

„Du weißt, was ich meine. Das Opfer eines Mordes sind nicht nur die Verstorbenen, O-nii-san. Sei nachsichtig.“

Kurogane stürmte aus dem Raum, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Wie ein bockiges Kind. Das war gut. Wenn er bockig war, dann hieß das, dass er auf ihre Worte hören würde, auch wenn er zu stolz war, das zuzugeben.

Das Badezimmer lag in der Mitte eines Ganges, der in eine Sackgasse führte, wie so viele Gänge in diesem elenden Haus. Die Labyrinthartige Struktur war Teil des Sicherheitssystems, vermutete Kurogane. Und zum ersten Mal spielte ihm diese Tatsache in die Hände, denn so konnte Blondie nirgends hin flüchten.

Fye wäre fast in ihn hinein gelaufen.

„Nanu? Kuro-tan, bist du hier, zum mich abzuholen? Keine Sorge, diesmal habe ich drauf geachtet, dass ich die richtige Tür erwische.“ Der Zwilling zeigte ein Grinsen, dass so echt war wie Katzengold. Kurogane war im Moment weder nach Scherzen zumute, noch würde er sich provozieren lassen.

„Ich will wissen, woher die Briefe stammen“, sagte er ohne Umschweife.

Das Lächeln hielt stand. Fye winkte ab. „Ich glaube, nicht, dass das irgendwas mit dem Fall zu tun hat.“ Der schlanke Mann wollte sich gerade an seinem Gegenüber vorbei drängen, als ein muskulöser Arm ihm den Weg versperrte. Kurogane lehnte sich näher, sodass es unmöglich war, dem glühenden Blick seiner Augen zu entkommen. Fye konnte ihn durch die Nase atmen hören, aber es war kein Wutschnauben. Nun ja. Noch nicht.

„Es ist mir scheißegal, was du glaubst. Entweder du sagst ihn mir gleich, oder ich frage dich noch mal, wenn die Kinder dabei sind. Du hast die Wahl. Sie sind von jemandem, der ihm nahegestanden hat, nicht?“ Eine logische Schlussfolgerung, bei all den intimen Details. Details, die dafür sorgten, dass sich Kuroganes Magen zusammenzogen und ihm die Trockenheit seiner Zunge noch mehr bewusst machten, und die es ihm schwer machten, Yuuis Namen auszusprechen.

Einen Moment lang wirkte der kleinere Mann wie in einem Tagtraum gefangen. Oder vielleicht verzettelte er sich gerade in Überlegungen, wer konnte schon ahnen, was in dem wirren Hirn vor sich ging? Als er dann sprach, starrte er auf Kuroganes Nacken. „Jason Shioiri. Aber ich wusste nichts von den Briefen.“

„Schon klar.“ Kein Sarkasmus.

„Nein, Kuro-chan, du verstehst nicht!“, rief Fye empört aus und fuhr fort, als Kurogane grade zu einem Wie hast du mich gerade genannt? ansetzen wollte. „Ich wusste es nicht und Yuui wusste es nicht. Er hat diese Briefe nie zu Gesicht bekommen, weder die hier, noch all die anderen, die dieser Mann vorher geschickt hat.“

„Oder er hat es dir einfach nicht gesagt.“

„Ich hätte es ihm angesehen. Diese Per..., Jason war ein heikles Thema. Für uns beide.“ Fye hob das Kinn, sodass sein Blick Kuroganes traf. Trotzig und stolz. Der Inspector empfand fast so etwas wie Bewunderung in diesem Moment. So also sah es aus, wenn Fye kämpfte. Wenn er etwas verteidigte. „Und wann hast du zum letzten Mal was von dem Kerl gehört?“

„Vor vierzehn Jahren.“

Vierzehn... Jahre? Und der Kerl ließ immer noch nicht ab? Vierzehn Jahre und trotzdem reichte der Name dieser Person aus, damit Fye seine Schilde ausfuhr. Und was für ein merkwürdiger Zufall war das, dass Kurogane sich an diesem Morgen an seine Begegnung mit Yuui erinnert hatte, vor allem, da sie ungefähr zur selben Zeit-

Er war nicht die Art Mensch, der in der Vergangenheit verweilte, aber weil es so aussah, als würden sich die Ermittlungen viel länger in Yuuis Vergangenheit ausdehnen als er erwartet hatte, konnte er nicht anders.

„Kuro-puu?“

Der Angesprochene blinzelte. Das Brennen in seinen Augen sagte ihm, dass es auch Zeit dafür wurde. „Hn?“

„Das ist... alles? Mehr willst du nicht wissen?“ Er klang wie jemand, der Schelte erwartete und Kurogane fragte sich, wohl zum ersten Mal, ob er nicht zu viel von Fye forderte. Was lächerlich war, immerhin hatte der Idiot sich selbst den Ermittlungen aufgedrängt. Er zog den Arm zurück, der Fyes Weg versperrte und seine Hand fand plötzlich ihren Weg zu den blonden Strähnen seines Gegenübers. Er hatte das starke Bedürfnis, dem Kleineren zu versichern, dass alles gut werden würde. Aber das würde es nie werden. Yuuis Tod riss ein Loch in das Gefüge von Fyes Leben, von allen Personen, die mit ihm Kontakt hatten. Kurogane fühlte es auch. Wie ein blinder Fleck in seinem Sichtfeld. Er ergriff eine der Strähnen zwischen Daumen und Mittelfinger. Nicht wirklich feucht, aber sie war nass gewesen. Handtuchtrocken war der Begriff dafür, wenn er sich recht entsann.

Kurogane ließ wieder los. „Ich bin Ermittler, kein Journalist. Ich werde nicht für’s Fragen stellen bezahlt und ich habe andere Mittel um an Informationen zu kommen.“

Verlässlichere Quellen. Keiner sprach es aus, aber beiden Männern war es bewusst.

„Fye-san, O-nii-san!“ Tomoyos glockenhelle Stimme hallte durch den Gang als sie auf die beiden Männer zueilte – zu ausgelassen, um die intime Atmosphäre zu bemerken. “Wir wollen eine Runde Ich hab noch nie spielen!“
 

~*+*~

Diese Augen Oh Gott, diese Augen.

Sieh mich nicht an!, wollte er schreien, nicht so, nicht auf diese Weise! Die Entschlossenheit. Er wusste, er sollte ihn fürchten, den Blick dieser Augen, der durch ihn hindurch zu strahlen schien und ihm sagte, dass er sich in Acht nehmen müsste, weil Kurogane es sehen konnte. Die Schleier und Manöver, die er verwendete um seine Geheimnisse zu verbergen. Aber Fye fürchtete sich nicht, oder er fürchtete sich nicht nur. Tatsächlich erlaubte ein Teil von ihm, sich der Vorstellung hinzugeben, dass dieser Blick Kuroganes Versprechen war, nicht eher zu ruhen, bis er jede Maskerade herunter gerissen hatte und Fye seelisch nackt vor ihm stand, seine Seele ungeschützt und verwundbar. Jetzt, wo alles in ihm nach Trost gierte, war die Versuchung besonders groß, einfach alles aufzugeben und sich dem kleinen Jungen anzuvertrauen, dem er einst begegnet war und der sich zu so einem prächtigen Mann entwickelt hatte. Aber das war selbstsüchtig. Und viel zu einfach. Er musste die Angelegenheit selbst erledigen, für seinen Bruder. Für Fye.

Es gab eine Grenze.

Ein wenig zu flirten und zu necken war okay, wenn es Kuro-chan davon abhielt, zu tief zu stöbern, aber... er durfte den Mann nicht zu nah an sich ranlassen. Sein Blick war gefährlicher als seine Fäuste. Und Fye hätte es auch gar nicht verdient, wo sein Leben doch nichts anderes war als eine nützliche Lüge und er wollte es nicht drauf anlegen, dass Leute verletzt wurden, wenn es beendet war.

„Fye-san, hast du das Spiel schon mal gespielt?“, fragte Tomoyo und riss den Blonden jäh aus seinen Träumereien. Was... oh, richtig. Das Spiel. Der Grund, warum sie jetzt alle erneut im Kreis auf dem Wohnzimmer saßen, mit Schnapsgläsern vor der Nase, trotz Kuroganes heftigen Beschwerden, dass sie noch im Dienst waren. Anscheinend konnte die Überprüfungen der restlichen Briefe bis morgen warten.

„Oh, ähm, nein. Aber ich lerne schnell.“

Nun, wie sich herausstellte, gab es da nicht viel zu lernen. Anscheinend waren die Gläser und viele Flaschen Alkohol (Tomoyo hatte sich für goldenen Tequila entschieden) das Einzige, was man dazu brauchte. Ansonsten gab es nur zu klären, ob man reih herum oder mit Flaschendrehen spielen wollte. Aber sie einigten sich darauf, der Reihe nach zu gehen. „Am besten lässt es sich erklären, indem man es einfach spielt. Das Ziel ist es dabei, seine Freunde so betrunken wie möglich zu machen und ihnen peinliche Details zu entlocken. Soweit alles klar? Gut. Also, ich hab noch nie Ich hab noch nie gespielt.“

Und alle leerten sie ihre Shots. Das hieß, bis auf Fye, der davon abgehalten wurde.

„Also, die Sache ist die“, erklärte Sakura, „dass nur die trinken müssen, die die bestimmte Sache schon mal gemacht haben.“

Es wurde nachgeschenkt und Sakura verkündete, dass sie noch nie jemandem mutwillig wehgetan hatte, was Kurogane ein Grummeln entlockte. Oft war er derjenige, der am Ende der Runde die meisten Drinks intus hatte (schon allein weil Tomoyo eine diebische Freude daran hatte, ihre Fragen so zu stellen, dass ihm keine andere Wahl blieb), aber das war wohl nur fair, denn er vertrug mit Abstand das meiste.

„Nur körperlich oder auch emotional?“, hakte Syaoron nach.

„Beides.“

Und der Brünette zog nach.

Dann war auch schon Fye an der Reihe, der sich erst mal an etwas Harmlosem probierte. „Ich hab’ noch nie ein Haustier gehabt“, meinte er und Sakura und Tomoyo hoben die Gläser.

„Ich hab’ noch nie auf einer Hochzeit getanzt“, meinte daraufhin Kurogane, was dafür sorgte, dass alle bis auf ihn und Fye trinken mussten. Was ihm ein verschämtes: „Gehst du nicht gern auf Hochzeiten oder tanzt du nicht gern?“

Kurogane würde dem Blödmann gern an den Kopf werfen, dass ihn das einen Scheißdreck angehe, aber das Spiel folgte den Regeln von Wahrheit oder Pflicht, nur ohne Pflicht und ohnehin, wenn er nicht mitspielte würde Tomoyo irgendeinen Weg finden, ihn dafür bezahlen zu lassen. Und das Mädchen hatte eine kranke Phantasie. Außerdem konnte er genauso gut das Spiel zu seinem Vorteil nutzen, nicht?

Also zuckte der Schwarzhaarige mit den Schultern. „Ich war einfach nicht eingeladen.“

„Es war die Hochzeit von meinem Bruder Touya“, ergänzte Sakura und Syaoron fügte hinzu: „Und er hat jedes Mal, wenn Sakura und mein Bruder getanzt haben, versucht, Syaoran mit Blicken zu ermorden. War eigentlich ziemlich witzig anzuschauen.“

„Für dich vielleicht“, protestierte Syaoran. „Ich hab’ übrigens noch nie auf dem Tokyo Tower gestanden.“ Tomoyo und Kurogane schon.

„Ich hab’ noch nie bei einem Freund auf den Teppich gekotzt“, legte Syaoron nach, einzig und allein um seinen Bruder zu ärgern. Der wirklich der Einzige in der Runde war, dem so etwas schon mal passiert war, weil er einfach nichts vertrug.

Da die Mokonas nicht mitspielen durften, war die Reihe wieder rum und Tomoyo legte auch gleich das Niveau etwas tiefer, da sie verkündete, sie hätte noch nie einem Lehrer mit versautem Namen gehabt, was Fye dazu brachte, lauthals zu Lachen (Kurogane fand das Geräusch irgendwie irritierend, so plötzlich wie es auftauchte). Der Blonde kippte seinen Shot hinter und erzählte dann die Geschichte von seinem ehemaligen Sportlehrer, Richard „The Dick“ Cock.

Mit einem schelmischen Schmunzeln brachte Sakura dann all jene zum Trinken, die schon mal ein Mädchen geküsst hatten. Also alle außer sie selbst, was Kurogane dazu bewog, Fye misstrauisch zu beäugen. „Mistelzweig oder was?“

„Es ehrt mich, dass du glaubst, dich hätte mich von vornherein auf Männer festgelegt. Ehrlich gesagt, dass du dir überhaupt darüber Gedanken machst... muss ich jetzt etwa rot werden?“

„Ach, halt die Klappe, Idiot.“

Fye hob die Hand, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen und verkündete: „Und dieser Idiot hat noch nie einen Jungen geküsst!“ Es war witzig, wie viel besser sein Tequila schmeckte, wenn man andere Leute damit in Verlegenheit bringen konnte. Ein schon fast heimtückisches Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen, als er sah, dass Syaoron nicht trank und er gleichzeitig wohl als Einziger wusste, dass der Junge damit log. Dadurch entging ihm allerdings, wie Kuroganes Hand kurz zu seinem Glas schnellte, bevor der Schwarzhaarige es sich anders überlegte. Der Inspector beäugte das Glas und seinen bernsteinfarbenen Inhalt mit einem Argwohn, den man sich sonst für seinen größten Feind aufhob. Dann sagte er: „Ich war noch nie auf einer Beerdigung.“

Kurogane beobachtete seinen blonden Nebenmann dabei genau und (während er selbst den Alkohol seine Kehle herunter rinnen ließ) konnte beobachten, wie Fyes Grinsen versteinerte und sich die Mundwinkel senkten.

Tomoyos empörtes „Kurogane!“ ließ sich übersetzen als Das war ein Schlag unter die Gürtellinie und obendrein völlig unangebracht, aber er scherte sich kein bisschen darum. Fye schenkte nach, rührte aber sein Glas nicht an. Und dann war er wieder da, der Trotz, als er erklärte: „Unsere Eltern-, meine Eltern sind bei einer Explosion umgekommen. Und wenn man mich und meinen Bruder nicht gleich in ein Waisenhaus verfrachtet hätte, hätten wir vielleicht sogar die Gelegenheit gehabt, uns zu verabschieden. Aber ich bin sicher, das hast du bereits rausgefunden.“

„Ehrlich gesagt, noch nicht.“

„Ts. Ziemlich lausig für’nen Inspector findest du nicht? Vielleicht sollte ich lieber einen Privatdetektiv einschalten.“

Sie erreichten langsam die Phase, in welcher der Alkohol zu wirken begann. Nach der nächsten Runde nickte Sakura ein und sackte gegen Tomoyo, sodass man das Spiel unterbrechen musste, bis Syaoran sie zu Bett gebracht hatte. Syaoron, etwas grün im Gesicht, entschuldigte sich und entfernte sich aus der Runde. Als nach zehn Minuten keiner der Li-Zwillinge wieder kam, erklärte man sie offiziell für verloren und musste ohne sie weiter machen. Tomoyo schickte die Mokonas aus, um nach ihnen zu suchen und ganz plötzlich waren sie nur noch zu dritt und mussten zusammen rücken.

