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Inspector Black und das Mysterium des toten Zwillings

Eine KuroFye-FF (Kap.10 lädt)
von

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Sonntag Morgen

Anm: Fyes Klingelton ist „Pumpkin Soup“ von Kate Nash. Eine meiner Freundinnen nennt den Song auch liebevoll: „Scheiße, was ist das, mach das AUS!“ weil es nicht lustig ist nach einer durchzechten Nacht von den ersten Takten geweckt zu werden. ^^
 

The sun had painted patterns on your face

As you breathed Sunday air

You rolled onto my open arm

I became your pillow; you let me smooth your hair

Ingrid Michaelson, “Morning Lullabies”
 

Seine innere Uhr weckte ihn sieben Uhr morgens, als die Sonne ihm schon unerträglich warm in den Nacken schien. An einem Sonntag, wo doch kein normaler Mensch an einem Sonntag um sieben Uhr aufstehen würde.

Und auch sein Körper schien nicht ganz auf den normalen Betrieb eingestellt zu sein; da war ein Druckgefühl in seinem Schädel und er konnte seinen linken Arm nicht spüren. Er drehte den Kopf ein wenig, um eine Erklärung für die Taubheit zu finden und seine Nase stieß fast gegen eine fremde Stirn. Ach ja, richtig. Die vorige Nacht. Alkohol, peinliche Enthüllungen und Fye, der am Fenster gesessen und geweint hatte. Dessen Hand er gehalten hatte, bis er einschlief und der sich irgendwann in der Nacht auf den Bauch gedreht haben musste. Und jetzt schnarchte er leise vor sich hin und quetschte mit seinem Gewicht die Blutzufuhr von Kuroganes Arm ab.

Bei dem Versuch, durch vorsichtiges hervor ziehen das Körperteil zu bergen, zuckte der Blonde zusammen, in seinem Schlummer gestört, und gab dabei ein fast unanständiges Stöhnen von sich.

’Oh bitte, du willst mich doch verarschen!’

Okay. Anscheinend war es unmöglich, seinen Arm zu retten und Fye schlafen zu lassen. Und obwohl es selten war, dass der Ältere so ausgeruht und friedlich wirkte, hätte Kurogane ihn geweckt, wenn da nicht ein kleines Problem gewesen wäre. Problem war vielleicht das falsche Wort. Es war absolut natürlich, früh am morgen aufzuwachen und festzustellen, dass ein gewisser Teil des Körpers noch durchblutet war und daher prächtig aufrecht stand. Aber er würde den Teufel tun und Fye wecken, so lange er noch mit seiner morgendlichen Erektion zu kämpfen hatte; dem Idioten fiel dazu nur wieder eine seiner ach-so-geistreichen Kommentare ein.

Also musste Kurogane die Sache hinnehmen wie ein Mann und ausharren, wobei die Wärme des morgendlichen Betts das Abschwellen nur unnötig verzögerte. Er schloss die Augen und stellte sich schlafend.

Und irgendwann, nachdem eine undefinierbare Zeit vergangen war und seine Lenden wieder in einem normalen, absolut anständigen Zustand waren, wurde die friedliche Stille des Morgens gestört.

Fyes Handy klingelte irgendwo im Raum und schlagartig fuhr Leben in den blassen, schlanken Körper. Der Mann schreckte aus dem Schlaf, und fiel halb, eilte halb aus dem Bett. Was folgte war das Geräusch emsigen Raschelns, als Fye Hose oder Jacke durchsuchte, während dass Telefon weiter plärrte („I just want your kiss boy... kiss boy....“). Und Kurogane biss sich auf die Lippen um einen Aufschrei zu unterdrücken, denn als die Zirkulation wieder einsetzte, hatte er das Gefühl, jemand habe ein Feuerwerk in seinem Arm entzündet.

(“I just want youuur-“)

Oh Gott sei dank, er hatte das Teil gefunden.

„Ja?“, flüsterte Fye.

Das Tapsen nackter Fußsohlen auf dem Teppich und das Knarren der Fenster. Gefolgt von einem frischen Stoß warmer Luft, als das Fenster geöffnet wurde. Kurogane vermutete, dass Blondie sich wieder auf den Fenstersims zurück gezogen hatte.

„Mamoru-san? – Wie? Oh. OH. Nein, ich... Es tut mir Leid, das zu hören. Wann genau...? – Oh.“

Nur eine Seite des Telefonats mit anzuhören, war frustrierend, vor allem, wenn der Telefonierende flüsterte. Warum ging er nicht einfach raus?

„Ich nehme an, Sie haben über die Medien von Yuui’s Tod erfahren.“

Und das war der Moment, an dem Kurogane hellhörig wurde.

„... Ich verstehe. Aber, hören Sie Minoru-san, ich denke nicht, dass es erforderlich ist- ich meine, es würde doch das ganze Programm bedeuten, nicht wahr? – Okay, aber ich weiß nicht, ob das nötig ist. Ich, ehrlich gesagt, ich will hier nicht weg. Und der Inspector, der für den Fall zuständig ist, scheint ein ziemlich fähiger Kerl zu sein. Also, sofern sich nicht herausstellt, dass das was mit jener Sache zu tun hat, will ich nicht, dass Sie was unternehmen. Geht das? Haben Sie nicht irgendwelche Suchmaschinen, die das überprüfen? Irgendwelche Filter, die nach bestimmten Keywords suchen, oder so?“

Was sollte ihn mehr irritieren, dass Fye ihn für fähig hielt oder dass sie in eine Art Spionage-Film hinein geraten waren? Denn so klang es. Als wäre Fye irgendein Undercover-Agent in streng geheimer Mission. Lächerlich.

