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Der Nähe so fern

Yohji & Aya
von

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Nebel

(zum Chellange "Metapher")
 

Eine Metapher ist ein bildhafter Ausdruck. Ein Bild aus Worten. Da auch hier gilt, dass jeder Betrachter etwas anderes sieht, ist es meist besser, sich klar auszudrücken.
 


 

Das Wetter ist etwas, worüber in unserer Zeit niemand mehr groß nachdenkt. Der einzige Gedanke, den ein Durchschnittsmensch daran verschwendet, ist, ob es lohnen würde, heute den Regenschirm mitzuschleppen. Blick aus dem Fenster, in Gedanken den letzten Wetterbericht abgerufen, die unüberdachten Wege erwogen, die man heute zu gehen gedenkt. Eine Frage von Sekunden. Nein, man braucht das Ding nicht mitnehmen. Man würde es ohnehin vergessen. Im Bus, in der Bahn, im Wartezimmer. Auf den Fundbüros sammeln sich Schirme.
 

Das ist alles, was das Wetter angeht, scheint es. Es regnet oder es regnet nicht. Zwei Stadien. Klar unterscheidbar. Und dann, ganz verwirrend und unheimlich, kommen Tage wie dieser. Tage, an denen das Wetter so ungewöhnlich, so bemerkenswert und unerwartet ist, dass die Leute nicht umhin kommen, es zu bemerken. Heute ist ein Tag, an dem man nicht entscheiden kann, ob es regnet oder nicht. Aber es ist sowieso egal, weil ein Schirm einen nicht vor der Nässe schützt.
 

Als ich heute morgen aufgewacht bin, wusste ich sofort, dass etwas anders ist als sonst. Ich konnte nicht sofort sagen, was es war, aber ich wusste es, noch bevor ich die Augen aufschlug und das milchig trübe Licht sah. Alles war ungewohnt. Ich lag ganz still da und versuchte herauszubekommen, was anders war, als an anderen Tagen. Und dann wurde es mir klar: Die Geräusche. Keine zankenden Spatzen, kein ununterbrochenes Motorenbrummen, keine schwach ins Zimmer dringenden Stimmen. Stille. Eine unheimliche, bodenlose Ruhe, die beinahe zu pulsieren schien. Ein Nichtgeräusch mit erschreckendem Eigenleben, gegen das ich das Radio einschaltete.
 

Auf der ganzen Stadt liegt der Nebel so dicht und undurchdringlich als wäre er fest. Er fühlt sich im Gesicht zäh und klebrig an, wenn man hinausgeht. Obwohl es recht kühl ist, kommt man sich schon nach kurzer Zeit durchnässt und verschwitzt vor. Der Schweiß auf der Haut verdunstet nicht. Es scheint sogar so, als würde noch zusätzliches Wasser auf deinem Körper kondensieren. Nicht der kleinste Windhauch ist zu spüren. Die Luft, die man einatmet, hat plötzlich einen intensiven Geschmack. Sie schmeckt, wie sie für gewöhnlich nur riecht. Nach Abgasen, Menschen, Müll.
 

Wenn man einatmet ist es, als wäre man unter Wasser, so nass und schwer muss man die Luft in die Lungen ziehen. Die Sicht beträgt unter fünfzig Meter, der Verkehr in der ganzen Stadt ist zum Erliegen gekommen, bis auf einige mutige oder lebensmüde, die den höheren Mächten trotzen. Man hört ab und an das Brummen ihrer Motoren, wie aus unendlich weiter Ferne. Alle Töne sind so seltsam dumpf und gedämpft. Als würde man den Kopf in dichte Watte halten oder in Seifenschaum, nur ohne das Knistern der zerplatzenden Bläschen.
 