„Wann ist das Spiel eigentlich zu Ende?“, hakte Fye nach.

„Wenn nur noch einer steht.“, erklärte Tomoyo. „Metaphysisch, nein, ’tschuldigung, metaphorisch gesehen. Wir sitzen ja alle.“

Augenrollend fügte Kurogane hinzu: „Und kämpfen bis zum letzten Mann.“

„Da wir gerade bei Männern sind, ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen.“

„Oh wie löblich, Tomoyo“, sagte Fye. Was sich sowohl auf den Umstand ihrer Jungfräulichkeit als auch das Stellen der Frage selbst beziehen konnte.

Kurogane schnaubte amüsiert, als der Blonde das Glas an die Lippen führte. „Natürlich hat sie nicht, sie ist ’ne Lesbe.“

„Umso löblicher. Da will ich die Geste doch gleich mal erwidern und sage, ich hab’ noch nie mit einer Frau geschlafen. Wirklich nicht.“

Tomoyo bekam einen so heftigen Kicheranfall, dass sie sich die Hände vor den Mund schlug. Ihr Bruder erwog genau in dem Moment, sich aufzumachen und davonzustehlen, denn vielleicht fiele dann keinem auf-

„Oh, Fye-san, du hast ja keine Ahnung, wie gerne Kurogane jetzt trinken würde, aber er darf nicht, weil es eine Lüge wäre und Lügen werden in diesem Haushalt nicht toleriert.“ Tomoyo nickte bedeutend. Und Fye brauchte keine zwei Minuten, um sich zusammen zu reimen, was das bedeutete.

Kuroganes Kiefer mahlen, als der Schwarzhaarige erst seine Schwester und dann Fye mordlüstern anblickte. „Sag jetzt nichts. Ich warne dich.“

„Hatte ich nicht vor.“ Aber der Blonde lachte. Auch wenn kein Laut von seinen Lippen drang, konnte Kurogane es sehen, wie das Amüsement hinter den leuchtend blauen Augen tanzte. Der Arsch.
 

In jenem Flügel des Hauses gab es nur ein Gästezimmer und da sie alle zu müde oder zu betrunken waren um zu der späten Stunde noch nach Haus zu fahren, wurden die Zwillinge im Gästezimmer untergebracht, während Sakura mit in Tomoyos Bett schlafen durfte. Was Kurogane betraf, so fand er sein altes Kinderzimmer noch genau so vor, wie er es vor mehr als zehn Jahren verlassen hatte. Er verspürte sogar fast so etwas wie Rührung, wäre da nicht die Aussicht gewesen, sich mit Fye arrangieren zu müssen. Tomoyo brachte ihnen ein paar Decken, damit einer von ihnen auf dem Fußboden schlafen konnte und wünschte ihnen gute Nacht.

Fye machte sich ein Lager vor dem Fußende des Bettes zurecht, ohne dass er dazu aufgefordert wurde.

Sie sprachen nicht miteinander. Nicht einmal, als sie sich zur Ruhe legten.

Kurogane wachte gegen drei Uhr morgens wieder auf, ganz entgegen seinem üblichen Schlafmuster. Jemand weinte leise. Fye weinte leise. Und das irritierte Kurogane mehr, als er es zugeben wollte. Bei all dem Ärger, den der Blonde ihnen gemacht hat, als er die Presse eingeschaltet hatte und darauf bestanden hatte, an dem Ermittlungen mitzuwirken. So manipulativ, wie er sich gezeigt hatte – ob das wohl jede Nacht so ging, musste sich der Japaner unweigerlich fragen, war das etwa der Grund für die Augenringe? Saß er etwa jede Nacht wach und weinte sich die Augen aus dem Kopf um die Fassung wieder zu gewinnen, die er für den nächsten Tag brauchte?

Plötzlich kam Kurogane sich vor wie der letzte Trottel. Wenn er nicht so ein ungehobelter Klotz wäre... wenn er besser darin wäre, Angehörige zu trösten, dann würde Fye vielleicht nicht heimlich heulen müssen. Hm.

Er drehte sich vorsichtig herum, um eine bessere Schlafposition zu finden, aber die Bettfeder knarrte. Das Schluchzen hörte sofort auf.

Fye saß auf dem Fensterbrett, sein Profil halb beleuchtet vom Mondlicht. Sein Gesicht lag im Schatten und sein Haar umrahmte es wie eine silberne Korona. Der Blonde sah in an, bemerkte Kurogane. Es war wohl etwas zu spät, um sich schlafend zu stellen.

„Hey“, flüsterte er; und weil ihm nichts Besseres einfiel: „Komm ins Bett. Du kriegst eiskalte Füße.“ Seine Mutter hatte das immer gesagt. Du kriegst kalte Füße, mein Junge, du wirst krank. Komisch, dass ihm das gerade jetzt einfiel.

„Bist du sicher...“ sagte Fye. Zögernd. Was gab es denn da zu zögern? Mal abgesehen davon, dass- oh. Abgesehen davon, dass Kurogane dem Älteren grade irgendwie die andere Seite des Bettes angeboten hatte. Mit einem unwirschen Grummeln rückte er ein Stück zur Seite, um Platz zu machen. War jetzt ohnehin egal.

Das Bettzeug raschelte und die Matratze senkte sich ein Stück unter dem zusätzlichen Gewicht. Und da waren sie nun, nebeneinander, nur durch wenige Zentimeter Stoff und Luft getrennt. Es war etwas unangenehm, diese plötzliche Nähe. Oder war es die offensichtliche Distanz?

„Dein Bruder war sicher ein toller Mensch“, murmelte Kurogane in die Stille hinein.

„Der Beste. Du hättest ihn gemocht.“

Ich hätte ihn gern besser gekannt. „Ich werd’ das Schwein kriegen. Vertrau mir.“

Seine Hand legte sich wie zufällig auf die Bettdecke in der neutralen Zone zwischen ihnen, mit der Handfläche nach oben. Fyes kleinere schlich sich schon bald dazu. Seine Fingerspitzen waren kühl und sehr weich als sie schon fast schüchtern über die Textur von Kuroganes schwieligen Fingergliedern strichen. Trotz all der Unterschiede ließen sie sich leicht ineinander verschränken.

Ein Versprechen war besiegelt worden.

„Aber nur dass wir uns verstehen; wenn du irgendwem hiervon erzählst...“

„...gibt es ein weiteres Mordopfer?“

„Hn. So in etwa.“

„Ich hatte heute viel Spaß. Mehr, als ich haben sollte. Trotz-“

„Niemand kann dir verbieten, Spaß zu haben, Dummie. Gerade wegen dem, was passiert ist.“

„...“

„...“

„Kuro-rin?“

„Was denn noch?“

„Danke.“

--

Dieses Kapitel habt ihr X-Breakgirl von ff.de zu verdanken. Weil sie mich dran erinnert hat, wie ich die Story vernachlässigt habe. Was verständlich ist, immerhin versuche ich grad, ein Buch zu schreiben und einen Job zu finden. Ich freue mich übrigens über jede moralische Unterstützung. Und auch wenn es nichts hiermit zu tun hat, mir aber ein großes Anliegen ist: Macht einen großen Bogen um den Roman „Fifty Shades of Grey“ von E.L. James (nicht zu verwechseln mit „Shades of Grey“ von Jasper Fforde, was wie alles von Mr. Fforde einfach bezaubernd ist). Er ist einfach schlecht. Langweilig, nur unfreiwillig komisch und echt gruselig. Eigentlich ist es nur eine Aneinanderreihung schlecht geschriebener Sex-Szenen ohne Handlung. Angeblich soll dieser Roman eine neue sexuelle Revolution ausgelöst haben, aber na ja. Was sagt das über uns Frauen aus, wenn wir dazu einen schlechten Roman brauchen? Wer nach Literaturtipps sucht – ich bin auf Goodreads zu finden. (Als Nutzerin, nicht als Autorin. Daran arbeite ich noch. ^^)
 

Vorschau:

[…]„Du wirst mich doch nicht enttäuschen, nicht wahr?“, flüsterte Fye und dann passierte das, womit Kurogane eigentlich hätte rechnen müssen, weil die de Flourites Franzosen waren und Franzosen – […]

Sonntag Morgen

Anm: Fyes Klingelton ist „Pumpkin Soup“ von Kate Nash. Eine meiner Freundinnen nennt den Song auch liebevoll: „Scheiße, was ist das, mach das AUS!“ weil es nicht lustig ist nach einer durchzechten Nacht von den ersten Takten geweckt zu werden. ^^
 

The sun had painted patterns on your face

As you breathed Sunday air

You rolled onto my open arm

I became your pillow; you let me smooth your hair

Ingrid Michaelson, “Morning Lullabies”
 

Seine innere Uhr weckte ihn sieben Uhr morgens, als die Sonne ihm schon unerträglich warm in den Nacken schien. An einem Sonntag, wo doch kein normaler Mensch an einem Sonntag um sieben Uhr aufstehen würde.

Und auch sein Körper schien nicht ganz auf den normalen Betrieb eingestellt zu sein; da war ein Druckgefühl in seinem Schädel und er konnte seinen linken Arm nicht spüren. Er drehte den Kopf ein wenig, um eine Erklärung für die Taubheit zu finden und seine Nase stieß fast gegen eine fremde Stirn. Ach ja, richtig. Die vorige Nacht. Alkohol, peinliche Enthüllungen und Fye, der am Fenster gesessen und geweint hatte. Dessen Hand er gehalten hatte, bis er einschlief und der sich irgendwann in der Nacht auf den Bauch gedreht haben musste. Und jetzt schnarchte er leise vor sich hin und quetschte mit seinem Gewicht die Blutzufuhr von Kuroganes Arm ab.

Bei dem Versuch, durch vorsichtiges hervor ziehen das Körperteil zu bergen, zuckte der Blonde zusammen, in seinem Schlummer gestört, und gab dabei ein fast unanständiges Stöhnen von sich.

’Oh bitte, du willst mich doch verarschen!’

Okay. Anscheinend war es unmöglich, seinen Arm zu retten und Fye schlafen zu lassen. Und obwohl es selten war, dass der Ältere so ausgeruht und friedlich wirkte, hätte Kurogane ihn geweckt, wenn da nicht ein kleines Problem gewesen wäre. Problem war vielleicht das falsche Wort. Es war absolut natürlich, früh am morgen aufzuwachen und festzustellen, dass ein gewisser Teil des Körpers noch durchblutet war und daher prächtig aufrecht stand. Aber er würde den Teufel tun und Fye wecken, so lange er noch mit seiner morgendlichen Erektion zu kämpfen hatte; dem Idioten fiel dazu nur wieder eine seiner ach-so-geistreichen Kommentare ein.

Also musste Kurogane die Sache hinnehmen wie ein Mann und ausharren, wobei die Wärme des morgendlichen Betts das Abschwellen nur unnötig verzögerte. Er schloss die Augen und stellte sich schlafend.

Und irgendwann, nachdem eine undefinierbare Zeit vergangen war und seine Lenden wieder in einem normalen, absolut anständigen Zustand waren, wurde die friedliche Stille des Morgens gestört.

Fyes Handy klingelte irgendwo im Raum und schlagartig fuhr Leben in den blassen, schlanken Körper. Der Mann schreckte aus dem Schlaf, und fiel halb, eilte halb aus dem Bett. Was folgte war das Geräusch emsigen Raschelns, als Fye Hose oder Jacke durchsuchte, während dass Telefon weiter plärrte („I just want your kiss boy... kiss boy....“). Und Kurogane biss sich auf die Lippen um einen Aufschrei zu unterdrücken, denn als die Zirkulation wieder einsetzte, hatte er das Gefühl, jemand habe ein Feuerwerk in seinem Arm entzündet.

(“I just want youuur-“)

Oh Gott sei dank, er hatte das Teil gefunden.

„Ja?“, flüsterte Fye.

Das Tapsen nackter Fußsohlen auf dem Teppich und das Knarren der Fenster. Gefolgt von einem frischen Stoß warmer Luft, als das Fenster geöffnet wurde. Kurogane vermutete, dass Blondie sich wieder auf den Fenstersims zurück gezogen hatte.

„Mamoru-san? – Wie? Oh. OH. Nein, ich... Es tut mir Leid, das zu hören. Wann genau...? – Oh.“

Nur eine Seite des Telefonats mit anzuhören, war frustrierend, vor allem, wenn der Telefonierende flüsterte. Warum ging er nicht einfach raus?

„Ich nehme an, Sie haben über die Medien von Yuui’s Tod erfahren.“

Und das war der Moment, an dem Kurogane hellhörig wurde.

„... Ich verstehe. Aber, hören Sie Minoru-san, ich denke nicht, dass es erforderlich ist- ich meine, es würde doch das ganze Programm bedeuten, nicht wahr? – Okay, aber ich weiß nicht, ob das nötig ist. Ich, ehrlich gesagt, ich will hier nicht weg. Und der Inspector, der für den Fall zuständig ist, scheint ein ziemlich fähiger Kerl zu sein. Also, sofern sich nicht herausstellt, dass das was mit jener Sache zu tun hat, will ich nicht, dass Sie was unternehmen. Geht das? Haben Sie nicht irgendwelche Suchmaschinen, die das überprüfen? Irgendwelche Filter, die nach bestimmten Keywords suchen, oder so?“

Was sollte ihn mehr irritieren, dass Fye ihn für fähig hielt oder dass sie in eine Art Spionage-Film hinein geraten waren? Denn so klang es. Als wäre Fye irgendein Undercover-Agent in streng geheimer Mission. Lächerlich.

„Danke, Minoru-san. Danke. – Ja, natürlich. Sie hören von mir.“ Er ließ ein kleines, nervöses Lachen hören. Und legte auf. Kurogane konnte einen leisen Seufzer hören und wie Fye murmelte: „Was für ein Schlamassel.“ Er hörte, wie der Mann, der noch mehr Geheimnisse zu pflegen schien, als ursprünglich angenommen, wieder auf die Matratze zurück krabbelte. Wer zum Henker war dieser Minoru-san? Kurogane fragte sich, ob Fye selbst eine Ahnung hatte in was für ein Netz er sich eigentlich verstrickt hatte, denn er hatte immer mehr das Gefühl, als würde der Blonde alle Leute um sich herum auf einer Armeslänge Abstand halten. Und dann fragte er sich gar nichts mehr, als ein paar überaus geschickte Finger die empfindliche Stelle hinter seinem Ohr zu kraulen begannen, als wäre er irgendein Hund. Was zum...

