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Der Nähe so fern

Yohji & Aya
von

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Ikebana

(zum Chellange "Zwangsneurose")
 

Die Zwänge umgeben uns. Es ist nicht leicht zu entscheiden, was Zwang ist und was nur Gewohnheit. Betrachte die Dinge genau, bevor du urteilst.
 


 

Einer der Vorteile daran, in einem Blumenladen zu arbeiten ist es, die Blumen zum Einkaufspreis zu bekommen. Das ist praktisch, denn Blumen sind unwahrscheinlich teuer, besonders wenn man bedenkt, dass sie keinen praktischen Zweck erfüllen und nach spätestens einer Woche weggeschmissen werden.
 

Dennoch. Es werden viele Blumen gekauft. Zu allen möglichen Gelegenheiten. Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen, Geburten, Beerdigungen, Festumzüge, Feierlichkeiten, Krankenhausbesuche, Todestage, Trauermärsche, überall begleiten uns Blumen. Es muss also mehr geben, als nur den äußeren, den offensichtlichen Wert. Sie sind mehr als bloßer Schmuck.
 

Blüten sind Symbole. Zeichen der Freude, der Trauer, der Anerkennung oder Anteilnahme. Zeichen der Liebe. Prestigeobjekte. Man kann mit ihrer Hilfe Dinge sagen, ohne sie aussprechen zu müssen, Gefühle ausdrücken, die man nicht in Worte kleiden kann. Die Farbe, die Vielfalt, die Vergänglichkeit. Blumen sind Leben und Tod.
 

Trotzdem ist die Sache mit dem Preis der einzige Vorteil daran, in einem Blumenladen zu arbeiten. Der Job ist eintönig, nicht sehr rentabel und - wie der Einzelhandel mit allen verderblichen Waren - risikoreich. Als im letzten Sommer über Nacht die Kühlschränke ausgefallen sind, konnten wir am nächsten Morgen unseren halben Bestand wegschmeißen, wenn im Winter die Heizung ausfällt, hat das den gleichen Effekt. Der Markt ist heiß umkämpft, Großhändler drücken die Preise mit Dumpingangeboten. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, warum irgendjemand diese Arbeit hauptberuflich machen sollte.
 

Für die Kunst - also Ikebana - ist da keine Zeit. Von uns vieren ist allerdings Aya der einzige, der das kann oder sich auch nur dafür interessiert. Ich war nie ein großer Fan davon. Ikebana wirkt auf mich immer so... streng. Ich weiß, ich weiß, es geht um die Klarheit der Formen, aber ich habe Schwierigkeiten zu glauben, dass überhaupt irgendetwas klar ist, ganz zu schweigen von Gestecken. Natur sollte wild sein, frei und nicht in irgendwelche Formen gepresst. Aber vielleicht habe ich da auch etwas falsch verstanden.
 

Als ich nachts nach Hause komme, gehe ich am Laden vorbei und stutze. Mir ist so, als sähe ich, wie Licht durch die Ritzen im geschlossen Rollläden dringt.

Es ist schon spät, fast eins, also gehe ich zur Hintertür, um nachzusehen, ob eingebrochen wurde. Die Kasse wird zwar jeden Abend geleert, aber möglicherweise wissen die Einbrecher das ja nicht. Die Tür scheint unbeschädigt als ich sie erreiche, aber aus dem Lagerraum, der dahinter liegt, dringt deutlich sichtbar Licht durch die dicken, hochgelegenen Milchglasfenster.
 

Vielleicht ist es einer der anderen, jeder von uns hat einen Schlüssel. Wenn ich mir auch nicht erklären kann, was jemand um diese Zeit dort will. Zwar ist der Missionsraum im Keller unter dem Laden, aber wir haben die letzte Mission erst gestern abgeschlossen und ich weigere mich strikt, den Gedanken an ein paar ruhige Tage aufzugeben. Davon abgesehen, würde Kritiker hier nachts kein Treffen ansetzen. Welchen Sinn hat eine Tarnung, wenn man sie durch verdächtiges Verhalten in Gefahr bringt?
 

