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Lo specchio della regina

der Spiegel der Königin
von

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Die Stadt, mit den zwei Gesichtern

Ich widme diese Fanfiktion meiner Freundin Fire-Mariah-san, weil sie mich auf die Idee für diese Geschichte gebracht hat!
 

Der Titel ist übrigens italienisch (warum gerade italienisch ergibt sich im Laufe der Geschichte)

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Zauberhaft... einfach nur zauberhaft….

Dunkelblau schimmerndes, langes Haar… die Augen fest geschlossen… nahezu weiße Haut… die blassen Lippen leicht geöffnet… ein langes, weißes Kleid… benetzt von einer roten Flüssigkeit… der selben Flüssigkeit, mit dem der See gefüllt war, in dessen Mitte die Gestalt lag… rot, wie ein Sonnenuntergang… rot, wie die ersten Erdbeeren des Sommers… rot wie… Blut…

Zauberhaft…
 

Vanessa schreckte auf und sah in das Gesicht ihres Freundes.

„Na? Gut geschlafen?“, flüsterte Kai ihr sanft ins Ohr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Vanessa rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Naja… so halbwegs… sind wir bald da?“

Sie warf einen Blick aus dem kleinen Fenster mit den abgerundeten Ecken, in der Hoffnung, etwas Interessantes hinter dem dicken Sicherheitsglas zu entdecken, aber alles was sie sah, waren der, mit weißen Schäfchenwolken behängte Himmel und unter ihnen das azurblaue Meer. Etwas enttäuscht wandte sie sich wieder an Kai.

„Ein bisschen noch… Keine Sorge! Wir werden schon bald wieder festen Boden unter den Füßen haben.“

Er wuschelte ihr durch die Haare.

Kai irrte sich selten und Vanessa betete innerlich, dass er auch dieses Mal Recht behalten würde. Nicht, dass sie etwas gegen Flugzeuge oder das Fliegen an sich gehabt hätte, aber dieser Flug zog sich einfach viel zu lange hin… Wären sie doch nur mit dem Schiff gefahren! Da hätten sie wenigstens Tennis spielen, trainieren oder überhaupt irgendetwas machen können! Das ständige Sitzen hielt sie allmählich nicht mehr aus!
 

Vanessa sah wieder zu Kai.

Er starrte schon wieder auf seine Knie.

Es tat ihr weh zu sehen, wie sehr ihn das Alles mitnahm. Sie hatte noch nie erlebt, dass er so besorgt aussah.

Es ging hier um seinen besten Kumpel. Jemanden, der selbst den schweigsamen Kai immer zu verstehen schien.

Auch für Vanessa war Tala ein sehr wichtiger Freund.

Er war… wie ein großer Bruder… ein Mitglied ihres Teams… und noch viel mehr…

Sie konnte immer noch nicht glauben, dass er verschwunden sein sollte.

Kein Wort des Abschieds, kein Brief… Er war einfach eines Morgens nicht mehr da! Aber es gab auch keine Hinweise, dass er gewaltsam verschleppt wurde.

Andererseits waren noch alle seine Sachen da. Wenn er schnell verschwinden hätte müssen, dann hätte er doch wenigstens Geld und was zum Anziehen mitnehmen müssen…

Es gab nicht eine Spur…

Dennoch schien Kai ganz genau zu wissen, wo sie suchen mussten.
 

Er hatte niemanden bescheid gesagt, wohin er wollte. Niemanden, bis auf Vanessa.

Ihr Ziel war eine kleine Stadt in Rumänien, in der Kais Mutter mit seiner Schwester lebte.

Vanessa hatte bis dahin noch nicht einmal gewusst, dass Kais Mutter noch lebte… geschweige denn, dass er eine Schwester hatte!

Und noch viel weniger konnte sie verstehen, was die beiden mit Talas Verschwinden zu tun haben sollten.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als Kai zu vertrauen…
 


 

Endlich landete das Flugzeug.

Vanessa konnte aufatmen und lief erst mal den gesamten Flughafen auf und ab, um wieder Gefühl in ihre Beine zu bekommen, als sie plötzlich eine riesige schwarze Limousine vorfahren sah.

Wem mochte die wohl gehören? Ob hier irgendwo so eine Art Ölscheich durch die Gegend rannte?

Vanessa sah sich um, aber irgendwie sah keiner der Menschen um sie herum so aus, als könnte er sich ein derartiges Gefährt leisten.

„Kommst du?“

Kai hatte Vanessas und seinen Koffer genommen und sah sie erwartungsvoll, aber auch ein wenig ungeduldig an.

„Ähm… aber… da ist doch nur diese…. du willst doch nicht sagen, dass… diese Limo… für UNS?????“

Vanessa war sprachlos.

Natürlich wusste sie, dass Kais Mutter Geld haben musste! Sie war ja die Tochter von Voltär! Aber SO VIEL GELD??????
 

Etwas schüchtern stieg Vanessa ein, als der Chauffeur ihr die Tür aufhielt, nachdem er Kai die Koffer abgenommen hatte, um sie im Kofferraum zu verstauen.

Der Mann sah noch sehr jung und ziemlich freundlich aus. Er machte einen vertrauenswürdigen Eindruck.
 


 

Während der Fahrt wagte Vanessa es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Sie war viel zu gespannt auf das, was jetzt auf sie zukam.

Auch Kai starrte nur aus dem Fenster und so blieb es still.
 

Schon bald verließen sie die befestigte Straße und bogen auf einen Feldweg ein. Der Weg führte sie durch dunkle Wälder und sie schienen sich immer weiter von der belebten Zivilisation zu entfernen.

Vanessa wurde allmählich nervös. Wohin brachte sie dieser Mann nur? Aber als sie Kai ansah, schien der völlig unberührt von der Tatsache, dass hier doch irgendetwas nicht stimmen könnte.
 

Da! Endlich! Häuser! Es war eine kleine Stadt, kein Zweifel! Sogar eine sehr schöne Stadt, fand Vanessa.

Schöne Häuser, mit schönen Gärten… einfach schön im Gesamtbild.

Aber das Bild sollte sich bald ändern.

Sie fuhren über eine Brücke. Das Wasser unter ihnen war so sauber, dass Vanessa es kaum wagte, den Blick davon abzuwenden, deshalb sah sie erst spät, was sie am anderen Ufer erwartete.

Plötzlich war es, als wären sie in einer vollkommen anderen Stadt… ja vielleicht sogar in einer anderen Welt!

Zuvor hatte sie lauter noble Einfamilienhäuser gesehen, jetzt waren es nur noch dicht aneinander gedrängte Wohnblocks, die teilweise aussahen, als würden sie bald zusammen fallen.

Es war ein Bild des Jammers.

„Warum muss es in einer so schönen Stadt so etwas schreckliches geben?“, murmelte Vanessa.

„Weil auf jeden sehr reichen Menschen, ein sehr armer kommt!“, antwortete Kai, ohne sie dabei anzusehen.

Vanessa verstand nicht ganz, was er ihr damit sagen wollte und beschloss, es vorerst dabei zu belassen.
 

Sie fuhren wieder aus der Stadt hinaus und es dauerte noch etliche Minuten, bis sie endlich ihr Ziel erreichten.

Eigentlich hatte Vanessa erwartet, dass sie jetzt sowieso nichts mehr überraschen konnte, aber sie sollte sich irren.

Ein großes Haus, eine Villa… auf all das war Sie eingestellt gewesen, aber nicht auf DAS!!!!

Es war eine riesige Burg auf einem kleinen Hügel.

Eigentlich ein absolut typisches Bild für Rumänien, bis auf das, dass die Burgen in der Regel eher Ruinen ähnelten. Aber hier war das kein bisschen der Fall!

Vanessa fühlte sich um hunderte von Jahren zurückversetzt, als die Limo auf die steinerne Brück fuhr, die über die ersten Meter des riesigen Burggrabens führte. Die restliche Strecke führte über eine Zugbrücke und endlich befanden sie sich innerhalb der Burgmauern.

Es war einfach unglaublich.

Wo das Auge hinblickte sah man nichts als Gärten, riesige Brunnen und vor allem…

„Eine Bayblade Arena!!!“ Vanessa konnte kaum noch atmen, so beeindruckt war sie von dem Anblick der riesigen Gläsernen Kuppel, unter der sich eine perfekt ausgeklügelte Arena für ihren Lieblingssport befand. Und sie wurde auch genutzt!

Vanessa konnte gerade noch erkennen, wie eine zierliche Gestalt ihrem wesentlich größeren Gegner den Rest gab.

Als sie und Kai ausstiegen, warf sie einen Blick gen Himmel. Eine dichte Wolkendecke versperrte den Sonnenstrahlen den Weg. Wahrscheinlich würde es heute noch regnen.
 

Eine jung aussehende Frau eilte über den Hof und wedelte fröhlich mit den Armen.

Nachdem Kai und Vanessa ausgestiegen waren, viel sie Kai um den Hals und gab ihm Küsse an jede nur erdenkliche Stelle seines Gesichts.

„Mum… es reicht schon wieder!“

Kai war die überschwängliche Begrüßung seiner Mutter eher peinlich und Vanessa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Kais Mutter hatte kurzes, rotbraunes Haar, das sie am Hinterkopf leicht hochgestellt trug.

Überhaupt hatte sie einen eher frechen Look. Ihre Kleidung unterschied sich kaum von Vanessas und wenn jemand behauptet hätte, diese Frau wäre Kais ältere Schwester und nicht seine Mutter, dann hätte das wohl jeder ohne zu zögern geglaubt.

„Entschuldige mein Schatz! Aber ich freu mich einfach so, die endlich wieder zu sehen! Jerry, würdest du bitte die Koffer der beiden auf ihre Zimmer bringen? Kai, mein Süßer, du musst mir UNBEDINGT deine Freundin vorstellen! Ich bin Hilary und wie heißt du? Wo ist nur schon wieder deine Schwester?“

„Ähm… ich bin Vanessa!“, wollte das, etwas eingeschüchterte Persönchen antworten, aber die stürmische Hilary war mit den Gedanken längst wieder wo anders.

Sie sah sich eilig auf dem riesigen Hof um, bis ihr Blick auf die Arena fiel.

„Ach dieses unhöfliche Ding! Sie weiß genau, dass wir Gäste haben und hat doch nichts anderes im Kopf, als Bayblade!“

Das „unhöfliche Ding“ schritt mit langsamen Schritten auf die „Gäste“ zu.

Sie schien es nicht sehr eilig zu haben, ihren Bruder, den sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, zu begrüßen.

Endlich war sie da und lehnte sich lässig gegen die Limo. Sie musterte Kai und Vanessa mit einem abfälligen Blick und kaute unbeeindruckt auf ihrem Kaugummi.

Vanessa schoss ein Blitz durch den Kopf. Dieses Mädchen… dunkelblaues, langes Haar, blasse Haut… wo hatte sie diese Person schon einmal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern…

Ailayn

„Ailayn, willst du deinen Zwillingsbruder und seine Freundin nicht begrüßen?“

Hilary schien die Situation etwas peinlich zu sein. Kein Wunder! Auch jetzt machte Ailayn keine Anstalten, um auch nur einen der beiden zu begrüßen. Ganz im Gegenteil! Sie drehte sich sogar wieder um und ging einfach…

„Ähm… sie ist etwas schüchtern! Aber ihr werdet euch sicher noch gut verstehen…“

Hillary schien selbst nicht wirklich überzeugt von ihren Worten zu sein.

„Nun ja… Jerry wird euch eure Zimmer zeigen! Jerry?!“
 

Jerry erwies sich als eleganter, älterer Herr in einem feinen Anzug.

Er sah aus, wie einer dieser typischen Butler, wie man sie in Hollywoodstreifen zu sehen bekam. Genauso streng und genauso penibel.

Vanessa war fast froh, als sie endlich in ihr Zimmer und damit weg von diesem Typen konnte.

Es war ein wunderschöner heller Raum in einem kleinen Turm. Einen Balkon gab es auch und die Aussicht war ein einziger Traum.

So konnte man zum Beispiel einen riesigen See sehen, der nicht weit entfernt sein konnte. Vielleicht würden Vanessa und Kai die Zeit finden, für einen gemeinsamen Ausflug.

Aber das würde wohl kaum gehen. Sie mussten doch Tala finden! Auch wenn Vanessa noch immer nicht ganz klar war, wie.
 

Vanessa gähnte.

Der ganze Stress hatte sie ziemlich mitgenommen, also beschloss sie, sich für eine Weile hinzulegen.

Sie hatte gar nicht gemerkt, wie lange sie geschlafen hatte, denn als das junge Mädchen erwachte, wurde es draußen schon dunkel.

Vanessa knurrte der Magen. Sicherlich hatte sie das Abendessen längst verpasst. Aber dafür war sie jetzt hellwach.

Vielleicht hatte sie ja Glück und in der Küche fand sich etwas Essbares!

Ja bestimmt! Es würde sich sicher etwas finden! Allerdings… musste Vanessa dazu erst einmal die Küche finden! Und das gestaltete sich erheblich schwieriger, als sie sich das vorgestellt hatte.

Als sie nach langem, ziellosem Umherirren wieder einen Blick aus dem Fenster warf, war es draußen schon finster geworden. Es war immer noch stark bewölkt und so konnte man noch nicht einmal die Sterne am Himmel funkeln sehen. Es war dunkel. Einfach nur dunkel. Vanessa konnte kein anderes Wort dafür finden.

Aber was war das? Da war ja doch ein Licht! Vanessa musste sich weit aus dem Fenster lehnen um es überhaupt wahrnehmen zu können. Es schien aus der Bayblade Arena zu kommen. Um diese Zeit? Vanessa wusste nicht wie spät es war, aber es musste SEHR spät sein, denn sie konnte nicht das kleinste Geräusch hören, das auf einen wachen Menschen schließen lassen hätte.

