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Dritter Teil: Das Licht der Welt

Fortsetzung von "Du kennst mich nicht und doch hasst du mich" und "Gift in Körper und Seele"
von

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Schritt für Schritt

Kurze Zeit später, wurde Joey wieder durch den Flur dirigiert. Auf einmal war es ein merkwürdiges Gefühl, den Druck der glühenden Fingerkuppen auf den Schultern zu spüren. Vorsichtig ging Joey vorwärts, die Hände hielt er vor den Hüften ineinander gefaltet. Nun trug er Shorts und ein weites Hemd, was wesentlich angenehmer war, als halbnackt zu sein.

"Treppe", murmelte Lee leise, als er Joey um eine Ecke schob.

Aufmerksam tastete dieser mit den Füßen nach der ersten Stufe und stieg sie hinab. Lee's Hände zitterten stärker, seit er mit den Kleidern zurückgekehrt war. Joey spürte es genau und es beunruhigte ihn. Auch der schwere, beinahe röchelnde Atem drang an seine Ohren. Auf ihn konnte Joey jedoch nicht mehr lange achten, denn von unten aus dem Erdgeschoss, hörte er nun die Stimmen jener Männer.

Er vernahm Gelächter, ebenfalls andere Geräusche, als wenn Flaschen aneinanderklirrten. Unbewusst stemmte er sich etwas gegen Lee. Nun, da er wusste, wer diese Männer waren, ängstigte ihn deren Anwesenheit umso mehr. Doch Lee zwang ihn mit einem geschwinden Druck zum Weitergehen. Nach wenigen Stufen steigerte sich das Gelächter in der Lautstärke und bald konnte Joey mit Hilfe dieser ausmachen, wann sie die Treppe hinter sich hatten. Erneut lotste Lee ihn um eine Ecke und als Joey nach der nächsten Stufe tastete, verstummte das Gelächter augenblicklich.

Leicht nervös hob Joey den Kopf und nach dem nächsten Schritt fühlte er unter seinem Fuß den kratzigen Stoff eines Teppichs. Er wollte weiter, weg von den Männern, weiter in sein Zimmer. Noch ein Schritt gelang ihm, dann plötzlich quietschte ein Stuhl und die Finger, die auf Joeys Schultern lagen, befahlen ihm durch einen schmerzhaften Druck, stehen zu bleiben. Sofort gehorchte Joey, die Finger lösten sich von seinen Schultern und er vernahm ein einschätzendes Murmeln, das aus mehreren Richtungen zu kommen schien. Unsicher streiften seine Pupillen durch die Umgebung und als er einen kühlen Luftzug spürte, richtete er sie direkt nach vorn. Dort war jemand stehen geblieben.

Er wusste es...

Langsam richtete er sich aus der zusammengesunkenen Haltung auf, ballte die Hände zu Fäusten und runzelte die Stirn.

Diese Typen... er konnte sie nicht ausstehen! Hegte tiefste Verachtung für sie, wenn er sich nur vorstellte, zu was sie Lee gezwungen, oder was sie ihm gar selbst angetan hatten! Seine Miene verfinsterte sich. Er spürte regelrecht, wie sich ein Blick musternd auf ihn richtete. Nur flüchtig besah sich der Schwarzhaarige den jungen Mann von Kopf bis Fuß, wurde auf das Haar aufmerksam und hob die Hand, um nach einer der Strähnen zu greifen. Er erwischte eine der vorderen und sobald Joey diese Berührung spürte, zog er den Kopf weg; die Strähne entglitt den rauen Fingern.

"Pfoten we..."

Weiter kam er nicht, denn unvorhergesehen rammte sich eine geballte Faust in seinen Magen. Von der Wucht erfasst, stolperte Joey zurück und Lee trat zur Seite, bevor er gegen ihn stoßen konnte. So schlug der Blonde auf den Stufen auf, stöhnte schmerzvoll und krümmte sich nach vorn, beide Arme um den Bauch schlingend.

>Verdammt, ich hab nur den Kopf zurückgezogen!!< Keuchend biss er die Zähne zusammen und kämpfte um Sauerstoff, den der Schlag ihm geraubt hatte. >Was soll der Scheiß?!<

Lee hatte das Geschehen verfolgt, ohne mit der Wimper zu zucken. In sicherer Entfernung zu dem Mann, stand er dort und betrachtete sich Joey ungerührt.

"Kleine Mistkröte." Der Brünette, der es sich am Tisch gemütlich gemacht hatte, schüttelte amüsiert den Kopf und hob die Zigarette zum Mund. Der andere, der in einem alten Sessel kauerte, stieß einen argen Fluch aus und fuhr sich durch den Schopf.