Ich war nur ganz kurz draußen, aber die Eindrücke sind so stark, dass man sie nicht ignorieren kann. Wenn man den Gehweg entlang geht, ist es als würde man seinen eigenen Käfig aus Blindheit mit sich herumtragen und die Dinge außerhalb davon tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden hinter dir auf Nimmerwiedersehen. Es ist wie in einem Traum. Klaustrophobisch, zutiefst beunruhigend. Der Nebel lässt einen Dinge sehen und glauben, die man sonst belächeln würde. Deine Nackenhaare stellen sich auf und du schlägst den Kragen deiner Jacke hoch. Du bleibst nicht stehen, bis du an deinem Ziel angelangt bist.
 

Das Licht fällt nicht mehr aus einer bestimmten Richtung, es ist einfach da, diffus, undefinierbar, farblos. Als würde es aus dem Nebel selbst stammen. Nichts ist mehr klar zu erkennen, nichts wirft Schatten. Die Umrisse verschwimmen, Silhouetten zeichnen sich im hellen Grauweiß ab. Die Dinge werden ihrer Realität beraubt, verlieren ihre Bedeutung, nehmen eine andere an. Grenzen verwischen. Was vorher noch deutlich sichtbar und gewöhnlich war, zeigt sich jetzt, wo man genauer hinsehen muss, von einer neuen Seite.
 

Ich komme durch den Vordereingang in den Laden, die Glöckchen an der Glastür klingen nicht ganz so schrill wie sonst, fast eingeschüchtert. Durch die Schaufenster dringt das graue Licht wie dichter Rauch in den Raum, die Häuser auf der anderen Straßenseite sind nur vage zu erahnen.
 

Aya ist schon da. Er hat sich einen Stuhl in die Nähe der Glasfront gezogen und starrt hinaus. Er hat kurz aufgesehen, als ich hereinkam, ansonsten sitzt er völlig unbeweglich. Wenn ich nicht sowieso schon leicht verstört von diesem Morgen wäre, spätestens jetzt wäre ich es. Aya sitzt nie herum. Er zieht es in den allermeisten Situationen vor zu stehen, weil es ihn nervös macht, wenn andere ihn überragen. Und er gibt sich im Laden stets zumindest einen Anschein von Tätigkeit. Egal wie wenig zu tun ist oder ob irgendjemand darauf achtet, Aya ist immer beschäftigt. Nur heute sitzt er da und sieht ganz versunken nach draußen, wo nichts zu sehen ist.
 

Das Läuten der Glocken bringt mich dazu, meinen Blick von Aya loszureißen und lässt mich zur Tür herumfahren. Ken steht da, sein braunes Haar steht zerzaust in alle Richtungen, seine Augen leuchten. „Wow, habt ihr so was schon mal erlebt?“, ruft er begeistert. Seine Stimme ist viel zu laut, aber eigentlich gibt es keinen Grund zu flüstern. Aya zuckt fast unmerklich zusammen, aber Ken, der jetzt ebenfalls aus dem Fenster guckt, ist nicht zu bremsen. „Ist ja echt der Wahnsinn. Als ob die Welt untergegangen wäre oder so.“, kommentiert er beeindruckt.
 

Einen Augenblick lang sieht Aya so aus, als wollte er etwas sagen, aber dann ist der Moment vorbei und er steht auf und trägt den Stuhl wieder an seinen Platz hinter der Theke.

„Wo ist eigentlich Omi?“, fragt Ken.

Ich versuche, das irreale Gefühl, das der Nebel bei mir ausgelöst hat, abzuschütteln und mache mich an die Arbeit. „In der Schule, wo sonst.“

Auf meine Antwort hin blinzelt Ken und lacht leise. Natürlich, in der Schule. Logisch. Heute ist ein ganz normaler Wochentag. Ein Tag wie jeder andere. Warum sollte auch keine Schule sein?
 

Wir erledigen die üblichen Arbeiten ruhig und einvernehmlich. Die Schnittblumen werden wie jeden Morgen in den Verkaufsraum getragen und aufgestellt, Tische mit Topfpflanzen und Werbeschilder kommen vor dem Laden auf den Bürgersteig. Alles wird gegossen, durchgesehen, aussortiert. Das Wechselgeld wird in die Kasse gelegt, dann sind wir fertig. Wir sehen wieder hinaus in den Nebel, anstatt uns ratlos anzusehen.
 