Ich schließe auf und öffne vorsichtig die Tür. Das grelle Licht der Neonlampen blendet mich im ersten Moment, dann aber erkenne ich Aya, der mit dem Rücken zu mir an einem der groben Holztische steht, an denen wir arbeiten. Er scheint mein Eintreten nicht bemerkt zu haben. Falls er es doch registriert hat, macht er sich nicht die Mühe, es in irgendeiner Form zu zeigen, selbst als ich näher komme.
 

Er hat sich über ein Gesteck gebeugt, der Rücken leicht gekrümmt, die Schultern seltsam angespannt. Sein Blick, sein ganzes Wesen ist auf seine Arbeit gerichtet, während seine Finger flink und präzise wie Teile einer fein abgestimmte Maschine hierhin und dorthin flitzen, Blüten und Stängel mit gemustertem Blattwerk aufnehmen, zurechtschneiden, in Position bringen, anordnen. Er wirkt konzentriert und doch geistesabwesend, mechanisch.
 

Ich beobachte oft, wie er dieses Stadium erreicht. Wenn er in seine eigene Welt entkommt und alles andere ausblendet. Es ist der Ort, den man im Geiste erreicht, an dem dein Handeln ohne bewusstes Denken abläuft, an dem du eins wirst mit dem, was du tust, weil du dich selbst vergisst. Es fällt Aya leicht, dorthin zu kommen, in manchen Situationen tut er es automatisch.
 

Früher bin ich manchmal selbst dort gewesen, als ich noch gezeichnet und gemalt habe. Es war nie mehr als ein Hobby für mich, aber manchmal habe ich diesen Zustand erreicht und bin hinterher wie aus einer Trance wieder zu mir gekommen. Es ist wie eine Ahnung von Vollkommenheit. Ich habe seit Jahren nicht mehr gemalt. Es wäre... seltsam. Es würde nicht zu dem Menschen passen, der ich jetzt bin. Aber vielleicht sollte ich auch versuchen wieder etwas mehr wie der Mensch zu sein, der ich einmal war. Ich weiß es nicht. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich dieses Ich schon vergessen.
 

Ich sehe, wie Aya plötzlich inne hält und mit den gleichen, exakten Bewegungen alles wieder auseinander nimmt. All die klaren, strengen Formen des Arrangements lösen sich nach und nach wieder auf, verschwinden. Seine Bewegungen werden ruckartiger, fahriger, dann zittern seine Hände. Plötzlich wirkt er nicht mehr ruhig, die Linie seiner Schultern, seines Rückens scheint eine ungeheure Energie nur mit Mühe zurückzuhalten. Was bis vor Sekunden noch in Balance war, droht nun zu kippen.
 

Dann stürmt er an mir vorbei, flüchtet sich in den Verkaufsraum, schlägt die Tür hinter sich zu. Ich folge ihm nach einigem Zögern. Er ist nicht wirklich unberechenbar, er ist widersprüchlich, aber ich bilde mir ein, ihn bis zu einem gewissen Grad zu verstehen. Er ist Perfektionist. Er kann nicht gut mit Fehlschlägen umgehen, besonders wenn ihm das, was er tut, wichtig ist. Ich will nicht unbedingt in seiner Nähe sein, wenn sein Geduldsfaden reißt, aber ich verstehe nicht wirklich, warum er hier nach Mitternacht an einem Gesteck arbeitet und ich bin ein außergewöhnlich neugieriger Mensch.
 

Als ich hereinkomme, muss ich mich erst umsehen, bevor ich ihn entdecke, wie er am Ende des Verkaufstresens auf den Boden sitzt und mit starrem Gesicht und gesenktem Kopf herabsieht. Frustriert. Deprimiert. Missmutig. Elend. Als ich näher komme, sieht er auf und versucht, mich mit seinem Blick zu durchbohren. „Was tust du hier, Kudoh?“
 

Ich höre den stummen Vorwurf in seiner Frage: Wenn du nicht hier wärst, wenn du mich nicht gestört, mich einfach in Ruhe gelassen hättest, dann hätte ich es geschafft, dann wäre es jetzt perfekt, vollkommen. Du verdirbst alles. Du zerstörst alles. Du bist schuld.
 