Fye schien genau zu wissen, wie viel Druck er aufwenden musste, um ein angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut zu hinterlassen, dort wo er sie berührt hatte. Und sein Gesicht musste nah genug sein, dass sein Atem Kuroganes Ohr streifte.

„Du wirst mich doch nicht enttäuschen, nicht wahr?“, flüsterte Fye und dann passierte das, womit Kurogane eigentlich hätte rechnen müssen, weil die de Fluorites Franzosen waren und Franzosen –

Fye gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schlich sich dann aus dem Zimmer.

Franzosen – mit ihrer unbeschwerten Art mit Menschen umzugehen. Herumzulaufen und zu flirten, obwohl sie es nicht meinten und sich mit einem anfreundeten, ob man wollte oder nicht. Es war in Frankreich Sitte, jemandem zum Abschied auf beide Wangen zu küssen. Jemandem, den man als Freund betrachtete. Yuui hatte das ebenfalls getan, entsann er sich, damals. Und so kehrte ein weiterer Teil von Kuroganes Erinnerung zurück. Yuui hatte ihn vor einem Sturz bewahrt. Yuui hatte ihm seine Freundschaft aufgedrängt und ihm dann ein Eis gekauft. Und danach-
 

Nachdem das Eis verzehrt ist und Kurogane anfängt zu schmollen, da sein neuer Freu-, Bekannter es gewagt hat, ihn mit Kuro-chan anzusprechen, haben sich beide rücklings ins Gras gelegt und einfach nur das beleuchtete Blätterdach angestarrt. Das gemeinsame Schweigen fühlt sich mehr nach Kameradschaft an als das irritierende Gespräch zuvor, auch wenn der Junge diese Art der Zeitverschwendung nicht gut heißen kann. Er befindet sich im Wachstum und dieselbe Energie, die seine Knochen und Muskeln streckt, brennt in ihm wie eine unauslöschbare Fackel, ist die Quelle seiner Rastlosigkeit. Um etwas zu tun zu haben, verzwirbelten seine Finger die Grashalme unter ihm bis seine Fingerkuppen grün von Chlorophyll sind. Er lauscht Yuuis Atem: sanfte, gleichmäßige Züge, die, obwohl der Mann ihm gar nicht so nah ist, laut und deutlich an Kuroganes Ohr dringen.

Das Geräusch hat etwas Beruhigendes an sich. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, als er Yuui völlig zusammenhanglos Worte vor sich hin murmeln hört, deren Bedeutung er nicht versteht, aber sie hören sich irgendwie wichtig an. Aufgebläht. Und einsam. Abrupt setzt Kurogane sich auf und sein Bekannter tut es ihm gleich.

„Was war denn das?“, fragt der kleine schwarzhaarige Junge den Mann, der neben ihn im Gras sitzt. Eine milde Brise erfasst sie beide, spielt mit den blonden Strähnen des Älteren, sodass es schwer ist, seine Gesichtszüge klar zu erkennen.

„Ein Gedicht von T. S. Eliot. 'The Waste Land'.“

„Und warum zitierst du mitten am Tag ein Gedicht ohne ersichtlichen Grund?“, fragt der Junge ein wenig unwirsch. Er versteht das Verhalten seiner neuen Bekanntschaft nicht, und er mag es nicht, etwas nicht zu verstehen. Aber er ist noch jung und will alles in Erfahrung bringen, dass er nicht versteht.

„Wer sagt, dass es keinen Grund gibt?“, fragt der Blonde und blickt den Jungen an. Er lächelt, friedlich und warmherzig. Kurogane fühlt ein kurzes Ziehen in der Brust, wie einen kleinen Krampf, aber das Gefühlt verschwindet so schnell wie es gekommen ist und macht einem Kribbeln Platz. Das Kribbeln breitet sich in seinem ganzen jugendlichen Körper aus und setzt sich unter seiner Haut fest. Kurogane wird rot und blickt zur Seite.

Sein Herz schlägt schneller.

„Wie ist das eigentlich so?“, fragt er schließlich, nachdem sich sein Puls normalisiert hat und nur noch die Wangen mit einem zarten Pink überzogen sind.

„Wie ist was, Kuro-chan?“

Er runzelt die Nase über den Spitznamen, sagt aber nichts weiter dazu. „Mit einem anderen Mann zusammen zu sein.“

„Hm…“, macht Yuui und Kurogane widersteht dem Drang, den Kopf zu neigen um besser erkennen zu können, was die Frage wohl in dem Blonden ausgelöst haben mag. Der Junge weiß, dass er wahrscheinlich kein Recht hat zu fragen, aber er schafft es nicht, sich deswegen schuldig zu fühlen. Er ist nur neugierig.

„Weißt du, das ist eine exzellente Frage, über die ich mir auch schon oft Gedanken gemacht habe, nur in einem anderen Kontext – aber darauf gibt es wohl keine richtige Antwort. Ich meine, dazu müsste ich wissen, wie es ist mit einem Mädchen zusammen zu sein. Ohne sich auf die üblichen Vorurteile zu stützen. Ich bin ja eher der Meinung, dass es keinen Unterschied macht ob eine Beziehung aus zwei Menschen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts besteht, weil ohnehin jeder Mensch einen anderen Charakter besitzt. Es gibt Mädchen, denen sagt man nach, dass sie sich wie Jungs benehmen und Jungs, die sich angeblich wie Mädchen benehmen. Wobei… Mädchen reden lieber über ihre Beziehungen. Das ist der einzige Unterschied, den ich feststellen kann.“

„Mein Dad sagt immer, dass wenn man über eine Beziehung reden muss, etwas damit nicht stimmt.“

„Und was denkst du?“

Jetzt neigt Kurogane doch den Kopf und bemerkt, dass diese großen blauen Augen (Gott, es sollte verboten sein, als Mann so große Augen zu besitzen) ihn direkt mustern. In dem zarten Gesicht ist kein Fältchen zu sehen, weder auf der Stirn noch um die Mundwinkel. In dem Moment wirkt Yuui viel jünger, so als wären sie gleich alt. In dem Moment kann Kurogane nicht mal raten, was in dem Anderen vorgeht, aber er weiß, dass man sich nicht über ihn lustig macht. Yuui will ernsthaft seine Meinung hören. Das ist etwas, das der Junge noch bei keinem Erwachsenen erlebt hat.

„Ich… äh… keine Ahnung. Ich meine, wenn tatsächlich etwas nicht stimmt, dann muss sich was ändern, oder? Und… und wenn beide sich tot schweigen, dann ändert sich nichts.“

Hat er etwas Falsches gesagt? Yuui… sieht aus, als hätte man ihn an etwas Unangenehmes erinnert. Kurogane glaubt nicht, dass er schuld daran ist, aber es gefällt ihm auch nicht, dass die ersten seiner Worte, die man ernst nimmt, so eine Wirkung haben.

„Nur… was ist, wenn man von vornherein weiß, dass der Andere nicht zuhören wird? Dass darüber zu reden ohnehin nichts bringt?“

„Hä?“

„Ach, nichts.“

Das ist der Moment, in dem Kurogane lernt, dass die Worte Ach nichts alles andere bedeuten als dass es nichts gibt, das einem auf der Seele liegt. „Es ist sowieso viel besser, auf sich allein gestellt zu sein,“ sagt er dann, in einer kindischen Trotzreaktion weil Yuui ihn angelogen hat und zwar auf eine leicht zu durchschauende Weise.

„Sag doch so was nicht!“

„Warum nicht? Ist doch wahr!“ Er springt auf die Füße; Gras wird unter seinen Turnschuhen zerquetscht. Die Plastiksohle färbt sich grünlich wie seine Ellbogen und Waden. „Wenn man auf sich allein gestellt ist, dann muss man auch niemanden anlügen, nur weil man glaubt ihn so zu beschützen und wenn man niemanden anlügt, auch sich nicht, dann gibt es auch keine Probleme.“

Jeder Mensch lügt, sogar seine Eltern, selbst wenn sie nicht so oft logen. Vater hat versprochen er würde bald nach Hause zurückkommen, obwohl er genau weiß, dass das nicht in seiner Hand liegt. Erst wenn seine Befehlshaber entscheiden, die Truppen aus dem Balkan abzuziehen oder Vater schwer verwundet wird, kann er nach Haus kommen. Und Mutter versichert Kurogane immer mit einem Lächeln, dass es ihr gut geht, dass sie immer für ihn da ist, ganz egal was passiert, weil sie noch ganz, ganz alt werden wird; eine runzlige alte Frau mit wallendem weißen Haar. Aber Kurogane weiß es besser, er weiß, dass mit ihrem Herz etwas nicht stimmt und dass sie eine bessere medizinische Behandlung braucht; etwas anderes als die Tabletten, die sie im Moment nimmt, aber das können sie sich nicht leisten, selbst mit Vaters Sold nicht.

Lügen, Lügen, Lügen.

Er liebt seine Eltern, aber die Lügen machen ihn krank, weil sie auch ihn zwingen zu lügen. Sie zwingen ihn so zu tun, als wäre alles okay, als bemerkte er ihre Probleme nicht.

Seine Hände ballen sich zu Fäusten und erst, als etwas Warmes über sein Kinn rinnt, stellt der Junge fest, dass er sich vor Frust auf die Lippe gebissen hat.

„Kuro-chan...“ Der Mann neben ihm bedenkt ihn mit einem aufrichtig fürsorglichen Blick aus klaren blauen Augen, „Du musst wirklich besser auf dich aufpassen.“ Yuui streckt die Hand nach ihn aus um das Rinnsal wegzuwischen und Kurogane lässt ihn, trotz des Impulses, vor der Berührung zurück zu zucken. Er will Yuui nicht denken lassen, er ekle sich vor ihm.

Und da ist es schon wieder, dieses komische Ziehen in der Brust und er fragt sich, ob das wohl weg gehen würde, wenn er Yuui küsst, nur so probehalber. Seine Lehrerin pflegte zu sagen, dass ein guter Kuss wie ein winziger Tropfen des Wassers von Lethe ist, nur dass Küsse einen nur die schlechten Sachen vergessen lassen.

Bevor sein Verstand diese Option verwerfen oder tatsächlich in Erwägung ziehen kann, klingelt Yuuis Mobiltelefon. Der Blonde zuckt zusammen, schuldbewusst, und kramt nach seinem Handy. Flucht, als er auf die Anzeige sieht und setzt dann ein unheimlich falsches Lächeln auf während er auf den grünen Hörer drückt.

„Hey, Schatz, was gibt’s?“

Stirnrunzelnd lässt der Junge sich im Schneidersitz aufs Gras fallen und lauscht der einen Hälfte der Unterhaltung.

„Nein, ich bin noch unterwegs. Warum, soll ich was mitbringen? Sind die Eier schon wieder alle? ... Ähm, nein, ich habe den Umweg über den Park genommen. ... Wegen der Aussicht natürlich und wegen der frischen Luft. ... Natürlich bin ich allein.“

In genau diesem Moment blickt der Mann zu ihm herüber und Kurogane fühlt sich einerseits enttäuscht (noch mehr Lügen), andererseits rinnt ihm ein Schauer über den Rücken beim Anblick von Yuuis nervösem und entschuldigenden Lächeln.

„Du weißt doch Schatz, ich hab’ niemanden außer dir und ich brauch niemanden außer dir. Außer Fye natürlich, aber er zählt nicht, weil wir fast ein und dieselbe Person sind. – Mh. Hm-hm. – Natürlich, mach mich sofort auf den Weg. Bis gleich. Hab dich li-hieb!“

Der Seufzer, den Yuui ausstößt, als er das Telefon weg steckt klingt allerdings nicht danach, als würde er seinen Schatz li-hieb haben. Nein, ganz und gar nicht. Und irgendwie sieht der Blonde auch so aus, als würde er sich schämen.

„Tschuldigung. Das war mein Freund. Ich muss dann wohl los.“

Kurogane ist zu jung, um zu begreifen, was das übertriebene Maß an Liebesbeteuerungen bedeutet oder was ein chronisch eifersüchtiger Partner ist, denn er wächst behütet auf, bei Eltern, die sich wirklich lieben. Aber was er an Erfahrung vermisst, macht er mit Instinkt wett. Und er spürt. Dass da etwas im Argen liegt. Also fragt er: „Ist alles okay?“

„Tja, es ist wohl die Zeit gekommen, au revoir zu sagen“, meint Yuui, was keine Antwort ist. Und, mit einem traurigen Lächeln fügt er hinzu: „Das heißt ’Auf wiedersehen.’ Natürlich könnte ich auch sagen ’Leb wohl’, aber ich hoffe, das wir uns noch mal über den weg laufen. Irgendwann.“

’Du bist merkwürdig’, denkt Kurogane, und zuckt mit den Schultern. ’Du bist merkwürdig, aber ich hätte nichts dagegen.’

„Weiß du, wie man sich in Frankreich verabschiedet?“

„Nein.“

Also zeigt Yuui es ihm. Und bevor Kurogane etwas dagegen tun kann, umrahmen Yuuis Hände sein Gesicht, er kann fremde Fingerspitzen an seinen Ohren spüren. Überrumpelt von der Situation hält er den Atem an, aber damit er das tun kann, muss er tief einatmen und wird so von dem frischen Duft eingehüllt, der direkt von den blonden Haar auszugehen scheint. Schon beinahe bedächtig drückt Yuui seine viel zu weichen Lippen auf jede Wange, bevor er sich zurückzieht. Die Berührungen brennen sich sofort in Kuroganes Haut ein, ebenso wie sich die Erinnerung an diesen faszinierenden Duft in seiner Erinnerung fest brennt. Und sein Gesicht läuft tief rot an, so rot wie damals, als er Brittany Simmons und Elsa Finkelstein beim heimlichen Knutschen hinter der Turnhalle entdeckt hat. Nur das hier ist was anderes.

„Auf wiedersehen, Kuro-chan. Ich wünsche dir noch einen schönen Geburtstag.“

Und danach war nichts mehr. Als hätte jede Erinnerung nach diesem Kuss aufgehört zu existieren.
 

~*+*~

Fye erinnerte sich an Mamoru Kokubuinji, wenn auch nur schwach. Ein großer Mann, dunkles Haar, breite Schultern und ein waches Gesicht. Auf seinem Schreibtisch hatte ein Foto gestanden von einem brünetten Mädchen mit zwei dicken geflochtenen Zöpfen und einem kleinen Jungen, der Mamoru wie aus dem Gesicht geschnitten war. Beide Kinder trugen identische Brillen mit dünnem, silbernen Gestell und sehr runden Gläsern. Brillen, wie sie auch Harry Potter getragen hätte, nur gab es vor achtundzwanzig Jahren noch keinen Harry, nicht einmal in dem Geist seiner Autorin.

