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Inspector Black und das Mysterium des toten Zwillings

Eine KuroFye-FF (Kap.10 lädt)
von

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Der Zauber der Worte

Open heart surgery – that is what you do to me

Cut me up, set me free – that is what you do to me

Now I'm walking in, walking into fire

I'm walking into fire with you

Ingrid Michaelson, “Fire”
 

Auf den ruhigen Morgen folgte ein spätes, überwiegend stummes Frühstück, das von der Langsamkeit der Verkaterten dominiert wurde. Auf das Frühstück folgte die Wiederaufnahme der Arbeit vom Vortag, wobei sie noch bis kurz nach ein Uhr nachmittags zusammensaßen, bis auch das erledigt war. Die Zwillinge und Sakura fuhren daraufhin heimwärts – mit der weißen Mokona auf dem Rücksitz und der Kiste Beweismaterial im Kofferraum, welche alle beide bei einem kurzen Zwischenstopp auf dem Revier abgeliefert wurden. Der schwarze Computer, Larg, blieb auf Kuroganes Anweisung hin, in der Gegenwart des Inspectors, was alle stutzig machte (bis auf Fye, der in Gedanken versunken, einfach nur aus dem Fenster starrte).

Tomoyo wäre die Einzige, die Kurogane deswegen angesprochen hätte, aber ausnahmsweise war er es, der auf sie zutrat, kurz nachdem sie sich von ihren Freunden verabschiedet hatte.

„Kannst du für ein paar Stunden ein Auge auf ihn haben?“, fragte er knapp, mit einem Kopfnicken in die Richtung, in der Fye saß.

„Wieso, was hast du vor? Du willst doch nicht etwa schon gehen, oder?“ Beide Augenbrauen hoben sich erstaunt und auf ihren Lippen lag ein Lächeln, das spöttisch gewirkt hätte, wäre da nicht das amüsierte Funkeln in den Augen der jungen Dame gewesen.

„Ich muss noch etwas überprüfen. Sollte nicht zu lange dauern. Ich bin um fünf wieder da, okay? Pass nur einfach auf, dass Blondie keinen Unsinn macht.“

„Ist Unsinn denn zu erwarten?“

„Er wird komisch, wenn er nichts zu tun hat. Macht Blödsinn. Versuch – versuch einfach, ihn irgendwie zu beschäftigen.“

„Fye-san ist ein Mensch, kein Hund, Bruderherz“, flüsterte Tomoyo mit einem verschwörerischen Zwinkern. Der Schwarzhaarige wandte sich ab – was Kurogane auch eigentlich gemeint hatte, war, dass sie dafür Sorge tragen sollte, dass Fye mal nicht an seinen Bruder und die Umstände seiner Ermordung denken sollte. Aber er erklärte sich nicht gern und beendete die Unterhaltung mit einem Schulterzucken.

„Hey!“, rief er und Fye reagierte auf dieses kleine Wort schon fast wie auf seinen Rufnamen. „Wenn du noch was aus deiner Wohnung brauchst, solltest du es auf einen Zettel schreiben.“

„Du fährst hin?“, kam die perplexe Antwort.

„In zwanzig Minuten. Du solltest also nicht zu lange überlegen.“

„Kann ich mit?“

„Dann bräuchte ich keinen Zettel“, erwiderte Kurogane zähneknirschend. Er hoffte, dass Fye kein Trara draus machen würde, denn es gab eigentlich keinen Grund, den Mann nicht mitzunehmen außer den, dass Kurogane ihn nicht dabei haben wollte. Die Wohnung der de Fluorites wurde auf den Kopf gestellt, aber sie war kein Tatort und es gab auch keine Einbruchspuren – jeder war frei, dort seine Fingerabdrücke zu hinterlassen, wenn er mochte.

Fye blinzelte ausdruckslos und bat Tomoyo um Zettel und Stift.
 

~*+*~

Ein Jason Shioiri existiere im Telefonbuch nicht, verkündete Larg und Kurogane, hinter das Steuer seines Wagens geklemmt, fluchte. Dann gab er den Roboter die Anweisung, den Namen durch das Netzwerk des Departements laufen zu lassen.

Es stellte sich heraus, dass der Kerl eine Akte im Strafregister hatte, wegen einer Anklage der Körperverletzung im Sommer 2008. Das an sich war nicht interessant – Kuroganes eigene Akte enthielt fast ein Dutzend solcher Vergehen, wovon einige im Job begangen wurden, andere hatte er sich bei Kneipenschlägereien eingefangen. Interessant war die Person, die Mr. Shioiri angezeigt hatte; ein gewisser Payton Rudolf, laut Akte der Lebensgefährte von Shioiri. Ehemaliger Lebensgefährte, wie Kurogane hoffte, als sich ein klammes Gefühl in seiner Magengegend einsteckte.

Häusliche Gewalt. Das hatte er am liebsten, wenn irgendein Scheißkerl meinte, mit seinen Fäusten demonstrieren zu müssen, dass er die Hosen an hatte in der Beziehung. Und da blieb es selten bei einem Vorfall, denn diese Kerle waren unbelehrbar. Und das Schlimmste war, die kamen damit durch, weil der misshandelte Partner sie selten anzeigte.

Wenn der Kerl Yuui was angetan hatte, dann- dann-

„Du überschreitest das Tempolimit“, verkündete der schwarze Mokona fast vergnügt.

'Dann was?', fragte eine Stimme in seinem Kopf. 'Was willst du dann tun?'

Er überfuhr versehentlich eine rote Ampel, das war es, was er tat.
 

~*+*~

Yuuis Zimmer, im Kleiderschrank, rechte Tür: schwarze Aktentasche mit Nummernschloss.

Yuuis Zimmer, Bücherregal links: „Das Dunkelbuch“, Gordon Dahlquist

Kühlschrank: Straciatella-Joghurt, läuft bald ab

Fyes Zimmer: Rucksack (grün/grau); Wecker (orange)
 

Eine spärliche Liste, in feingeschwungener und sehr lesbarer Handschrift, aber bis auf die Aktentasche schienen nur Nichtigkeiten darauf. Kurogane sollte es egal sein, so hatte er das Zeug schneller zusammen, er fand es nur ulkig, dass Fye „Fyes Zimmer“ geschrieben hatte und nicht „Mein Zimmer“.