„Danke, Minoru-san. Danke. – Ja, natürlich. Sie hören von mir.“ Er ließ ein kleines, nervöses Lachen hören. Und legte auf. Kurogane konnte einen leisen Seufzer hören und wie Fye murmelte: „Was für ein Schlamassel.“ Er hörte, wie der Mann, der noch mehr Geheimnisse zu pflegen schien, als ursprünglich angenommen, wieder auf die Matratze zurück krabbelte. Wer zum Henker war dieser Minoru-san? Kurogane fragte sich, ob Fye selbst eine Ahnung hatte in was für ein Netz er sich eigentlich verstrickt hatte, denn er hatte immer mehr das Gefühl, als würde der Blonde alle Leute um sich herum auf einer Armeslänge Abstand halten. Und dann fragte er sich gar nichts mehr, als ein paar überaus geschickte Finger die empfindliche Stelle hinter seinem Ohr zu kraulen begannen, als wäre er irgendein Hund. Was zum...

Fye schien genau zu wissen, wie viel Druck er aufwenden musste, um ein angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut zu hinterlassen, dort wo er sie berührt hatte. Und sein Gesicht musste nah genug sein, dass sein Atem Kuroganes Ohr streifte.

„Du wirst mich doch nicht enttäuschen, nicht wahr?“, flüsterte Fye und dann passierte das, womit Kurogane eigentlich hätte rechnen müssen, weil die de Fluorites Franzosen waren und Franzosen –

Fye gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schlich sich dann aus dem Zimmer.

Franzosen – mit ihrer unbeschwerten Art mit Menschen umzugehen. Herumzulaufen und zu flirten, obwohl sie es nicht meinten und sich mit einem anfreundeten, ob man wollte oder nicht. Es war in Frankreich Sitte, jemandem zum Abschied auf beide Wangen zu küssen. Jemandem, den man als Freund betrachtete. Yuui hatte das ebenfalls getan, entsann er sich, damals. Und so kehrte ein weiterer Teil von Kuroganes Erinnerung zurück. Yuui hatte ihn vor einem Sturz bewahrt. Yuui hatte ihm seine Freundschaft aufgedrängt und ihm dann ein Eis gekauft. Und danach-
 

Nachdem das Eis verzehrt ist und Kurogane anfängt zu schmollen, da sein neuer Freu-, Bekannter es gewagt hat, ihn mit Kuro-chan anzusprechen, haben sich beide rücklings ins Gras gelegt und einfach nur das beleuchtete Blätterdach angestarrt. Das gemeinsame Schweigen fühlt sich mehr nach Kameradschaft an als das irritierende Gespräch zuvor, auch wenn der Junge diese Art der Zeitverschwendung nicht gut heißen kann. Er befindet sich im Wachstum und dieselbe Energie, die seine Knochen und Muskeln streckt, brennt in ihm wie eine unauslöschbare Fackel, ist die Quelle seiner Rastlosigkeit. Um etwas zu tun zu haben, verzwirbelten seine Finger die Grashalme unter ihm bis seine Fingerkuppen grün von Chlorophyll sind. Er lauscht Yuuis Atem: sanfte, gleichmäßige Züge, die, obwohl der Mann ihm gar nicht so nah ist, laut und deutlich an Kuroganes Ohr dringen.

Das Geräusch hat etwas Beruhigendes an sich. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, als er Yuui völlig zusammenhanglos Worte vor sich hin murmeln hört, deren Bedeutung er nicht versteht, aber sie hören sich irgendwie wichtig an. Aufgebläht. Und einsam. Abrupt setzt Kurogane sich auf und sein Bekannter tut es ihm gleich.

„Was war denn das?“, fragt der kleine schwarzhaarige Junge den Mann, der neben ihn im Gras sitzt. Eine milde Brise erfasst sie beide, spielt mit den blonden Strähnen des Älteren, sodass es schwer ist, seine Gesichtszüge klar zu erkennen.

„Ein Gedicht von T. S. Eliot. 'The Waste Land'.“

„Und warum zitierst du mitten am Tag ein Gedicht ohne ersichtlichen Grund?“, fragt der Junge ein wenig unwirsch. Er versteht das Verhalten seiner neuen Bekanntschaft nicht, und er mag es nicht, etwas nicht zu verstehen. Aber er ist noch jung und will alles in Erfahrung bringen, dass er nicht versteht.

„Wer sagt, dass es keinen Grund gibt?“, fragt der Blonde und blickt den Jungen an. Er lächelt, friedlich und warmherzig. Kurogane fühlt ein kurzes Ziehen in der Brust, wie einen kleinen Krampf, aber das Gefühlt verschwindet so schnell wie es gekommen ist und macht einem Kribbeln Platz. Das Kribbeln breitet sich in seinem ganzen jugendlichen Körper aus und setzt sich unter seiner Haut fest. Kurogane wird rot und blickt zur Seite.

Sein Herz schlägt schneller.

„Wie ist das eigentlich so?“, fragt er schließlich, nachdem sich sein Puls normalisiert hat und nur noch die Wangen mit einem zarten Pink überzogen sind.

„Wie ist was, Kuro-chan?“

Er runzelt die Nase über den Spitznamen, sagt aber nichts weiter dazu. „Mit einem anderen Mann zusammen zu sein.“

„Hm…“, macht Yuui und Kurogane widersteht dem Drang, den Kopf zu neigen um besser erkennen zu können, was die Frage wohl in dem Blonden ausgelöst haben mag. Der Junge weiß, dass er wahrscheinlich kein Recht hat zu fragen, aber er schafft es nicht, sich deswegen schuldig zu fühlen. Er ist nur neugierig.