Die Dinge wurden langsam kompliziert, stellte Fye fest, als er durch den Gang des Daidouji-Anwesens schlich, blass und leise wie ein Geist. Nur dass Geister keine zerknitterten blauen T-Shirts und Garfield-Boxershorts trugen.

Minoru Kokubuinji, der kleine junge mit der Brille, hatte nicht nur den gleichen Beruf wie sein Vater erlernt, er hatte auch die Akten seines Vaters bekommen. Und nun musste Fye entscheiden, wie er damit verfahren sollte. Das könnte sich als nützlich erweisen, sobald das Unvermeidbare getan war. Minoru könnte ihm helfen, ungeschoren davon zu kommen. Oder aber der Junge mischte sich zu früh ein und Fye war gezwungen, fort zu gehen. Fort vom Mörder seines Bruders und fort von den Polizisten. Inklusive einem gewissen Inspector mit einem ganz gehörigen Temperament.

Ganz in Gedanken versunken, und ohne besonderes Ziel im Kopf, erreichte Fye das Ende des Ganges. Zu seiner Rechten war eine Glastür. Sie war offen und führte auf einen Innenhof, den er bei der Ankunft nicht gesehen hatte, weil die Flügel des Anwesens ein Quadrat bildeten. Fye schlich sich hinaus, um sich ein bisschen umzusehen. Vielleicht waren die anderen schon wach. Irgendwer musste ja die Tür geöffnet haben, nicht wahr?

Beete säumten die Steinwände des Hauses, gefüllt mit großen Hortensien, Pfingstrosen, Tulpen und Lilien. Dekorativ, aber nicht nützlich. Nichts, was Fye in einem Garten pflanzen würde, wenn er den nötigen grünen Daumen besäße. Die Beete wiederum säumten eine Rasenfläche, in deren Zentrum ein gigantischer Ginkobaum sein Blätterdach erstreckte. Darunter war ein kleiner weißer Pavillon mit Teetischchen und Stühlen. Und dann entdeckte Fye sie.

Und, als hätte das Schicksal es so gewollt, sah sie in dem Moment ebenfalls auf, löste die Augen von ihrem zerlesenen Taschenbuch und schenkte ihm ein warmes Lächeln. Was hätte er darum gegeben, so lächeln zu können.

„Hallo. Sie kommen mir bekannt vor. Kennen wir uns?“, fragte sie und nahm ihm die Worte aus dem Mund. Zunächst dachte Fye, es läge daran, dass sie Tomoyo so sehr ähnelte, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das mit ihrer Ausstrahlung zu tun hatte. Der Blonde näherte sich ihr wie ein Schlafwandler, sich der kühlen Nässe des Grases an seinen Fußsohlen kaum bewusst.

Sie war zum niederknien. Wortwörtlich; er wäre am liebsten vor ihr auf die Knie gefallen, weil sie so etwas an sich hatte, das dafür sorgte, dass er sich in ihrer Gegenwart klein und unerfahren fühlte und wenn er sie ansah dann wurde ihm ganz leicht im Kopf, so als läge der Hauch eines besonders guten Parfums in der Luft.

Er war verliebt.

Und er hätte es ihr auch gern gesagt – Teufel, er hätte es der ganzen Welt erzählen wollen! – würde er sich nicht so unwürdig vorkommen. Wie ein Haufen von Knochen, Muskeln und Gelenken ohne Verstand, um sie zu koordinieren. Fye glaubte nicht, dass es je so schwer gewesen war, seinen Mund aufzubekommen.

„Ja?“, fragte sie, auf eine Reaktion von ihm wartend, geduldig und... gütig. Ja, das war es, was von ihr ausging. Güte und eine innere Ruhe. Das Buch in ihrer Hand war „Sturmhöhe“ und schon allein deshalb verliebte er sich gleich noch mal.

„Ich fand schon immer, dass Heathcliff als romantische Figur etwas überschätzt wird“, sagte er letztendlich.

Sie musste lachen. Und er war im Himmel.
 

Nicht im Wohnzimmer.

Nicht auf dem Gang.

Und auch bestimmt nicht in einem der Zimmer, wo die anderen noch friedlich schlummerten, denn aus denen drang kein Laut, also wie nur schaffte es dieser Idiot immer wieder zu verschwinden? Kurogane stieß einen Seufzer der Frustration aus. Weit konnte er ja nicht sein. Fyes Jeans und seine Jacke lagen noch im Zimmer und nur in seiner Unterhose würde er wohl kaum auf die Straße gehen. So exzentrisch war nicht einmal dieser Kerl. Also musste er noch irgendwo im Haus sein und dann würde er schon wieder auftauchen. Vermutlich war er auch einfach nur pinkeln. Ja, bei der Menge an Alkohol, die sie gestern getrunken hatten, klang pinkeln zu gehen nach einer brillanten Idee.

Das Bad war unbesetzt.

Als Kurogane etwa drei Minuten später wieder herauskam (mit Händen, die nach Kokos-Flüssigseife dufteten), öffnete sich gerade eine weitere Tür und Tomoyo streckte ihren Kopf in den Flur. Als sie Kurogane sah, lächelte sie breit und winkte ihn heran, legte aber gleich einen Finger auf die Lippen.

„Was gibt’s?“, fragte er in dem lautesten Flüsterton, den er zustande brachte.

„Ich muss dir was zeigen“, flüsterte seine kleine Schwester zurück, „aber sei leise; Sakura schläft noch.“

Er rechnete nicht damit, dass Tomoyo ihm etwas sonderlich interessantes zeigen würde – seine und ihre Vorstellung von interessant gingen oft weit auseinander – aber es war ja nicht so, als hätte er was besseres oder dringenderes zu tun. Es war Sonntag, also der Tag, an dem laufende Ermittlungen etwas langsamer voranschreiten durften. Es war der Tag, an dem Kurogane selten etwas mit sich anzufangen wusste, denn er hatte keine Hobbys. Nicht mehr.

Sakura lag tief in die violette Bettwäsche eingekuschelt, mit der weißen Mokona in den Armen. Der Roboter schien sich im Stand-by Modus zu befinden. Tomoyo klopfte auf die Bettkante an der Fensterseite und lud Kurogane so dazu ein, dort Platz zu nehmen; glücklicherweise war das Bett groß genug, dass das möglich war, ohne Sakura zu stören. Und sobald er sich gesetzt hatte, sah er, warum Tomoyo ihm diesen Platz angeboten hatte.

Die Fenster in Kuroganes altem Kinderzimmer hatten Aussicht auf das äußere Grundstück, den Rasen und die Steinmauer, die das Anwesen abgrenzte. Tomoyos Fenster hingegen waren dem Innenhof zugewandt und da war er, der entschwundene- nun, Kurogane fehlte im Moment eine passende Bezeichnung für Fye, vor allem da er viel zu abgelenkt von der Person war, in dessen Gegenwart sich Fye befand.

„Willst du Mäuschen spielen?“, wisperte Tomoyo, aber da stand sie schon bereit und hatte ihren Verschwörerblick aufgesetzt; sie hatte schon längst fest gelegt, was sie tun wollte. Kurogane nickte, abwesend, und sie kippte das Fenster an. Schlagartig wurde der Raum erfüllt von der Unterhaltung zweier Leute.

„-ich meine,“ sagte Fye, „Mal abgesehen von den gelegentlichen Wutanfällen kann man nur ein einziges Mal so etwas wie Leidenschaft bei ihm beobachten, als sein Besucher ihn glauben lässt, er wäre von Catherines Geist heimgesucht worden. Die meiste Zeit wirkt er so, als würde er seine Ränke aus glatter Boshaftigkeit schmieden.“

„Worüber reden die?“, fragte Kurogane und Tomoyo, die sich neben ihn setzte, zuckte nur mit den Schultern.

„Das mag ja sein“, erwiderte Miyako und als er die Stimme seiner Mutter hörte, schwappte eine Welle von Schuldgefühlen und gleichermaßen Zuneigung über Kurogane hinweg, „aber es lässt sich ja wohl kaum leugnen, dass Heathcliff einer der ersten romantischen Antihelden ist.“

„Hm. Da erscheint mir Hamlet doch aber ein wenig sympathischer. Beziehungsweise... ich habe eine Schwäche für den klassischen verrückten Wissenschaftler.“

„Wirklich?“

„Aber sicher! Was könnte romantischer sein, als ein Mann, der über den Verlust seiner Liebe dem Wahnsinn verfällt und versucht, alle Gesetze der Natur zu überlisten, um sie zurück zu holen? Gibt es eine größere Liebeserklärung als dem Universum den Kampf anzuzeigen?“

Miyako schmunzelte verhalten. „Vielleichtr nicht. Aber das scheint mir etwas melodramatisch.“

„Auch nicht mehr, als eine gesamte Familie zu Fall bringen zu wollen, weil man sich um seine Liebe betrogen fühlt.“

„Sie sieht fröhlich aus“, stellte Kurogane nüchtern fest und konnte einen kleinen Stich spüren. Er war es gewohnt, dass ihr Gesicht sich aufhellte, wenn er den Raum betrat und mit anzusehen wie ein Anderer, ein Fremder einen ähnlichen Effekt auf ihr Gemüt hatte...

Tomoyo strich sich das lange Haar über ihre Schulter und begann, es lose zu flechten. „Weißt du, sie hätte sicher Anlass sich zu freuen, wenn du dich öfter hier blicken lassen würdest.“

„Ich weiß.“

„Warum-“

„Was sollte ich ihr denn erzählen?“, unterbrach er das Mädchen, das quasi seine Schwester war, unwirsch. „Jedes Mal fragt sie mich, wie es mir geht und was ich gemacht habe. Anlügen kann ich sie nicht und von der Arbeit kann ich ihr auch nicht erzählen, das würde sie nur beunruhigen. Und ich kann ihr nicht immer dasselbe sagen. ’Mir geht es gut, danke der Nachfrage, keine Schusswunden in letzter Zeit’. Meinst du, das will sie jedes Mal hören?“

„Sie macht sich Sorgen um dich. Ich glaube, sie hat Angst, dass du einsam bist.“

Er wollte gern sagen, dass es dazu keinen Grund gab, denn er war ja nicht derjenige, der einen Partner verloren hatte und seitdem an einem gebrochenen Herzen litt – aber das wäre unfair seiner Mutter gegenüber gewesen. Also beschränkte er sich auf ein knappes: „Ich bin gern allein.“

„Ach komm, das sagst du doch nur, weil du ein Gewohnheitstier bist. Du versuchst ja nicht mal, jemanden kennen zu lernen.“

„Vielleicht, weil es auf der Welt zu viele Verrückte gibt?“

„Ich könnte dir ein paar von meinen Freundinnen vorstellen. Du musst nur was sagen. Oder-“, fügte Tomoyo mit einem Schmunzeln hinzu, während sie Fye und Miyako im Auge behielt, „ich könnte dich mit ein paar Freunden von mir bekannt machen, wenn dir das lieber ist.“

„Was zur Hölle willst du damit sagen?“ Kuroganes Tonfall war, trotz der barschen Wortwahl, erstaunlich sanft. Unter anderen Umständen hätte ihn die Frage fuchsteufelswild gemacht. Aber Tomoyo meinte es nicht herablassend und versuchte auch nicht, ihn nur aufzuziehen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Du scheinst mit Jungs besser klar zu kommen als mit Mädchen. Und es sagt auch keiner, dass du nach einer Beziehung suchen sollst, aber du könntest dir ruhig ein paar Freunde außerhalb der Arbeit suchen. Ich meine... du scheinst dich mit Fye-san gut zu verstehen.“

Er und der Idiot – Freunde? Die Vorstellung war im ersten Moment mehr als abstoßend. Sie hatten nichts gemein, lebten in vollkommen verschiedenen Schichten der Gesellschaft und wäre dieser Fall nicht gewesen, hätten sie sich nie kennen gelernt, was erneut dafür sprach, dass sie nichts verband.

Außer Yuui.

In dem Moment, als Fye gerade Miyako erklärte, was seiner Meinung nach der ideale Romanheld war („Ein Mann, der eher durch sein Charisma zu bezaubern weiß, als durch sein Aussehen; etwa wie Edward Rochester, Jane Austen’s Colonel Brandon oder jemand vom Schlage eines Cardinal Chang-“), wurde Kurogane klar, dass das ein ziemlich großes ’außer’ war. Und er würde sich wesentlich sicherer bei dem Gedanken fühlen, wenn er wusste, dass jemand ein Auge auf Fye hatte, nachdem sie den Mörder gefasst hatten, denn eine Festnahme bedeutete ja nur den Anfang. Der Job eines Polizisten war da fast getan; bis zur Verurteilung war es trotzdem noch weit. Ganz zu schweigen davon, dass noch eine Beerdigung geplant werden musste und Termine mit dem Notar gemacht werden mussten. Man brauchte jemanden an seiner Seite, während der Trauerzeit.

„Kann zufällig eine deiner Freundinnen kochen?“

Tomoyo gluckste.
 

Er hatte sich zu ihr setzen dürfen und wenn er nicht gerade einen Narren aus sich machte, weil er nicht aufhören konnte zu reden, dann lauschte er ihrer Stimme und verlor sich in der Betrachtung solch vollkommener zarter Weiblichkeit. Ihre Stimme war wie eine Brise an einem Frühlingsmorgen und er mochte die Art, wie das Sonnenlicht auf ihrem Haar schimmerte. Wo es ergraut war, sah es aus wie Sternenglanz. Man konnte die ganze Welt bereisen und würde nur wenige Frauen wie sie finden; Frauen, die man nicht begehren konnte, weil sie dazu bestimmt waren, verehrt zu werden. Es gab ein Wort für solche Frauen. Man nannte sie Musen.

Leider, dachte Fye, würde er sie wohl kaum dazu überreden können, ihn zu küssen. Aber das war in Ordnung. Er war kein Künstler mehr, nur noch ein Lügner; was hätte er da mit der Inspiration anfangen sollen?

Er merkte auf, als sie einen kleinen Laut des Erstaunens von sich gab; ihre langgliedrige Hand verbarg ihren Mund wie ein Fächer, aber Fye konnte es von seinem Winkel aus dennoch sehen. Die Überraschung und die Freude, der man doch nicht ganz trauen wollte – es war die Miene, mit der man endlich Heimkehrenden begegnete. Der Heimkehrende war niemand anderes als Kurogane selbst und er trottete sichtlich verlegen auf diese reizende Dame zu. Es war schön zu sehen, dass selbst der sonst so ernste Inspector gegenüber der Wirkung dieser Frau nicht immun war.

Sie nannte ihn Youou und ihren Jungen und Kurogane musste sich herunter beugen, damit sie ihn in die Arme schließen konnte. Fye sah dies mit an, ohne mit der Wimper zu zucken – gelinde überrascht, dass es ihn nicht erstaunte, dass sie vermutlich Kuroganes Mutter war. Dabei sahen sie sich nicht sehr ähnlich. Nein, die Gemeinsamkeit lag in ihrer Wirkung auf Menschen. Beide für sich allein genommen zogen sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesender auf sich, aber zusammen – Fye konnte kaum den Blick von ihnen lassen. Sein Mund war ganz trocken.