Es ist einer dieser Tage, an dem man irgendwie weiß, dass niemand kommen wird, außer vielleicht zwei, drei einzelnen Kunden, für die es sich eigentlich nicht lohnt den Laden offen zu lassen. Natürlich kann man immer irgendeine Beschäftigung finden, aber es wäre eben nur das: eine Beschäftigung, keine sinnvolle Tätigkeit. Es wäre unsinnig, einen Haufen Sträuße zu binden, wenn klar ist, dass keine Kundschaft kommt. Und keiner von uns ist heute bereit, den Laden mehr als unbedingt nötig zu putzen, also warten wir. Sogar Aya hat irgendwoher ein dünnes Büchlein, das er nun aufschlägt und man kann quasi zusehen, wie er die Außenwelt systematisch ausblendet.
 

Es dauert nur eine knappe viertel Stunde, bis Ken das Nichtstun nicht mehr aushält und in nervöse Ersatzhandlungen verfällt. Er lehnt an der Theke und trommelt mit den Fingern darauf und wenn man ihm sagt, dass er aufhören soll, dann fängt er an, denselben Takt mit dem Fuß zu tappen. Ich schaffe es für ungefähr zehn Minuten, ihn mit einem Gespräch über dies und das abzulenken und erfahre, dass es nach Meinung der Meteorologen erst gegen Abend aufklaren soll. Dann gehen uns die Themen aus und wir schweigen.
 

Mit Ken zu schweigen ist etwas völlig anderes als mit Aya zu schweigen. Mit Ken zu schweigen ist anstrengend. Als er wieder anfängt zu tappen und zu trommeln, sage ich ihm, dass er meinetwegen auch gehen kann, wenn er will, es ist ja ohnehin nichts zu tun. Als hätte er nur auf diese Aufforderung gewartet, stößt er sich von der Theke ab und verabschiedet sich, dann klingeln die Glöckchen über der Tür und Ken verschwindet nach wenigen Metern im Nebel.
 

Keiner von uns hat ernsthaft in Erwägung gezogen, Aya nach seiner Meinung zu fragen. Immerhin ignoriert er inzwischen seit einer halben Stunde erfolgreich das Vorhandensein des Ladens, seiner Kollegen und vermutlich auch seiner selbst. Er reagiert nie sonderlich begeistert, wenn man ihn wieder an all das erinnert, also lasse ich ihn in Ruhe. Ich setze mich auf die Theke und rauche. Aya bekommt davon genauso wenig mit wie von Kens nervigem Getrommel, sonst würde er mich hochkant rausschmeißen.
 

Ich denke eine Weile darüber nach, was Ken jetzt wohl macht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sogar bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit irgendwelche Fußballfreaks im Park rumhängen, aber wer weiß, denen ist so was zuzutrauen. Davon abgesehen ist Ken der einzige Mensch, den ich kenne, der allein Fußball spielen kann. Vermutlich ist das kein besonderes Talent, aber ich fand es ganz erstaunlich als ich es mal gesehen habe.
 

Mit Aya zu schweigen ist leicht. Es stellt sich bei ihm genauso wenig die Frage, ob und über was man reden sollte, wie bei einer massiven Mauer. Er hat von sich aus kaum das Bedürfnis, einem etwas mitzuteilen und wenn man selbst etwas sagt und es tatsächlich zu ihm durchdringt, dann stehen die Chancen ziemlich gut, dass es ihn nicht die Bohne interessiert. Vielleicht würde er einem zuhören, wenn man ihm etwas wichtiges erzählt, aber man erzählt jemandem, mit dem man nie redet in der Regel nichts wichtiges.
 

Ich gähne und sehe auf die Uhr. Es ist kurz nach zehn. Etwa um neun rum haben wir aufgemacht. Es würde Omi vielleicht ein bisschen ärgern, aber ich könnte Aya jederzeit dazu überreden, für heute Schluss zu machen und dann wäre es das. Wir würden alles wieder einpacken und aufräumen, die Kasse wieder leeren, die Glastür abschließen, die Rollläden herunterlassen und dann würde er in seiner Wohnung verschwinden und ich...
 