„Weißt du, das ist eine exzellente Frage, über die ich mir auch schon oft Gedanken gemacht habe, nur in einem anderen Kontext – aber darauf gibt es wohl keine richtige Antwort. Ich meine, dazu müsste ich wissen, wie es ist mit einem Mädchen zusammen zu sein. Ohne sich auf die üblichen Vorurteile zu stützen. Ich bin ja eher der Meinung, dass es keinen Unterschied macht ob eine Beziehung aus zwei Menschen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts besteht, weil ohnehin jeder Mensch einen anderen Charakter besitzt. Es gibt Mädchen, denen sagt man nach, dass sie sich wie Jungs benehmen und Jungs, die sich angeblich wie Mädchen benehmen. Wobei… Mädchen reden lieber über ihre Beziehungen. Das ist der einzige Unterschied, den ich feststellen kann.“

„Mein Dad sagt immer, dass wenn man über eine Beziehung reden muss, etwas damit nicht stimmt.“

„Und was denkst du?“

Jetzt neigt Kurogane doch den Kopf und bemerkt, dass diese großen blauen Augen (Gott, es sollte verboten sein, als Mann so große Augen zu besitzen) ihn direkt mustern. In dem zarten Gesicht ist kein Fältchen zu sehen, weder auf der Stirn noch um die Mundwinkel. In dem Moment wirkt Yuui viel jünger, so als wären sie gleich alt. In dem Moment kann Kurogane nicht mal raten, was in dem Anderen vorgeht, aber er weiß, dass man sich nicht über ihn lustig macht. Yuui will ernsthaft seine Meinung hören. Das ist etwas, das der Junge noch bei keinem Erwachsenen erlebt hat.

„Ich… äh… keine Ahnung. Ich meine, wenn tatsächlich etwas nicht stimmt, dann muss sich was ändern, oder? Und… und wenn beide sich tot schweigen, dann ändert sich nichts.“

Hat er etwas Falsches gesagt? Yuui… sieht aus, als hätte man ihn an etwas Unangenehmes erinnert. Kurogane glaubt nicht, dass er schuld daran ist, aber es gefällt ihm auch nicht, dass die ersten seiner Worte, die man ernst nimmt, so eine Wirkung haben.

„Nur… was ist, wenn man von vornherein weiß, dass der Andere nicht zuhören wird? Dass darüber zu reden ohnehin nichts bringt?“

„Hä?“

„Ach, nichts.“

Das ist der Moment, in dem Kurogane lernt, dass die Worte Ach nichts alles andere bedeuten als dass es nichts gibt, das einem auf der Seele liegt. „Es ist sowieso viel besser, auf sich allein gestellt zu sein,“ sagt er dann, in einer kindischen Trotzreaktion weil Yuui ihn angelogen hat und zwar auf eine leicht zu durchschauende Weise.

„Sag doch so was nicht!“

„Warum nicht? Ist doch wahr!“ Er springt auf die Füße; Gras wird unter seinen Turnschuhen zerquetscht. Die Plastiksohle färbt sich grünlich wie seine Ellbogen und Waden. „Wenn man auf sich allein gestellt ist, dann muss man auch niemanden anlügen, nur weil man glaubt ihn so zu beschützen und wenn man niemanden anlügt, auch sich nicht, dann gibt es auch keine Probleme.“

Jeder Mensch lügt, sogar seine Eltern, selbst wenn sie nicht so oft logen. Vater hat versprochen er würde bald nach Hause zurückkommen, obwohl er genau weiß, dass das nicht in seiner Hand liegt. Erst wenn seine Befehlshaber entscheiden, die Truppen aus dem Balkan abzuziehen oder Vater schwer verwundet wird, kann er nach Haus kommen. Und Mutter versichert Kurogane immer mit einem Lächeln, dass es ihr gut geht, dass sie immer für ihn da ist, ganz egal was passiert, weil sie noch ganz, ganz alt werden wird; eine runzlige alte Frau mit wallendem weißen Haar. Aber Kurogane weiß es besser, er weiß, dass mit ihrem Herz etwas nicht stimmt und dass sie eine bessere medizinische Behandlung braucht; etwas anderes als die Tabletten, die sie im Moment nimmt, aber das können sie sich nicht leisten, selbst mit Vaters Sold nicht.

Lügen, Lügen, Lügen.

Er liebt seine Eltern, aber die Lügen machen ihn krank, weil sie auch ihn zwingen zu lügen. Sie zwingen ihn so zu tun, als wäre alles okay, als bemerkte er ihre Probleme nicht.

Seine Hände ballen sich zu Fäusten und erst, als etwas Warmes über sein Kinn rinnt, stellt der Junge fest, dass er sich vor Frust auf die Lippe gebissen hat.

„Kuro-chan...“ Der Mann neben ihm bedenkt ihn mit einem aufrichtig fürsorglichen Blick aus klaren blauen Augen, „Du musst wirklich besser auf dich aufpassen.“ Yuui streckt die Hand nach ihn aus um das Rinnsal wegzuwischen und Kurogane lässt ihn, trotz des Impulses, vor der Berührung zurück zu zucken. Er will Yuui nicht denken lassen, er ekle sich vor ihm.

Und da ist es schon wieder, dieses komische Ziehen in der Brust und er fragt sich, ob das wohl weg gehen würde, wenn er Yuui küsst, nur so probehalber. Seine Lehrerin pflegte zu sagen, dass ein guter Kuss wie ein winziger Tropfen des Wassers von Lethe ist, nur dass Küsse einen nur die schlechten Sachen vergessen lassen.

Bevor sein Verstand diese Option verwerfen oder tatsächlich in Erwägung ziehen kann, klingelt Yuuis Mobiltelefon. Der Blonde zuckt zusammen, schuldbewusst, und kramt nach seinem Handy. Flucht, als er auf die Anzeige sieht und setzt dann ein unheimlich falsches Lächeln auf während er auf den grünen Hörer drückt.

„Hey, Schatz, was gibt’s?“

Stirnrunzelnd lässt der Junge sich im Schneidersitz aufs Gras fallen und lauscht der einen Hälfte der Unterhaltung.