Kurogane küsste seine Mutter auf die Stirn und der Blonde hatte das Gefühl, als würde er verbotenerweise ein geheimes heiliges Ritual beobachten, dabei war es nur eine liebevolle Geste zwischen Mutter und Sohn.

Ihm schnürte sich die Brust ein.

Kein Wunder, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlte – sie war nicht irgendeine Mutter, sie war so, wie sich jeder eine Mutter wünschte: sanft und besonnen; jemand, bei dem man den Kopf in den Schoß legen konnte und der die Finsternis der ganzen Welt da draußen mit einem einzigen Lächeln vertreiben konnte. Nicht, dass Fye wählerisch gewesen wäre. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ihm jede Mutter recht gewesen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da zweifelte er daran, ob er je eine gehabt hätte.
 

Wenn sie tadelte, dann tat sie dies mit einem aufrichtigen Lächeln, was es umso einfacher machte, sich den Tadel auch zu Herzen zu nehmen. „Du bist wirklich unmöglich, Youou, deine arme alte Mutter erst jetzt zu besuchen. Ich dachte, ihr seid seit gestern da?“

„Es ist etwas spät geworden: Ich... ich wollte dich nicht noch stören.“ Das war keine Lüge, versicherte er sich selbst. Es war ja spät geworden – aber nicht seine Ankunft, sondern sein Hinauszögern der Begegnung mit ihr.

„Du kannst mich gar nicht stören. Ich nehme mal an, dieser nette junge Mann hier drüben gehört auch zu dir?“

„Äh... das könnte man so sagen“, erwiderte der Schwarzhaarige mit einigem Zögern. Er war immerhin derjenige, der Fye mit ins Haus gebracht hatte. Der Blonde hatte derweil den Anstand, mit großer Hingabe die Hausfassade zu bewundern. Hm. Die Konvention forderte, dass Kurogane ihn vorstellte und ein kleines Stimmchen in seinem Kopf beharrte darauf, dass er einiges richtig stellte, darum sagte er: „Mutter, das ist Fye de Fluorite. Er hilft uns im Moment bei einem Fall.“

„Ich dachte, du hasst zivile Berater.“

Er versicherte ihr, dass das etwas Anderes war. Aber trotz allem konnte er nicht verhindern, dass ihr der Name bekannt vorkam, denn Miyako Suwas Gesicht verzog sich auf diese Weise, die sie nachdenklich, unschuldig und verletzlich erscheinen ließ. Es war nur eine Frage der Zeit bis...

„Fluorite... deshalb kamen Sie mir so bekannt vor!“, verkündete sie, an Fye gewandt. „Sie sind dieser Autor, nicht?“

’Oh Gott.’ – diese zwei Worte schossen den Männern gleichzeitig durch den Kopf. Der Eine, weil er sich durchschaut fühlte, der Andere, weil ihm klar wurde, dass seine Mutter in letzter Zeit nicht oft ferngesehen haben konnte, sonst wüsste sie, dass der Autor von dem sie sprach, tot war.

Fye war der Erste, der sich erholte auch wenn er nur ein ersticktes „nein“ hervor brachte. Ihm war, als wäre es plötzlich wärmer in dem Hof geworden, und sein Puls beschleunigte sich, als er ihr mit etwas begegnete, was hoffentlich ein höfliches Lächeln war. Was passierte nur mit ihm? Warum machte der Gedanke, sie anzulügen ihn so nervös? „Das ist mein Bruder. Wir sind Zwillinge. Die Leute verwechseln uns oft, wissen Sie?“

„Oh, Verzeihung. Ich dachte – egal. Sie hören die Frage sicher oft, aber wie ist das so, wenn man einen Schriftsteller in der Familie hat?“

Schuld. Das war es, was sich in ihm zusammenbraute, weil sie so eine reizende, liebevolle Dame war und eigentlich nichts mit der Polizei zu tun hatte und er aus irgendeinem albernen Grund nicht wollte, dass sie enttäuscht von ihm war, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Seine Zunge schien schwer und belegt. Er musste sich räuspern, bevor er antworten konnte. „So langweilig und so schwierig wie man es sich vorstellt. Erst verbarrikadiert er sich monatelang in seinem Zimmer und bei jeder Schreibblockade und jeder schlechten Kritik bricht die Welt zusammen. In solchen Phasen ernährt er sich fast nur von Eiskrem.“ Fye sprach von sich selbst so, als würde er eine seltene Spezies beschreiben, die fast ausgestorben war. Und versuchte, sich selbst nicht zu viele Gedanken darüber machen.

Er hatte sich in jener Phase befunden, als es passiert war. Die schlimmste und längste Schreibblockade, die er je durchgemacht hatte und die umso frustrierender war, weil gefühlte drei Viertel des neuen Manuskripts bereits existierten. Und nun blickte er so viel nüchterner auf diese Tatsache, fügte sie zu den Dingen hinzu, über die er sich unbedingt noch Gedanken machen musste.

Yuui de Flourite, der Autor, war tot. Gestorben als irgendein Arsch seinen Bruder erschossen hatte. Und wie sein Leben als Fye weiter gehen würde, musste sich noch ergeben, aber fest stand, er konnte nicht einfach zurück. Und Ashura würde das Manuskript wollen, selbst unvollständig. Eine Begegnung mit seinem Verleger war unvermeidbar. Was dann?

Seine Probleme schienen sich mit der Geschwindigkeit wohlgenährter Hefezellen zu vermehren.

Miyako schien noch mehr fragen zu wollen, doch Kurogane – oder Youou? – unterbrach sie mit einem sanften „Mutter“ und einem Kopfschütteln. Sanft; der große, gefährliche Inspector, der jeden Verbrecher in die Knie zwang war ein Lämmchen in Gegenwart seiner Mama. Fye hätte eine clevere Bemerkung dazu einfallen sollen. Aber nicht jetzt. Er entschuldigte sich mit den Worten, dass ihm langsam kalt würde und dass er ohnehin schon Kimikos Zeit viel zu lange in Anspruch genommen haben musste und dass er der Letzte sein wollte, der sie daran hinderte, Zeit mit ihrem Sohn verbringen zu können.

Als der Blonde aufstand, trafen sich kurz noch einmal sein und Kuroganes Blick. Im Gesicht des Mannes war irgendeine subtilere Emotion zu sehen, die der Kleinere nicht zu deuten vermochte. Sie ließ ihn jünger aussehen.

Fye floh, auch wenn es für das Auge des Betrachters so ausgesehen haben mochte, als ginge er nur. In Wirklichkeit lief er davon, weit weg von den Menschen, die Erinnerungen weckten und sich selbst hatten und für die die Zukunft keine diffuse graue Masse war.
 

---
 

Dieses Kapitel ist beendet, auch wenn für den Sonntag noch einiges ansteht. Doch möchte ich erst mal diesen ruhigen Moment festhalten, bevor es weiter geht.
 

Vorschau:

[...]Es zeigte sich in der Art, wie Kurogane das Buch anstarrte, als wäre es eine Giftschlange, die ihn jederzeit beißen könnte. Er hatte schon oft gehört, dass finstere Dinge zwischen zwei Buchdeckeln wohnen konnten, aber das übertraf ja wohl alles![...]

Der Zauber der Worte

Open heart surgery – that is what you do to me

Cut me up, set me free – that is what you do to me

Now I'm walking in, walking into fire

I'm walking into fire with you

Ingrid Michaelson, “Fire”
 

Auf den ruhigen Morgen folgte ein spätes, überwiegend stummes Frühstück, das von der Langsamkeit der Verkaterten dominiert wurde. Auf das Frühstück folgte die Wiederaufnahme der Arbeit vom Vortag, wobei sie noch bis kurz nach ein Uhr nachmittags zusammensaßen, bis auch das erledigt war. Die Zwillinge und Sakura fuhren daraufhin heimwärts – mit der weißen Mokona auf dem Rücksitz und der Kiste Beweismaterial im Kofferraum, welche alle beide bei einem kurzen Zwischenstopp auf dem Revier abgeliefert wurden. Der schwarze Computer, Larg, blieb auf Kuroganes Anweisung hin, in der Gegenwart des Inspectors, was alle stutzig machte (bis auf Fye, der in Gedanken versunken, einfach nur aus dem Fenster starrte).

Tomoyo wäre die Einzige, die Kurogane deswegen angesprochen hätte, aber ausnahmsweise war er es, der auf sie zutrat, kurz nachdem sie sich von ihren Freunden verabschiedet hatte.

„Kannst du für ein paar Stunden ein Auge auf ihn haben?“, fragte er knapp, mit einem Kopfnicken in die Richtung, in der Fye saß.

„Wieso, was hast du vor? Du willst doch nicht etwa schon gehen, oder?“ Beide Augenbrauen hoben sich erstaunt und auf ihren Lippen lag ein Lächeln, das spöttisch gewirkt hätte, wäre da nicht das amüsierte Funkeln in den Augen der jungen Dame gewesen.

„Ich muss noch etwas überprüfen. Sollte nicht zu lange dauern. Ich bin um fünf wieder da, okay? Pass nur einfach auf, dass Blondie keinen Unsinn macht.“

„Ist Unsinn denn zu erwarten?“

„Er wird komisch, wenn er nichts zu tun hat. Macht Blödsinn. Versuch – versuch einfach, ihn irgendwie zu beschäftigen.“

„Fye-san ist ein Mensch, kein Hund, Bruderherz“, flüsterte Tomoyo mit einem verschwörerischen Zwinkern. Der Schwarzhaarige wandte sich ab – was Kurogane auch eigentlich gemeint hatte, war, dass sie dafür Sorge tragen sollte, dass Fye mal nicht an seinen Bruder und die Umstände seiner Ermordung denken sollte. Aber er erklärte sich nicht gern und beendete die Unterhaltung mit einem Schulterzucken.

„Hey!“, rief er und Fye reagierte auf dieses kleine Wort schon fast wie auf seinen Rufnamen. „Wenn du noch was aus deiner Wohnung brauchst, solltest du es auf einen Zettel schreiben.“

„Du fährst hin?“, kam die perplexe Antwort.

„In zwanzig Minuten. Du solltest also nicht zu lange überlegen.“

„Kann ich mit?“

„Dann bräuchte ich keinen Zettel“, erwiderte Kurogane zähneknirschend. Er hoffte, dass Fye kein Trara draus machen würde, denn es gab eigentlich keinen Grund, den Mann nicht mitzunehmen außer den, dass Kurogane ihn nicht dabei haben wollte. Die Wohnung der de Fluorites wurde auf den Kopf gestellt, aber sie war kein Tatort und es gab auch keine Einbruchspuren – jeder war frei, dort seine Fingerabdrücke zu hinterlassen, wenn er mochte.

Fye blinzelte ausdruckslos und bat Tomoyo um Zettel und Stift.
 

~*+*~

Ein Jason Shioiri existiere im Telefonbuch nicht, verkündete Larg und Kurogane, hinter das Steuer seines Wagens geklemmt, fluchte. Dann gab er den Roboter die Anweisung, den Namen durch das Netzwerk des Departements laufen zu lassen.

Es stellte sich heraus, dass der Kerl eine Akte im Strafregister hatte, wegen einer Anklage der Körperverletzung im Sommer 2008. Das an sich war nicht interessant – Kuroganes eigene Akte enthielt fast ein Dutzend solcher Vergehen, wovon einige im Job begangen wurden, andere hatte er sich bei Kneipenschlägereien eingefangen. Interessant war die Person, die Mr. Shioiri angezeigt hatte; ein gewisser Payton Rudolf, laut Akte der Lebensgefährte von Shioiri. Ehemaliger Lebensgefährte, wie Kurogane hoffte, als sich ein klammes Gefühl in seiner Magengegend einsteckte.

Häusliche Gewalt. Das hatte er am liebsten, wenn irgendein Scheißkerl meinte, mit seinen Fäusten demonstrieren zu müssen, dass er die Hosen an hatte in der Beziehung. Und da blieb es selten bei einem Vorfall, denn diese Kerle waren unbelehrbar. Und das Schlimmste war, die kamen damit durch, weil der misshandelte Partner sie selten anzeigte.

Wenn der Kerl Yuui was angetan hatte, dann- dann-

„Du überschreitest das Tempolimit“, verkündete der schwarze Mokona fast vergnügt.

'Dann was?', fragte eine Stimme in seinem Kopf. 'Was willst du dann tun?'

Er überfuhr versehentlich eine rote Ampel, das war es, was er tat.
 

~*+*~

Yuuis Zimmer, im Kleiderschrank, rechte Tür: schwarze Aktentasche mit Nummernschloss.

Yuuis Zimmer, Bücherregal links: „Das Dunkelbuch“, Gordon Dahlquist

Kühlschrank: Straciatella-Joghurt, läuft bald ab

Fyes Zimmer: Rucksack (grün/grau); Wecker (orange)
 

Eine spärliche Liste, in feingeschwungener und sehr lesbarer Handschrift, aber bis auf die Aktentasche schienen nur Nichtigkeiten darauf. Kurogane sollte es egal sein, so hatte er das Zeug schneller zusammen, er fand es nur ulkig, dass Fye „Fyes Zimmer“ geschrieben hatte und nicht „Mein Zimmer“.

Yuuis Tagebuch befand sich noch immer in seinem Nachttisch und ein kurzes Blättern verriet dem Inspector, dass der erste Eintrag vom Anfang des Jahres stammte. Nicht überraschend. Aber, Yuui hatte bestimmt noch mehr gehabt. Tagebücher schmiss man nicht weg, oder? Man bewahrte sie auf oder verbrannte sie.

Kurogane durchsuchte alle Schränke; vergeblich. Als er im Wohnzimmer weiter machte, fiel sein Blick zufällig auch auf die Garderobe. Eine kleine Metallschüssel stand dort auf der Garderobengarnitur und darin waren, welch ein Wunder – Schlüssel! Ersatzschlüssel, sicherlich, aber er fand einen Ring an dem nur ein Schlüssel und ein Schildchen hing, das mit „Keller“ markiert war. Er nahm Mokona mit und ehe die Beiden es sich versahen, befanden sie sich einige Treppenstufen tiefer zwischen Kartonstapeln, einer hässlichen ausrangierten Lampe und zwei Sets Inline Skater wieder.

Die meisten Kartons waren mit Feiertagen beschriftet. „Ostern“ oder „Weihnachten“ und „Geburtstag/Neujahr“. Und dann waren da noch vier, die gar nicht beschriftet, aber absurd schwer waren, und darin – Bücher. Bücher, Bücher, Bücher. Und wie es so oft beim Suchen war, war das, was er suchte im letzten Karton.