Vanessa zögerte noch einen letzten Augenblick bevor sie mit großen Schritten nach draußen auf den Hof eilte. Als sie das kalte Pflaster unter ihren nackten Füßen zu spüren bekam zögerte sie kurz. Es dauerte etwas, bis sich ihre Augen an die vollkommene Dunkelheit gewöhnt hatten. Von dem Platz, an dem sie stand, konnte man nicht zu der Arena sehen, aber Vanessa ahnte zumindest, in welche Richtung sie musste.

Vorsichtig tastete sie sich voran. Es konnte nicht mehr weit sein.

Endlich sah sie den Lichtstrahl. Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie plötzlich ein Rascheln hörte. Vanessa blieb ruckartig stehen und drehte sich langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

Sie konnte ihren Augen nicht trauen. Ihr Körper begann zu zittern. Nein! Das konnte nicht wahr sein!

Was Vanessa sah, war kaum mehr als ein Schatten, und doch war er so unverkennbar, dass jeder Irrtum ausgeschlossen war.

So verrückt konnte nur einer sein Haar, ohne Hilfe von 10 Tonnen „Drei-Wetter-Taft“ stylen…

„Tala…?“ Vanessas Worte waren eigentlich nur ein Flüstern, aber sie wusste, dass er sie hören konnte… er musste sie einfach hören!
 

„Wer ist da?“

Erschrocken drehte sich Vanessa um und erblickte eine zierliche Gestalt, die sie als Ailayn identifizierte.

„Ich… ich bins… Vanessa!“

Vanessa warf noch mal einen Blick an die Stelle, wo Tala eben noch gestanden hatte. Doch natürlich war er verschwunden. Irgendwie hatte Vanessa das erwartet…

„Was machst du um die Zeit hier draußen?“, fragte Ailayn und musterte Vanessa misstrauisch.

„Dasselbe könnte ich dich fragen! Ich habe Licht gesehen und wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist!“ Vanessa versuchte ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, was ihr aber nur sehr schwer gelang. Sie hatte keine Lust, sich jetzt mit Ailayn zu unterhalten! Sie musste Tala finden! Auch wenn es wohl oder übel ziemlich unmöglich war, ihn jetzt noch zu finden.

Ailayn zögerte kurz, bevor sie antwortete. „Ich habe trainiert!“

„Warum trainierst du so spät noch?“ Die Frage hatte Vanessa eher aus Reflex, als aus ehrlichem Interesse gestellt, aber nachdem ihr die Worte so heraus gerutscht waren, fiel ihr plötzlich auf, dass es tatsächlich sehr eigenartig war, so spät noch zu trainieren. Hatte Ailayn vielleicht irgendetwas mit Talas Auftauchen zu tun?

„Ich trainiere immer um diese Zeit! Da ist es… angenehmer!“ Ailayn sah Vanessa nicht in die Augen, als sie sprach.

„Aber du hast doch heute Nachmittag auch schon trainiert! Hast du etwa bald ein wichtiges Match, wegen dem du so viel trainierst?“

„So könnte man es auch ausdrücken!“ Ailayn sah auf ihre Uhr. „Ich denke, wir sollten jetzt beide zu Bett gehen! Du kennst den Weg zu deinem Zimmer wahrscheinlich noch nicht auswendig, oder? Das ist normal bei diesem Labyrinth! Ich begleite dich!“

„Oh ja, das wäre nett! Das ganze erinnert mich fast ein bisschen, an diese ägyptischen Pyramiden! Die sind ja auch immer so gebaut, dass man sich verläuft!“ Vanessa lachte, hörte aber sofort wieder damit auf, als sie bemerkte, dass Ailayn den Scherz offensichtlich nicht lustig fand.
 

Ailayn führte Vanessa schweigend auf ihr Zimmer.

„Ähm… also danke! Wo hast du eigentlich dein Zimmer?“, fragte Vanessa, als Ailayn schon wieder gehen wollte.

„Ich hab das Zimmer direkt über dir! Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ Bevor Vanessa noch irgendetwas erwidern konnte, war Ailayn auch schon verschwunden.

Etwas enttäuscht, von dieser kalten, abweisenden Unterhaltung, trat Vanessa auf den Balkon hinaus.

„Das Zimmer über mir“, murmelte sie leise. Es musste das letzte Zimmer unter dem Dach sein. Vanessa konnte nur ein einziges, eher kleines Fenster sehen, dass mit dicken, schwarzen Vorhängen verhängt war. Warum schließ Ailayn in diesem finsteren Zimmer, wenn direkt unter ihr doch ein so herrlich heller Raum war, der sogar einen Balkon hatte?

Vanessa gähnte. Sie war zu müde, um sich groß Gedanken darüber zu machen. Sie beschloss, am nächsten Tag darüber nachzudenken und legte sich schlafen.
 


 

Die Sonnenstrahlen kitzelten Vanessas Nase. Sie rieb sich die verschlafenen Augen, bevor sie aufstand und in den kleinen Waschraum ging, der zu dem Zimmer gehörte.

Frisch geduscht und gut gelaunt ging sie zum Frühstück. Zumindest versuchte sie das.

Eigentlich hatte Vanessa gehofft, sich jetzt doch ein wenig besser in dem alten Gemäuer auszukennen, aber da hatte sie sich wohl geirrt. Es gab wohl oder übel keine andere Möglichkeit. Seufzend holte sie ihr Handy heraus und wählte Kais Nummer.

„Kai? Ich bins, Vanessa! Ich steh hier vor einem blauen Wandteppich, mit einem goldenen Löwen drauf und hab keine Ahnung, wo ich jetzt hin muss!“

Sie konnte beinahe das schmunzelnde Gesicht ihres Freundes vor sich sehen, als er antwortete. „Ich hol dich ab! Rühr dich nicht vom Fleck!“
 

Es dauerte einige Minuten, bis Kai endlich da war. „Oh man, du bist ja in die komplett falsche Richtung gelaufen! Ich glaube, die nächste Zeit bewegst du dich hier nur noch in Begleitung vorwärts! Sonst verlieren wir dich irgendwann noch komplett!“ Vanessa lächelte ihn an. „Oh, keine Sorge, so lange ich mein Handy bei mir habe, kann mir nichts passieren!“
 

Die beiden gingen in den Speisesaal.

In der Mitte des Raums stand eine riesige Tafel, die mit allem gedeckt war, was man sich zum Frühstück nur wünschen konnte.

Obwohl Vanessa sich verlaufen hatte, waren sie und Kai die ersten, die sich an den Tisch setzten.

In ihrem Zimmer hatte Vanessa noch die warme Morgensonne auf ihrer Haut gespürt, doch jetzt fror sie beinahe. Der Raum hatte zwar viele riesige Fenster, aber die waren alle mit schweren Vorhängen verhangen, so, dass nur noch wenig Licht hindurch dringen konnte. Wahrscheinlich würde es einfach zu heiß werden, wenn durch alle Fenster das Licht eindringen würde, schlussfolgerte Vanessa. Aber warum hatte man dann nicht wenigstens zwei oder drei Fenster offen gelassen?
 

Hillary betrat den Raum und ihr erster Blick galt ebenfalls den Vorhängen. Aber, anders als Vanessa, schien sie zufrieden damit zu sein, was sie sah. Sie setzte sich Vanessa gegenüber und lächelte sie fröhlich an.

„Na, hast du gut geschlafen?“

Vanessa nickte. „Das Zimmer ist traumhaft! Ich glaube, es könnte in keinem Luxushotel schöner sein!“

Hilary lachte. „Nun, die zauberhafte Einrichtung haben wir, denke ich, Jerry zu verdanken! Er hat mir die besten Innenarchitekten besorgt, die es derzeit auf dem Markt gibt!“
 

Die Tür ging auf und Ailayn kam herein. Schlagartig verschwand das Lächeln aus Hillarys Gesicht. Kai aß vollkommen unberührt weiter, aber Vanessa konnte Ailayn einfach nur fassungslos anstarren.

Es war ein wunderschöner Sommertag, mit den besten Vorraussetzungen, um der schönste Tag des Jahres zu werden. Es war warm! Wirklich sehr warm! Vanessa trug unter ihrem luftigen Sommerkleid sogar schon einen Bikini, weil sie fest damit rechnete, später noch in dem See, den sie gesehen hatte, schwimmen zu gehen. Ailayn dagegen trug einen langärmlichen Pullover, eine lange Jeans, einen Hut und sogar einen Schal!

Sie setzte sich neben ihre Mutter und nahm sich etwas von dem Früchtequark.

„Schätzchen, würdest du den Hut wenigstens beim essen abnehmen? Bitte!“ Nur widerstrebend hörte Ailayn auf ihre Mutter und legte den Hut auf den freien Stuhl neben sich.

Ein langes Schweigen trat ein.

Vanessa wurde mehr und mehr unwohl. Seit Ailayn den Raum betreten hatte, schien die Luft so dick zu sein, dass man sie mit dem Messer schneiden könnte. Irgendwie musste diese gespannte Situation doch zu lockern sein!

„Sag mal Ailayn… hier gibt es doch einen See in der Nähe! Würdest du mit mir da hin gehen? Es würde sicher Spaß machen, bei der Hitze ein wenig schwimmen zu gehen!“

Vanessas Entschluss stand fest. Sie würde sich mit Ailayn anfreunden! Auf jeden Fall! Sie hatte es immerhin auch geschafft, die Schutzhülle des kühlen Kais zu durchdringen! Warum sollte ihr das bei dessen Zwillingsschwester nicht auch gelingen?

„Willst du mich umbringen?“ Ailayn warf ihren Löffel zur Seite, stand so ruckartig auf, dass ihr Stuhl einfach nach hinten umkippte und ging davon.

„Ailayn, Schätzchen, warte doch! Sie… Vanessa hat es nicht so gemeint!“ Verzweifelt sah Hilary ihrer Tochter hinterher.

Kai legte sein Messer, mit dem er eben noch ein Brot mit Butter bestrichen hatte, beiseite. „Entschuldige, Mum! Ich hab es ihr noch nicht gesagt! Es tut mir Leid!“

„Oh!“, machte Kais Mutter nur kurz, bevor sie aufstand und ebenfalls nach draußen ging.

Kai drehte sich zu Vanessa, die allmählich wirklich nicht mehr verstand, was hier vor sich ging. „Wa… Was hab ich denn Falsches gesagt? Warum sollte ich sie umbringen wollen? Kai? Was hat das alles zu bedeuten?“ „Vanessa… es tut mir Leid! Ich hätte es dir längst sagen müssen! Du konntest es ja nicht ahnen!“ „Was ahnen? Kai! Was soll das Alles?“ Sie starrte ihn unverwandt an.

„Ailayn ist schwer krank! Sie leidet an einer Erythropoetischen Protoporphyrie!“

Vanessa verstand kein Wort von dem, was Kai sagte. Sie hatte nie zuvor von einer derartigen Krankheit gehört.

„Hast du schon mal von der „Vampirkrankheit“ gehört? Der Porphyrie?“, fragte Kai.

Vanessa nickte nach kurzem Überlegen zögerlich. „Naja, ich habe davon gehört, dass viele Menschen, die früher für Vampire gehalten wurden, eigentlich nur an einer schlimmen Krankheit gelitten haben, wegen der sie nicht an die Sonne konnten! Aber ich dachte immer, die Krankheit gäbe es gar nicht mehr, weil ich noch nie von so einem Fall in der heutigen Zeit gehört habe!“ „Es ist tatsächlich eine sehr seltene Krankheit! Ein Defekt in der Produktion der roten Blutkörperchen! In Ailayns speziellen Fall ist es so, dass sie schon nach wenigen Minuten am Sonnenlicht grässliche Schmerzen bekommt. Bleibt sie länger in der Sonne treten rote Schwellungen auf. Sogar künstliches Licht verträgt sie nur gedämpft. Ihre Leber ist dadurch auch extrem gefährdet… Es ist kompliziert zu erklären, aber sagen wir mal so: Alkohol, kombiniert mit Tabletten würde sie sofort töten! In der Regel sterben die Betroffenen aber gar nicht an der Krankheit selbst, sondern an Krebs, Leberzirrhose oder sonst irgendeiner Krankheit, die durch die Porphyrie hervorgerufen wird! Einmal da…“, Kai schluckte, „da waren wir noch ganz klein! Damals wussten wir noch nichts von Ailayns Krankheit! Ich wollte mit ihr schwimmen gehen, da brach sie plötzlich zusammen und hat nur noch geschrieen. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte! Es… es war schrecklich!“

Vanessa sah Kai bestürzt an, als dieser aufgehört hatte zu sprechen. „Aber…“, sie sprach sehr leise, „kann man da denn gar nichts machen?“ Kai schüttelte den Kopf. „Es ist bisher nicht heilbar!“

Bestürzt starrte Vanessa auf die Tischplatte. Das erklärte natürlich auch, warum Ailayn heute so vermummt gekleidet war und warum sie nur nachts und bei schlechtem Wetter trainieren konnte.
 

Plötzlich entdeckte Vanessa etwas pinkfarbenes, das unter dem Tisch lag.

Es war Ailayns Hut. Vanessa hob ihn auf.

„Ist das ihr Hut? Gib ihn mir, dann bring ich ihn ihr schnell!“ Kai wollte schon seine Hand nach dem Hut ausstrecken, aber Vanessa machte keine Anstalten, ihm den Hut zu geben.