Yuuis Tagebuch befand sich noch immer in seinem Nachttisch und ein kurzes Blättern verriet dem Inspector, dass der erste Eintrag vom Anfang des Jahres stammte. Nicht überraschend. Aber, Yuui hatte bestimmt noch mehr gehabt. Tagebücher schmiss man nicht weg, oder? Man bewahrte sie auf oder verbrannte sie.

Kurogane durchsuchte alle Schränke; vergeblich. Als er im Wohnzimmer weiter machte, fiel sein Blick zufällig auch auf die Garderobe. Eine kleine Metallschüssel stand dort auf der Garderobengarnitur und darin waren, welch ein Wunder – Schlüssel! Ersatzschlüssel, sicherlich, aber er fand einen Ring an dem nur ein Schlüssel und ein Schildchen hing, das mit „Keller“ markiert war. Er nahm Mokona mit und ehe die Beiden es sich versahen, befanden sie sich einige Treppenstufen tiefer zwischen Kartonstapeln, einer hässlichen ausrangierten Lampe und zwei Sets Inline Skater wieder.

Die meisten Kartons waren mit Feiertagen beschriftet. „Ostern“ oder „Weihnachten“ und „Geburtstag/Neujahr“. Und dann waren da noch vier, die gar nicht beschriftet, aber absurd schwer waren, und darin – Bücher. Bücher, Bücher, Bücher. Und wie es so oft beim Suchen war, war das, was er suchte im letzten Karton.

Die Tagebücher besaßen alle Ledereinbände verschiedener Farben und auf der ersten Seite war nachträglich hinzugefügt worden, welchen Zeitraum sie umfassten. Es gab eines, das von Mai 1995 bis Juli 1996 ging und eines vom Juli 1996 bis Oktober 1997 und da Kurogane nur die Information bekommen hatte, dass Jason Shioiri vor vierzehn Jahren aus dem Leben der Zwillinge verschwunden war, nahm er beide an sich. Vielleicht würde er noch weiter in die Vergangenheit gehen müssen... aber nicht heute.

Kurogane und Mokona kehrten zur Wohnung zurück, die nach dem kühlen Keller schwül wirkte; die Luft schmeckte abgestanden und drückte auf’s Gemüt. Der Inspector und das Fellknäuel ließen sich aufs Sofa fallen. Während Kurogane Mokona das früher datierte Tagebuch gab, mit der Anweisung, den ersten Eintrag zu finden, der den Namen Jason enthielt, geschah etwas Seltsames mit ihm.

Es regte sich Neugierde. Echte Neugierde, das Bedürfnis, etwas um seiner selbst Willen zu erfahren und nicht etwa, weil es ihm oder der Ermittlung nützte. Nein, er war einfach neugierig, ob seine Begegnung mit Yuui es bis in dieses Büchlein geschafft hatte. Sein Geburtstag war am 17. Juli, und damit relativ am Anfang des zweiten Tagebuchs und tatsächlich gab es einen Eintrag für diesen Tag.

Kurogane musste die Augen zusammen kneifen, denn Yuuis Handschrift war in etwa so verschnörkelt wie Fyes, nur viel schludriger.
 

17. Juli

Obwohl wir unter uns gerne den Witz reißen, dass OC stinkt, war die Aussage nie wahrer als heute. Die Jungs am Abzug neben unserem haben im Versuch, ihr Enamin zu destillieren, Mist gebaut, sodass ein Teil des Produktes im Ölbad gelandet ist, dass seitdem eine ungesunde schwarze Farbe hat. Enamine (oder die schwarze, oxidierte Version davon) haben einen recht eigentümlichen Geruch, sodass die beiden nur am meckern waren. Ständig hörte man „Boah, das riecht nach Sperma! Wie eklig.“ Die zwei haben sich aufgeführt wie kleine Schulmädchen.

Ich bin trotzdem froh, dass Jenny und ich keine Enamine haben.

Unsere Mischung musste 24 Stunden unter Schutzatmosphäre sieden, was für uns hieß: Anlage aufbauen (mit Luftballon für das Argon, wie unwissenschaftlich!), Reagenzien mischen, Heizpilz und Rückflusskühler an und Feierabend!

Ich habe die überraschende Freizeit mit Nichtstun im Park verbracht, auch wenn ich lieber was mit Fye unternommen hätte, aber er ist noch in Italien, der Glückspilz!

Ich wünschte, ich hätte auch mal Semesterferien ohne Praktikum.

Habe aber eine nette Bekanntschaft im Park gemacht.
 

Das war alles.

Ein Satz. Mehr nicht.

Das war irgendwie... ernüchternd. Um nicht zu sagen, enttäuschend. Aber...
 

18. Juli

Jason benimmt sich langsam merkwürdig. Ich habe mittlerweile ein sichereres Versteck für mein Tagebuch gefunden, weil ich das blöde Gefühl nicht los werde, dass er es liest, wenn ich nicht da bin. Wenn ich ihn danach fragen würde, wäre ich aber der Arsch, also lasse ich es.

Vielleicht... nein. Ich weiß, ich sollte mit ihm darüber sprechen, denn ob mein Verdacht nun stimmt oder nicht, dass Jason mir einen Grund gibt, ihm nicht zu vertrauen, heißt doch, das etwas zwischen uns nichts funktioniert. Ein Gespräch anzufangen ist sinnlos, denn dann lächelt er wieder, sagt irgendetwas, bei dem ich mir unheimlich dumm vorkomme, sodass ich mich entschuldige und dann zieht er mich an sich, wir landen im Bett (oder auf dem Teppich) und nichts ist geklärt.

Sind wir denn wirklich so festgefahren?

Manchmal in meinen Träumen endet es anders. Dann wird Jason wütend und eine Menge Geschirr geht kaputt, und hin und wieder habe ich ein Cocktailkleid an, als wäre das ganze ein grotesker Polterabend.