Die Tagebücher besaßen alle Ledereinbände verschiedener Farben und auf der ersten Seite war nachträglich hinzugefügt worden, welchen Zeitraum sie umfassten. Es gab eines, das von Mai 1995 bis Juli 1996 ging und eines vom Juli 1996 bis Oktober 1997 und da Kurogane nur die Information bekommen hatte, dass Jason Shioiri vor vierzehn Jahren aus dem Leben der Zwillinge verschwunden war, nahm er beide an sich. Vielleicht würde er noch weiter in die Vergangenheit gehen müssen... aber nicht heute.

Kurogane und Mokona kehrten zur Wohnung zurück, die nach dem kühlen Keller schwül wirkte; die Luft schmeckte abgestanden und drückte auf’s Gemüt. Der Inspector und das Fellknäuel ließen sich aufs Sofa fallen. Während Kurogane Mokona das früher datierte Tagebuch gab, mit der Anweisung, den ersten Eintrag zu finden, der den Namen Jason enthielt, geschah etwas Seltsames mit ihm.

Es regte sich Neugierde. Echte Neugierde, das Bedürfnis, etwas um seiner selbst Willen zu erfahren und nicht etwa, weil es ihm oder der Ermittlung nützte. Nein, er war einfach neugierig, ob seine Begegnung mit Yuui es bis in dieses Büchlein geschafft hatte. Sein Geburtstag war am 17. Juli, und damit relativ am Anfang des zweiten Tagebuchs und tatsächlich gab es einen Eintrag für diesen Tag.

Kurogane musste die Augen zusammen kneifen, denn Yuuis Handschrift war in etwa so verschnörkelt wie Fyes, nur viel schludriger.
 

17. Juli

Obwohl wir unter uns gerne den Witz reißen, dass OC stinkt, war die Aussage nie wahrer als heute. Die Jungs am Abzug neben unserem haben im Versuch, ihr Enamin zu destillieren, Mist gebaut, sodass ein Teil des Produktes im Ölbad gelandet ist, dass seitdem eine ungesunde schwarze Farbe hat. Enamine (oder die schwarze, oxidierte Version davon) haben einen recht eigentümlichen Geruch, sodass die beiden nur am meckern waren. Ständig hörte man „Boah, das riecht nach Sperma! Wie eklig.“ Die zwei haben sich aufgeführt wie kleine Schulmädchen.

Ich bin trotzdem froh, dass Jenny und ich keine Enamine haben.

Unsere Mischung musste 24 Stunden unter Schutzatmosphäre sieden, was für uns hieß: Anlage aufbauen (mit Luftballon für das Argon, wie unwissenschaftlich!), Reagenzien mischen, Heizpilz und Rückflusskühler an und Feierabend!

Ich habe die überraschende Freizeit mit Nichtstun im Park verbracht, auch wenn ich lieber was mit Fye unternommen hätte, aber er ist noch in Italien, der Glückspilz!

Ich wünschte, ich hätte auch mal Semesterferien ohne Praktikum.

Habe aber eine nette Bekanntschaft im Park gemacht.
 

Das war alles.

Ein Satz. Mehr nicht.

Das war irgendwie... ernüchternd. Um nicht zu sagen, enttäuschend. Aber...
 

18. Juli

Jason benimmt sich langsam merkwürdig. Ich habe mittlerweile ein sichereres Versteck für mein Tagebuch gefunden, weil ich das blöde Gefühl nicht los werde, dass er es liest, wenn ich nicht da bin. Wenn ich ihn danach fragen würde, wäre ich aber der Arsch, also lasse ich es.

Vielleicht... nein. Ich weiß, ich sollte mit ihm darüber sprechen, denn ob mein Verdacht nun stimmt oder nicht, dass Jason mir einen Grund gibt, ihm nicht zu vertrauen, heißt doch, das etwas zwischen uns nichts funktioniert. Ein Gespräch anzufangen ist sinnlos, denn dann lächelt er wieder, sagt irgendetwas, bei dem ich mir unheimlich dumm vorkomme, sodass ich mich entschuldige und dann zieht er mich an sich, wir landen im Bett (oder auf dem Teppich) und nichts ist geklärt.

Sind wir denn wirklich so festgefahren?

Manchmal in meinen Träumen endet es anders. Dann wird Jason wütend und eine Menge Geschirr geht kaputt, und hin und wieder habe ich ein Cocktailkleid an, als wäre das ganze ein grotesker Polterabend.

In manchen meiner Träume hintergehe ich ihn auch und er erwischt mich im Bett mit einem Anderen. Niemand im speziellen, einfach irgendwer, dessen Körper ganz anders ist als Jasons, größer als ich und kräftiger... dabei bin ich gar nicht so ein Mensch und ich frage mich: bin ich unzufrieden mit dieser Beziehung und wenn ja, wie soll ich was dagegen tun, wenn ich mit Jason nicht darüber reden kann?

Ich kann ihm ja nicht einmal die simpelsten Dinge erzählen! Gestern zum Beispiel, erwähnte ich ganz beiläufig, dass ich einen Jungen gesehen hätte, der mohnblütenrote Augen hatte. (Ich erwähnte nicht, dass ich den Jungen im Park getroffen hatte und mich sogar eine Weile mit ihm unterhalten hatte.) Der Rest des Gespräches verlief dann etwa so: „Ernsthaft Yuui, keine Sau sagt mohnblütenrot. Nicht mal ein Mädchen würde das sagen. Und was kümmern dich die Augen irgendeines Bengels?“

„Ich meine ja nur, dass es eine ziemlich ungewöhnliche Farbe ist. Für Augen, meine ich.“

„Und deshalb starrst du irgendwelchen anderen Kerlen hinterher?“

„Ich hab’ ihn zufällig gesehen, ich hab’ ihm nicht hinterher gestarrt. Und er war vielleicht grade mal fünfzehn, kein Grund, eifersüchtig zu werden.“

„Fünfzehn ist alt genug, um sich einen runter zu holen.“
 

„So ein Arsch,“ murmelte Kurogane und bemerkte nicht, wie ihm das schwarze Wollknäuel einen komischen Blick zuwarf.
 

WARUM SAGT ER SO WAS? Gott, ich könnte ihn hassen dafür; jetzt ist meine Erinnerung an diesen lieben unschuldigen, cleveren Jungen ruiniert und auf ewig verbunden mit dieser Aussage. Jason kann so ein Arsch sein.
 

(In einer jähen Anwandlung von Sympathie schmunzelte Kurogane und schnaubte durch die Nase.)
 

21. Juli

Kriege es nicht aus meinem Kopf. Kriege ihn nicht aus meinem Kopf.

Was für ein Chaos! Immer und immer wieder sehe ich seinen Blick vor mir, als wüsste er, dass etwas nicht stimmt und noch einmal höre ich seinen Rat. Reden soll ich, aber wie nur soll ich jener anderen Person begreiflich machen, dass die Eigenschaften, die mich zu ihm hingezogen haben, mich jetzt zu erdrücken scheinen?

Mache ich mich verrückt wegen den Worten eines Fremden?
 

22. Juli

Traum. Einer jener verstörend-anregenden Art.

Wir sind allein im Park, bei Sonnenschein. Begegnen einander auf Augenhöhe, ich ca. sechzehn, er die Person, die er in ein paar Jahren sein könnte. Dieser Andere entspricht nicht wirklich ihm, das könnte ich ihm nicht antun, dann wäre ich nicht besser als Jason, einen armen Jungen in den Schmutz zu
 

„Gefunden!“, piepste Mokona und riss Kurogane abrupt aus seinem Lesestoff.

„Hah?“, murmelt der Schwarzhaarige und bemerkt, wie sein Herz rast als hätte das Wollknäuel ihn erschreckt, aber es ist nicht Mokonas Schuld. Nein, sein Herzschlag beschleunigte sich als er den Atem anhielt, weil er so ein ungutes Gefühl hatte... so eine Ahnung...

„Ich habe die Stelle gefunden, an der ein ’Jason’ zum ersten Mal erwähnt wird,“ verkündete Mokona stolz. Es war gut, dass der Computer sich gemeldet hatte, bevor er weiter las, so hatte Kurogane die Möglichkeit, noch einmal zu überdenken, worauf er sich hier einließ. Er gab Mokona die Anweisung, einen leeren Zettel zu finden oder irgendetwas unwichtiges, das man als Lesezeichen benutzen konnte. Am besten sogar gleich zwei. Und während der hasenartige Roboter davon stürmte, sah er noch einmal kurz nach, wie der Abschnitt weiter ging.
 

dann wäre ich nicht besser als Jason, einen armen Jungen in den Schmutz zu ziehen. Ich glaube, „der Andere“ repräsentiert nur das, wonach ich mich am meisten sehne und das Jason mir in dieser Form nicht geben kann. Jemand, der zuhört und auf das eingeht, das ich sage. Jemand, der sich drum schert, wie es mir geht. Jemand, der mir die Möglichkeit gibt, auch einmal dominant zu sein. Deshalb ist er schüchterner und unerfahrener, dieser Liebhaber in meinem Traum, damit ich mich austoben kann.

Und in meinem Verstand – diesem schrecklichen Geburtsort verdrehter Ideen – scheint es eine Verbindung gegeben zu haben zwischen Unerfahrenheit und Unschuld, zwischen dem Wunsch nach etwas Neuem und dem Entdecken von etwas Exotischem.

Es hat nichts mit dem Jungen zu tun, dass das Objekt meiner Willkür kohleschwarze Augenbrauen und glutrote Augen hat.
 

Es gibt kaum ein Geräusch, das so abrupt ist wie die zwei Hälften eines Buches, die heftig geschlossen werden und der Knall, als Kurogane es zuklappte und weit von sich weg legte (beinahe hätte er das verteufelte Ding geworfen), klang ohrenbetäubend laut in der stillen Wohnung.

„Alles okay?“, fragte Mokona, der mit dem Zettelchen angehopst kam. Die Frage war überflüssig, denn man konnte sehen, dass nichts okay war. Es zeigte sich in der Art, wie Kurogane das Buch anstarrte, als wäre es eine Giftschlange, die ihn jederzeit beißen könnte. Er hatte schon oft gehört, dass finstere Dinge zwischen zwei Buchdeckeln wohnen konnten, aber das übertraf ja wohl alles!

Keine Geistergeschichte konnte gruseliger sein, als die Erkenntnis, dass man in den sexuellen Phantasien eines fremden Mannes vorkam, noch dazu einem, der mittlerweile tot war. Wer zum Henker hatte Yuui das Recht dazu gegeben?

’Scheiße!’, dachte Kurogane. ’Scheiße, scheiße, scheiße.’ Wütend zu werden, zu fluchen – er flüchtete sich in sein altbewährtes Verhaltensmuster, um in dieser absurden Situation wenigstens eine vertraute Sache zu haben.
 

~*+*~

„Oh Mein Gott“, hauchte Fye, nur um kurz darauf den Atem anzuhalten. Seine Augen wanderten von einer Ecke des Raumes zur nächsten. „Von so etwas habe ich immer geträumt. Das sind- wie viele Bücher sind das?“

Tomoyo musste kichern, denn sie hatte zwar gehofft, Fye-san eine Freude zu machen, aber mit einer dermaßen starken Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Der Blonde starrte die Regale an, die die gesamten Wand einnahmen mit Ausnahme des Rechtecks, das die Tür war.

„Wir haben sie nie gezählt, aber um die zweitausend sind es bestimmt. So wie du schaust, könnte man denken, du wärst noch nie in einer Bibliothek gewesen.“

„Einer öffentlichen! Aber das hier ist was ganz anderes. Die Vorstellung, sich den Luxus zu gönnen, einen Raum seiner Wohnung nur seinen Büchern zu widmen- Gott!“

„Und das ist noch nicht alles. Komm mal mit!“ Sie winkte ihn näher heran, zu einem bestimmten Abteil und als er etwa zwei Schritte entfernt war, erkannte er die Farbe der Bücherrücken und die Form der Schrift.

„Ist nicht wahr!“

Aber es war wahr und Tomoyos Augen glühten vor Stolz, als sie verkündete, dass sie jedes einzelne Buch hatte, mit Ausnahme des ersten. Da waren die zehn Bände Schwingen der Nacht und die sechs Romane der Märchenchronik. Zusammen reichten sie genau von einer Seite des Regals zur anderen, so als wäre die Länge des Möbelstücks der Dicke der Bücherrücken angepasst worden.

Aber es war nicht das, was ihn zutiefst rührte, sondern dass seine Bücher – ja richtig, seine Werke, die ihm niemand wegnehmen konnte, selbst wenn er sich eine neue Identität zulegte – unter und über großen Meistern standen wie Shakespeare, den Gebrüder Grimm, Jane Austen, Lewis Carroll. Kein Autor war immun gegen das wohlige Gefühl, dass ein Lob auslöste und was für ein Lob das war! Und da stand er nun wie ein Tor und konnte sich nicht einmal bedanken.

„Millionen von Lesern werden um ihn trauern. Und ich bin mir sicher, wenn du ein paar von ihnen fragen würdest, dann könnten sie dir erzählen, wie sehr seine Geschichten sie berührt haben. Selbst die Vampirromane... okay, vieles davon war vorhersehbar, wie jeder andere Vampirroman zu der Zeit auch, aber hin und wieder gab es Lichtblicke. Momente, wo er sein volles Potential ausschöpfen konnte.“ Tomoyo legte ihm die Hand auf die Schulter und Fye ergriff sie mit seiner eigenen; dankbar für den Beistand.

„Und du?“ flüsterte er und blickte sie ernst an. Zum ersten Mal bemerkte er richtig die Farbe von Tomoyos Augen, ein sanftes Violett wie es sich nur bei einigen Morgendämmerungen fand. Miyakos Augen hingegen waren dunkelgrau wie Schiefer.

„Was meinst du?“

„Was genau hat dich daran berührt?“

Tomoyo zuckte mit den Schultern, aber ihr wehmütiges Gesicht und die bedächtige Art, mit der ihr Finger über die Bücherrücken strich sagten Fye, dass sie die Antwort sehr wohl kannte. „Ich glaube, es war die Leichtigkeit, mit der er sämtliche Konventionen über Bord geworfen hat. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was andere darüber denken und ich hatte immer das Gefühl, als... als würde er sich einfach die Welt basteln, in der er leben möchte. Wo man sich nicht jede Sekunde dafür rechtfertigen muss, in wen man sich verliebt hat.“

Fye nickte. „Nur schade, dass es im echten Leben nicht so sein kann.“

„Oh, das würde ich nicht sagen. Ich meine, je mehr Leute von seinen Büchern geprägt wurden, desto mehr Toleranz gibt es in der Welt. Man darf nur nicht von seinen Idealen abweichen. Und wenn man fest genug daran glaubt und darauf hin arbeitet... dann kann es auch wahr werden. Denkst du nicht?“

Die Augen des Blonden weiteten sich und ihm war, als müsse er alles, was er je von dem Mädchen neben ihm angenommen hatte, neu überdenken. Sie wirkte so sorglos und begeisterungsfähig und er hatte das mit Oberflächlichkeit verwechselt. Was vielleicht daran lag, dass seine eigene Heiterkeit nur eine Maskerade war. Wie stellte sie das an? Die Welt so zu sehen, wie er sie sah und doch nicht zu verzweifeln?