„Nein… ich möchte ihn ihr selbst bringen! Ich will mich bei ihr entschuldigen!“

Kai sah seine Freundin mit einem leicht verzweifelten Blick an. „Aber du musst dich doch gar nicht entschuldigen! Es war doch nicht deine Schuld! Du wusstest doch nichts davon!“

„Trotzdem! Es gehört sich einfach, sich zu entschuldigen! Würdest du mir jetzt bitte den Weg zeigen?“

Etwas zögerlich ging Kai voran, bis sie an der Treppe zu dem Turm angelangt waren, in dem sowohl Ailayn als auch Vanessa ihre Zimmer hatten.

„Ab hier kenn ich mich aus! Danke!“

„Soll ich nicht doch lieber mitkommen?“ Kai war nicht wirklich wohl bei dem Gedanken, dass seine Freundin schutzlos seiner Schwester ausgesetzt sein sollte.

Vanessa musste grinsen, als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck sah. War das wirklich der kalte, herzlose Kai, den nichts wirklich berühren konnte? Sie gab ihm einen Kuss. „Mach dir keine Sorgen! Ich denke nicht, dass sie mich gleich fressen wird!“

Die Weiden sollst du meiden

Vanessa stieg die Treppe nach oben. An ihrem Ende war eine Falltür in der Decke. Zögerlich klopfte Vanessa dagegen. Sie wartete einen Moment, aber sie erhielt keine Antwort, also stemmte sie sich einfach gegen die Tür. Zur Überraschung des Mädchens ging sie sogar auf!
 

Anfangs konnte Vanessa überhaupt nichts erkennen. Es war stockfinster. Ein einziger Lichtstrahl drang durch einen Spalt zwischen den Vorhängen.
 

„Was willst du?“

Nachdem Vanessas Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie die schlanke Gestalt, die auf dem Bett saß.

„Ich… ich wollte dir nur deinen Hut bringen! Du hast ihn vergessen!“

„Oh… danke! Leg ihn einfach dahin!“

Vanessa legte den Hut auf eine kleine Kommode in der Ecke. Inzwischen konnte sie schon einiges mehr erkennen.

Das Bett war durch einen seidenen Vorhang vom restlichen Raum abgetrennt. Außerdem gab es zahlreiche Spiegel. Vanessa fiel ein, wie Kai die Krankheit genannt hatte. Die „Vampirkrankheit“! Aus Büchern wusste Vanessa, dass Vampire kein Spiegelbild hatten. Ob Ailayn wohl ein Spiegelbild hatte?

Innerlich rügte sie sich für diesen dummen Gedanken. Natürlich hatte Ailayn ein Spiegelbild! Sie war schließlich kein Vampir, sondern ein Mensch. Ein Mensch, mit einer schrecklichen Krankheit…
 

„Gibt’s noch irgendwas?“ Vanessa schreckte hoch. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, wo sie war.

„Ich… Also… ich wollte mich noch bei dir entschuldigen! Ich wusste nicht… also… ich wusste nichts davon! Also von… du weißt schon…“

Vanessa konnte Ailayns kalten Blick regelrecht spüren. „Ja, ich weiß was du meinst! War das dann alles?“

Vanessa hätte gerne noch irgendetwas gesagt, aber ihr fehlte der Mut dazu.

„Ja! Das war alles!“
 

Kai wartete schon auf seine Freundin, als diese die Treppe herunter kam.

Zum ersten Mal war Vanessa richtig froh, dass Kai so ein eher ruhiger Typ war. So würde er sie wenigstens nicht fragen, wie es gelaufen war. Sie wollte jetzt wirklich nicht darüber reden.
 

„Was willst du heute machen?“

„Ich dachte, wir könnten vielleicht schwimmen gehen!“

In Ailayns Zimmer war es sehr kühl gewesen, umso mehr spürte Vanessa jetzt, wie heiß es an diesem Tag war.
 

Kai organisierte zwei Fahrräder und die beiden fuhren zu dem See, den Vanessa von ihrem Zimmer aus sehen konnte. Die Strecke war doch weiter, als das Mädchen es erwartet hatte. Von ihrem Balkon aus hatte es viel näher gewirkt.

Aber sobald sie da waren, war sie sich sicher, dass es sich gelohnt hatte, die weite Strecke auf sich zu nehmen.

Das Wasser glitzerte in der Sonne und über das hohe Gras strich eine warme Sommerbriese.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees befanden sich einige felsige Hügel. Nicht eine einzige Pflanze war dort drüben zu erkennen, bis auf eine riesige Trauerweide, deren lange Äste ins Wasser hingen. Der Anblick zog Vanessa in den Bann. Sie musste unweigerlich an den Baum denken, mit dem Pocahontas in dem Disney Film redete.

Sie glaubte zwar eigentlich weniger an Bäume, die plötzlich anfingen zu sprechen, aber trotzdem hatte sie plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, dort hinüberzuschwimmen.

Ihr Sommerkleid hatte Vanessa schnell von ihrem Körper gestreift und in Gedanken hatte sie schon entschieden, dass Kai ihr sicher nicht böse sein würde, wenn sie nicht auf ihn wartete.

Das Wasser spritzte nach allen Seiten, als Vanessa den Weg auf den Holzsteg zurückgelegt hatte und kopfüber in den See sprang.

Es gab wirklich nichts schöneres, als an einem heißen Sommertag schwimmen gehen zu können.

Nur für einen kurzen Moment vergaß Vanessa ihr Ziel, als sie auftauchte und gierig die Luft einsog. Aber dieser Moment sollte nicht lange andauern. Zu groß war die Anziehungskraft, die vom gegenüberliegenden Ufer ausging. Also schwamm Vanessa los.

Nachdem sie bereits die Hälfte des Sees hinter sich gelassen hatte, hörte sie Kai rufen.

„Vanessa! Was zum Donner tust du da? Wo willst du hin?“

Vanessa war völlig aus der Puste und konnte ihm daher überhaupt nicht antworten. Also deutete sie einfach auf die Trauerweide, der sie sich Stück für Stück näherte.

„Du willst doch nicht etwa…? Vanessa! NEIN!“

Sie hörte ein lautes Platschen hinter sich. Anscheinend war auch Kai jetzt ins Wasser gesprungen. Aber was meinte er mit „NEIN“? Wieso sollte sie nicht zu diesem Baum schwimmen? Sie sah keinen vernünftigen Grund dafür. Dennoch beschloss sie lieber umzukehren und Kai zu fragen, was denn so schlimm an einem Baum sein sollte.
 

Kai war ein sehr guter Schwimmer und hatte Vanessa daher schnell eingeholt.

„Vanessa! Du kannst nicht zu diesem Baum schwimmen! Das ist gefährlich!“

„Gefährlich? Eine Weide? Also, es heißt zwar, „die Weiden sollst du meiden“, aber ich finde du übertreibst die ganze Sache ein bisschen! Außerdem haben wir strahlenden Sonnenschein! Nichts, aber wirklich GAR NICHTS deutet auf ein Gewitter hin!“

Kai schüttelte verständnislos den Kopf. „Mir geht es nicht um irgendwelche Gewitter, oder so! Es ist einfach… einfach nur gefährlich!“ „Warum ist es gefährlich? Du musst mir schon sagen, was los ist, wenn ich da nicht hin schwimmen soll!“ Wenn Kai glaubte, er könne Vanessa wie ein kleines Kind behandeln, dann hatte er sich geschnitten.

„Bitte Vanessa… du musst mir einfach vertrauen!“ Er sah sie flehend an.

Vanessa hasste es, wenn er das tat. Es passte so überhaupt nicht zu diesem, sonst so kühlen, Typen. Mit knirschenden Zähnen gab sie auf und die beiden schwammen zurück ans Ufer.
 

„Sag mal, Kai! Warum ist hier, außer uns, eigentlich sonst niemand? Dieser Platz ist doch herrlich!“, fragte Vanessa, während sie sich auf ihr Handtuch legte.

„Das schon, aber den meisten ist es einfach zu weit! Es gibt genügend Freibäder in der Stadt! Warum sollte man dann hier raus fahren?“

Das Mädchen schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber hier ist es doch wohl tausendmal schöner, als in jedem Freibad!“

„Das schon, aber die Leute aus dieser Gegend wissen das einfach nicht! Im Umkreis von ca. zwei Kilometern gehört hier jedes noch so kleine Kieselsteinchen schon seit Generationen meiner Familie. Für die Leute aus der Stadt gibt es also keinen Grund, hier raus zu kommen. Und das fand ich eigentlich auch immer ganz gut so! So hatten Tala und ich wenigstens immer unsere Ruhe.“

„Tala und du? Soll das heißen, du warst mit Tala hier?“

„Natürlich!“, meinte Kai. „Tala hat, als wir noch klein waren, hier in der Stadt gewohnt! Später haben wir oft unsere Sommerferien hier verbracht.“

„Dachtest du deswegen, ihn hier vielleicht finden zu können?“

Kai schwieg. Eigentlich war das der richtige Zeitpunkt, Kai endlich von letzter Nacht zu erzählen. Sie war sich sicher, dass es Tala gewesen war, den sie dort in der Dunkelheit gesehen hatte. Aber irgendetwas in ihr wollte Kai einfach nicht davon erzählen.
 

Vanessas Magen knurrte. Sie hatte ganz vergessen, was für einen riesigen Hunger sie hatte. Das Frühstück war ja ziemlich jäh unterbrochen worden, so dass sie kaum etwas gegessen hatte.

Verdutzt sah Kai sie an. „Ach herrje… warum sagst du denn nicht, dass du noch Hunger hast! Dann hätten wir noch schnell was gegessen oder wenigstens was mitgenommen!“

Kai stand auf und zog sich wieder an, als er weiter sprach. „Warte kurz! Ich fahr nur schnell in die Stadt und hohl uns was vom Bäcker! Das dauert nicht lange!“

Vanessa erwiderte nichts. Normalerweise hätte sie ihm widersprochen und gemeint, er solle sich keine Umstände wegen ihr machen, aber im Moment war sie ganz froh, mal ein wenig allein sein zu können.

Sie blickte Kai noch hinterher, bis sie ich nicht mehr sehen konnte.

Ihre Augen wanderten erneut über den See und hin zu der Trauerweide. Kai hatte ihr nicht erklärt, warum sie nicht dort hin schwimmen sollte, aber trotzdem hatte sie auf ihn gehört. Aber er hatte nicht gesagt, dass sie nicht hin GEHEN sollte! Die ganze Zeit war nur vom Schwimmen die Rede gewesen.

Vanessa brauchte keine weiteren Argumente um aufzuspringen und den See dieses Mal zu Fuß zu umqueren.

Es war nicht leicht. Zuerst musste sie sich durch das hohe Gras kämpfen, und dann auch noch über die Felsen klettern. Aber so schnell würde sie nicht aufgeben. Wenn Vanessa sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war es ihr egal, welche Hürden sie dafür auf sich nehmen musste.

Endlich hatte sie die Weide erreicht. Sie schob die dichten Äste zur Seite und kletterte darunter hindurch. Der dicke Stamm des alten Baumes stand nur zur Hälfte am Land. Die andere Hälfte ragte ins Wasser.

Vanessa setzte sich auf eine der dicken Wurzeln, die ins Wasser ragten und starrte auf die Oberfläche des Sees, direkt zu ihren Füßen.

Das Wasser war hier sehr trüb. Sie konnte den Grund des Sees nicht sehen, obwohl er so nah am Ufer nicht tief sein konnte.

Doch plötzlich sah sie etwas glitzern. Sie beugte sich ein Stück vor, um etwas erkennen zu können. Da war es wieder! Irgendetwas musste dort unten sein! Etwas aus Glas! Vanessa wollte danach greifen, als…

Die verleugnete Prinzessin

Etwas tollpatschig lief das kleine Mädchen durch den großen Garten des Palastes, auf der Suche nach ihrer Mutter.

Sie konnte kaum älter als fünf Jahre sein.

Plötzlich zuckte sie zusammen, als sie lautes Geschrei hörte. Sie lief in die Richtung, aus der das Schreien kam und erblickte ihre Mutter, die stocksteif dastand und eine Frau, welche zwei Kinder an der Hand hielt, anstarrte. Es waren ein Junge und ein Mädchen.

Dieses kleine Mädchen schrie so laut, als würde es unter Schmerzen verbrennen, obwohl nichts zu sehen war, das ihr irgendwie Schmerzen bereiten konnte.
 

Das andere Mädchen, das sich nun hinter ihrer Mutter versteckte, betrachtete die Szene eingeschüchtert. Sie kannte die Frau. Es war die Herrin ihrer Mutter, Königin Kleopatra.

Es war ihr nicht erlaubt, sich der Königin zu nähern, aber so lange ihre Mutter im Palast diente, durfte sie sich ebenfalls dort aufhalten.
 

Da entdeckte Kleopatra die Mutter des Mädchens. „Was stehst du hier nur dumm herum? Tu irgendetwas! Bring es zum Schweigen!“

Sie stieß das schreiende Kind von sich.

Als die Mutter des Mädchens die Prinzessin berühren wollte, schrie diese nur umso lauter.

„Teti, geh bitte nach drinnen und bereite kaltes Wasser und einige Leinentücher vor!“

Teti. Das war der Name des kleinen Mädchens. Sie beeilte sich und tat, was die Mutter ihr gesagt hatte.

Anschließend half sie ihrer Mutter, die Prinzessin in die kühlen Tücher einzuwickeln.

Allmählich hörte sie auf zu schreien.
 

Wenig später kam Königin Kleopatra hinzu und sah auf ihre, inzwischen schlafenden, Tochter hinab.