"Dem werden wir noch Manieren beibringen!", fauchte er.

"Und du miese Ratte hast es anscheinend noch nicht für nötig gehalten, ihm unsere Regeln einzubläuen!" Rasend vor Wut, trat der schlagfreudige Mann auf Lee zu, der sofort zurückwich. "Wie bescheuert bist du eigentlich?! Hast du kein Hirn im Schädel, du Arschloch?!"

Er näherte sich Lee weiterhin und bevor dieser weiter zurücktreten konnte, hatte er ihn mit einem großen Schritt erreicht. Die wuchtigen Hände schlugen sich brutal in das Hemd und mit einer schnellen und unheimlich kraftvollen Bewegung, rammte er den jungen Mann hinterrücks gegen die Wand. Lee machte den Anschein, als würde er sogleich zu Eis erstarren, als wäre er zu keiner einzigen Bewegung mehr fähig. Geräuschvoll brach der hastige Atem aus ihm heraus, von der Angst ergriffen, richteten sich die geweiteten Augen auf die des Mannes. Dieser schrie weiter und Joey richtete sich benommen auf.

"Hast wohl immer noch nicht genug, hä?? Was sollen wir mit dir Hurensohn noch anstellen, damit du endlich unsere Befehle befolgst und..."

"Hey!" Joey kämpfte sich in eine aufrechte Haltung und verengte die Augen. "Es ist meine Schuld, okay?? Wenn du ihn nicht sofort in Frieden lässt, dann..."

"Halts Maul!", wurde er unterbrochen.

Jedoch nicht von einem der Männer, nein... von Lee. Mit bebendem Atem biss dieser die Zähne zusammen und lugte zitternd zu ihm.

"Lee, du kannst dir das doch nicht gefa...!!"

"Du sollst das Maul halten!!"

Bevor Lee ausgesprochen hatte, löste der Mann die Hände aus dessen Shirt und stürzte auf Joey zu. In dieser Sekunde sprang jedoch der Mann am Tisch auf.

"Fass ihn nicht an, Rick!!", schrie er wütend, stand mit einem Satz vor diesem und packte ihn. "Welcher Kunde soll ich für ein blaues und blutendes Häufchen Elend interessieren?!"

"Ich prügle ihn tot!!" Rick versuchte sich loszureißen.

Nun mischte sich auch der Dritte ein und mit vereinter Kraft gelang es ihnen, den Wütenden zurückzudrängen. Gleichzeitig sank Lee von allen Kräften verlassen, zu Boden. Joey lauschte dem Geschrei angespannt.

"Jetzt reiß dich zusammen, man!! Denk an den Profit, den wir mit ihm machen werden!! Nach ein paar Freiern wird er genau so um Gnade winseln, wie diese Witzfigur!!" Der Brünette bedachte Lee mit einem flüchtigen Blick.

"Du kannst ihn zusammenschlagen, wenn er uns genug Geld gebracht hat und wir ihn nicht mehr brauchen!", fluchte der andere. "Lass deine Wut solange an dem Krüppel aus, wenn es nicht anders geht!! Aber den Frischling rührst du nicht...!!"

Er verstummte, als ein leises Zischen an seine Ohren drang. Auch die anderen hielten inne und beinahe gleichzeitig drehten sie sich um. Entkräftet neigte sich Lee nach vorn. Seine Arme umschlangen krampfhaft den Magen und nach einem leisen Würgen, begann er schmerzhaft zu stöhnen. Die langen Strähnen fielen in das blasse Gesicht, als er weiter vorn über sank, bis seine Stirn den Boden berührte. Zusammengekrümmt und betäubt vom Schmerz, verharrte er in dieser Haltung, seine Miene verzerrte sich. Fassungslos öffnete Joey den Mund, seine Augen starrten geweitet ins Leere.

>Lee...?!<

"Verdammt noch mal!" Der Brünette raufte sich die Haare. "Geht das schon wieder los!"

"Warum beseitigen wir den nicht endlich?" Der Schwarzhaarige stöhnte entnervt und gestikulierte mit den Händen. "Was bringt er uns noch, nun, da wir Nachschub haben!"

Joey schnappte nach Luft, seine Hände tasteten unsicher nach den Kanten der Stufen, auf denen er kauerte. Der andere Mann näherte sich Lee währenddessen in schlendernden Schritten.