„Und was, wenn man nicht stark genug ist um nach seinen eigenen Idealen zu leben?“

„Dann muss man sich natürlich Freunde suchen, die einem dabei helfen!“
 

~*+*~

Am Sonntag Abend war eine Stille eingekehrt, in der auch ein Hauch Enttäuschung mitschwang; weil das Wochenende viel zu kurz gewesen war und der Montag viel zu rasch kam. In einer kleinen Wohnung im Norden von Clow City hatten sich zwei Männer in ihre eigenen Bereich zurück gezogen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Nicht, dass es nichts zu bereden gegeben hätte, immerhin hatten sie es sich an der Nasenspitze angesehen, dass in dem jeweils anderen eine Veränderung stattgefunden hatte in der kurzen Zeit, in der sie getrennt waren.

Fye, der auf dem Sofa saß und auf den Fernseher starrte, ohne das Programm so richtig wahrzunehmen, fragte sich, warum der Inspector ihn nicht weiter gedrängt hatte, etwas zu Jason zu erzählen. Er war verwirrt, aber auch ein bisschen erleichtert. Denn das war eine Geschichte, über die er nicht in Fyes Namen reden konnte, so sehr er es auch versuchte.

Kurogane war währenddessen in dem Raum, in dem er sich absolut sicher wähnte – seinem Schlafzimmer. Er hatte seinem Wohngenossen mehrmals eingebläut, dass das Schlafzimmer der Ort war, in dem er absolut nichts zu suchen hatte und genau das brauchte er jetzt – die Sicherheit, dass Fye ihn nicht stören würde, wenn er erneut zu dem Tagebuch griff und darin las.

Oder es zumindest versuchte. Es war schwer, den Zeilen zu folgen ohne sich dabei zu fühlen, als würde ein Geist über das eigene Grab laufen. Vor allem, da einige sehr... grafische Schilderungen dabei waren, von Dingen, die Kurogane noch nie getan hatte (beziehungsweise die er noch nie mit sich hatte machen lassen) und an die er nie auch nur gedacht hatte, das hieß bis jetzt, wo er dran denken musste, weil er sich plötzlich im Zentrum von all dessen befand. Er hätte es natürlich auch einfach überblättern können, aber der Schwarzhaarige hatte Angst, dann etwas entscheidendes zu übersehen. Bis jetzt wusste er nur, dass Yuui sich nach etwas gesehnt und es nicht bekommen hatte.

Und dann...
 

29. Juli

Es ist vorbei. Endgültig und unabänderlich. Ich habe all meinen Kram aus Jasons Wohnung geholt. Und dann habe ich es beendet. Und als Jason mich fragte, warum, habe ich ihm gesagt, dass ich so nicht weiter machen könne. Dass ich jemanden bräuchte, der mich liebt und mich nicht kontrolliert.

Er war außer sich. Aber es musste sein. Für mich und für ihn genauso. Vielleicht gibt es ja irgendwo jemanden, der genau das braucht, was Jason zu geben hat – aber ich bin es ganz sicher nicht.
 

01. August

Fye ist aus Italien zurück. Mein süßer kleiner Bruder... er redet wie ein Wasserfall, wenn man Emiglia Romagna auch nur erwähnt und scheint einen unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten zu haben. So kenne ich ihn gar nicht. Ob ihm die Heißblütigkeit der Italiener zu Kopf gestiegen ist? (Über diesen Bereich – Leidenschaften und alles, was dazu gehört – schweigt er sich natürlich aus. Aber das ist okay, denn ich mache es ja auch nicht anders.)

Es tut gut, ihn um mich zu haben. Er versteht mich. Er drängt mich nicht.

Alles ist wieder in Ordnung.
 

Kurogane blätterte die Seite um – und ein paar Papierfetzen starrten ihm entgegen. Zwei, drei, vier – die Reste von vier herausgerissenen Seiten, was nicht viel wäre, aber... die Einträge mussten nach Fyes Rückkehr wieder seltener geworden sein, denn was fehlte waren immerhin zwei Wochen. Zwei Wochen, in denen alles Mögliche passiert sein konnte!

Irgendetwas war geschehen zwischen dem Wiedersehen der Zwillinge und dem Entschluss, in eine andere Wohnung zu ziehen – in Italien. Man zog doch nicht urplötzlich ins Ausland, wenn nicht was ziemlich heftiges passiert war!

Kurogane stöhnte auf und schlug das Tagebuch wieder zu. Es half nichts. Das brachte ihn nicht weiter, nicht ein kleines Stück. Das hieß, er musste wohl doch Fye fragen. Die Briefe an sich reichten als Grund aus, um diesem Jason mal auf den Zahn zu fühlen, aber Kurogane wusste gern, worauf er sich einließ und aus einem simplen Gespräch konnte ganz schnell ein Verhör werden. Er war nun mal gern vorbereitet.

Und weil er gern vorbereitet war, machte er sich eine Liste mit Stichpunkten, die er über Jason Shioiri in Erfahrung bringen würde, bevor er in seine Nähe kam. Am besten wäre es, wenn er den Ex-Freund kontaktierte, vielleicht wusste der mehr. Eine aktuelle Adresse wäre schon hilfreich. Kurogane entschied, dass Syaoran das tun konnte, während er mit Fye redete oder andere Spuren verfolgte, die im Laufe des Tages noch auftauchen konnten. Als die Liste fertig war, war es halb elf und Kurogane löschte das Licht. Und mit der Finsternis kamen die Bilder wieder.

Die Art und Weise, wie man die Leichen hergerichtet hatte. Auf Rosen gebettet. (Zwar aus Marzipan, aber das zählte auch.) Vielleicht war das ja kein verrückter Fan gewesen, sondern die letzte zärtliche Geste eines früheren Liebhabers? Sie wussten noch nicht, woher die Rosen stammten. Oder mit wem sich Yuui an diesem Abend hatte treffen wollen. War das auftauchen eines neuen Lovers vielleicht der Auslöser dafür gewesen, dass der Mörder zugeschlagen hatte? Ein simples Verbrechen aus Leidenschaft?

Mürrisch warf Kurogane sich auf die andere Seite. Es war eine gute Theorie, aber sie gefiel ihm irgendwie nicht. Das Tagebuch-Lesen und Schnüffeln gefiel ihm nicht. Er wollte Yuui nicht zu nahe treten, auch wenn das schon längst passiert war. Er hatte auch nie erfahren wollen, dass Yuui solche Gedanken über ihn gehegt hatte. Lüsterne Gedanken.

Er und Yuui... wie abwegig. Nicht wahr? Auch der Gedanke störte Kurogane und er schob ihn beiseite, während er sich auf den Rücken wälzte. Dann auf den Bauch.

Und während er versuchte, nicht daran zu denken, was wohl gewesen wäre, wenn es Fye erwischt hätte und nicht Yuui, fragte er sich, ob Fye manchmal auch solche Gedanken hatte, wenn er ihn – Kurogane – ansah. Er musste diese Gedanken ja auch haben, wenn er andere Männer ansah.

Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er war jetzt für Fye verantwortlich, im Guten oder im Bösen. Der Blonde war fast ein Teil seines Freundeskreises. Das Team hatte ihn ins Herz geschlossen. Seine Mutter hatte ihn ins Herz geschlossen. Was, wenn Fye etwas passierte, im Lauf der Ermittlungen?

Kurogane schlief schlecht in dieser Nacht. Ausnahmsweise mal waren die lärmenden Nachbarn nicht schuld daran.
 

Ein Meer aus Wolkenkratzern. Spitz ragten ihre Dächer in den Himmel, nur das auf dem er stand hatte eine Dachterrasse und war etwas niedriger als die Anderen. Auf dem Sims saß eine schlanke Gestalt in einem marineblauen Mantel und ließ die Füße in besorgniserregender Höhe baumeln. Ihr blondes Haar – sein blondes Haar, denn es war ein Mann - war dem Spiel des Windes ausgeliefert und wurde mal in diese, mal in jene Richtung geworfen.

„Du bist spät, Kuro-chan“, sagte der Blonde munter, ohne den Blick von der Skyline abzuwenden.

Kurogane trat näher. „Du solltest da runter kommen. Das ist gefährlich.“

Der Angesprochene stand leichtfüßig auf und drehte sich um. Der Schwarzhaarige versuchte, sich diesen Anblick einzuprägen, denn etwas war anders an diesem Mann. Er konnte nur nicht sagen, woran es lag, so abgelenkt war er von dem Strahlen, welches das blasse Gesicht erhellte. Kurogane dachte: „Oh, so sieht es also aus, wenn er aufrichtig lächelt“ und er wusste, dass er Zeuge von etwas seltenem war. Ein Lächeln wie dieses sollte behütet werden.

„Welcher von Beiden bist du?“, fragte er und sein Gegenüber zuckte mit den Schultern.

„Was spielt das schon für eine Rolle?“ antwortete der Zwilling.

„Bitte. Ich muss es wissen.“ Fye oder Yuui winkte ihn näher zu sich, schmunzelnd.

„Würdest du mich auffangen wenn ich falle, Kuro-chan?“

„Sicher.“

„Weil es dein Job ist?“

Weil Yuui/Fye auf dem Betonsockel der Brüstung stand, waren sie auf Augenhöhe. Kurogane trat nah genug, um die Herausforderung in den Augen des Blonden funkeln zu sehen. Nah genug um ihn an sich ziehen zu können, wenn der blonde Narr wirklich fallen sollte. „Weil ich nicht anders kann.“

„Wie kitschig von dir,“ kicherte Yuui/Fye und dann, wie zufällig, kippte er leicht nach vorn und ihre Lippen fielen aufeinander. Kurogane konnte es nicht verhindern. Er wollte es auch gar nicht. Er hielt den Kleineren fest und küsste ihn innig. Als könne der Kuss die Frage beantworten, welcher der Zwillinge gerade seine Hand in Kuroganes Nacken legte; dabei machte die Intimität die Antwort nur wichtiger anstatt sie zu liefern.

Und dann war es plötzlich vorbei. Yuui/Fye stieß ihn weg.

„Ich kann das nicht“, flüsterte der Blonde. „Es tut mir Leid.“ Er stand verdächtig nah an der Kante, das fiel Kurogane jetzt schon zum zweiten Mal auf.

„Warum nicht?“

„Weil ich kein Herz mehr habe, dass ich verschenken könnte. Hast du das vergessen? Eine Kugel hat es durchschlagen und dann hat man es mir bei der Autopsie herausgenommen.“

„Yuui.“

„Natürlich. Es sei denn, es wäre dir lieber, ich wäre Fye. Hättest du Fye lieber, Kuro-chan?“

„Was? Nein.“

„Hm. Das ist aber schade, weißt du, denn sein Herz schlägt wenigstens noch. Andererseits, ist das hier ein Traum.“

„Du könntest uns also Beide haben“, fügte eine Stimme hinzu und eine Hand mit langen, zarten Fingern legte sich auf seine Schulter. „Wenigstens so lange dieser Traum anhält.“
 

Es war so gegen vier Uhr in der Frühe, als Fye von einem ordentlichen Rummsen aufgeschreckt wurde. Es klang ganz ganz, als wäre jemand aus dem Bett geplumpst und dieses Geräusch in Einklang zu bringen mit dem großen Inspector, der gerne so mürrisch drein schaute... der Blonde rang sich ein schwaches Schmunzeln ab und legte ein Lesezeichen in sein Buch. Er hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, aber vielleicht war ja jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um wenigstens so zu tun. Also legte er seine Lektüre auf den Couchtisch, machte das Licht aus und legte sich auf dem Sofa lang. Die Decken, die Kurogane ihm überlassen hatte, lagen unbeachtet auf dem Fußboden – es war noch immer viel zu schwül und zu stickig.

Fye mochte ein paar Minuten so dagelegen haben, vielleicht waren es auch zehn oder eine Viertelstunde, da hörte er die Schlafzimmertüre knarren und Kuroganes schwere Schritte auf dem Flur. Dann wurde die nächste Klinke betätigt und kurz darauf ertönte das leise Rauschen von Wasser. Kuro-chi stand wohl unter der Dusche.

Der Ältere seufzte schwer und stellte sich vor, das Prasseln käme von Regen, der über der Stadt fiel und eine kühle Brise brachte.

Es hatte auch geregnet an dem letzten Tag, als er Jasons abstoßende Visage hatte sehen müssen. Abstoßend war er vor allem wegen seiner Taten, nicht wegen seines Aussehens; ein Ungleichgewicht, das Fye (damals noch Yuui) zu beheben gedachte. Er erinnerte sich kaum noch an die Prügelei, nur an das Blut auf dem Asphalt, das vom Wetter weg gewaschen wurde und die entsetzten Schreie seines Bruders. Er war mit einer aufgeplatzten Lippe und einem blauen Auge davon gekommen. Und er hatte Jason in den Arm gebissen und hätte noch viel schlimmere Dinge für ihn vorgesehen, wenn Fye ihn nicht heulend davon abgehalten hätte.

('Hör auf, Yuui! Ich will nicht, dass er dir wehtut.')

Als ob Jason ihn ernsthaft verletzten könnte nach dem, was er abgezogen hatte. Jason hatte es verdient, dass man ihm eins in die Fresse haute und das hatte er in dem Moment gewusst.

Die Erinnerungen verblassten, als die Müdigkeit dann doch auf leisen Sohlen angeschlichen kam. Und sie war nicht die Einzige. Halb schlummernd, roch Fye Kurogane bevor er ihn näherkommen hörte. 'Ob ich ihn mal danach fragen sollte, was er davon hält, dass wir das gleiche Duschgel haben?, fragte er sich. Die Härchen in Fyes Nacken stellten sich auf, als der Inspector barfuß zum Sofa schlich und sich hinkniete, um den vermeintlich Schlafenden zu beobachten.

Kurogane atmete.

Nun, alle Menschen atmeten, immerhin mussten sie ja irgendwie ihr Hirn mit Sauerstoff versorgen, es hätte also nichts besonderes sein dürfen, aber... wenn Kurogane atmete, dann bekam Fye eine Gänsehaut. Er war es nicht gewohnt, dass jemand ihm so nahe kam, einfach nur um ihn zu beobachten. Was tat Kurogane da überhaupt? Wachte er? Oder hoffte er aus dem Gemurmel eines Schlafenden Hinweise für seinen Fall zu bekommen?

Die Menschen, die auf Fye zukamen, wollten alle irgendetwas von ihm. So waren Menschen nun mal gestrickt. Und es war okay, so lange man wusste, was genau sie von einem wollten, aber Kurogane war da anders. Er war ständig da. Hatte seine Augen überall. Was der Inspector suchte, waren Informationen, aber das konnte nicht alles sein, bei der Hartnäckigkeit, mit der er vorging. Fast konnte er sich sogar einbilden, Kuro-rin läge etwas an ihm, so sehr bemühte der Jüngere sich.