In manchen meiner Träume hintergehe ich ihn auch und er erwischt mich im Bett mit einem Anderen. Niemand im speziellen, einfach irgendwer, dessen Körper ganz anders ist als Jasons, größer als ich und kräftiger... dabei bin ich gar nicht so ein Mensch und ich frage mich: bin ich unzufrieden mit dieser Beziehung und wenn ja, wie soll ich was dagegen tun, wenn ich mit Jason nicht darüber reden kann?

Ich kann ihm ja nicht einmal die simpelsten Dinge erzählen! Gestern zum Beispiel, erwähnte ich ganz beiläufig, dass ich einen Jungen gesehen hätte, der mohnblütenrote Augen hatte. (Ich erwähnte nicht, dass ich den Jungen im Park getroffen hatte und mich sogar eine Weile mit ihm unterhalten hatte.) Der Rest des Gespräches verlief dann etwa so: „Ernsthaft Yuui, keine Sau sagt mohnblütenrot. Nicht mal ein Mädchen würde das sagen. Und was kümmern dich die Augen irgendeines Bengels?“

„Ich meine ja nur, dass es eine ziemlich ungewöhnliche Farbe ist. Für Augen, meine ich.“

„Und deshalb starrst du irgendwelchen anderen Kerlen hinterher?“

„Ich hab’ ihn zufällig gesehen, ich hab’ ihm nicht hinterher gestarrt. Und er war vielleicht grade mal fünfzehn, kein Grund, eifersüchtig zu werden.“

„Fünfzehn ist alt genug, um sich einen runter zu holen.“
 

„So ein Arsch,“ murmelte Kurogane und bemerkte nicht, wie ihm das schwarze Wollknäuel einen komischen Blick zuwarf.
 

WARUM SAGT ER SO WAS? Gott, ich könnte ihn hassen dafür; jetzt ist meine Erinnerung an diesen lieben unschuldigen, cleveren Jungen ruiniert und auf ewig verbunden mit dieser Aussage. Jason kann so ein Arsch sein.
 

(In einer jähen Anwandlung von Sympathie schmunzelte Kurogane und schnaubte durch die Nase.)
 

21. Juli

Kriege es nicht aus meinem Kopf. Kriege ihn nicht aus meinem Kopf.

Was für ein Chaos! Immer und immer wieder sehe ich seinen Blick vor mir, als wüsste er, dass etwas nicht stimmt und noch einmal höre ich seinen Rat. Reden soll ich, aber wie nur soll ich jener anderen Person begreiflich machen, dass die Eigenschaften, die mich zu ihm hingezogen haben, mich jetzt zu erdrücken scheinen?

Mache ich mich verrückt wegen den Worten eines Fremden?
 

22. Juli

Traum. Einer jener verstörend-anregenden Art.

Wir sind allein im Park, bei Sonnenschein. Begegnen einander auf Augenhöhe, ich ca. sechzehn, er die Person, die er in ein paar Jahren sein könnte. Dieser Andere entspricht nicht wirklich ihm, das könnte ich ihm nicht antun, dann wäre ich nicht besser als Jason, einen armen Jungen in den Schmutz zu
 

„Gefunden!“, piepste Mokona und riss Kurogane abrupt aus seinem Lesestoff.

„Hah?“, murmelt der Schwarzhaarige und bemerkt, wie sein Herz rast als hätte das Wollknäuel ihn erschreckt, aber es ist nicht Mokonas Schuld. Nein, sein Herzschlag beschleunigte sich als er den Atem anhielt, weil er so ein ungutes Gefühl hatte... so eine Ahnung...

„Ich habe die Stelle gefunden, an der ein ’Jason’ zum ersten Mal erwähnt wird,“ verkündete Mokona stolz. Es war gut, dass der Computer sich gemeldet hatte, bevor er weiter las, so hatte Kurogane die Möglichkeit, noch einmal zu überdenken, worauf er sich hier einließ. Er gab Mokona die Anweisung, einen leeren Zettel zu finden oder irgendetwas unwichtiges, das man als Lesezeichen benutzen konnte. Am besten sogar gleich zwei. Und während der hasenartige Roboter davon stürmte, sah er noch einmal kurz nach, wie der Abschnitt weiter ging.
 

dann wäre ich nicht besser als Jason, einen armen Jungen in den Schmutz zu ziehen. Ich glaube, „der Andere“ repräsentiert nur das, wonach ich mich am meisten sehne und das Jason mir in dieser Form nicht geben kann. Jemand, der zuhört und auf das eingeht, das ich sage. Jemand, der sich drum schert, wie es mir geht. Jemand, der mir die Möglichkeit gibt, auch einmal dominant zu sein. Deshalb ist er schüchterner und unerfahrener, dieser Liebhaber in meinem Traum, damit ich mich austoben kann.

Und in meinem Verstand – diesem schrecklichen Geburtsort verdrehter Ideen – scheint es eine Verbindung gegeben zu haben zwischen Unerfahrenheit und Unschuld, zwischen dem Wunsch nach etwas Neuem und dem Entdecken von etwas Exotischem.

Es hat nichts mit dem Jungen zu tun, dass das Objekt meiner Willkür kohleschwarze Augenbrauen und glutrote Augen hat.
 

Es gibt kaum ein Geräusch, das so abrupt ist wie die zwei Hälften eines Buches, die heftig geschlossen werden und der Knall, als Kurogane es zuklappte und weit von sich weg legte (beinahe hätte er das verteufelte Ding geworfen), klang ohrenbetäubend laut in der stillen Wohnung.

„Alles okay?“, fragte Mokona, der mit dem Zettelchen angehopst kam. Die Frage war überflüssig, denn man konnte sehen, dass nichts okay war. Es zeigte sich in der Art, wie Kurogane das Buch anstarrte, als wäre es eine Giftschlange, die ihn jederzeit beißen könnte. Er hatte schon oft gehört, dass finstere Dinge zwischen zwei Buchdeckeln wohnen konnten, aber das übertraf ja wohl alles!

Keine Geistergeschichte konnte gruseliger sein, als die Erkenntnis, dass man in den sexuellen Phantasien eines fremden Mannes vorkam, noch dazu einem, der mittlerweile tot war. Wer zum Henker hatte Yuui das Recht dazu gegeben?