„Aera!“, sprach sie die Mutter des Mädchens an, „Ab heute wirst du dich um sie kümmern!“

Aera verneigte sich vor der Königin. „Wie ihr wünscht, eure Majestät! Soll ich sie für den Umzug fertig machen, Hoheit?“ „Nein! Sie wird nicht an dem Umzug teilnehmen!“ „Aber Majestät! Heute wolltet Ihr doch Eure Kinder dem Volk präsentieren!“

Kleopatra sah angewidert auf ihre Tochter. „Was will ich mit einem Balg, das die ägyptische Sonne nicht verträgt? Niemand darf von diesem Kind erfahren! Was würde Cäsar sagen, wenn er wüsste, dass ich ihm ein krankes Kind geboren hätte? Nein! Das darf nicht an die Öffentlichkeit dringen! Ab heute habe ich nur noch ein Kind! Ptolemäus XV. Caesarion! Der zukünftige Herrscher Ägyptens und des Römischen Reichs!“

Die Königin wandte sich ab und ging.
 

Von diesem Tag an lebten Teti und ihre Mutter Aera im königlichen Palast, um dort Prinzessin Alexandria zu dienen, von der die Welt nie erfahren sollte.

Ihr Bruder Ptolemäus dagegen wurde schon im Alter von drei Jahren zum Mitregenten seiner Mutter ernannt, nachdem der bisherige Mitregent und Bruder der Königin Ptolemäus XIV. kaltblütig ermordet worden war. Auf die Regentschaft des Römischen Reichs, welches seine Mutter ihm vorhergesagt hatte, musste er allerdings verzichten, denn in dem Testament Caesars, das nach seiner Ermordung auftauchte, wurde er nicht erwähnt.

Wenig später nahm Marcus Antonias Kleopatra zu seiner Geliebten. Er wollte Ptolemäus helfen, sein rechtmäßiges Erbe als Sohn Caesars anzunehmen.

Doch all das berührte die kleine Alexandria nicht. Sie wuchs weit entfernt von jeglicher Art von Politik auf.

„Teti! Bring mir die Trauben!“ Teti gehorchte ohne ein Wort zu sagen. Es war ihr strengstens verboten, in Gegenwart ihrer Herrin zu sprechen. Nur der ersten Zofe, Tetis Mutter Aera, war es gestattet, mit der ägyptischen Prinzessin zu reden. Doch diese war nicht da.

Teti war ungern mit Alexandria allein. Es war ein unangenehmes Gefühl, immer schweigen zu müssen.

Sie schlich sich nach draußen, um nach ihrer Mutter zu suchen.

Ein ungutes Gefühl führte sie direkt in den Thronsaal. Eigentlich durfte sie sich dort nicht ohne ausdrücklichen Befehl der Königin aufhalten, also versteckte sie sich hinter einer der großen Säulen, um nicht entdeckt zu werden.

Ihre Mutter kniete vor dem Thron, zu Füßen Königin Kleopatras. Der schönsten Frau der Welt.

„Ich flehe euch an, Majestät! Lasst sie ins Römische Reich gehen und dort glücklich werden! Sie ist jetzt 14 Jahre alt, und damit im heiratsfähigen Alter! Außerdem spricht sie fehlerlos lateinisch und griechisch und ist schon sehr selbstständig! Niemand müsste je von ihrer hohen Herkunft erfahren! Bitte! Sperrt sie nicht länger in ihrem goldenen Käfig ein!“

Kleopatra sah Aera mit kalten Augen an. „Nun, wenn Alexandria wirklich schon so selbstständig ist, wie ihr sagt, dann braucht sie sicher keine ausgezeichnete Zofe wie dich mehr! Leider habe aber auch ich keinen Platz, für eine Frau, die zu viel weiß! Wachen! Werft sie den Krokodilen zum Fraß vor!“
 

Teti wollte schreien, als die Wachen ihre Mutter abführten, doch jemand legte ihr von hinten die Hand auf den Mund.

Aera wehrte sich und flehte Kleopatra um Gnade an, aber es war vergebens.

Tränen stießen aus Tetis Augen hervor. Wieso geschah das alles?

Als sie sich umdrehte blickte sie in Alexandrias blaue Augen. Es waren die Augen Caesars. Ein klarer Beweis, dass sie seine Tochter war.

Die beiden Mädchen gelangten ungesehen zurück in Alexandrias Zimmer.

An den Wänden hangen überall Spiegel. Es gab keine Fenster, denn jeder Lichtstrahl fügte der Prinzessin unerträgliche Schmerzen zu.

Teti setzte sich auf den Boden und weinte. Ihre Mutter war zum Tode verurteilt worden und sie konnte nichts tun! Nichts! Aber auch wirklich gar nichts!

„Sag mir, Teti, bin ich schön?“ Alexandria hatte einen, mit Edelsteinen besetzten, Spiegel in die Hand genommen und betrachtete sich darin.

Teti erinnerte sich daran, wie oft ihre Mutter der Prinzessin Komplimente gemacht hatte. „Alexandria! Ihr habt denselben Namen, wie unsere schöne Stadt! Es bedeutet der Schutz, die Abwehr! Ihr seid einer der Pfeiler, auf denen Ägypten steht! Ihr besitzt dieselbe Schönheit, wie eure Mutter, Königin Kleopatra!“ Ja… so etwas hatte Aera immer gesagt, wenn Alexandria an ihrem Status oder an ihrer Schönheit zweifelte. Jetzt war es an Teti, die Nachfolge ihrer Mutter anzutreten, aber alles in ihr sträubte sich dagegen, Alexandria mit dieser grausamen Königin zu vergleichen, die ohne mit der Wimper zu zucken ein Menschenleben opferte, um ihr Geheimnis zu bewahren. Eine Königin, die ihr eigenes Kind verstieß, nur weil es nicht ihren Vorstellungen entsprach.

Einmal hatte Teti große Bewunderung für diese Königin gehabt, aber jetzt blieb nichts als Verachtung übrig. Sie war zum Opfer einer grässlichen Frau geworden. Auch Alexandria war eines ihrer Opfer.

„Ihr… Ihr seid wunderschön, Prinzessin! Keine Frau der Welt könnte sich je mit euch vergleichen!“

Alexandria schenkte Teti ein Lächeln, für ihre Antwort.

Dann stand sie auf. „Wenn das so ist, werden wir es tun! Jetzt, wo Aera nicht mehr da ist, bin ich meiner Mutter schutzlos ausgeliefert! Und auch du, Teti, bist in großer Gefahr! In Ägypten sind wir nicht länger sicher! Packe alles zusammen, was wir brauchen können! Kleider, Geld, etwas zu Essen… du wirst das schon hinbekommen! Ich werde mich um alles andere kümmern!“

Die Prinzessin packte sich ihren Umhang und lief an Teti vorbei.

Teti tat, wie ihr befohlen. Es war kein Problem, die schönsten Kleider der Prinzessin und etwas Geld zusammen zu packen, aber um an Essen zu kommen, musste sie sich in die Küche schleichen. Sie durfte nicht erwischt werden. Essen zu stehlen, war ein schweres Vergehen.

Aber Teti gelang es, ungesehen in die Küche zu schleichen. Dort raffte sie alles zusammen, was sie auf die Schnelle finden konnte. Sie dankte den Göttern, als sie mit ihrer Beute wieder in den Gängen war. Jetzt musste sie nur noch zurück ins Zimmer und…

Aber sie kam nicht so weit! In ihrer Eile stieß sie mit einem jungen Mann zusammen. Teti fiel zu Boden und mit ihr all die Lebensmittel, die sie gestohlen hatte.

Als sie aufsah drang ein leises Keuchen aus ihrer Kehle.

Vor ihr stand Pharao Ptolemäus XV.

Bisher hatte sie ihn nur von der Ferne bewundert. Er war zu einem sehr attraktiven jungen Mann heran gereift. Manchmal hatte Teti geglaubt, dass auch er sie ansah, aber das konnte natürlich nicht sein. Immerhin war er der Pharao und sie nur eine unbedeutende Zofe.
 

Ptolemäus blickte zu den fallen gelassenen Lebensmitteln und anschließend zu Teti hinab.

„Hast du dir wehgetan?“ Teti konnte es kaum glauben. Er sprach sie an! Und jetzt reichte er ihr auch noch die Hand, um ihr aufzuhelfen. Ihr Herz raste wie wild, als sie zögerlich danach griff und aufstand.

Sie wollte gerade das Essen wieder aufsammeln, als sie aus den Augenwinkeln sah, dass der Pharao sich bewegte. Sie zuckte zusammen. Für einen Moment hatte sie geglaubt, er würde sie bestrafen, weil sie gestohlen hatte, aber stattdessen kniete er neben ihr nieder und half ihr, die Lebensmittel wieder einzusammeln.

„Pass besser auf! Wenn dich jemand siehst, wirst du sicher hart bestraft!“

Teti wagte es nicht, ihm zu antworten. Für einige Sekunden blieb ihr Blick noch an seinen schönen Augen hängen, dann drehte sie sich auf dem Absatz herum und lief zurück in das Zimmer ihrer Herrin.

Ihr Herz raste noch immer, als sie sich an der Tür zu Boden sinken lies.

„Wo warst du so lange?“, fragte Alexandria, die, in einen Reisemantel gehüllt, auf dem Bett saß.

„Ich… ich habe alles getan, was ihr mir befohlen habt, Herrin!“ „Sehr schön! Pack das Essen noch besser ein und dann lass uns sofort aufbrechen!“

Teti folgte dem Befehl und warf sich anschließend den Reiseumhang über, den die Prinzessin ihr reichte.

Sie schlichen durch den Eingang der Bediensteten nach draußen. Es war mitten in der Nacht und kein Mensch war mehr auf den Straßen.

Erst als sie am Hafen ankamen, war ein lautes Stimmengewirr zu hören.

Alexandria ging auf einen Mann zu, der sie sofort zu erkennen schien.

„Da bist du ja! Wir wollen endlich aufbrechen! Hast du das Geld?“

Sie griff unter ihren Mantel und holte einen Beutel voller Münzen hervor.

„Es ist das Doppelte der vereinbarten Summe! Dafür verlange ich absolutes Stillschweigen von dir und deiner Crew und eine sichere Überfahrt für mich und meine Schwester!“

Der Mann grinste. Ihm fehlten viele Zähne und die wenigen, die noch vorhanden waren, waren schwarz und verfault.

Angewidert wich Teti einen Schritt zurück.

„Mein Fräulein, für diese Summe würde ich sogar eine Königin entführen!“
 

Die beiden Mädchen gingen an Bord des Schiffs, dessen Kapitän dieser Mann offenbar war.

Dort gab es einen kleinen Raum, mit zwei Betten und einer edel verzierten, langen Truhe.

Alexandria lies sich auf eines der Betten fallen und nahm seufzend die Kapuze ihres Mantels ab. „Es war einfacher, als ich erwartet hatte! Ich hatte befürchtet, er würde fragen, wer wir sind!“

Teti sah schüchtern zu ihrer Herrin auf. „Majestät… wo wollen wir denn eigentlich hin?“

„Erstens wirst du mich ab sofort nicht mehr mit Majestät, sondern mit Selene! Zweitens wirst du die Sprache der Römer lernen müssen! Auch in Rom darf niemand erfahren, wer wir sind! Zumindest vorerst nicht…“
 

Während der Überfahrt nach Rom unterrichtete Alexandria Teti in Lateinisch. Teti lernte sehr schnell. Sogar einige Schriftzeichen konnte sie nach ein paar Wochen lesen.

Als sie endlich im Hafen Roms einliefen, konnte Teti sich nahezu problemlos auf lateinisch verständigen.
 

„Du weißt, wie der Plan aussieht! Sorge dafür, dass auch nichts schief geht!“

Teti wusste zwar genau, was sie zu tun hatte, aber die Hintergründe dieses verwegenen Plans hatte die Prinzessin ihr verschwiegen. Dennoch war sich Teti sicher, dass vieles von diesem einen Plan abhing. Vielleicht sogar ihr Leben.
 

Die Seefahrer, mit denen Teti und Alexandria gereist waren, entpuppten sich als fahrende Händler. Und selbstverständlich wollten sie in Rom ihre Waren als allererstes dem Kaiser des römischen Reichs vorführen: Kaiser Augustus, Großneffe und Haupterbe Julius Caesars. Dank vielen glorreichen Siegen über seine Widersacher, beherrschte er den gesamten Westen des Reichs. Der einzige Mann, der seiner vollkommenen Herrschaft noch im Weg stand, war Marcus Antonius, der Geliebte Kleopatras.
 

Die Händler breiteten all ihre Schätze vor dem Kaiser aus, doch dieser schien eher genervt, von dem ganzen Tumult. Sein Leben fand auf dem Kriegsfeld statt. Am liebsten wäre er wohl sofort nach Dalmatien zurückgekehrt, um dort sein Heer weiter auszubauen, anstatt sich hier umwerben zu lassen.
 

Einige Männer trugen die edel verzierte, lange Truhe vor den Kaiser. Teti folgte ihnen.

Nachdem die Männer die Truhe zu Füßen des Kaisers abgestellt hatten, nahm Teti all ihren Mut zusammen. „Oh, mein Kaiser! Meine Herrin möchte euch diese Truhe, mitsamt des Inhalts zum Geschenk machen!“

Augustus war ein überaus attraktiver Mann. Sicher hatte er ein ganzes Heer an Mätressen, dachte sich Teti. Aber davon durfte sie sich jetzt nicht einschüchtern lassen.

Die außergewöhnlich leuchtenden Augen des Kaisers wanderten über die Truhe.

Sicher hatte er längst erkannt, dass es sich um ein ägyptisches Kunstwerk handelte.