„Nein, ich bin noch unterwegs. Warum, soll ich was mitbringen? Sind die Eier schon wieder alle? ... Ähm, nein, ich habe den Umweg über den Park genommen. ... Wegen der Aussicht natürlich und wegen der frischen Luft. ... Natürlich bin ich allein.“

In genau diesem Moment blickt der Mann zu ihm herüber und Kurogane fühlt sich einerseits enttäuscht (noch mehr Lügen), andererseits rinnt ihm ein Schauer über den Rücken beim Anblick von Yuuis nervösem und entschuldigenden Lächeln.

„Du weißt doch Schatz, ich hab’ niemanden außer dir und ich brauch niemanden außer dir. Außer Fye natürlich, aber er zählt nicht, weil wir fast ein und dieselbe Person sind. – Mh. Hm-hm. – Natürlich, mach mich sofort auf den Weg. Bis gleich. Hab dich li-hieb!“

Der Seufzer, den Yuui ausstößt, als er das Telefon weg steckt klingt allerdings nicht danach, als würde er seinen Schatz li-hieb haben. Nein, ganz und gar nicht. Und irgendwie sieht der Blonde auch so aus, als würde er sich schämen.

„Tschuldigung. Das war mein Freund. Ich muss dann wohl los.“

Kurogane ist zu jung, um zu begreifen, was das übertriebene Maß an Liebesbeteuerungen bedeutet oder was ein chronisch eifersüchtiger Partner ist, denn er wächst behütet auf, bei Eltern, die sich wirklich lieben. Aber was er an Erfahrung vermisst, macht er mit Instinkt wett. Und er spürt. Dass da etwas im Argen liegt. Also fragt er: „Ist alles okay?“

„Tja, es ist wohl die Zeit gekommen, au revoir zu sagen“, meint Yuui, was keine Antwort ist. Und, mit einem traurigen Lächeln fügt er hinzu: „Das heißt ’Auf wiedersehen.’ Natürlich könnte ich auch sagen ’Leb wohl’, aber ich hoffe, das wir uns noch mal über den weg laufen. Irgendwann.“

’Du bist merkwürdig’, denkt Kurogane, und zuckt mit den Schultern. ’Du bist merkwürdig, aber ich hätte nichts dagegen.’

„Weiß du, wie man sich in Frankreich verabschiedet?“

„Nein.“

Also zeigt Yuui es ihm. Und bevor Kurogane etwas dagegen tun kann, umrahmen Yuuis Hände sein Gesicht, er kann fremde Fingerspitzen an seinen Ohren spüren. Überrumpelt von der Situation hält er den Atem an, aber damit er das tun kann, muss er tief einatmen und wird so von dem frischen Duft eingehüllt, der direkt von den blonden Haar auszugehen scheint. Schon beinahe bedächtig drückt Yuui seine viel zu weichen Lippen auf jede Wange, bevor er sich zurückzieht. Die Berührungen brennen sich sofort in Kuroganes Haut ein, ebenso wie sich die Erinnerung an diesen faszinierenden Duft in seiner Erinnerung fest brennt. Und sein Gesicht läuft tief rot an, so rot wie damals, als er Brittany Simmons und Elsa Finkelstein beim heimlichen Knutschen hinter der Turnhalle entdeckt hat. Nur das hier ist was anderes.

„Auf wiedersehen, Kuro-chan. Ich wünsche dir noch einen schönen Geburtstag.“

Und danach war nichts mehr. Als hätte jede Erinnerung nach diesem Kuss aufgehört zu existieren.
 

~*+*~

Fye erinnerte sich an Mamoru Kokubuinji, wenn auch nur schwach. Ein großer Mann, dunkles Haar, breite Schultern und ein waches Gesicht. Auf seinem Schreibtisch hatte ein Foto gestanden von einem brünetten Mädchen mit zwei dicken geflochtenen Zöpfen und einem kleinen Jungen, der Mamoru wie aus dem Gesicht geschnitten war. Beide Kinder trugen identische Brillen mit dünnem, silbernen Gestell und sehr runden Gläsern. Brillen, wie sie auch Harry Potter getragen hätte, nur gab es vor achtundzwanzig Jahren noch keinen Harry, nicht einmal in dem Geist seiner Autorin.

Die Dinge wurden langsam kompliziert, stellte Fye fest, als er durch den Gang des Daidouji-Anwesens schlich, blass und leise wie ein Geist. Nur dass Geister keine zerknitterten blauen T-Shirts und Garfield-Boxershorts trugen.

Minoru Kokubuinji, der kleine junge mit der Brille, hatte nicht nur den gleichen Beruf wie sein Vater erlernt, er hatte auch die Akten seines Vaters bekommen. Und nun musste Fye entscheiden, wie er damit verfahren sollte. Das könnte sich als nützlich erweisen, sobald das Unvermeidbare getan war. Minoru könnte ihm helfen, ungeschoren davon zu kommen. Oder aber der Junge mischte sich zu früh ein und Fye war gezwungen, fort zu gehen. Fort vom Mörder seines Bruders und fort von den Polizisten. Inklusive einem gewissen Inspector mit einem ganz gehörigen Temperament.

Ganz in Gedanken versunken, und ohne besonderes Ziel im Kopf, erreichte Fye das Ende des Ganges. Zu seiner Rechten war eine Glastür. Sie war offen und führte auf einen Innenhof, den er bei der Ankunft nicht gesehen hatte, weil die Flügel des Anwesens ein Quadrat bildeten. Fye schlich sich hinaus, um sich ein bisschen umzusehen. Vielleicht waren die anderen schon wach. Irgendwer musste ja die Tür geöffnet haben, nicht wahr?