Kurogane stieß einen tiefen Seufzer aus. „Du schläfst gar nicht, stimmt's?“

„Ich hab's versucht. Aber ich kann nicht, wenn mir einer zuguckt,“ murmelte Fye ohne die Augen aufzuschlagen.

Idiot.“ Diesmal klang es fast wie ein Kosename.

„Stalker.“

„Betrachte es als eine Art Untersuchungshaft.“

Na so was, der Herr Inspector konnte ja sogar scherzen! Fye gab die Scharade auf und öffnete die Augen, dabei sah Kurogane er nicht so aus als wäre er zu Späßen aufgelegt. Hätte der Blonde ihn besser gekannt, hätte er behauptet, der Polizist wirkte ein wenig gequält. „Du hast mich doch nicht geweckt, nur um mir das zu sagen, oder?“

„Du warst wach.“

„Das konntest du nicht wissen.“

„Ich...“ Kurogane setzte sich hin und schlug die Beine übereinander. Was eindrucksvoll gewirkt hätte, wenn er nicht nur in Boxershorts gewesen wäre. Mit irgendwelchen Figürchen drauf, die sich im Halbdunkel des Morgens nur schwer erkennen ließen. „Du bist nicht dein Bruder“, sagte Kurogane schließlich. Um ein Haar hätte Fye laut aufgelacht, denn wenn es jemals einen Menschen gegeben hatte, der dem widersprechen konnte, dann er.

„Ich weiß.“

„Ich dachte nur- was, wenn der Mörder das nicht weiß? Tomoyo sagte, es war nicht öffentlich bekannt, dass du sein Zwilling bist.“

„Kuro-tan...“

„Was, wenn dich durch Zufall ein Fan auf der Straße sieht und auf Twitter oder Facebook postet, dass Yuuis Tod ein makabrer Publicity Gag war? Und der Mörder dann auf Nummer sicher gehen will und hinter dir her ist?“

„Ich dachte, du hättest Jason im Verdacht?“

„Sicher, aber – wenn ich mich da irre könntest du in ernsthafter Gefahr sein. Ich... ich will, dass du heute den Tag über bei den Daidoujis bleibst. Und ich rede mit meiner Chefin, ob ich Polizeischutz für dich organisieren kann.“

„Ich soll Däumchen drehen und mit deiner Mutter Tee trinken, während du ermittelst? Vergiss es.“ Fye setzte sich auf, empört. Er wollte keinen Polizeischutz! Die Möglichkeit, dass der Mörder seines Bruders als nächstes ihm nachstellte, hatte er in Betracht gezogen, ja, hatte sie sogar begrüßt.

„Du blöder- ich versuche dir klar zu machen, dass dein Leben in Gefahr sein könnte und du denkst nur daran?“

„Oh? Macht Kuro-sama sich etwa Sorgen um mich? Wie süß.“ Er versuchte, einen Witz daraus zu machen. Kurogane zu verunsichern, in der Hoffnung, dass der zurück rudern würde (weil vernünftige Argumente wohl kaum durch den Dickschädel des Inspectors drangen, aber stur konnte Fye auch sein, verdammt noch mal). Die Alternative wäre, einzugestehen, dass ihm sein Leben so ziemlich egal war. Das ohnehin nicht mehr viel davon übrig geblieben war und die Zukunft ein undurchschaubares Durcheinander. Aber irgendwie wollte er nicht, dass Kurogane erfuhr, wie miserabel er sich die meiste Zeit wirklich fühlte. Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass er von dem Schwarzhaarigen kein Mitleid wollte.

Kurogane fletschte instinktiv die Zähne, fast wie ein Hund, aber wenn er einen Kommentar auf der Zunge gehabt hatte, dann hatte er ihn herunter geschluckt. Das Einzige, was er heraus brachte war ein weiteres: „Idiot.“

Er stand auf – seine volle Größe wirkte sogar noch imposanter, wenn man sie aus sitzender Position betrachtete, wie der Polizist sicher genau wusste – und verschränkte die Arme. „Das wir uns verstehen: das war kein Vorschlag. Meine Entscheidung steht längst fest.“

Fye setzte einen Schmollmund auf. Er mochte es gar nicht, wenn man über seinen Kopf hinweg Entscheidungen traf und erst recht konnte er es nicht ausstehen, wenn man ihn einsperrte. Vor allem, wenn der Beschluss von einem Mann in Unterwäsche kam. Zu gerne hätte Fye seinem Frust Luft gemacht und Kurogane die Unterhose runter zu ziehen bot sich geradezu an – aber man biss nicht die Hand, die einen fütterte. Und ein entblößter Inspector hätte dafür gesorgt, dass man ihn endgültig rausschmiss.

Der Blonde legte sich wieder hin, aber diesmal drehte er Kurogane den Rücken zu. Er würde seine Rache schon noch haben. Miyako-san würde bestimmt ein paar hübsche Anekdoten aus Kuro-chans Kindheit kennen.
 

Kurogane starrte noch einen Moment auf den Rücken seines unfreiwilligen Mitbewohners, auf das schwarz-weiß gestreifte T-Shirt, das zerknittert an seinem Rücken pappte und die goldenen, verschwitzten Haare, die, von der Schwüle gelockt, ein noch größeres Durcheinander ergaben. Er widerstand dem Drang, Fye eine Decke überzuwerfen, als wäre er ein bockiges Kind (obwohl er sich wie eines benahm!) oder ihm erneut und vollkommen unnötig mitzuteilen, dass er alles in Ordnung bringen würde.

Nein, Kurogane drehte sich um und ging in sein Schlafzimmer zurück. Dabei drückte er die Klinke äußerst vorsichtig herunter, um so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Drinnen lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Tür und verbarg sein Gesicht in seiner Hand. Ein Teil von ihm wollte sich selbst gratulieren, dass er dieses Gespräch führen konnte ohne durchzudrehen, ein anderer Teil krähte nach ein bisschen Halt und Normalität.

Er wusste, dass er in der Scheiße steckte. Und zwar so richtig.

Weil es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass er begann, Gefühle zu entwickeln. Kurogane kannte sich und es war nicht das erste Mal, dass ihm das passierte – dass er glaubte, alles wäre okay, bis es ihm plötzlich den Boden unter den Füßen wegzog. Und dieser Traum den er gehabt hatte, war eindeutig von der bodenlosen Sorte gewesen.

Er konnte sogar sagen, warum er dieses Problem hatte – es hatte irgendwas mit der Verklärung und Romantisierung von Erinnerungen zu tun. Nicht, dass dieses Wissen irgendetwas dazu beitragen konnte, um das Unvermeidbare zu verhindern.

Er wusste, dass er im Begriff war sich zu verlieben. Das Problem war nur – in wen? Man konnte sich nicht in einen Mann verlieben, den man kaum gekannt hatte, oder? War es die Zuneigung zu Yuui, die dazu führte, dass er dessen durchgeknallten Bruder beschützen wollte oder war es seine Fixierung auf Fye und die Liebe, die dieser für seinen Bruder empfunden hatte, die nun dafür sorgte, dass ihm Yuuis Schicksal so nahe ging?

Kurogane schloss die Augen und atmete tief durch, was nicht leicht war, denn es fühlte sich an, als hätte sich etwas auf seine Brust gesetzt, dass ihn schlecht Luft holen ließ. Er hatte Angst.

Davor, die Antwort auf diese Fragen zu finden.

---

Ist es nicht interessant, was für Erkenntnisse man unter der Dusche gewinnen kann? Über die Temperatur des Wassers und was Kurrogane wohl noch so gemacht hat außer zu grübeln, das überlasse ich mal ganz eurer Fantasie. Und oh! Kuroganes emotionales Wirrwar wird sich noch verschlimmern, ich kann es fühlen. ^^

Tut mir Leid, dass es wieder so lang gedauert hat. Witzigerweise hing ich in Kapitel 13 fest. Aber mittlerweile habe ich Internet zu Hause, das ist auch mal was!
 

Vorschau:

[...]Dabei war das ganz und gar nicht selbstverständlich. Das erforderte doch Zeit und Nähe und dass er sich die Mühe gemacht hatte, zeugte von einer Hingabe... die nicht viele Menschen aufbrachten. Kurogane fühlte sich plötzlich unwohl in seiner Haut.[...]



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Kommentare zu dieser Fanfic (33)
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Von:  Waschbear
2013-11-07T21:26:41+00:00 07.11.2013 22:26
Oh WOW einfach der Hammer ich liebe deine Story *\(^o^)/*
Hab grade Komplet durchgesuchtlt Wals so gut war (=゚ω゚)ノ
Oman ich liebe fay einfach schade das Sein Zwilling tot is


Also schreib büüüüüde schnell weiter die Story macht nehmlich echt süchtig☆〜(ゝ。∂)
Von:  kiala-chan
2013-04-12T09:15:18+00:00 12.04.2013 11:15
diese FF hat mir echt super gefallen *__*
der schreibstil ist klasse und die story erst. du könntest echt krimi-autorin werden :)
großes lob! ^.^

ich hoffe sehr, dass du weiterschreibst, jetzt kam schon lange kein neues kapi mehr. will unbedingt wissen, wies ausgeht
wer ist der Mörder? hat die geschichte noch ein happy end für "fye" und kuro-tan ;__;

Von:  YueofFluorite
2013-02-12T11:04:03+00:00 12.02.2013 12:04
Soooo schön <3 bitte schreib bald weiter ich kann gar nicht warten bis es weiter geht ^.^ ~<3
Von:  Jinee94
2012-08-28T10:12:51+00:00 28.08.2012 12:12
Schreib schnell weiter. Biiiiitte!
Ich liebe deine Story! Ich will wissen wie es weiter geht!!!!
Auch wenn das lange warten eine Qual ist xD

Das Kapitel war voll schön !
Die Tagebucheinträge und der Traum waren...*schmacht* ich musste es mehrmals lesen weil es so süß war :)
Und dann das Kuro sich eingesteht sich langsam in Fye zu verlieben...das ist mal ein völlig neuer Kuropuuu..aber voll süß ^-^
Von: abgemeldet
2012-08-26T19:03:46+00:00 26.08.2012 21:03
Ich kann nicht behaupten, dass ich großartig Mitleid mit Kurogane hab. Selber Schuld, wenn er in anderer Leute Tagebücher rumschnüffelt XD

Was ich ausgesprochen interessant fand, war sein Traum.
Vielleicht interpretiere ich da mehr rein als da wirklich ist, aber von außen betrachtet spiegelt er die aktuelle Situation zwischen den Zweien, bzw. Dreien deutlich.

Sehr gut gefällt mir auch dein Ansatz, dass Kurogane sich tatsächlich eingesteht auf dem besten Weg zu sein sich in Fye zu verlieben. Oder die ersten Schritte in diese Richtung schon gemacht hat, ohne sich dessen bewusst zu sein.
In den meisten FFs gibt er sich das ja erst zu, wenn aller Widerspruch zwecklos ist weil sowieso alle Welt längst Bescheid weiß.

Ich freu mich schon aufs nächste Kapi ^^
Liebe Grüße,
Puffie~
Von:  Meekamii
2012-08-26T13:42:22+00:00 26.08.2012 15:42
*.* Wie lange ich darauf gewartet habe das es weitergeht! Der Traum war mies XD ich dachte zuerst das passiert jetzt in echt und dann war es nur ein Traum und der andere Bruder taucht auch auf maaan X3 Die Einträge im Tagebuch hast du richtig gut geschrieben! Sehr Authentisch und interessant.
Ich warte gespannt auf das nächste Kapittel ^_°

wata ne ^-^
Bunny
Von:  Meekamii
2012-06-22T20:18:33+00:00 22.06.2012 22:18
Schöön, endlich geht es weiter! ^^ Kuroganes Mama .. hmm. Vielleicht spielt sie noch eine Rolle bei der Lösung des Falls. Vielleicht ist sie die jenige die hinter Fyes (Yui´s) Geheimnis kommt. Am Sonntag gehts weiter? ^_^ Dann freu ich mich schon auf Sonntag. Du schreibst so schön! Ich finde es super wie du es beschreibst was in den Personen vor sich geht, so dass man sich gut hineinversetzen kann. Bin auch sehr gespannt auf das Geheimnis von Fye und was es mit diesem Minoru auf sich hat.

Was ich nicht ganz verstanden habe ist das er manchmal Minoru und manchmal Mamoru hieß. Oder sind das zwei verschiedene Personen?


l.G
Bunny
Von: abgemeldet
2012-06-22T20:13:09+00:00 22.06.2012 22:13
*Daumen drück* ^__^

Das ist wirklich ein schönes Kapitel.
Ich bin von der ruhigen Atmosphäre noch richtig entspannt XD
Und obwohl die reine Handlung an sich unspektakulär ist, hat das Kapitel eine wunderbare Tiefe die allein auf der Interaktion und Beziehung zwischen Fye und Kuroganes Mutter und Kurogane und seiner Mutter beruht.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es noch mehr von diesen Momenten geben würde.

Na gut, "unspektakulär" stimmt so jetzt auch nicht; neben einer bisher unbekannten Person aus Fyes Bekanntenkreis sind ja durchaus auch noch ein paar neue Brocken an Informationen dazugekommen XD
Aber der letzte Teil des Kapis hat mich so überwältigt, dass ich den Anfang glatt schon fast wieder verdrängt hatte XD""
*Asche über mein Haupt streu*

Jedenfalls freue ich mich schon sehr auf das nächste Kapi ^^
Und da ich ja weiß, dass es auf alle Fälle kommen wird werde ich geduldig darauf warten und mich dann freuen wenn es da ist ^-^

Ich wünsch dir ein schönes Wochenende!
Liebe Grüße, Puffie~
Von:  JeanneDark
2012-05-28T06:00:54+00:00 28.05.2012 08:00
Ich fühle mich als hätte die FF mitten im Satz aufgehört xD
Lad bloss ganz schnell den Rest hoch @_@
Von:  Meekamii
2012-05-26T16:58:13+00:00 26.05.2012 18:58
Das ist echt süüß! Die Szene wo sie zum Schluss nebeneinander liegen. Da sieht man mal ein bisschen Kuroganes weichen Kern. Fye tut mir so leeiiid T_T das er Nachts heimlich weinen muss um den Tag ohne Tränen überstehen zu können. Die Briefe waren schon ziemlich krass O_O Fye hat bestimmt die ganze Zeit schon Angst das der Kerl ihn verfolgen könnte. Von dem Spiel "ich hab noch nie" hab ich noch nie was gehört XD aber ist sicher lustig ^^ Ich warte immer sehnsüchtig auf das nächste Kapittel *.* Bitte schnell weiterschreiben ^-^

l.G
Bunny


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