„Nun, wenn dem so ist, dann öffne die Truhe, damit ich sehen kann, was sich darin befindet!“

„Verzeiht mir, Herr, aber nur ihr dürft sehen, was sich in der Truhe befindet! Niemand sonst! Bitte schickt all die Händler und auch die Wachen weg! Ansonsten darf ich euch nicht zeigen, was euer Geschenk ist!“

Teti konnte sehen, dass der Kaiser schmunzelte. „Und was, wenn es sich um eine Falle handelt? Ich bin euch doch schutzlos ausgeliefert, wenn ich meine Wachen wegschicke!“

„Nun, ich bezweifle, dass ihr euch vor einer einfachen Frau, wie mir, fürchtet! Ein starker Mann, wie ihr, könnte sicher selbst der hinterhältigsten Falle, die ich mir ausdenken könnte entgehen!“ „Wie könnt ihr euch da so sicher sein, Madame? Wir kennen uns doch noch gar nicht!“

Aus den Augenwinkeln sah Teti, dass auch die Wache jetzt schmunzeln musste. Offensichtlich war es für sie nichts Neues, dass der Kaiser derart freizügig mit Frauen sprach.

„Nun, mein Kaiser, ihr werdet mir wohl einfach vertrauen müssen!“

„Nun, ihr habt gehört, was die schöne Frau gesagt hat! Lasst uns allein!“

Nur widerwillig räumten Händler und Wachen den Raum. Endlich waren Teti und der Kaiser allein.

„Nun zeigt mir, was in der Truhe ist!“

„Ihr müsst schon herunter kommen und es euch von Nahem ansehen, mein Kaiser!“ Tetis Herz raste. Bis jetzt war alles genau nach Plan gelaufen. Hoffentlich würde die Glückssträhne anhalten.
 

Augustus stand auf und trat vor die Truhe. Teti reichte ihn den Schlüssel.

Klack. Die Truhe war offen und der Kaiser hob den Deckel. Als er sah, was sich darin befand, verschlug es ihm den Atem und seine Augen weiteten sich.

Eine Frau, von atemberaubender Schönheit. Sie trug ein edles, weißes, Gewand und goldenen Schmuck. Ihre langen, schwarzen Locken wanden sich um ihren Körper. Auf dem Kopf trug sie ein goldenes Diadem, geschmückt von einer Schlange. Ihre Augen waren fest geschlossen.

Lange Sekunden lang starrte er sie einfach nur an, als sie plötzlich die Augen aufschlug und sich langsam aufsetzte.

Die Luft schien zu kochen, als der Kaiser und die Prinzessin sich in die Augen sahen.
 

Teti zitterte. Im Thronsaal war es sehr hell. Ihre Herrin musste unter schrecklichen Schmerzen leiden, aber sie lies sich nichts anmerken.

Als Augustus Alexandria auf seine Arme hob, wusste Teti, was das Ziel dieses verrückten Plans war. Alexandria wollte erreichen, dass Augustus sich in sie verliebte. Und offensichtlich war ihr das auch gelungen…

Raindrops like tears

„Vanessa!“

Vanessa schreckte hoch. Ihre Hand schwebte nur noch wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche, als Ptolemäus sie an den Schultern packte und sie zurück riss. Ptolemäus? Nein! Es war nicht der Pharao, der plötzlich aufgetaucht war! Es war Kai!

„Hab ich dir nicht gesagt, dass es hier gefährlich ist? Warum bist du trotzdem hierher gekommen?“

Trotzig sah das Mädchen ihren Freund an. „Mir war langweilig! Außerdem kann ich hier nichts entdecken, das irgendwie gefährlich wäre!“

„Es ist aber gefährlich!“, schrie Kai, der Verzweiflung nahe. Er riss Vanessa hoch und zog sie zurück zu den Fahrrädern. Dabei wäre sie auf dem felsigen Weg mehrere Male beinahe gestürzt.

Der Himmel war inzwischen nahezu schwarz, von Gewitterwolken. Unter der Weide hatte Vanessa gar nicht bemerkt, wie es allmählich immer kälter geworden war, aber jetzt fror sie, in ihrem leichten Sommerkleid.

Gerade noch rechtzeitig kamen sie und Kai im Anwesen seiner Familie an.

Kai wollte Vanessa auf ihr Zimmer begleiten, aber sie wies ihn grob von sich.

„Nein danke! Ich werde allein dort hin finden!“ Wütend stapfte sie davon. Was fiel diesem Kerl überhaupt ein, sie derart zu behandeln! Sie war ja wohl alt genug, um auf sich selbst aufzupassen! Außerdem war doch bei diesem See absolut überhaupt nichts Gefährliches zu sehen gewesen! Aber seltsam war es irgendwie doch…

Vanessa verlangsamte ihre Schritte. Als sie nach diesem glitzernden Ding greifen wollte, war es plötzlich, als wäre sie eine andere Person, in einer vollkommen anderen Welt. Was hatte das zu bedeuten? War das vielleicht eine Art… Vision? Und da war noch etwas, das Vanessa sehr beunruhigte. Die Menschen, die in dieser „Vision“ waren, kamen ihr alle erschreckend bekannt vor. Königin Kleopatra hatte denselben kalten Blick und das grausame Wesen Voltairs… Ptolemäus hatte dieselben kalten Gesichtszüge, wie Kai… der Kaiser Augustus... seine hellen Augen waren unverkennbar die Talas… und Prinzessin Alexandria glich bis aufs feinste Haar… Ailayn!

War das nur ein verquerer Traum, den Vanessa gehabt hatte, um all das, was sie erfahren hatte zu verarbeiten? Aber warum hatte sie einen solchen Traum, obwohl sie nicht schlief? Und warum ausgerechnet an diesem Ort? Was…
 

„Ah! Vanessa! Da bist du ja!“

Alexandria… Nein! Ailayn saß vor der Tür zu Vanessas Zimmer. Offensichtlich hatte das Mädchen auf sie gewartet.

Ailayn lächelte Vanessa freundlich entgegen. Ein Lächeln, wie diese es bei ihr noch nie gesehen hatte. Aber bei einer anderen Person! Prinzessin Alexandria!

„Ich hab schon auf dich gewartet! Ich wollte dich fragen, ob du Lust hättest, mit mir… naja… etwas mit mir zu machen!“

„Ähm… gerne doch!“ Aus irgendeinem Grund gelang es Vanessa nicht, die Bitte abzuschlagen oder auch nur danach zu fragen, was sie denn machen wollten. Stattdessen folgte sie Ailayn stumm auf deren Zimmer, wo diese die Vorhänge zur Seite schob, um aus dem Fenster zu klettern.

„Ailayn!“, schrie Vanessa entsetzt, „Nicht! Dir könnte etwas passieren!“ Oh Gott! Sie wollte doch nicht etwa springen?

„Nun sei doch kein Frosch!“, erwiderte Ailayn. „Mir passiert nichts! Und dir sicher auch nicht, wenn du es mir genau nachmachst!“

Erst nach einigen Sekunden begriff Vanessa, was Ailayn damit sagen wollte. Dieses Mädchen wollte, dass sie ebenfalls aus dem Fenster kletterte.

Sie sah gerade noch, wie sich die dunkelhaarige nach oben aufs Dach zog. Vanessa tat es ihr gleich.

Das Dach war nicht allzu steil, so dass man gut darauf sitzen konnte. Genau in diesem Moment begann es zu regnen. Die kalten Regentropfen ließen Vanessa erzittern, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Ailayn schon ihren Mantel ausgezogen und ihn ihr um die Schultern gelegt.

„Aber dann ist dir doch kalt! Du wirst dich erkälten!“, sagte Vanessa besorgt, doch ihre Gegenüber lachte nur. „Glaub mir, für mich ist jeder kühlende Regentropfen eine Wohltat!“ Sie lehnte sich zurück und lies die Regentropfen auf ihr Gesicht perlen.

Irgendwie ein unheimlicher Anblick, fand das blonde Mädchen. Durch ihre blasse Haut, wirkte Ailayn beinahe wie tot, wenn sie die Augen schloss. Dazu noch die Regentropfen, die ihr Gesicht entlang liefen… beinahe wie Tränen.

„Vanessa-chan… es tut mir echt leid, dass ich so gemein zu dir war! Ich weiß, das ist ne blöde Ausrede, aber, naja, es nervt mich einfach tierisch, dass ich nicht so sein kann wie du!“

Vanessa sah Ailayn verwirrt an. „Aber warum solltest du so sein wollen, wie ich? Du bist total hübsch und hast ne eigenen Beyblade - Arena!“ Nur Sekunden später verfluchte sich Vanessa selbst, für diese Aussage. Der schönen Dunkelhaarigen ging es doch offensichtlich gar nicht um Aussehen oder um Geld! Sie sprach von ihrem gesundheitlichen Zustand! Und schon wieder hatte Vanessa total rücksichtslos reagiert. „Es… es tut mir leid… ich… ich wollte nicht…“ „Du musst dich nicht entschuldigen! Du bist nicht Schuld an meiner Krankheit und es wird sich auch nichts ändern, nur weil die Leute Rücksicht auf mich nehmen! Aber danke für das Kompliment!“ Ailayn zwinkerte Vanessa zu. „Aber du bist auch sehr hübsch! Ich muss schon sagen, mein Bruder hat einen besseren Geschmack, als ich dachte!“ Vanessa errötete. „Nun ja… ich denke, Kai und ich hatten großes Glück, dass wir zueinander gefunden haben! Wenn wir nicht beide Blader wären, hätten wir uns womöglich nie kennen gelernt!“ Plötzlich fiel Vanessa etwas ein, das sie Ailayn schon lange fragen wollte. „Warum hast du dich eigentlich nicht, wie Kai, in Russland zur Bladerin ausbilden lassen?“

Vom einen Augenblick auf den nächsten war Ailayns Gesicht wie versteinert.

Offensichtlich hatte Vanessa dieses Mal wirklich einen wunden Punkt getroffen.

„Du… du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst!“, sagte sie schnell.

„Ich muss nicht, aber ich sollte es! So ist das doch, wenn man befreundet ist, oder? Man hat keine Geheimnisse voreinander.“

Es schmeichelte Vanessa zwar, dass Ailayn sie als ihre Freundin bezeichnete, aber dennoch war es ihr irgendwie unangenehm, dass sie schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten war.

Ailayn begann zu erzählen. „Kai und ich waren so in etwa drei Jahre alt! Geistig lag zwischen uns allerdings ein himmelweiter Unterschied, wenn du mich fragst! Während er noch mit Bauklötzen spielte, hatte ich bereits mein erstes Beyblade und nutzte jede Gelegenheit, um zu üben! Ich hatte nur einen Traum: Später eine Bladerin zu werden, auf die mein Vater stolz sein konnte! Aber als mein Vater zusammen mit meinem Großvater hierher kam, da hatten sie beide überhaupt kein Interesse dafür, was ich bereits gelernt hatte! Sie interessierten sich nur für Kai, den männlichen Nachkommen, den Stammhalter! Ich war ihnen völlig egal! Sie nahmen ihn mit nach Russland, um ihn dort zu trainieren. Mich ließen sie zurück. Meine Mutter hatte sich deswegen oft mit meinem Großvater gestritten. Sie wusste, wie wichtig mir das Bladen war. Aber als dann auch noch festgestellt wurde, dass ich an Erythropoetischer Protoporphyrie leide, stand für ihn fest, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte und all meine Chancen, dass er und Vater mich doch noch abholen würden, verschwanden.“ Traurig starrte Ailayn auf die Dachziegeln.

„Aber du bist doch auch so eine gute Bladerin geworden, oder? Du trainierst ja ziemlich oft!“

„Schon, aber was bringt das noch? Ich werde nie an einen großen Wettkampf teilnehmen können, weil das Rampenlicht mich töten würde!“

„Aber da muss es doch irgendeine Möglichkeit geben!“ Vanessa war der Verzweiflung nahe. Sie wollte Ailayn unbedingt helfen, aber sie wusste nicht wie. Da fiel ihr ihre „Vision“ wieder ein. Dort hatte Alexandria sogar die Schmerzen, die ihr das helle Licht verursachte, auf sich genommen, nur damit Kaiser Augustus sich in sie verliebte. Nur durch seine Liebe konnte sie zu dem Titel kommen, der ihr eigentlich zustand. Vielleicht funktionierte das im wirklichen Leben ja genauso! Vielleicht musste Ailayn nur Tala kennen lernen! War das vielleicht der Grund, warum Tala letzte Nacht hier war? Hegte er vielleicht schon länger Gefühle für Ailayn?

„Sag mal Ailayn!“, brach Vanessa das Schweigen, „Du kennst doch sicher Tala, oder? Was hältst du eigentlich von ihm?“

Ailayn sah ihre Gegenüber verwirrt an. „Natürlich kenne ich Tala! Er ist ein Freund meines Bruders! Nun ja, er ist ganz nett! Ich hatte nie wirklich viel mit ihm zu tun, aber wenn er mich sah, hat er mich immer freundlich begrüßt!“

„Weißt du, dass er letzte Nacht im Garten vor der Arena war? Und ich denke nicht, dass er wegen Kai hier war!“ Vanessa grinste, als Ailayn rot wurde. „Häh? Du meinst doch nicht etwa, dass er wegen mir… aber… warum sollte er…“

Das blonde Mädchen kicherte. „Weißt du, wo Talas Familie wohnt? Vielleicht ist er ja dort! Wir könnten ihn doch hierher einladen, damit ihr zwei euch besser kennen lernt!“

„Ja… ich weiß seine Adresse… aber das können wir doch nicht machen! Er… er findet das sicher blöd, wenn er die ganze Zeit im Finstern sitzen muss!“ „Das lass mal meine Sorge sein! Ich werde mich um alles kümmern!“ Mit diesen Worten stand Vanessa auf und kletterte wieder ins Trockene. „Vanessa, warte!“, schrie Ailayn ihr noch hinterher, aber sie stellte sich taub.
 