Beete säumten die Steinwände des Hauses, gefüllt mit großen Hortensien, Pfingstrosen, Tulpen und Lilien. Dekorativ, aber nicht nützlich. Nichts, was Fye in einem Garten pflanzen würde, wenn er den nötigen grünen Daumen besäße. Die Beete wiederum säumten eine Rasenfläche, in deren Zentrum ein gigantischer Ginkobaum sein Blätterdach erstreckte. Darunter war ein kleiner weißer Pavillon mit Teetischchen und Stühlen. Und dann entdeckte Fye sie.

Und, als hätte das Schicksal es so gewollt, sah sie in dem Moment ebenfalls auf, löste die Augen von ihrem zerlesenen Taschenbuch und schenkte ihm ein warmes Lächeln. Was hätte er darum gegeben, so lächeln zu können.

„Hallo. Sie kommen mir bekannt vor. Kennen wir uns?“, fragte sie und nahm ihm die Worte aus dem Mund. Zunächst dachte Fye, es läge daran, dass sie Tomoyo so sehr ähnelte, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das mit ihrer Ausstrahlung zu tun hatte. Der Blonde näherte sich ihr wie ein Schlafwandler, sich der kühlen Nässe des Grases an seinen Fußsohlen kaum bewusst.

Sie war zum niederknien. Wortwörtlich; er wäre am liebsten vor ihr auf die Knie gefallen, weil sie so etwas an sich hatte, das dafür sorgte, dass er sich in ihrer Gegenwart klein und unerfahren fühlte und wenn er sie ansah dann wurde ihm ganz leicht im Kopf, so als läge der Hauch eines besonders guten Parfums in der Luft.

Er war verliebt.

Und er hätte es ihr auch gern gesagt – Teufel, er hätte es der ganzen Welt erzählen wollen! – würde er sich nicht so unwürdig vorkommen. Wie ein Haufen von Knochen, Muskeln und Gelenken ohne Verstand, um sie zu koordinieren. Fye glaubte nicht, dass es je so schwer gewesen war, seinen Mund aufzubekommen.

„Ja?“, fragte sie, auf eine Reaktion von ihm wartend, geduldig und... gütig. Ja, das war es, was von ihr ausging. Güte und eine innere Ruhe. Das Buch in ihrer Hand war „Sturmhöhe“ und schon allein deshalb verliebte er sich gleich noch mal.

„Ich fand schon immer, dass Heathcliff als romantische Figur etwas überschätzt wird“, sagte er letztendlich.

Sie musste lachen. Und er war im Himmel.
 

Nicht im Wohnzimmer.

Nicht auf dem Gang.

Und auch bestimmt nicht in einem der Zimmer, wo die anderen noch friedlich schlummerten, denn aus denen drang kein Laut, also wie nur schaffte es dieser Idiot immer wieder zu verschwinden? Kurogane stieß einen Seufzer der Frustration aus. Weit konnte er ja nicht sein. Fyes Jeans und seine Jacke lagen noch im Zimmer und nur in seiner Unterhose würde er wohl kaum auf die Straße gehen. So exzentrisch war nicht einmal dieser Kerl. Also musste er noch irgendwo im Haus sein und dann würde er schon wieder auftauchen. Vermutlich war er auch einfach nur pinkeln. Ja, bei der Menge an Alkohol, die sie gestern getrunken hatten, klang pinkeln zu gehen nach einer brillanten Idee.

Das Bad war unbesetzt.

Als Kurogane etwa drei Minuten später wieder herauskam (mit Händen, die nach Kokos-Flüssigseife dufteten), öffnete sich gerade eine weitere Tür und Tomoyo streckte ihren Kopf in den Flur. Als sie Kurogane sah, lächelte sie breit und winkte ihn heran, legte aber gleich einen Finger auf die Lippen.

„Was gibt’s?“, fragte er in dem lautesten Flüsterton, den er zustande brachte.

„Ich muss dir was zeigen“, flüsterte seine kleine Schwester zurück, „aber sei leise; Sakura schläft noch.“

Er rechnete nicht damit, dass Tomoyo ihm etwas sonderlich interessantes zeigen würde – seine und ihre Vorstellung von interessant gingen oft weit auseinander – aber es war ja nicht so, als hätte er was besseres oder dringenderes zu tun. Es war Sonntag, also der Tag, an dem laufende Ermittlungen etwas langsamer voranschreiten durften. Es war der Tag, an dem Kurogane selten etwas mit sich anzufangen wusste, denn er hatte keine Hobbys. Nicht mehr.

Sakura lag tief in die violette Bettwäsche eingekuschelt, mit der weißen Mokona in den Armen. Der Roboter schien sich im Stand-by Modus zu befinden. Tomoyo klopfte auf die Bettkante an der Fensterseite und lud Kurogane so dazu ein, dort Platz zu nehmen; glücklicherweise war das Bett groß genug, dass das möglich war, ohne Sakura zu stören. Und sobald er sich gesetzt hatte, sah er, warum Tomoyo ihm diesen Platz angeboten hatte.

Die Fenster in Kuroganes altem Kinderzimmer hatten Aussicht auf das äußere Grundstück, den Rasen und die Steinmauer, die das Anwesen abgrenzte. Tomoyos Fenster hingegen waren dem Innenhof zugewandt und da war er, der entschwundene- nun, Kurogane fehlte im Moment eine passende Bezeichnung für Fye, vor allem da er viel zu abgelenkt von der Person war, in dessen Gegenwart sich Fye befand.

„Willst du Mäuschen spielen?“, wisperte Tomoyo, aber da stand sie schon bereit und hatte ihren Verschwörerblick aufgesetzt; sie hatte schon längst fest gelegt, was sie tun wollte. Kurogane nickte, abwesend, und sie kippte das Fenster an. Schlagartig wurde der Raum erfüllt von der Unterhaltung zweier Leute.