’Scheiße!’, dachte Kurogane. ’Scheiße, scheiße, scheiße.’ Wütend zu werden, zu fluchen – er flüchtete sich in sein altbewährtes Verhaltensmuster, um in dieser absurden Situation wenigstens eine vertraute Sache zu haben.
 

~*+*~

„Oh Mein Gott“, hauchte Fye, nur um kurz darauf den Atem anzuhalten. Seine Augen wanderten von einer Ecke des Raumes zur nächsten. „Von so etwas habe ich immer geträumt. Das sind- wie viele Bücher sind das?“

Tomoyo musste kichern, denn sie hatte zwar gehofft, Fye-san eine Freude zu machen, aber mit einer dermaßen starken Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Der Blonde starrte die Regale an, die die gesamten Wand einnahmen mit Ausnahme des Rechtecks, das die Tür war.

„Wir haben sie nie gezählt, aber um die zweitausend sind es bestimmt. So wie du schaust, könnte man denken, du wärst noch nie in einer Bibliothek gewesen.“

„Einer öffentlichen! Aber das hier ist was ganz anderes. Die Vorstellung, sich den Luxus zu gönnen, einen Raum seiner Wohnung nur seinen Büchern zu widmen- Gott!“

„Und das ist noch nicht alles. Komm mal mit!“ Sie winkte ihn näher heran, zu einem bestimmten Abteil und als er etwa zwei Schritte entfernt war, erkannte er die Farbe der Bücherrücken und die Form der Schrift.

„Ist nicht wahr!“

Aber es war wahr und Tomoyos Augen glühten vor Stolz, als sie verkündete, dass sie jedes einzelne Buch hatte, mit Ausnahme des ersten. Da waren die zehn Bände Schwingen der Nacht und die sechs Romane der Märchenchronik. Zusammen reichten sie genau von einer Seite des Regals zur anderen, so als wäre die Länge des Möbelstücks der Dicke der Bücherrücken angepasst worden.

Aber es war nicht das, was ihn zutiefst rührte, sondern dass seine Bücher – ja richtig, seine Werke, die ihm niemand wegnehmen konnte, selbst wenn er sich eine neue Identität zulegte – unter und über großen Meistern standen wie Shakespeare, den Gebrüder Grimm, Jane Austen, Lewis Carroll. Kein Autor war immun gegen das wohlige Gefühl, dass ein Lob auslöste und was für ein Lob das war! Und da stand er nun wie ein Tor und konnte sich nicht einmal bedanken.

„Millionen von Lesern werden um ihn trauern. Und ich bin mir sicher, wenn du ein paar von ihnen fragen würdest, dann könnten sie dir erzählen, wie sehr seine Geschichten sie berührt haben. Selbst die Vampirromane... okay, vieles davon war vorhersehbar, wie jeder andere Vampirroman zu der Zeit auch, aber hin und wieder gab es Lichtblicke. Momente, wo er sein volles Potential ausschöpfen konnte.“ Tomoyo legte ihm die Hand auf die Schulter und Fye ergriff sie mit seiner eigenen; dankbar für den Beistand.

„Und du?“ flüsterte er und blickte sie ernst an. Zum ersten Mal bemerkte er richtig die Farbe von Tomoyos Augen, ein sanftes Violett wie es sich nur bei einigen Morgendämmerungen fand. Miyakos Augen hingegen waren dunkelgrau wie Schiefer.

„Was meinst du?“

„Was genau hat dich daran berührt?“

Tomoyo zuckte mit den Schultern, aber ihr wehmütiges Gesicht und die bedächtige Art, mit der ihr Finger über die Bücherrücken strich sagten Fye, dass sie die Antwort sehr wohl kannte. „Ich glaube, es war die Leichtigkeit, mit der er sämtliche Konventionen über Bord geworfen hat. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was andere darüber denken und ich hatte immer das Gefühl, als... als würde er sich einfach die Welt basteln, in der er leben möchte. Wo man sich nicht jede Sekunde dafür rechtfertigen muss, in wen man sich verliebt hat.“

Fye nickte. „Nur schade, dass es im echten Leben nicht so sein kann.“

„Oh, das würde ich nicht sagen. Ich meine, je mehr Leute von seinen Büchern geprägt wurden, desto mehr Toleranz gibt es in der Welt. Man darf nur nicht von seinen Idealen abweichen. Und wenn man fest genug daran glaubt und darauf hin arbeitet... dann kann es auch wahr werden. Denkst du nicht?“

Die Augen des Blonden weiteten sich und ihm war, als müsse er alles, was er je von dem Mädchen neben ihm angenommen hatte, neu überdenken. Sie wirkte so sorglos und begeisterungsfähig und er hatte das mit Oberflächlichkeit verwechselt. Was vielleicht daran lag, dass seine eigene Heiterkeit nur eine Maskerade war. Wie stellte sie das an? Die Welt so zu sehen, wie er sie sah und doch nicht zu verzweifeln?

„Und was, wenn man nicht stark genug ist um nach seinen eigenen Idealen zu leben?“

„Dann muss man sich natürlich Freunde suchen, die einem dabei helfen!“
 

~*+*~

Am Sonntag Abend war eine Stille eingekehrt, in der auch ein Hauch Enttäuschung mitschwang; weil das Wochenende viel zu kurz gewesen war und der Montag viel zu rasch kam. In einer kleinen Wohnung im Norden von Clow City hatten sich zwei Männer in ihre eigenen Bereich zurück gezogen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Nicht, dass es nichts zu bereden gegeben hätte, immerhin hatten sie es sich an der Nasenspitze angesehen, dass in dem jeweils anderen eine Veränderung stattgefunden hatte in der kurzen Zeit, in der sie getrennt waren.

Fye, der auf dem Sofa saß und auf den Fernseher starrte, ohne das Programm so richtig wahrzunehmen, fragte sich, warum der Inspector ihn nicht weiter gedrängt hatte, etwas zu Jason zu erzählen. Er war verwirrt, aber auch ein bisschen erleichtert. Denn das war eine Geschichte, über die er nicht in Fyes Namen reden konnte, so sehr er es auch versuchte.