Manchmal ist er so kindisch. Unter all den Stacheln und der gespielten und echten Tapferkeit ist er so jung.
 

„Wie lange bist du schon hier?“, frage ich ihn, erhalte aber als Antwort nur ein Schulterzucken. Er wendet den Blick ab. Er muss schon sehr lange vergeblich daran arbeiten, wenn er so schnell aufhört, mir die Schuld zuzuschieben.
 

Mit einem leisen Seufzen setze ich mich neben ihn und folge seinem Blick, der auf den leeren Verkaufsraum gerichtet ist. Über Nacht sind die Kübel mit den Schnittblumen, die sonst immer den meisten Platz beanspruchen, in den Kühlschränken.
 

Es ist seltsam diesen Raum, der tagsüber immer mit frischen Blumen und schnatternden Schulmädchen gefüllt ist, jetzt zu sehen. Leer. Nur der Geruch nach feuchter Erde und leicht modrigem Wasser ist ähnlich, doch selbst er ist ohne den Duft der Blumen nicht derselbe.

„Woran arbeitest du?“, frage ich, aber Aya schweigt nur. Ich hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet.
 

Umso mehr überrascht es mich, dass er nach einiger Zeit doch noch antwortet. „Morgen ist ihr Geburtstag.“, sagt er sehr leise, sodass ich mich anstrengen muss, um es zu verstehen, obwohl es im Laden absolut still ist.
 

„Wie alt wird sie?“, frage ich, mehr um überhaupt irgendetwas zu sagen als weil es mich wirklich interessiert. Ich denke zurück an mein Gespräch mit Ken. Ich musste ihm das wenige, was er über Aya und seine Schwester weiß, buchstäblich aus der Nase ziehen. Ken ist niemand, der hinter ihrem Rücken über andere spricht oder Dinge über einen ausplaudert, die andere nichts angehen. Es ist eine seiner besten Eigenschaften, aber meine Güte, hat es mich Überredungskunst gekostet, ihn davon zu überzeugen, dass mich Ayas Vergangenheit etwas angeht.
 

Aya sieht mich abschätzend an, als erwöge er, ob ich es wert bin, mir diese persönliche Information anzuvertrauen. Was geht dich das an?, fragt sein Blick. Warum willst du das wissen?
 

„Siebzehn.“, sagt er dann und mir wird in diesem Augenblick klar, dass ich nicht einmal genau weiß, wie alt Aya selbst ist und dass ich Ken auch nicht nach seinem richtigen Namen gefragt habe. Manchmal weiß ich wirklich nicht, was mit mir los ist. Vielleicht kann ich nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden. Aber es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich eine Ahnung davon, wer Aya ist, die über bloße Fakten hinausgeht und diese unwesentlich erscheinen lässt.
 

Aya ist so perfektionistisch, dass es schon ans neurotische grenzt. Er weiß oft nicht, was er tun soll, er hat Angst und ist verzweifelt, wie alle anderen, aber man sieht es nicht. Er versucht alles vor der Welt zu verstecken, sich von allem zu entfernen, bis es nur noch ein ferner Traum ist, den er durchwandelt, abgesehen von den wenigen Dingen, für die er lebt. Es ist, als wäre er nicht ganz da. Es ist nicht schwierig, diesen Aya zu sehen, aber man muss genau hinschauen. Er ist fast ganz versteckt hinter dem harten, kalten Aya, dem Aya, der selten die Fassung verliert, dem, der für Geld tötet.
 

Ich schrecke aus meinen Gedanken auf, als Aya aufsteht und wieder in den Lagerraum zurückkehrt. Ich werfe noch einen letzten Blick auf den leeren Verkaufsraum, bevor ich das Licht ausschalte und ihn verlasse. Die Tür macht kaum ein Geräusch, als sie sich schließt. Ich nähere mich Aya und sehe ihm über die Schulter, während er weiter an dem Gesteck arbeitet. Er ignoriert mich und ich sehe dabei zu, wie er sich wieder verliert, wie er zwei weitere Arrangements erschafft und wieder zerstört, ohne dass ich erkennen kann, was er an ihnen auszusetzen haben könnte.
 