„-ich meine,“ sagte Fye, „Mal abgesehen von den gelegentlichen Wutanfällen kann man nur ein einziges Mal so etwas wie Leidenschaft bei ihm beobachten, als sein Besucher ihn glauben lässt, er wäre von Catherines Geist heimgesucht worden. Die meiste Zeit wirkt er so, als würde er seine Ränke aus glatter Boshaftigkeit schmieden.“

„Worüber reden die?“, fragte Kurogane und Tomoyo, die sich neben ihn setzte, zuckte nur mit den Schultern.

„Das mag ja sein“, erwiderte Miyako und als er die Stimme seiner Mutter hörte, schwappte eine Welle von Schuldgefühlen und gleichermaßen Zuneigung über Kurogane hinweg, „aber es lässt sich ja wohl kaum leugnen, dass Heathcliff einer der ersten romantischen Antihelden ist.“

„Hm. Da erscheint mir Hamlet doch aber ein wenig sympathischer. Beziehungsweise... ich habe eine Schwäche für den klassischen verrückten Wissenschaftler.“

„Wirklich?“

„Aber sicher! Was könnte romantischer sein, als ein Mann, der über den Verlust seiner Liebe dem Wahnsinn verfällt und versucht, alle Gesetze der Natur zu überlisten, um sie zurück zu holen? Gibt es eine größere Liebeserklärung als dem Universum den Kampf anzuzeigen?“

Miyako schmunzelte verhalten. „Vielleichtr nicht. Aber das scheint mir etwas melodramatisch.“

„Auch nicht mehr, als eine gesamte Familie zu Fall bringen zu wollen, weil man sich um seine Liebe betrogen fühlt.“

„Sie sieht fröhlich aus“, stellte Kurogane nüchtern fest und konnte einen kleinen Stich spüren. Er war es gewohnt, dass ihr Gesicht sich aufhellte, wenn er den Raum betrat und mit anzusehen wie ein Anderer, ein Fremder einen ähnlichen Effekt auf ihr Gemüt hatte...

Tomoyo strich sich das lange Haar über ihre Schulter und begann, es lose zu flechten. „Weißt du, sie hätte sicher Anlass sich zu freuen, wenn du dich öfter hier blicken lassen würdest.“

„Ich weiß.“

„Warum-“

„Was sollte ich ihr denn erzählen?“, unterbrach er das Mädchen, das quasi seine Schwester war, unwirsch. „Jedes Mal fragt sie mich, wie es mir geht und was ich gemacht habe. Anlügen kann ich sie nicht und von der Arbeit kann ich ihr auch nicht erzählen, das würde sie nur beunruhigen. Und ich kann ihr nicht immer dasselbe sagen. ’Mir geht es gut, danke der Nachfrage, keine Schusswunden in letzter Zeit’. Meinst du, das will sie jedes Mal hören?“

„Sie macht sich Sorgen um dich. Ich glaube, sie hat Angst, dass du einsam bist.“

Er wollte gern sagen, dass es dazu keinen Grund gab, denn er war ja nicht derjenige, der einen Partner verloren hatte und seitdem an einem gebrochenen Herzen litt – aber das wäre unfair seiner Mutter gegenüber gewesen. Also beschränkte er sich auf ein knappes: „Ich bin gern allein.“

„Ach komm, das sagst du doch nur, weil du ein Gewohnheitstier bist. Du versuchst ja nicht mal, jemanden kennen zu lernen.“

„Vielleicht, weil es auf der Welt zu viele Verrückte gibt?“

„Ich könnte dir ein paar von meinen Freundinnen vorstellen. Du musst nur was sagen. Oder-“, fügte Tomoyo mit einem Schmunzeln hinzu, während sie Fye und Miyako im Auge behielt, „ich könnte dich mit ein paar Freunden von mir bekannt machen, wenn dir das lieber ist.“

„Was zur Hölle willst du damit sagen?“ Kuroganes Tonfall war, trotz der barschen Wortwahl, erstaunlich sanft. Unter anderen Umständen hätte ihn die Frage fuchsteufelswild gemacht. Aber Tomoyo meinte es nicht herablassend und versuchte auch nicht, ihn nur aufzuziehen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Du scheinst mit Jungs besser klar zu kommen als mit Mädchen. Und es sagt auch keiner, dass du nach einer Beziehung suchen sollst, aber du könntest dir ruhig ein paar Freunde außerhalb der Arbeit suchen. Ich meine... du scheinst dich mit Fye-san gut zu verstehen.“

Er und der Idiot – Freunde? Die Vorstellung war im ersten Moment mehr als abstoßend. Sie hatten nichts gemein, lebten in vollkommen verschiedenen Schichten der Gesellschaft und wäre dieser Fall nicht gewesen, hätten sie sich nie kennen gelernt, was erneut dafür sprach, dass sie nichts verband.

Außer Yuui.

In dem Moment, als Fye gerade Miyako erklärte, was seiner Meinung nach der ideale Romanheld war („Ein Mann, der eher durch sein Charisma zu bezaubern weiß, als durch sein Aussehen; etwa wie Edward Rochester, Jane Austen’s Colonel Brandon oder jemand vom Schlage eines Cardinal Chang-“), wurde Kurogane klar, dass das ein ziemlich großes ’außer’ war. Und er würde sich wesentlich sicherer bei dem Gedanken fühlen, wenn er wusste, dass jemand ein Auge auf Fye hatte, nachdem sie den Mörder gefasst hatten, denn eine Festnahme bedeutete ja nur den Anfang. Der Job eines Polizisten war da fast getan; bis zur Verurteilung war es trotzdem noch weit. Ganz zu schweigen davon, dass noch eine Beerdigung geplant werden musste und Termine mit dem Notar gemacht werden mussten. Man brauchte jemanden an seiner Seite, während der Trauerzeit.

„Kann zufällig eine deiner Freundinnen kochen?“

Tomoyo gluckste.
 