Kurogane war währenddessen in dem Raum, in dem er sich absolut sicher wähnte – seinem Schlafzimmer. Er hatte seinem Wohngenossen mehrmals eingebläut, dass das Schlafzimmer der Ort war, in dem er absolut nichts zu suchen hatte und genau das brauchte er jetzt – die Sicherheit, dass Fye ihn nicht stören würde, wenn er erneut zu dem Tagebuch griff und darin las.

Oder es zumindest versuchte. Es war schwer, den Zeilen zu folgen ohne sich dabei zu fühlen, als würde ein Geist über das eigene Grab laufen. Vor allem, da einige sehr... grafische Schilderungen dabei waren, von Dingen, die Kurogane noch nie getan hatte (beziehungsweise die er noch nie mit sich hatte machen lassen) und an die er nie auch nur gedacht hatte, das hieß bis jetzt, wo er dran denken musste, weil er sich plötzlich im Zentrum von all dessen befand. Er hätte es natürlich auch einfach überblättern können, aber der Schwarzhaarige hatte Angst, dann etwas entscheidendes zu übersehen. Bis jetzt wusste er nur, dass Yuui sich nach etwas gesehnt und es nicht bekommen hatte.

Und dann...
 

29. Juli

Es ist vorbei. Endgültig und unabänderlich. Ich habe all meinen Kram aus Jasons Wohnung geholt. Und dann habe ich es beendet. Und als Jason mich fragte, warum, habe ich ihm gesagt, dass ich so nicht weiter machen könne. Dass ich jemanden bräuchte, der mich liebt und mich nicht kontrolliert.

Er war außer sich. Aber es musste sein. Für mich und für ihn genauso. Vielleicht gibt es ja irgendwo jemanden, der genau das braucht, was Jason zu geben hat – aber ich bin es ganz sicher nicht.
 

01. August

Fye ist aus Italien zurück. Mein süßer kleiner Bruder... er redet wie ein Wasserfall, wenn man Emiglia Romagna auch nur erwähnt und scheint einen unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten zu haben. So kenne ich ihn gar nicht. Ob ihm die Heißblütigkeit der Italiener zu Kopf gestiegen ist? (Über diesen Bereich – Leidenschaften und alles, was dazu gehört – schweigt er sich natürlich aus. Aber das ist okay, denn ich mache es ja auch nicht anders.)

Es tut gut, ihn um mich zu haben. Er versteht mich. Er drängt mich nicht.

Alles ist wieder in Ordnung.
 

Kurogane blätterte die Seite um – und ein paar Papierfetzen starrten ihm entgegen. Zwei, drei, vier – die Reste von vier herausgerissenen Seiten, was nicht viel wäre, aber... die Einträge mussten nach Fyes Rückkehr wieder seltener geworden sein, denn was fehlte waren immerhin zwei Wochen. Zwei Wochen, in denen alles Mögliche passiert sein konnte!

Irgendetwas war geschehen zwischen dem Wiedersehen der Zwillinge und dem Entschluss, in eine andere Wohnung zu ziehen – in Italien. Man zog doch nicht urplötzlich ins Ausland, wenn nicht was ziemlich heftiges passiert war!

Kurogane stöhnte auf und schlug das Tagebuch wieder zu. Es half nichts. Das brachte ihn nicht weiter, nicht ein kleines Stück. Das hieß, er musste wohl doch Fye fragen. Die Briefe an sich reichten als Grund aus, um diesem Jason mal auf den Zahn zu fühlen, aber Kurogane wusste gern, worauf er sich einließ und aus einem simplen Gespräch konnte ganz schnell ein Verhör werden. Er war nun mal gern vorbereitet.

Und weil er gern vorbereitet war, machte er sich eine Liste mit Stichpunkten, die er über Jason Shioiri in Erfahrung bringen würde, bevor er in seine Nähe kam. Am besten wäre es, wenn er den Ex-Freund kontaktierte, vielleicht wusste der mehr. Eine aktuelle Adresse wäre schon hilfreich. Kurogane entschied, dass Syaoran das tun konnte, während er mit Fye redete oder andere Spuren verfolgte, die im Laufe des Tages noch auftauchen konnten. Als die Liste fertig war, war es halb elf und Kurogane löschte das Licht. Und mit der Finsternis kamen die Bilder wieder.

Die Art und Weise, wie man die Leichen hergerichtet hatte. Auf Rosen gebettet. (Zwar aus Marzipan, aber das zählte auch.) Vielleicht war das ja kein verrückter Fan gewesen, sondern die letzte zärtliche Geste eines früheren Liebhabers? Sie wussten noch nicht, woher die Rosen stammten. Oder mit wem sich Yuui an diesem Abend hatte treffen wollen. War das auftauchen eines neuen Lovers vielleicht der Auslöser dafür gewesen, dass der Mörder zugeschlagen hatte? Ein simples Verbrechen aus Leidenschaft?

Mürrisch warf Kurogane sich auf die andere Seite. Es war eine gute Theorie, aber sie gefiel ihm irgendwie nicht. Das Tagebuch-Lesen und Schnüffeln gefiel ihm nicht. Er wollte Yuui nicht zu nahe treten, auch wenn das schon längst passiert war. Er hatte auch nie erfahren wollen, dass Yuui solche Gedanken über ihn gehegt hatte. Lüsterne Gedanken.

Er und Yuui... wie abwegig. Nicht wahr? Auch der Gedanke störte Kurogane und er schob ihn beiseite, während er sich auf den Rücken wälzte. Dann auf den Bauch.

Und während er versuchte, nicht daran zu denken, was wohl gewesen wäre, wenn es Fye erwischt hätte und nicht Yuui, fragte er sich, ob Fye manchmal auch solche Gedanken hatte, wenn er ihn – Kurogane – ansah. Er musste diese Gedanken ja auch haben, wenn er andere Männer ansah.

Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er war jetzt für Fye verantwortlich, im Guten oder im Bösen. Der Blonde war fast ein Teil seines Freundeskreises. Das Team hatte ihn ins Herz geschlossen. Seine Mutter hatte ihn ins Herz geschlossen. Was, wenn Fye etwas passierte, im Lauf der Ermittlungen?