Nachdem Vanessa sich trockene Klamotten und einen Regenmantel angezogen hatte, besorgte sie sich bei Hillary die Adresse von Talas Eltern. Ailayn hätte sie ihr wahrscheinlich nicht gegeben. Danach schwang sie sich auf ihr Fahrrad und radelte los.

Die Stadt war nicht schwer zu finden. Vanessa musste einfach nur immer dem Straßenverlauf folgen. Als sie angekommen war, fragte sie in einer Bäckerei nach, wie sie zum Brückenweg kam. So fiel es ihr nicht schwer, schließlich vor dem richtigen Haus anzukommen. Hoffentlich lag sie mit ihrer Vermutung richtig und Tala war wirklich bei seinen Eltern untergetaucht.
 

Vanessa klingelte. Es dauerte eine Weile, bis ein rothaariges Mädchen die Tür öffnete, welches in etwa in Vanessas Alter sein musste.

Das Mädchen blickte sie leicht verwirrt an.

„Ähm… Hallo! Ich bin auf der Suche nach Tala! Er wohnt doch hier, oder? Ist er zuhause?“, fragte Vanessa höflich.

Der Blick ihrer Gegenüber wechselte von verwirrt zu misstrauisch. „Tala ist in Russland, um dort Beyblade zu trainieren! Und das schon mehrere Jahre! Wer bist du, dass du nichts davon weißt?“ „Mein Name ist Vanessa! Ich bin eine gute Freundin von Tala! Wir haben zusammen in Russland trainiert! Er ist vor einigen Tagen verschwunden und ich hatte gehofft, ihn vielleicht hier wieder zu finden.“

Das Mädchen trat einen Schritt zur Seite. „Na dann komm herein, Vanessa!“

Sie führte Vanessa eine lange Treppe hinauf. Am Ende eines dunklen Gangs, kamen sie zu einer Tür. Das Mädchen klopfte an.

Einige Sekunden vergingen, bis der rothaarige Junge die Tür öffnete. „Was ist los, Laila? Ich sagte doch, dass ich nicht gestört werden will!“

„Du hast Besuch, Tala!“, antwortete Laila und trat zur Seite, so dass sich Tala und Vanessa direkt in die Augen sehen konnten.

Überrascht rang der junge Mann nach Luft. „Vanessa! Was tust du denn hier?“

„Ich habe dich gesehen! Gestern Nacht!“

Tala warf einen kurzen Blick auf seine Schwester und sah dann zurück zu Vanessa.

„Komm doch bitte erst einmal herein!“

Er schloss die Tür hinter Vanessa ab, bevor er sich zu ihr umdrehte.

„Ich hatte nicht erwartet, dass du und Kai mir folgen würdet! Zu dem, was ich gestern bei der Arena gemacht habe: Ich wollte Ailayn sehen!“

Also waren Vanessas Vermutungen tatsächlich wahr! Er war in sie verliebt! Vanessa war zwar etwas überrascht, dass er es so bereitwillig zugab, aber Tala hatte schon öfter Dinge getan, die sie nicht von ihm erwartet hätte.

„Das ist wirklich hervorragend, Tala! Genau so einen wie dich braucht Ailayn! Einen Beschützer!“ Tala wirkte leicht verwirrt, aber das beirrte Vanessa nicht in ihrem Redefluss.

„Am besten, du kommst sofort mit zu ihr! Sie wird sich bestimmt freuen!“

Talas verwirrter Gesichtsausdruck lies zwar darauf schließen, dass er nicht ganz verstand, wovon seine Freundin sprach, aber er widersprach ihr nicht.

Also machten die beiden sich zusammen auf den Weg. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen und so kam zumindest nur Vanessa bis auf die Knochen durchnässt auf dem Gelände der Burg an. Aber das störte sie nicht im Geringsten.

Voller Übereifer schob sie Tala durch das Eingangstor und schleifte ihn bis vor Ailayns Zimmer.

Allmählich schienen Tala doch Zweifel zu kommen, ob er seiner Freundin so einfach vertrauen sollte. „Warte mal Vanessa! Was soll ich denn sagen?“

Aber Vanessa überhörte ihn einfach und schubste Tala in Ailayns Zimmer, direkt vor deren Füße.

Was jetzt geschah, war eine Szenerie, die Vanessa ziemlich bekannt vorkam.

Tala kniete auf dem Boden, vor einer wunderschönen, jungen Frau, die auf dem Bett saß. In dem Zimmer war es finster, bis auf einige Sonnenstrahlen, die durch den Spalt zwischen den Vorhängen auf Ailayns hübsches Gesicht fiel. Vanessa war sich sicher, dass ihre Freundin Schmerzen haben musste, aber diese lies sich nichts anmerken.

Mit sich selbst mehr als zufrieden verließ Vanessa schleichend das Zimmer und fuhr sich dabei durchs Haar. Dabei wischte sie sich ihre Spange vom Kopf. Sie wollte sie schnell hohlen, doch als sie sich umdrehte, blickte sie in Ailayns Gesicht. Diese trug ein edles weißes Kleid, jede Menge Goldschmuck und ein goldenes Diadem, das mit einer Schlange verzier war. Nein. Das war nicht Ailayn! Das war Alexandria!

Ein selbstgefälliges Grinsen huschte über das Gesicht der Prinzessin, bevor sie Vanessa die Tür vor der Nase zuschlug.

Wenn plötzlich alles anders ist

Teti hatte viel zu tun, seit sie mit Prinzessin Alexandria in den kaiserlichen Palast gezogen war. Alexandria war inzwischen die liebste Mätresse des Kaisers. Am liebste hätte er sie wohl zu seiner Frau gemacht, aber der Skandal, der entstanden wäre, würde der Kaiser eine Ausländerin heiraten, die noch dazu keinen Rang zu haben schien, hätte verheerende Folgen gehabt.

„Aber warum sagt ihr denn nicht einfach, wer ihr seid, Prinzessin?“, fragte Teti verwirrt.

„Erstens würde dann jeder von meiner Krankheit erfahren! Keiner will eine Kaiserin, die sich noch nicht einmal dem Volk zeigen kann! Und zweitens würde Königin Kleopatra doch ohnehin abstreiten, dass sie meine Mutter ist!“ „Aber was ist mit eurem Bruder, Ptolemäus? Er würde sicher bestätigen, euer Bruder zu sein!“ Teti wurde leicht rot, als sie seinen Namen sprach, aber glücklicherweise sah Alexandria dies nicht.

„Mein Bruder hat noch nie zu mir gehalten! Warum sollte er es jetzt tun?“

Kaiser Augustus betrat den Raum. Ohne lange Umschweife warf er seinen Umhang zur Seite, umarmte die Prinzessin und küsste sie leidenschaftlich.

Teti hatte gelernt, sich in solchen Fällen diskret zurück zu ziehen. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, lächelte sie. Es war ein wunderbares Gefühl, zu wissen, dass ihre Herrin glücklich war.

„Oh! Ist er etwa schon wieder bei ihr? Erstaunlich! Normalerweise verliert er nach spätestens einer Woche das Interesse an seinen neuen Mätressen! Aber diese hier hält ihn ja richtig auf Trab!“ Livia Drusilla war die Frau des Kaisers. Sie hatte sich von ihrem ersten Ehemann, Tiberius Claudius Nero, auf Wunsch des Kaisers, scheiden lassen müssen. Es hatte damals einen großen Skandal gegeben, da Augustus Livia zu sich nahm, noch bevor die Scheidung vollzogen war.

Die junge Frau brachte zwei Söhne aus ihrer Ehe mit Tiberius Claudius Nero mit, aber mit Augustus hatte sie keine Kinder.

Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau. Ihr rotes langes Haar war zu einem Zopf gebunden und mit Perlen verziert worden und mit ihren durchdringenden, grünen Augen konnte sie wohl jeden Mann ins Schwitzen bringen.

„Tja! So sind sie, die römischen Kaiser! Sobald sie etwas jüngeres, knackigeres in die Finger bekommen, dienen ihnen ihre Ehefrauen nur noch als Ratgeberinnen!“

„Aber Ihr seid doch nicht alt, Eure Hoheit!“, meinte Teti verteidigend. Sie mochte die Frau des Kaisers. Sie war eine sehr intelligente Frau, der man so schnell nichts vormachen konnte.

„Aber auch nicht mehr so jung, wie deine Herrin!“, konterte Livia. „Wie kommt es eigentlich, dass eine einfache Mätresse eine eigene Zofe hat? Laut den Angaben meines Mannes, ist sie zusammen mit dir hier angekommen! Warum dienst du ihr, wenn sie doch keinerlei Rang zu haben scheint!“ „Verzeiht mir, Eure Hoheit!“, Teti verneigte sich. „Ich darf mich dazu nicht äußern!“ „Verstehe! Du bist eine gute Zofe, Teti! Wenn das so ist, werde ich deine Herrin wohl selbst fragen müssen!“

Ohne Rücksicht auf Verluste stieß Livia die Tür auf. „Ich weiß, dass Ihr ungern gestört werdet, wenn Ihr euch mit eurer liebsten Mätresse vergnügt, aber in diesem Fall werdet Ihr mein Verhalten entschuldigen müssen, mein Gemahl! Ich habe das dringende Bedürfnis, mich etwas mit der hübschen Alexandria zu unterhalten!“

Nur sehr ungern ließ Augustus von der Prinzessin ab. „Ich hoffe Euch ist bewusst, liebste Livia, dass, wärt Ihr nur wenige Minuten später hier herein geplatzt, ich meine Bedürfnisse vor die Eurigen gestellt hätte!“

Livia verneigte sich leicht. „Daher weiß ich es auch sehr zu schätzen, dass Ihr, in Eurer Großzügigkeit, meiner Bitte nachkommen wollt!“

Lächelnd stand der Kaiser auf und gab Livia einen Kuss auf die Stirn. „Bitte lasst mich nicht zu lange warten! Ihr wisst, dass ich kein sehr geduldiger Mensch bin!“ Daraufhin verließ er den Raum und ließ die drei Frauen allein zurück.

Livia setzte sich neben Alexandria, die inzwischen ihre Kleider wieder zu Recht gerückt hatte.

„Ich kann gut verstehen, dass mein Gemahl derart Gefallen an Euch gefunden hat! Ihr seid wahrhaft eine Schönheit!“

„Und dennoch wird die Liebe, die er zu mir empfindet nie seiner Vergötterung zu Euch gleich kommen!“ Alexandria verneigte sich vor Livia.

Teti fand diesen Anblick reichlich seltsam. Immerhin waren die beiden Frauen vom Rang her mindestens gleichbedeutend, wenn nicht sogar Alexandria die Ranghöhere war! Immerhin stammte sie aus der direkten Linie des höchsten Adelsgeschlechts Ägyptens, während Livia lediglich angeheiratet war. Doch das wusste hier niemand und so hatte Alexandria sich zu verhalten, wie jede andere Mätresse auch.

Die Frau des Kaisers schüttelte den Kopf. „Ich bin für ihn schon lange nicht mehr eine Frau, die er Vergöttert! Er liebt mich, als eine Ratgeberin, eine Freundin, aber nicht als Frau, die er begehrt! An diese Stelle seid Ihr getreten! Und ich nehme an, wärt Ihr von höherem Rang und er könnte euch heiraten, dann würde ich so schnell in die Verbannung geschickt werden, dass ich kaum noch Zeit hätte, meine sieben Sachen zusammen zu packen!“

„Aber Eure Hoheit!“, antwortete Alexandria bestürzt. „Ich bin mir sicher, dass der Kaiser mich Euch noch nicht einmal dann vorziehen würde, wenn ich die Thronfolgerin Ägyptens wäre!“

„Seid Ihr denn die Thronfolgerin Ägyptens?“ Livia blickte die Prinzessin durchdringend an. „Ich habe noch nie erlebt, dass eine einfache Mätresse eine eigene Zofe hat! Nur Frauen, mit einem hohen Rang, können sich derartiges leisten! Noch dazu stammt Ihr offensichtlich aus Ägypten! Euer schönes, schwarzes Haar verrät euch! Sagt mir, Alexandria, wer seid Ihr wirklich?“

Alexandria zögerte einen Moment. Dann sah sie traurig zu Boden. „Es ist wahr, Majestät! Ich bin die Tochter der Königin Kleopatra und des Caesars und die Zwillingsschwester des Ptolemäus XV. Caesarion. Doch aufgrund meiner schweren Krankheit, von der Ihr sicher schon wisst, wurde ich schon früh von meiner Mutter verstoßen und als Tochter verleugnet. Nur durch die Hilfe meiner Zofe, Teti, ist es mir gelungen, aus dem Palast zu fliehen und hierher zu kommen. Ihr versteht sicher, dass es mir nicht möglich ist, meine wahre Identität preis zu geben!“

Livia hatte gebannt zugehört. „Ich hatte schon etwas Derartiges erwartet. Wahrhaftig, würdet ihr zu Eurem Rang stehen und sagen, dass ihr die Tochter der Kleopatra und des Caesars sein, so würdet ihr euch das ägyptische, als auch das römische Volk zum Feind machen! Immerhin würdet ihr damit ja auch gleichzeitig kundtun, dass nicht Augustus, sondern Euer Bruder Ptolemäus Anrecht auf Caesars Nachfolge hätte! Immerhin ist Augustus lediglich Caesars Großneffe und Adoptivsohn!“

Teti blieb vor Entsetzen der Mund offen stehen. Von dieser Seite hatte sie das ganze noch gar nicht betrachtet. Dann waren Königin Kleopatra und Antonius doch eigentlich im Recht, wenn sie darum kämpften, dass Ptolemäus der Kaiser Roms werden sollte. Aber warum hatte Alexandria sich dann Augustus und nicht ihrem Bruder angeschlossen? Würde Ptolemäus es schaffen, Augustus zu stürzen, so würde die Prinzessin sicher als Verräterin hingerichtet werden.