„Ich kann nicht arbeiten, wenn du dabei bist.“, behauptet er. Er presst die Worte zwischen den Zähnen heraus, sein Mund eine dünne, harte Linie.

Ich lege eine Hand auf seine Schulter, aber er wird nur noch angespannter und ich ziehe sie schnell wieder zurück. „Es muss doch nicht perfekt sein.“, versuche ich ihn zu besänftigen. Es ist ja nicht so, dass seine Schwester es tatsächlich sehen könnte. Allerdings denke ich nicht, dass es eine gute Idee wäre, ihn darauf hinzuweisen.
 

Er wirft mir einen ausgesprochen giftigen Blick zu und arbeitet stumm und verbissen weiter. Fängt ein neues Arrangement an, indem er die ersten Blumen auswählt. Offensichtlich muss es doch perfekt sein und wenn er hier bis morgen früh steht.

„Vielleicht konzentrierst du dich zu sehr darauf.“, meine ich. „Du solltest das ganze ein wenig lockerer angehen.“

Aya sieht wieder auf, diesmal abfällig. Falls das Wort locker in seinem Wortschatz existiert, hat es keine sehr positive Bedeutung.
 

„Warum überhaupt Ikebana?“, frage ich ihn. „Es ist so streng. Die Mädchen in unserem Laden finden die größeren, bunten Sträuße sowieso schöner.“

Er schüttelt den Kopf, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. „Es ist ein Geschenk. Von mir.“, murmelt er und ich verstehe plötzlich. Ein Geschenk, etwas persönliches, eine Botschaft, ein Gebet, kein hübscher bunter Schnickschnack, kein Strauß, den man einer Kranken ins Zimmer stellt. Aya macht keine leichtfertigen Geschenke.
 

„Du verstehst das nicht.“, fährt er fort. „Du bist so unordentlich.“

Es ist keine Beleidigung. Aya empfindet vermutlich sein Bedürfnis nach Ordnung als Schwäche. Vielleicht denkt er wirklich, ich wäre frei davon, aber in Wirklichkeit folge auch ich meinen Mustern, festgefahren, unfähig mich davon loszulösen. Unsere Gewohnheiten, die Anker, die uns Halt geben und uns fesseln.
 

Ich erwidere nichts und sehe zu, wie die Pflanzen in der flachen Schale zurechtgerückt werden, wie etwas Gestalt annimmt, das sowohl wild als auch gezähmt ist, künstlich und natürlich, frei und doch in einer festen Form gebunden, ein winziger Teil von etwas viel größerem und doch etwas besonderes und einzigartiges in sich. Es ist eine Verbindung der Widersprüche. Antithesen, die sich gegenseitig aufheben. Vollkommenheit. Das ist Ikebana? Mir wird klar, dass ich es bis heute nicht verstanden habe.
 

Als es fertig ist, bemerkte ich, wie Aya es wieder auseinandernehmen will. „Warte, sieh es dir doch erst mal richtig an.“, fordere ich ihn auf.

Aya wirkt genervt, verschränkt die Arme vor der Brust und starrt das Gesteck unzufrieden an.

„Es ist perfekt. Siehst du das nicht?“, frage ich fast schon verzweifelt. Ich weiß nicht, warum mich die Vorstellung so krank macht, er könnte es wieder auseinandernehmen und noch mal von vorn anfangen.
 

Aya sieht mich mit einer Spur Verwunderung an, dann schaut er wieder unentschlossen auf die Pflanzen. Dann, von einem Moment auf den anderen, verändert sich etwas in seinem Blick. Seine Augen weiten sich leicht, seine Mimik, seine ganze Haltung entspannt sich. Er wirkt auf einmal todmüde, aber dennoch gelöst und zufrieden.
 

Ein winziges Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht.



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