Kurogane schlief schlecht in dieser Nacht. Ausnahmsweise mal waren die lärmenden Nachbarn nicht schuld daran.
 

Ein Meer aus Wolkenkratzern. Spitz ragten ihre Dächer in den Himmel, nur das auf dem er stand hatte eine Dachterrasse und war etwas niedriger als die Anderen. Auf dem Sims saß eine schlanke Gestalt in einem marineblauen Mantel und ließ die Füße in besorgniserregender Höhe baumeln. Ihr blondes Haar – sein blondes Haar, denn es war ein Mann - war dem Spiel des Windes ausgeliefert und wurde mal in diese, mal in jene Richtung geworfen.

„Du bist spät, Kuro-chan“, sagte der Blonde munter, ohne den Blick von der Skyline abzuwenden.

Kurogane trat näher. „Du solltest da runter kommen. Das ist gefährlich.“

Der Angesprochene stand leichtfüßig auf und drehte sich um. Der Schwarzhaarige versuchte, sich diesen Anblick einzuprägen, denn etwas war anders an diesem Mann. Er konnte nur nicht sagen, woran es lag, so abgelenkt war er von dem Strahlen, welches das blasse Gesicht erhellte. Kurogane dachte: „Oh, so sieht es also aus, wenn er aufrichtig lächelt“ und er wusste, dass er Zeuge von etwas seltenem war. Ein Lächeln wie dieses sollte behütet werden.

„Welcher von Beiden bist du?“, fragte er und sein Gegenüber zuckte mit den Schultern.

„Was spielt das schon für eine Rolle?“ antwortete der Zwilling.

„Bitte. Ich muss es wissen.“ Fye oder Yuui winkte ihn näher zu sich, schmunzelnd.

„Würdest du mich auffangen wenn ich falle, Kuro-chan?“

„Sicher.“

„Weil es dein Job ist?“

Weil Yuui/Fye auf dem Betonsockel der Brüstung stand, waren sie auf Augenhöhe. Kurogane trat nah genug, um die Herausforderung in den Augen des Blonden funkeln zu sehen. Nah genug um ihn an sich ziehen zu können, wenn der blonde Narr wirklich fallen sollte. „Weil ich nicht anders kann.“

„Wie kitschig von dir,“ kicherte Yuui/Fye und dann, wie zufällig, kippte er leicht nach vorn und ihre Lippen fielen aufeinander. Kurogane konnte es nicht verhindern. Er wollte es auch gar nicht. Er hielt den Kleineren fest und küsste ihn innig. Als könne der Kuss die Frage beantworten, welcher der Zwillinge gerade seine Hand in Kuroganes Nacken legte; dabei machte die Intimität die Antwort nur wichtiger anstatt sie zu liefern.

Und dann war es plötzlich vorbei. Yuui/Fye stieß ihn weg.

„Ich kann das nicht“, flüsterte der Blonde. „Es tut mir Leid.“ Er stand verdächtig nah an der Kante, das fiel Kurogane jetzt schon zum zweiten Mal auf.

„Warum nicht?“

„Weil ich kein Herz mehr habe, dass ich verschenken könnte. Hast du das vergessen? Eine Kugel hat es durchschlagen und dann hat man es mir bei der Autopsie herausgenommen.“

„Yuui.“

„Natürlich. Es sei denn, es wäre dir lieber, ich wäre Fye. Hättest du Fye lieber, Kuro-chan?“

„Was? Nein.“

„Hm. Das ist aber schade, weißt du, denn sein Herz schlägt wenigstens noch. Andererseits, ist das hier ein Traum.“

„Du könntest uns also Beide haben“, fügte eine Stimme hinzu und eine Hand mit langen, zarten Fingern legte sich auf seine Schulter. „Wenigstens so lange dieser Traum anhält.“
 

Es war so gegen vier Uhr in der Frühe, als Fye von einem ordentlichen Rummsen aufgeschreckt wurde. Es klang ganz ganz, als wäre jemand aus dem Bett geplumpst und dieses Geräusch in Einklang zu bringen mit dem großen Inspector, der gerne so mürrisch drein schaute... der Blonde rang sich ein schwaches Schmunzeln ab und legte ein Lesezeichen in sein Buch. Er hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, aber vielleicht war ja jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um wenigstens so zu tun. Also legte er seine Lektüre auf den Couchtisch, machte das Licht aus und legte sich auf dem Sofa lang. Die Decken, die Kurogane ihm überlassen hatte, lagen unbeachtet auf dem Fußboden – es war noch immer viel zu schwül und zu stickig.

Fye mochte ein paar Minuten so dagelegen haben, vielleicht waren es auch zehn oder eine Viertelstunde, da hörte er die Schlafzimmertüre knarren und Kuroganes schwere Schritte auf dem Flur. Dann wurde die nächste Klinke betätigt und kurz darauf ertönte das leise Rauschen von Wasser. Kuro-chi stand wohl unter der Dusche.

Der Ältere seufzte schwer und stellte sich vor, das Prasseln käme von Regen, der über der Stadt fiel und eine kühle Brise brachte.

Es hatte auch geregnet an dem letzten Tag, als er Jasons abstoßende Visage hatte sehen müssen. Abstoßend war er vor allem wegen seiner Taten, nicht wegen seines Aussehens; ein Ungleichgewicht, das Fye (damals noch Yuui) zu beheben gedachte. Er erinnerte sich kaum noch an die Prügelei, nur an das Blut auf dem Asphalt, das vom Wetter weg gewaschen wurde und die entsetzten Schreie seines Bruders. Er war mit einer aufgeplatzten Lippe und einem blauen Auge davon gekommen. Und er hatte Jason in den Arm gebissen und hätte noch viel schlimmere Dinge für ihn vorgesehen, wenn Fye ihn nicht heulend davon abgehalten hätte.

('Hör auf, Yuui! Ich will nicht, dass er dir wehtut.')

Als ob Jason ihn ernsthaft verletzten könnte nach dem, was er abgezogen hatte. Jason hatte es verdient, dass man ihm eins in die Fresse haute und das hatte er in dem Moment gewusst.