Ich seufze. Wenigstens hat Ken ein halbwegs normales Hobby. Ich habe so was nicht. Ich würde zu mir nach Hause gehen und bis in die Abendstunden in meinen eigenen zähen Gedanken versacken, weil es einfach noch deprimierender ist, schon vormittags in irgendwelchen Kneipen rumzuhängen. Und irgendwann, etwa um die Zeit zu der normale Leute langsam daran denken, schlafen zu gehen, würde ich mich aufraffen und ausgehen. Und es würde so gut werden wie immer, was nichts daran ändert, wie sehr mich der Gedanke daran jetzt im Moment anekelt...
 

Und dann lässt Aya sein Buch sinken, schlägt es zu und blinzelt mich etwas verwirrt an. Er ist nicht mehr ganz dort, aber auch noch nicht ganz hier. Er wirkt auf einmal so normal, dass ich ihn automatisch kurz anlächle. Er erwidert das Lächeln leicht irritiert, ohne es wirklich zu merken, bevor er fragt: „Wo ist Ken hin?“

„Weg.“, antworte ich wenig aufschlussreich, aber Aya scheint ohnehin keinen besonderen Wert auf eine ausgiebigere Auskunft zu legen.

„Was machst du dann noch hier?“ Auch wenn es vielleicht so erscheint, er meint es nicht unfreundlich. Es scheint ihn wirklich zu interessieren.

Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht. Hab nichts besseres zu tun, fürchte ich.“
 

Ayas einzige Reaktion besteht darin, dass er wieder aus dem Fenster in den Nebel sieht und schweigt. Die Stille zieht sich hin, aber sie wirkt jetzt mehr wie ein Schweigen zwischen zwei Menschen. Vielleicht sogar ein bisschen wie zwischen zwei Menschen, die jederzeit miteinander reden könnten, wenn sie wollten, zwei Menschen, die sich gut verstehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie diese Art von Schweigen klingt...
 

Anstatt länger darüber nachzudenken, beschließe ich, es auszuprobieren.

„Aya?“

„Hm?“

„Was wolltest du vorhin sagen?“

„Wann?“

„Als Ken meinte, es sehe aus, als wäre die Welt untergegangen.“
 

Aya sieht mich ein wenig nachdenklich an, aber nicht so als denke er darüber nach, ob er es mir sagen will oder nicht, sondern als überlege er, wie er den Gedanken, den er vorhin hatte, in Worte fassen kann. „Es ist eher so, als wäre sie aufgegangen, alles sieht mehr so aus, wie es wirklich ist.“, sagt er dann leise und sieht wieder aus dem Fenster.

Ich bin überrascht von der Antwort. Nicht von ihrem seltsamen Inhalt, sondern von der Antwort selbst. Ich bin plötzlich froh, dass ich heute hier bin, jetzt, genau in diesem Moment und einfach schweigen kann. In meinem Schweigen schwingt Zustimmung mit, obwohl ich es nicht so sehe wie Aya. Aber auch das ist gut.
 

Die Welt hat sich über Nacht von einem bekannten Ort in etwas fremdes, überirdisches verwandelt. Die Stadt hat sich verwandelt. Sogar die Menschen sind anders als gewöhnlich. Alle scheinen in einem eigenartigen Zustand entrückter Melancholie zu schweben. Alles läuft langsamer ab als sonst. Oder anders. Oder gar nicht. Die Menschen bleiben lieber zu Haus, wenn sie können. Das Wetter rechtfertigt es. Sie sitzen an den Fenstern und sehen hinaus in den Nebel. Manche schlendern langsam, ruhig, wie betäubt zur Arbeit. Sie sehen die Dinge an, die sie zu kennen glauben, die Menschen, die sie zu kennen glauben.
 

Und sie staunen.



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