„Da habt Ihr Recht, ja!“, sprach Alexandria weiter. Danach blickte sie zu Teti auf. „Bring der Kaiserin und mir etwas zu trinken! Es ist heiß!“

Teti gehorchte, auch wenn sie lieber weiter dem Gespräch der beiden Frauen gelauscht hätte.

Wäre Ptolemäus der Kaiser des römischen Reichs, so wäre dieser schreckliche Krieg zwischen dem römischen Reich und Ägypten endlich beendet und sie könnte ihren geliebten Pharao endlich wieder sehen. Traurig erinnerte sie sich an die vielen Momente, in denen sie ihn gebannt beobachtet hatte. So stark, so schön… Manchmal wünschte sich Teti, Ägypten nie verlassen zu haben. Aber sie hatte es doch tun müssen. Es war der Wunsch ihrer Herrin gewesen und die Wünsche ihrer Herrin standen höher als ihre eigenen Bedürfnisse.

Teti ließ sich aus der Küche einen großen Krug mit Wasser und zwei kleinere Trinkkrüge geben.

Als sie damit wieder in den Gemächern ihrer Herrin ankam, hörte sie gerade noch das Ende des Gesprächs.

„Also war es auch Eure Idee, Rhodon, den Lehrer Eures Bruders in die Sache einzuweihen! Wirklich ein kluger Schachzug von euch!“ Livia nickte anerkennend.

Sie warf einen kurzen Blick auf das Wasser, das Teti gebracht hatte. „Ach Himmel, Mädchen, dass wäre doch nicht nötig gewesen! Ich habe ohnehin keine Zeit mehr, noch länger zu bleiben!“ Die Frau des Kaisers stand auf und ging zur Tür, doch bevor sie diese öffnete, hielt sie noch einmal inne und drehte sich um. „Ich bin wirklich froh, dass eure Ziele sich so gut mit den meinen decken! Ich bin mir sicher, dass wir zu einem Ergebnis kommen werden, dass uns beide zufrieden stellen wird!“ Daraufhin verschwand sie.
 

Teti sah ihre Herrin fragend an. „Teti, es gehört sich nicht für eine Zofe, sich für die Geschäfte ihrer Herrin zu interessieren!“, rügte Alexandria sie. „Aber wenn du es unbedingt wissen willst! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du deinen geliebten Pharao wieder siehst!“
 


 

Vanessa wurde aus ihrer Starre gerissen. Es war nicht, wie beim letzten Mal, wo sie sich einfach plötzlich wieder in der Wirklichkeit befand. Nein, dieses Mal war es, als wäre sie gewaltsam zurück gedrängt worden.

Vanessas Kopf schmerzte. Auch das war bei ihrer ersten Vision nicht gewesen. Anscheinend wollte irgendjemand verhindern, dass sie noch mehr erfuhr. Aber wer? Was wollte diese Person verheimlichen? Auf die zweite Frage war es womöglich gar nicht so schwer, eine Antwort zu finden.

Vanessa rannte los. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, dafür kannte sie sich noch immer zu wenig in den alten Gemäuern aus. Aber das war egal. Sie musste nur irgendjemanden über den Weg laufen, der sich auskannte. Und so ein jemand war schnell gefunden.
 

Jerry wies gerade ein paar Putzfrauen dazu an, auch hinter den Wandvorhängen gründlich sauber zu machen. Beinahe wäre Vanessa in den Butler hineingelaufen, aber es gelang ihr, im letzten Moment noch zu bremsen.

„Jerry!“, keuchte sie, völlig außer Atem hervor. „Bibliothek! Bücher, über das römische Reich! Wo?“ Mehr konnte sie nicht sagen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, nach Luft zu japsen.

„Ähm… aber selbstverständlich haben wir eine Bibliothek, Madame! Und da finden sich auch sicherlich mehrere Bücher, über das römische Reich! Folgen sie mir!“, antwortete Jerry leicht verwirrt.

Er führte Vanessa einige lange Gänge entlang, bis sie endlich vor einer großen Tür mit zwei Flügeln ankamen.

Vanessa verschlug es für einen Moment den Atem, als sie durch die Tür trat. Der Raum erstreckte sich über drei Stockwerke und hätte jemand gesagt, er enthielte jedes Buch, das je geschrieben worden ist, dann hätte das Mädchen es ohne zu zögern geglaubt.

„Die Geschichtlichen Bücher befinden sich in den drei hintersten Regalen auf der rechten Seite! Benötigen sie meine Hilfe noch, Madame?“ „Ähm… Nein danke, Jerry! Ich finde mich schon zurecht!“

Wenn Vanessa ehrlich war, dann hatte sie keine Ahnung, wo sie anfangen sollte zu suchen, oder wonach sie überhaupt genau suchte, aber es war ihr irgendwie unangenehm, sich ständig von Jerry bedienen zu lassen.

Also begab sich Vanessa allein zu den drei hintersten Regalen auf der rechten Seite. Die Bücher über das alte, römische Reich waren schnell gefunden, aber in welchem würde sie etwas über die Zeit der Regentschaft von Kaiser Augustus erfahren?

Vanessa überlegte. In ihrer Vision war Augustus der Nachfolger Julius Caesars gewesen. Wenn wurde dieser noch gleich ermordet? Irgendetwas musste vom Geschichtsunterricht doch hängen geblieben sein! Das war… 44 v. Chr.! Ja! Vanessa war sich ganz sicher!

Vanessa suchte sich die Bücher heraus, die von der Geschichte des römischen Reichs, nach 44 v. Chr. handelten und stieß tatsächlich sofort auf Kaiser Augustus. In erster Linie ging es in dem Buch um die zahlreichen Schlachten, die der Kaiser für sich entscheiden konnte und durch die er als Alleinherrscher des Römischen Reichs die julisch – claudische Kaiserdynastie begründete. Außerdem setzte er dem Jahrhundert der Römischen Bürgerkriege ein Ende.

Endlich fand Vanessa etwas, das sie des Rätsels Lösung näher bringen sollte.

In einem Kapitel wurde ausführlich der Machtkampf zwischen Kaiser Augustus und Marcus Antonius beschrieben.

Es war kein langer Krieg, der zwischen Ägypten und dem Römischen Reich bestand, denn schon der erste Zusammenstoß der beiden Rivalen brachte die Entscheidung.

In der Seeschlacht bei Actium unterlagen Antonius und Kleopatra am 2. September 31 v. Chr. den Streitkräften des Kaisers und Agrippas. Diese nahmen im folgenden Jahr Alexandria (also die Hauptstadt Ägyptens) ein, woraufhin Antonius und Kleopatra Selbstmord begingen. Ägypten verlor seine Selbstständigkeit und wurde als neue römische Provinz annektiert. Damit endete der Krieg zweier Männer um die Macht in Rom und zugleich die 100 Jahre währende Epoche der römischen Bürgerkriege.

Vanessa schluckte. Kaiser Augustus musste ein sehr mächtiger Mann gewesen sein, wenn es ihm in nur einer einzigen Schlacht gelang, ein ganzes Land, dessen Fortschrittlichkeit noch heute bewundert wird, zu besiegen. Aber Alexandria sprach doch davon, dass Ptolemäus nach Rom kommen würde. Wie hatte sie das gemeint? Aber dazu stand in dem Buch nichts. Also suchte Vanessa nach einem Buch über die Geschichte Ägyptens zu dieser Zeit. Sie wurde fündig in einem Buch mit dem Titel „Kleopatra, die Große“.

In dem Buch wurde Ptolemäus als einziger Sohn Caesars und Kleopatras aufgeführt. Das passte gut zu Vanessas „Vision“. Immerhin hatte Kleopatra alles dafür getan, um die Existenz ihrer Tochter geheim zu halten.

Vanessa überflog die Kapitel, in denen es um die gemeinsame Regentschaft der Königin und ihres Sohnes ging, bis sie endlich zum Sieg des römischen Reichs über Ägypten kam. Kurz vor ihrem Selbstmord wollte Kleopatra ihren Sohn zusammen mit Schätzen und seinem Lehrer Rhodon über Äthiopien nach Indien schicken, doch Ptolemäus Tutor überredete seinen Schüler zur Umkehr, weil Kaiser Augustus ihn angeblich zum König machen wollte.

Rhodon? Der Name kam Vanessa bekannt vor! Er war doch auch in dem Gespräch zwischen Livia und Alexandria gefallen!

Aber in Wahrheit hatte Kaiser Augustus nie vor, Ptolemäus zum König zu machen. Es war eine Falle, um den jungen Pharao nach Rom zu locken und ihn dort hinrichten zu lassen.

Immer und immer wieder las Vanessa den letzten Satz.

Sollte das heißen… bedeutete das womöglich… Egal wie Vanessa es drehte und wendete, sie kam immer wieder zu demselben Ergebnis. Alexandria hatte Kaiser Augustus dazu benutzt, Ptolemäus aus dem Weg zu räumen. Sie musste ihm eingeredet haben, dass Ptolemäus eine Bedrohung für ihn darstellen konnte. Nur sie wusste, wer Ptolemäus Lehrer war und konnte ihn so beeinflussen, dass er seinen Schützling letztendlich verriet.

Das war die einzige Erklärung, die wirklich passte: Alexandria hatte Kaiser Augustus nur verführt, um sich an ihrer Familie und ihrem Land zu rächen. Und übertrug man das nun auf die heutige Zeit, dann…

Jede Farbe wich aus Vanessas Gesicht. Nein! Das konnte nicht wahr sein! Ailayn würde Tala doch nie verführen, nur um Kai… Das würde sie doch niemals tun! Sie war doch so nett zu Vanessa gewesen. Andererseits war auch Alexandria immer nett zu Teti gewesen.

Vanessa sprang auf. Wenn das wirklich wahr war, dann schwebte Kai in höchster Gefahr.

Sie lief aus der Bücherei, um Kai zu finden. Sie musste ihn warnen! Ihn schützen! Ihn…

Als Vanessa gerade um eine Ecke biegen wollte, stieß sie mit dem jungen Mann zusammen, den sie so verzweifelt gesucht hatte. Beide stürzten zu Boden.

Vanessa hatte sich den Ellbogen an der Wand gestoßen und rieb sich an der schmerzenden Stelle, als Kai schon wieder aufgestanden war und ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.

„Vanessa… Es tut mir Leid! Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen! Das war nicht fair von mir!“, entschuldigte er sich. Vanessa konnte in seinen Augen sehen, dass er es ernst meinte.

Aber das war in diesem Moment nicht wichtig! Kai schwebte womöglich in Lebensgefahr! Aber wie sollte sie ihm das klar machen? Sollte sie ihm alles erzählen? Irgendetwas in ihr sträubte sich ganz entsetzlich dagegen. Sie konnte ihm diese haarsträubende Geschichte nicht erzählen. Er würde ihr sicher nicht glauben. Es musste einen anderen Weg geben, um ihn zu schützen.

„Kai! Ich… ich wollte es heute Morgen in der Gegenwart deiner Mutter nicht sagen, aber ich habe ganz schrecklich geschlafen! Es war so ein einsames, bedrückendes Gefühl… kann ich vielleicht heute Nacht bei dir schlafen? Bitte!“

Kai wirkte überrascht, konnte ihr aber ihre Bitte nicht abschlagen. Sie sah einfach zu süß aus.

Falsche Freunde

Vanessa kuschelte sich ganz nah an ihren Freund. Die beiden hatten schon so lange nicht mehr einfach nebeneinander gelegen und Händchen gehalten. Umso mehr genoss das Mädchen jede Sekunde davon. Dennoch hielt sie ein Ohr offen, falls irgendetwas Verdächtiges zu hören sein würde. Sie hatte beschlossen, in dieser Nacht nicht zu schlafen. Kai durfte unter keinen Umständen etwas zustoßen.
 

Das Fenster war offen, deshalb konnte Vanessa in der Ferne die Kirchturmglocke läuten hören. Einmal… Zweimal… Dreimal… Es was also drei Uhr morgens und noch immer war nichts passiert. Kai war längst eingeschlafen und auch Vanessa war, allen guten Vorsätzen zum Trotz, todmüde. Vielleicht hatte sie sich ja doch geirrt! Vielleicht war Ailayn tatsächlich nicht mehr, als ein armes, krankes Mädchen, das eine Freundin und kein misstrauisches Biest brauchte. So war es wahrscheinlich. Wie hatte Vanessa nur glauben können, dass ihre dummen Tagträume auch nur im Entferntesten etwas mit der Realität zu tun hatten.

Das Bild von Livia und Alexandria, wie sie in ihr Gespräch vertieft waren, tauchte wieder in Vanessas Kopf auf. Hatte Livia nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Talas Schwester Laila? Nein! Schluss damit! Niemand hatte irgendetwas mit den Figuren aus längst vergangener Zeit zu tun! Vielleicht irgendwelche Forscher, die sich mit dem Thema befassten, aber nicht Vanessas Freunde! Sie sollte aufhören, sich solch dumme Gedanken zu machen und versuchen, noch ein wenig Schlaf abzubekommen, bevor es Zeit zum Aufstehen war.

Vanessa hatte gerade die Augen geschlossen, als sie ein Geräusch hörte. Jemand kletterte durch das Fenster. Vanessa konnte deutlich Schritte hören. Als sie eins ihrer Augenlider ein Stück weit öffnete, konnte sie im Mondlicht etwas blitzen sehen. Eine Klinge!