Die Erinnerungen verblassten, als die Müdigkeit dann doch auf leisen Sohlen angeschlichen kam. Und sie war nicht die Einzige. Halb schlummernd, roch Fye Kurogane bevor er ihn näherkommen hörte. 'Ob ich ihn mal danach fragen sollte, was er davon hält, dass wir das gleiche Duschgel haben?, fragte er sich. Die Härchen in Fyes Nacken stellten sich auf, als der Inspector barfuß zum Sofa schlich und sich hinkniete, um den vermeintlich Schlafenden zu beobachten.

Kurogane atmete.

Nun, alle Menschen atmeten, immerhin mussten sie ja irgendwie ihr Hirn mit Sauerstoff versorgen, es hätte also nichts besonderes sein dürfen, aber... wenn Kurogane atmete, dann bekam Fye eine Gänsehaut. Er war es nicht gewohnt, dass jemand ihm so nahe kam, einfach nur um ihn zu beobachten. Was tat Kurogane da überhaupt? Wachte er? Oder hoffte er aus dem Gemurmel eines Schlafenden Hinweise für seinen Fall zu bekommen?

Die Menschen, die auf Fye zukamen, wollten alle irgendetwas von ihm. So waren Menschen nun mal gestrickt. Und es war okay, so lange man wusste, was genau sie von einem wollten, aber Kurogane war da anders. Er war ständig da. Hatte seine Augen überall. Was der Inspector suchte, waren Informationen, aber das konnte nicht alles sein, bei der Hartnäckigkeit, mit der er vorging. Fast konnte er sich sogar einbilden, Kuro-rin läge etwas an ihm, so sehr bemühte der Jüngere sich.

Kurogane stieß einen tiefen Seufzer aus. „Du schläfst gar nicht, stimmt's?“

„Ich hab's versucht. Aber ich kann nicht, wenn mir einer zuguckt,“ murmelte Fye ohne die Augen aufzuschlagen.

Idiot.“ Diesmal klang es fast wie ein Kosename.

„Stalker.“

„Betrachte es als eine Art Untersuchungshaft.“

Na so was, der Herr Inspector konnte ja sogar scherzen! Fye gab die Scharade auf und öffnete die Augen, dabei sah Kurogane er nicht so aus als wäre er zu Späßen aufgelegt. Hätte der Blonde ihn besser gekannt, hätte er behauptet, der Polizist wirkte ein wenig gequält. „Du hast mich doch nicht geweckt, nur um mir das zu sagen, oder?“

„Du warst wach.“

„Das konntest du nicht wissen.“

„Ich...“ Kurogane setzte sich hin und schlug die Beine übereinander. Was eindrucksvoll gewirkt hätte, wenn er nicht nur in Boxershorts gewesen wäre. Mit irgendwelchen Figürchen drauf, die sich im Halbdunkel des Morgens nur schwer erkennen ließen. „Du bist nicht dein Bruder“, sagte Kurogane schließlich. Um ein Haar hätte Fye laut aufgelacht, denn wenn es jemals einen Menschen gegeben hatte, der dem widersprechen konnte, dann er.

„Ich weiß.“

„Ich dachte nur- was, wenn der Mörder das nicht weiß? Tomoyo sagte, es war nicht öffentlich bekannt, dass du sein Zwilling bist.“

„Kuro-tan...“

„Was, wenn dich durch Zufall ein Fan auf der Straße sieht und auf Twitter oder Facebook postet, dass Yuuis Tod ein makabrer Publicity Gag war? Und der Mörder dann auf Nummer sicher gehen will und hinter dir her ist?“

„Ich dachte, du hättest Jason im Verdacht?“

„Sicher, aber – wenn ich mich da irre könntest du in ernsthafter Gefahr sein. Ich... ich will, dass du heute den Tag über bei den Daidoujis bleibst. Und ich rede mit meiner Chefin, ob ich Polizeischutz für dich organisieren kann.“

„Ich soll Däumchen drehen und mit deiner Mutter Tee trinken, während du ermittelst? Vergiss es.“ Fye setzte sich auf, empört. Er wollte keinen Polizeischutz! Die Möglichkeit, dass der Mörder seines Bruders als nächstes ihm nachstellte, hatte er in Betracht gezogen, ja, hatte sie sogar begrüßt.

„Du blöder- ich versuche dir klar zu machen, dass dein Leben in Gefahr sein könnte und du denkst nur daran?“

„Oh? Macht Kuro-sama sich etwa Sorgen um mich? Wie süß.“ Er versuchte, einen Witz daraus zu machen. Kurogane zu verunsichern, in der Hoffnung, dass der zurück rudern würde (weil vernünftige Argumente wohl kaum durch den Dickschädel des Inspectors drangen, aber stur konnte Fye auch sein, verdammt noch mal). Die Alternative wäre, einzugestehen, dass ihm sein Leben so ziemlich egal war. Das ohnehin nicht mehr viel davon übrig geblieben war und die Zukunft ein undurchschaubares Durcheinander. Aber irgendwie wollte er nicht, dass Kurogane erfuhr, wie miserabel er sich die meiste Zeit wirklich fühlte. Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass er von dem Schwarzhaarigen kein Mitleid wollte.

Kurogane fletschte instinktiv die Zähne, fast wie ein Hund, aber wenn er einen Kommentar auf der Zunge gehabt hatte, dann hatte er ihn herunter geschluckt. Das Einzige, was er heraus brachte war ein weiteres: „Idiot.“

Er stand auf – seine volle Größe wirkte sogar noch imposanter, wenn man sie aus sitzender Position betrachtete, wie der Polizist sicher genau wusste – und verschränkte die Arme. „Das wir uns verstehen: das war kein Vorschlag. Meine Entscheidung steht längst fest.“

Fye setzte einen Schmollmund auf. Er mochte es gar nicht, wenn man über seinen Kopf hinweg Entscheidungen traf und erst recht konnte er es nicht ausstehen, wenn man ihn einsperrte. Vor allem, wenn der Beschluss von einem Mann in Unterwäsche kam. Zu gerne hätte Fye seinem Frust Luft gemacht und Kurogane die Unterhose runter zu ziehen bot sich geradezu an – aber man biss nicht die Hand, die einen fütterte. Und ein entblößter Inspector hätte dafür gesorgt, dass man ihn endgültig rausschmiss.