Er hatte sich zu ihr setzen dürfen und wenn er nicht gerade einen Narren aus sich machte, weil er nicht aufhören konnte zu reden, dann lauschte er ihrer Stimme und verlor sich in der Betrachtung solch vollkommener zarter Weiblichkeit. Ihre Stimme war wie eine Brise an einem Frühlingsmorgen und er mochte die Art, wie das Sonnenlicht auf ihrem Haar schimmerte. Wo es ergraut war, sah es aus wie Sternenglanz. Man konnte die ganze Welt bereisen und würde nur wenige Frauen wie sie finden; Frauen, die man nicht begehren konnte, weil sie dazu bestimmt waren, verehrt zu werden. Es gab ein Wort für solche Frauen. Man nannte sie Musen.

Leider, dachte Fye, würde er sie wohl kaum dazu überreden können, ihn zu küssen. Aber das war in Ordnung. Er war kein Künstler mehr, nur noch ein Lügner; was hätte er da mit der Inspiration anfangen sollen?

Er merkte auf, als sie einen kleinen Laut des Erstaunens von sich gab; ihre langgliedrige Hand verbarg ihren Mund wie ein Fächer, aber Fye konnte es von seinem Winkel aus dennoch sehen. Die Überraschung und die Freude, der man doch nicht ganz trauen wollte – es war die Miene, mit der man endlich Heimkehrenden begegnete. Der Heimkehrende war niemand anderes als Kurogane selbst und er trottete sichtlich verlegen auf diese reizende Dame zu. Es war schön zu sehen, dass selbst der sonst so ernste Inspector gegenüber der Wirkung dieser Frau nicht immun war.

Sie nannte ihn Youou und ihren Jungen und Kurogane musste sich herunter beugen, damit sie ihn in die Arme schließen konnte. Fye sah dies mit an, ohne mit der Wimper zu zucken – gelinde überrascht, dass es ihn nicht erstaunte, dass sie vermutlich Kuroganes Mutter war. Dabei sahen sie sich nicht sehr ähnlich. Nein, die Gemeinsamkeit lag in ihrer Wirkung auf Menschen. Beide für sich allein genommen zogen sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesender auf sich, aber zusammen – Fye konnte kaum den Blick von ihnen lassen. Sein Mund war ganz trocken.

Kurogane küsste seine Mutter auf die Stirn und der Blonde hatte das Gefühl, als würde er verbotenerweise ein geheimes heiliges Ritual beobachten, dabei war es nur eine liebevolle Geste zwischen Mutter und Sohn.

Ihm schnürte sich die Brust ein.

Kein Wunder, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlte – sie war nicht irgendeine Mutter, sie war so, wie sich jeder eine Mutter wünschte: sanft und besonnen; jemand, bei dem man den Kopf in den Schoß legen konnte und der die Finsternis der ganzen Welt da draußen mit einem einzigen Lächeln vertreiben konnte. Nicht, dass Fye wählerisch gewesen wäre. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ihm jede Mutter recht gewesen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da zweifelte er daran, ob er je eine gehabt hätte.
 

Wenn sie tadelte, dann tat sie dies mit einem aufrichtigen Lächeln, was es umso einfacher machte, sich den Tadel auch zu Herzen zu nehmen. „Du bist wirklich unmöglich, Youou, deine arme alte Mutter erst jetzt zu besuchen. Ich dachte, ihr seid seit gestern da?“

„Es ist etwas spät geworden: Ich... ich wollte dich nicht noch stören.“ Das war keine Lüge, versicherte er sich selbst. Es war ja spät geworden – aber nicht seine Ankunft, sondern sein Hinauszögern der Begegnung mit ihr.

„Du kannst mich gar nicht stören. Ich nehme mal an, dieser nette junge Mann hier drüben gehört auch zu dir?“

„Äh... das könnte man so sagen“, erwiderte der Schwarzhaarige mit einigem Zögern. Er war immerhin derjenige, der Fye mit ins Haus gebracht hatte. Der Blonde hatte derweil den Anstand, mit großer Hingabe die Hausfassade zu bewundern. Hm. Die Konvention forderte, dass Kurogane ihn vorstellte und ein kleines Stimmchen in seinem Kopf beharrte darauf, dass er einiges richtig stellte, darum sagte er: „Mutter, das ist Fye de Fluorite. Er hilft uns im Moment bei einem Fall.“

„Ich dachte, du hasst zivile Berater.“

Er versicherte ihr, dass das etwas Anderes war. Aber trotz allem konnte er nicht verhindern, dass ihr der Name bekannt vorkam, denn Miyako Suwas Gesicht verzog sich auf diese Weise, die sie nachdenklich, unschuldig und verletzlich erscheinen ließ. Es war nur eine Frage der Zeit bis...

„Fluorite... deshalb kamen Sie mir so bekannt vor!“, verkündete sie, an Fye gewandt. „Sie sind dieser Autor, nicht?“

’Oh Gott.’ – diese zwei Worte schossen den Männern gleichzeitig durch den Kopf. Der Eine, weil er sich durchschaut fühlte, der Andere, weil ihm klar wurde, dass seine Mutter in letzter Zeit nicht oft ferngesehen haben konnte, sonst wüsste sie, dass der Autor von dem sie sprach, tot war.