„Kai! Wach auf!“, schrie das Mädchen laut und schubste ihren Freund aus dem Bett. Gerade noch rechtzeitig. Unzählige Federn flogen durch die Luft, als das Messer das Kissen zerfetzte, auf dem Kai eben noch gelegen hatte.

Kai kauerte jetzt hellwach auf dem Boden. „Was… was hat das zu bedeuten?“

Aber Tala war nicht hier, um Fragen zu beantworten. Er hatte einen Auftrag. Der rothaarige Junge zog ein langes Schwert unter seinem Umhang hervor und hielt es Kai an die Kehle.

„NEIN!“, schrie Vanessa, stieß die Klinge zur Seite, wobei sie sich an der Hand verletzte und warf sich vor Kai. Mit Tränen in den Augen sah sie Tala flehend an.

„Bitte tu es nicht! Wir sind doch Freunde! Bitte, Tala!“

Es war, als würde Tala aus einem schlimmen Alptraum erwachen. Entsetzt starrte er seine beiden Freunde an. Dann fiel sein Blick auf das Schwert in seiner Hand. Er wurde leichenblass. Mit einem lauten Scheppern ließ er das Schwert zu Boden fallen und flüchtete durch das Fenster.

„Sag mir, dass das nicht wahr ist! Das kann einfach nicht wahr sein!“, murmelte Kai. Doch Vanessa konnte ihm nicht sagen, dass es nicht wahr war. Denn das, was sie am meisten befürchtet hatte, war eben passiert. Und es war keine Vision und erst recht kein Traum gewesen.
 


 

„Warum fahren wir noch zu dem Kerl? Und auch noch ohne Polizeischutz? Dieser Verrückte gehört eingesperrt!“ Kai ließ kein gutes Haar an Tala, als er und seine Freundin am nächsten Tag zum Haus von Talas Eltern fuhren. Genauer gesagt ließen sie sich von Jerry in der Limousine mitnehmen, weil es wesentlich schneller ging, als mit dem Fahrrad und das Wetter schon wieder so unbeständig war.

„Kai, ich habs dir doch gesagt! Ich glaube einfach nicht, dass Tala das wirklich aus freiem Willen getan hat! Ich bin mir sicher, dass da etwas faul ist! Er ist doch unser Freund! Warum sollte er so etwas also tun?“, versuchte Vanessa ihren Freund zu beruhigen. Sie war es gar nicht gewohnt, dass er so über jemanden redete. Und dann auch noch ausgerechnet über Tala. Was war nur los mit ihm?

„Was weiß ich, warum der plötzlich so abgeht! Auf jeden Fall finde ich es nicht gerade lustig, wenn mitten in der Nacht plötzlich jemand in meinem Schlafzimmer steht und versucht mich umzubringen! Und weil er offensichtlich zu blöd für so einen simplen Job ist, verletzt er dabei auch noch meine Freundin!“

Vanessa starrte auf den Verband an ihrer Hand. Der Schnitt war glücklicherweise nicht allzu tief gewesen. Trotzdem hatte es stark geblutet und Hillary wäre fast umgekippt, als ihr Sohn sie fragte, wo der Verbandskasten war.

Endlich waren sie am Ziel. Kai wollte gerade klingeln, aber Vanessa schob sich geschickt vor ihn. Es war wohl besser, wenn sie zwischen Tala und Kais Faust stand, falls er es war, der die Tür öffnete. Eine unbegründete Sorge.

Laila machte keinen Hehl daraus, dass das Paar ungebetene Gäste waren.

„Tala ist nicht da! Ich weiß nicht wo er ist, wann er wieder kommt oder ob er überhaupt wieder kommt! Ich werde ihm nichts ausrichten oder geben! Ich könnt also genauso gut sofort wieder verschwinden.“

„Ts!“, machte Kai. „Du hast dich wirklich kein Stück verändert, Laila! Kratzbürstig wie eh und je!“ „Und du bist immer noch ein Vollidiot!“, fauchte Laila zurück, bevor sie den beiden einfach die Tür vor der Nase zuschlug.

„Na damit wäre die Sache wohl erledigt! Er ist nicht da! Lass uns gehen!“ Kai wandte sich wieder zum Auto, aber Vanessa war noch nicht bereit aufzugeben. Geduckt schlich sie ums Haus, um das Fenster auszumachen, dass zu Talas Zimmer führen musste.

„Vanessa! Was soll das denn jetzt werden? Du hast es doch gehört! Er ist nicht da!“

Das blonde Mädchen sah ihren mosernden Freund an und legte den Zeigefinger auf die Lippen, um ihm zu bedeuten, dass er sich ruhig verhalten sollte. Wenn Laila sie entdeckte, dann würden sie nie… ja, was würden sie dann eigentlich nie? Vanessa wusste selbst nicht so genau, was sie sich von dieser Aktion eigentlich erwartete. Sie wusste nicht warum, aber sie hatte nicht erwartet, Tala hier anzutreffen. Aber ihr Gefühl hatte ihr gesagt, dass sie bei ihrem letzten Besuch etwas übersehen hatte. Etwas Wichtiges.
 

Endlich hatte Vanessa das Fenster gefunden, das sie für das richtige hielt. Sie war sich sogar ziemlich sicher, denn es war das einzige Fenster im obersten Stockwerk und wenn sie sich nicht ganz irrte, dann war das Zimmer direkt unter dem Dach gewesen.

Aber wie sollte sie dort hoch kommen? Es gab kein Vordach oder etwas ähnliches, auf das sie hätte klettern können.

Vanessa überlegte. Es gab einen großen Baum in dem Garten und von einem der Äste könnte sie es vielleicht schaffen, an das Fenster heranzukommen. Wie sie dann reinkommen würde, konnte sie sich immer noch überlegen, wenn es soweit war.

Allerdings waren selbst die untersten Äste dieses Baums noch zu weit oben, als dass Vanessa sie hätte erreichen können.

„Kai, kannst du mir mal helfen? Ich muss auf den Baum da!“, flüsterte Vanessa.

Kai schien nicht sonderlich begeistert von dieser Idee zu sein, dennoch half er seiner Freundin, wie sie es von ihm verlangte.

Es war schwieriger, als Vanessa es sich vorgestellt hatte, an den, teilweise doch recht dünnen, Ästen empor zu klettern. Sie hatte mehrmals das Gefühl, gleich zu stürzen, aber es gelang ihr immer, sich im letzten Moment doch noch irgendwo festzuhalten.

Endlich hatte Vanessa es geschafft und wie sie es vermutet hatte, konnte sie von ihrer Position aus das Fensterbrett leicht erreichen. Aber wie sollte sie das Fenster jetzt aufbekommen. Aber Moment! Konnte das wirklich sein? Wenn es so war, dann musste sie tatsächlich mehr Glück als Verstand haben.

Das Mädchen streckte sich ein Stück, um an die Scheibe fassen zu können. Sie drückte gegen das Glas und das Fenster schwang nach innen auf. Es war also kein Irrtum gewesen. Das Fenster war nur angelehnt. Hieß das, dass Tala vielleicht doch da war?

Vanessa zog sich am Fensterbrett hoch und kletterte in das Zimmer. Beinahe wäre sie auf ein paar CDs getreten, als sie ihre Füße auf den Boden setzen wollte. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Nicht nur CDs, sondern auch Bücher, Papiere und zahllose andere Dinge lagen auf dem Boden verstreut. Die Schubladen waren aufgerissen und ihr Inhalt unsanft durchwühlt worden. Irgendjemand musste nach etwas gesucht haben. Aber wonach? Machte es überhaupt noch einen Sinn, sich umzusehen? Vanessa wusste zwar nicht, wonach sie eigentlich suchte, aber anscheinend war ihr jemand zuvor gekommen und dadurch war es eher unwahrscheinlich, dass sie… was auch immer noch finden würde. Trotzdem machte Vanessa einige vorsichtige Schritte in den Raum hinein, immer noch darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen.

Ob Tala wohl geahnt hat, dass in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsucht werden würde? Wenn ja, dann hatte er vielleicht… naja… das Ding gut genug versteckt, dass es die Eindringlinge gar nicht gefunden haben. Das würde zumindest erklären, warum das gesamte Zimmer verwüstet war. Sie müssen sehr lange gesucht haben. Aber selbst wenn dieses Etwas noch hier war, wie sollte Vanessa es dann finden können? Sie überlegte angestrengt. Hatte Tala ihr vielleicht irgendwann einmal etwas gesagt oder gezeigt, was ihr helfen könnte? Kaum jemand kannte den rothaarigen Jungen besser als Vanessa. Er war für sie immer wie ein großer Bruder gewesen, aber dennoch wollte ihr nichts einfallen, was sie ihrem Ziel näher gebracht hätte.

Gedankenverloren setzte sich das Mädchen auf das Bett und starrte im Zimmer umher. Ihre Vorgänger hatten viel zu gute Arbeit geleistet, als dass man hier noch irgendetwas hätte finden können. Sogar sämtliche Bücher waren offensichtlich brutal ausgeschüttelt worden, denn manche waren so zerfleddert, dass man erst mal wieder die einzelnen Seiten zusammensuchen müsste, bevor man sie wieder lesen könnte. Vanessas Blick fiel auf einen kleinen, zerbrochenen Bilderrahmen, der inmitten dieser Unordnung lag. Er fasste ein Bild, auf dem zwei Jungen abgebildet waren. Der eine hatte rotes, der andere graues und dunkelblaues Haar. Die beiden saßen zusammen auf den Wurzeln eines Baumes, die ins Wasser ragten.

Vanessa stockte der Atem. Das war die Trauerweide bei dem See. Kai hatte ihr ja erzählt, dass er und Tala früher öfter zusammen gespielt haben. Und das musste einer der Orte gewesen sein, wo sie sich besonders oft aufgehalten haben. In dem Moment erinnerte sich Vanessa daran, was sie bei diesem Baum gesehen hatte. Dieses Glitzern… vielleicht war das, was diese Eindringlinge gesucht hatten ja gar nicht hier, sondern dort, zwischen den Wurzeln der Trauerweide, versteckt!

Aufgeregt sprang Vanessa auf. Ja! So musste es sein!

Sie wollte gerade wieder aus dem Fenster steigen, als sie bemerkte, dass ein Unwetter aufgezogen war. Inzwischen war der Wind so stark geworden, dass der Ast, über den Vanessa ins Zimmer klettern konnte, gefährlich hin und her schaukelte. Diesen Weg konnte sie also nicht mehr nehmen. Aber ansonsten gab es nur eine einzige Möglichkeit.

Sie musste durch die Haustür verschwinden.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Elysione
2008-10-04T19:24:09+00:00 04.10.2008 21:24
Boah bin ich gut*gg*
Diese Kapitel ist echt der hammer!Du hast das so schön geschrieben und ich möchte gerne weeiiiiiiiiitttttttteeeeeeer wissen*^.~*

HDGDL knuff kiss
Von:  Elysione
2008-09-20T21:30:17+00:00 20.09.2008 23:30
Muhahah!Man bin ich gut!Ich hab ein Rätzel gelöst*freu freu*
Super megal geiles Kapitel!Mach weiter so!!
Will weiter lesen!Schnell!!!

HDGDL knuff kiss
Von:  Elysione
2008-09-13T11:07:10+00:00 13.09.2008 13:07
Boah bin ich gut!Ich habe Tala-chan gefuden*freudig in der Wohnung herrum hübft*^.~*
Man bin ich neugierig!hast meine Schokoladenzeite getroffen*zwinker*^.~*
Schöne kapitel,einfach super gut geschrieben!!!!!!!!!
So freu mich schon auf das nächste Kapitel und bis dahin...
HDGDL knuff kiss
Von:  Elysione
2008-08-28T18:41:28+00:00 28.08.2008 20:41
WEIIIIIIIIIIIIIIIITTTTTTTTTEEEEEEEEERRRRRRRRRRRRRRR schreiben!Schnell will weiter wissen*ja ich bin mal wieder neugierig*^.~*
Bitte bitte weiter schreiben!^.^

HDGDL knuff kiss
Von:  Elysione
2008-08-28T18:25:51+00:00 28.08.2008 20:25
Man bin ich neugierig*gg*Du hast meine Schokoladenseite gut getroffen.Ich bin immer neugierig,nur manchmal kommt es nicht gut!^.~
Super kapitel,ich lese mal direkt weiter...

HDGDL knuff kiss
Von:  Elysione
2008-08-21T20:06:54+00:00 21.08.2008 22:06
Muhahahha!Erster!
Die Story ist einfach super mega affen geil!Ich will schnell weiter wissen!
Weiter schreiben!

HDGDL knuff
Von:  FreeWolf
2008-08-21T09:27:19+00:00 21.08.2008 11:27
Tut mir Leid, ich hab nicht in die FF reingesehen, aber mir ist der Titel aufgefallen.
Der Spiegel der Königin heißt auf Italienisch nicht il specchio di regina sondern
Lo specchio della regina.
Lg, ich hoffe, du besserst das aus
FreeWolf
Von:  Elysione
2008-08-17T19:55:29+00:00 17.08.2008 21:55
ERSTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTEEEEEEEEEEEEEEERRRRRRRRRRRRRRRR!
Super geile Story und ich will weiter wiiiiiiiiiiiisssssssssssseeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeennnnnnnnnnnnnn!
Ist abe süß,dass du sie mir wiedmes!*^//^*total rot wird*
Freu mich dann schon auf Kapitel 2*will unbedingt weiter wissen,was mit Tala ist*^.^y*
HDGDL Schatzi Maus!knuff kisses


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