Der Blonde legte sich wieder hin, aber diesmal drehte er Kurogane den Rücken zu. Er würde seine Rache schon noch haben. Miyako-san würde bestimmt ein paar hübsche Anekdoten aus Kuro-chans Kindheit kennen.
 

Kurogane starrte noch einen Moment auf den Rücken seines unfreiwilligen Mitbewohners, auf das schwarz-weiß gestreifte T-Shirt, das zerknittert an seinem Rücken pappte und die goldenen, verschwitzten Haare, die, von der Schwüle gelockt, ein noch größeres Durcheinander ergaben. Er widerstand dem Drang, Fye eine Decke überzuwerfen, als wäre er ein bockiges Kind (obwohl er sich wie eines benahm!) oder ihm erneut und vollkommen unnötig mitzuteilen, dass er alles in Ordnung bringen würde.

Nein, Kurogane drehte sich um und ging in sein Schlafzimmer zurück. Dabei drückte er die Klinke äußerst vorsichtig herunter, um so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Drinnen lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Tür und verbarg sein Gesicht in seiner Hand. Ein Teil von ihm wollte sich selbst gratulieren, dass er dieses Gespräch führen konnte ohne durchzudrehen, ein anderer Teil krähte nach ein bisschen Halt und Normalität.

Er wusste, dass er in der Scheiße steckte. Und zwar so richtig.

Weil es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass er begann, Gefühle zu entwickeln. Kurogane kannte sich und es war nicht das erste Mal, dass ihm das passierte – dass er glaubte, alles wäre okay, bis es ihm plötzlich den Boden unter den Füßen wegzog. Und dieser Traum den er gehabt hatte, war eindeutig von der bodenlosen Sorte gewesen.

Er konnte sogar sagen, warum er dieses Problem hatte – es hatte irgendwas mit der Verklärung und Romantisierung von Erinnerungen zu tun. Nicht, dass dieses Wissen irgendetwas dazu beitragen konnte, um das Unvermeidbare zu verhindern.

Er wusste, dass er im Begriff war sich zu verlieben. Das Problem war nur – in wen? Man konnte sich nicht in einen Mann verlieben, den man kaum gekannt hatte, oder? War es die Zuneigung zu Yuui, die dazu führte, dass er dessen durchgeknallten Bruder beschützen wollte oder war es seine Fixierung auf Fye und die Liebe, die dieser für seinen Bruder empfunden hatte, die nun dafür sorgte, dass ihm Yuuis Schicksal so nahe ging?

Kurogane schloss die Augen und atmete tief durch, was nicht leicht war, denn es fühlte sich an, als hätte sich etwas auf seine Brust gesetzt, dass ihn schlecht Luft holen ließ. Er hatte Angst.

Davor, die Antwort auf diese Fragen zu finden.

---

Ist es nicht interessant, was für Erkenntnisse man unter der Dusche gewinnen kann? Über die Temperatur des Wassers und was Kurrogane wohl noch so gemacht hat außer zu grübeln, das überlasse ich mal ganz eurer Fantasie. Und oh! Kuroganes emotionales Wirrwar wird sich noch verschlimmern, ich kann es fühlen. ^^

Tut mir Leid, dass es wieder so lang gedauert hat. Witzigerweise hing ich in Kapitel 13 fest. Aber mittlerweile habe ich Internet zu Hause, das ist auch mal was!
 

Vorschau:

[...]Dabei war das ganz und gar nicht selbstverständlich. Das erforderte doch Zeit und Nähe und dass er sich die Mühe gemacht hatte, zeugte von einer Hingabe... die nicht viele Menschen aufbrachten. Kurogane fühlte sich plötzlich unwohl in seiner Haut.[...]



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Jinee94
2012-08-28T10:12:51+00:00 28.08.2012 12:12
Schreib schnell weiter. Biiiiitte!
Ich liebe deine Story! Ich will wissen wie es weiter geht!!!!
Auch wenn das lange warten eine Qual ist xD

Das Kapitel war voll schön !
Die Tagebucheinträge und der Traum waren...*schmacht* ich musste es mehrmals lesen weil es so süß war :)
Und dann das Kuro sich eingesteht sich langsam in Fye zu verlieben...das ist mal ein völlig neuer Kuropuuu..aber voll süß ^-^
Von: abgemeldet
2012-08-26T19:03:46+00:00 26.08.2012 21:03
Ich kann nicht behaupten, dass ich großartig Mitleid mit Kurogane hab. Selber Schuld, wenn er in anderer Leute Tagebücher rumschnüffelt XD

Was ich ausgesprochen interessant fand, war sein Traum.
Vielleicht interpretiere ich da mehr rein als da wirklich ist, aber von außen betrachtet spiegelt er die aktuelle Situation zwischen den Zweien, bzw. Dreien deutlich.

Sehr gut gefällt mir auch dein Ansatz, dass Kurogane sich tatsächlich eingesteht auf dem besten Weg zu sein sich in Fye zu verlieben. Oder die ersten Schritte in diese Richtung schon gemacht hat, ohne sich dessen bewusst zu sein.
In den meisten FFs gibt er sich das ja erst zu, wenn aller Widerspruch zwecklos ist weil sowieso alle Welt längst Bescheid weiß.

Ich freu mich schon aufs nächste Kapi ^^
Liebe Grüße,
Puffie~
Von:  Meekamii
2012-08-26T13:42:22+00:00 26.08.2012 15:42
*.* Wie lange ich darauf gewartet habe das es weitergeht! Der Traum war mies XD ich dachte zuerst das passiert jetzt in echt und dann war es nur ein Traum und der andere Bruder taucht auch auf maaan X3 Die Einträge im Tagebuch hast du richtig gut geschrieben! Sehr Authentisch und interessant.
Ich warte gespannt auf das nächste Kapittel ^_°

wata ne ^-^
Bunny


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