Fye war der Erste, der sich erholte auch wenn er nur ein ersticktes „nein“ hervor brachte. Ihm war, als wäre es plötzlich wärmer in dem Hof geworden, und sein Puls beschleunigte sich, als er ihr mit etwas begegnete, was hoffentlich ein höfliches Lächeln war. Was passierte nur mit ihm? Warum machte der Gedanke, sie anzulügen ihn so nervös? „Das ist mein Bruder. Wir sind Zwillinge. Die Leute verwechseln uns oft, wissen Sie?“

„Oh, Verzeihung. Ich dachte – egal. Sie hören die Frage sicher oft, aber wie ist das so, wenn man einen Schriftsteller in der Familie hat?“

Schuld. Das war es, was sich in ihm zusammenbraute, weil sie so eine reizende, liebevolle Dame war und eigentlich nichts mit der Polizei zu tun hatte und er aus irgendeinem albernen Grund nicht wollte, dass sie enttäuscht von ihm war, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Seine Zunge schien schwer und belegt. Er musste sich räuspern, bevor er antworten konnte. „So langweilig und so schwierig wie man es sich vorstellt. Erst verbarrikadiert er sich monatelang in seinem Zimmer und bei jeder Schreibblockade und jeder schlechten Kritik bricht die Welt zusammen. In solchen Phasen ernährt er sich fast nur von Eiskrem.“ Fye sprach von sich selbst so, als würde er eine seltene Spezies beschreiben, die fast ausgestorben war. Und versuchte, sich selbst nicht zu viele Gedanken darüber machen.

Er hatte sich in jener Phase befunden, als es passiert war. Die schlimmste und längste Schreibblockade, die er je durchgemacht hatte und die umso frustrierender war, weil gefühlte drei Viertel des neuen Manuskripts bereits existierten. Und nun blickte er so viel nüchterner auf diese Tatsache, fügte sie zu den Dingen hinzu, über die er sich unbedingt noch Gedanken machen musste.

Yuui de Flourite, der Autor, war tot. Gestorben als irgendein Arsch seinen Bruder erschossen hatte. Und wie sein Leben als Fye weiter gehen würde, musste sich noch ergeben, aber fest stand, er konnte nicht einfach zurück. Und Ashura würde das Manuskript wollen, selbst unvollständig. Eine Begegnung mit seinem Verleger war unvermeidbar. Was dann?

Seine Probleme schienen sich mit der Geschwindigkeit wohlgenährter Hefezellen zu vermehren.

Miyako schien noch mehr fragen zu wollen, doch Kurogane – oder Youou? – unterbrach sie mit einem sanften „Mutter“ und einem Kopfschütteln. Sanft; der große, gefährliche Inspector, der jeden Verbrecher in die Knie zwang war ein Lämmchen in Gegenwart seiner Mama. Fye hätte eine clevere Bemerkung dazu einfallen sollen. Aber nicht jetzt. Er entschuldigte sich mit den Worten, dass ihm langsam kalt würde und dass er ohnehin schon Kimikos Zeit viel zu lange in Anspruch genommen haben musste und dass er der Letzte sein wollte, der sie daran hinderte, Zeit mit ihrem Sohn verbringen zu können.

Als der Blonde aufstand, trafen sich kurz noch einmal sein und Kuroganes Blick. Im Gesicht des Mannes war irgendeine subtilere Emotion zu sehen, die der Kleinere nicht zu deuten vermochte. Sie ließ ihn jünger aussehen.

Fye floh, auch wenn es für das Auge des Betrachters so ausgesehen haben mochte, als ginge er nur. In Wirklichkeit lief er davon, weit weg von den Menschen, die Erinnerungen weckten und sich selbst hatten und für die die Zukunft keine diffuse graue Masse war.
 

---
 

Dieses Kapitel ist beendet, auch wenn für den Sonntag noch einiges ansteht. Doch möchte ich erst mal diesen ruhigen Moment festhalten, bevor es weiter geht.
 

Vorschau:

[...]Es zeigte sich in der Art, wie Kurogane das Buch anstarrte, als wäre es eine Giftschlange, die ihn jederzeit beißen könnte. Er hatte schon oft gehört, dass finstere Dinge zwischen zwei Buchdeckeln wohnen konnten, aber das übertraf ja wohl alles![...]



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Meekamii
2012-06-22T20:18:33+00:00 22.06.2012 22:18
Schöön, endlich geht es weiter! ^^ Kuroganes Mama .. hmm. Vielleicht spielt sie noch eine Rolle bei der Lösung des Falls. Vielleicht ist sie die jenige die hinter Fyes (Yui´s) Geheimnis kommt. Am Sonntag gehts weiter? ^_^ Dann freu ich mich schon auf Sonntag. Du schreibst so schön! Ich finde es super wie du es beschreibst was in den Personen vor sich geht, so dass man sich gut hineinversetzen kann. Bin auch sehr gespannt auf das Geheimnis von Fye und was es mit diesem Minoru auf sich hat.

Was ich nicht ganz verstanden habe ist das er manchmal Minoru und manchmal Mamoru hieß. Oder sind das zwei verschiedene Personen?


l.G
Bunny
Von: abgemeldet
2012-06-22T20:13:09+00:00 22.06.2012 22:13
*Daumen drück* ^__^

Das ist wirklich ein schönes Kapitel.
Ich bin von der ruhigen Atmosphäre noch richtig entspannt XD
Und obwohl die reine Handlung an sich unspektakulär ist, hat das Kapitel eine wunderbare Tiefe die allein auf der Interaktion und Beziehung zwischen Fye und Kuroganes Mutter und Kurogane und seiner Mutter beruht.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es noch mehr von diesen Momenten geben würde.

Na gut, "unspektakulär" stimmt so jetzt auch nicht; neben einer bisher unbekannten Person aus Fyes Bekanntenkreis sind ja durchaus auch noch ein paar neue Brocken an Informationen dazugekommen XD
Aber der letzte Teil des Kapis hat mich so überwältigt, dass ich den Anfang glatt schon fast wieder verdrängt hatte XD""
*Asche über mein Haupt streu*

Jedenfalls freue ich mich schon sehr auf das nächste Kapi ^^
Und da ich ja weiß, dass es auf alle Fälle kommen wird werde ich geduldig darauf warten und mich dann freuen wenn es da ist ^-^

Ich wünsch dir ein schönes Wochenende!
Liebe Grüße, Puffie~


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