"Wenn es doch wenigstens mit ihm zu Ende gehen würde!", fluchte er und stieß die Spitze seines Schuhes in Lee's Seite, worauf dieser laut ächzte. "Dann könnten wir ihn in den Wald werfen und damit wäre es getan!"

"Auf der anderen Seite, bringt selbst er uns noch Geld", stellte der Brünette unzufrieden fest. "Wenn auch nicht besonders viel..."

"Schleifen wir ihn hoch, damit er uns hier nicht mit seinem Gejammer stört!" Auch der Schwarzhaarige trat näher.

"Lee...?" Stockend tastete sich Joey über die Stufen und schob sich tiefer. Bevor er Lee jedoch erreichen konnte, wurde er von einem der Männer am Handgelenk gepackt und auf die Beine gezerrt.

"Komm mit!"

"Verfluchter Drecksack, lass mich los!!" Joey stemmte sich in die andere Richtung, als er an Lee vorbeigezogen wurde. Doch seine Kraft genügte nicht, um stand zuhalten, nur ein ruppiges Ziehen war von Nöten und schon stolperte er nach vorn, stolperte hinter dem Mann her, der auf den Flur zusteuerte. Keuchend drehte er sich um und schaute zurück. "Lee!", panisch schweiften seine Pupillen von einer Seite zur anderen, als er den Arm ausstreckte. "Lee!!"

Selbst, als er bereits durch den Flur gezerrt wurde, vernahm er diese schrecklichen Geräusche. Dieses Ächzen, dieses Stöhnen, als würde Lee vor Schmerzen den Verstand verlieren! Noch einmal schrie Joey seinen Namen, dann erreichte der Mann jene Tür, riss sie auf und stieß ihn in den dahinter liegenden Raum. Joey fand kein Gleichgewicht, er stolperte nach vorn und stürzte. Und noch während er auf dem Boden aufschlug, flog hinter ihm die Tür in die Angeln zurück.
 

"Ich warte jetzt schon seit drei Minuten!!" Am Ende der Nerven sprang Kaiba auf. Er hatte eine Polizeistation aufgesucht, die gleichzeitig auch die einzige Thüringens und von insgesamt zehn einsatzfähigen Polizisten bemannt war. Nun stand er in einer zum Warteraum umgebauten Ecke, schrie in einen schmalen Gang hinein und lenkte so die Aufmerksamkeit der wenigen Anwesenden auf sich. Zwei Polizisten blieben stehen und ließen irgendwelche Unterlagen sinken, aus einem der Büros lehnte sich ein anderer. Die Reisetaschen stehen lassend, steuerte Kaiba auf einen der Polizisten zu.

"Ich will sofort mit Ihrem Vorgesetzten sprechen!", fuhr er diesen an. "Es erscheint mir nicht so, als würden hier große Arbeitstätigkeiten herrschen! Weshalb sollte ich länger warten, obwohl ich ein wirklich dringendes Anliegen habe?!"

Der Polizist hob die Augenbrauen.

"Worum handelte es sich gleich noch mal?"

"Um einen Vermissten-Fall!", fauchte Kaiba und ballte die Hände zu Fäusten. "Wie oft soll ich das noch sagen?! Man bringt mir hier eine ungeheure Unverschämtheit entgegen!! Wenn Sie mich nicht sofort zum Vorgesetzten führen, dann..."

Der Polizist drehte sich um.

"Ist Schmidt da?", wandte er sich lässig an den, der aus dem Büro lugte.

"Glaub schon", kam die ebenso ruhige Antwort.

Währenddessen stieß Kaiba ein dumpfes Stöhnen aus und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Der Polizist murmelte etwas Unverständliches und wandte sich ab.

"Folgen Sie mir."

Kaiba atmete tief durch, klammerte sich mit der letzten ihm verbleibenden Kraft an die Geduld und tat es. Hinter dem Mann ließ er den Flur zurück, bog um eine Ecke und schien nach einem kurzen Weg das Ziel zu erreichen. Der Polizist klopfte an eine Tür, öffnete diese sogleich und trat ein. Hinter der Tür erstreckte sich ein kleines Büro, in dem nahezu gähnende Leere herrschte. Nur ein Schreibtisch und wenige Regale, die kaum benutzt wurden. Viel Unterlagen, beziehungsweise Akten, schienen nicht vorhanden zu sein. Hinter dem Schreibtisch lehnte ein korpulenter Mann in einem alten Lederstuhl, der sich genüsslich eine Bratwurst schmecken ließ und von der Störung nicht sehr begeistert zu sein schien. Er runzelte die Stirn und Kaiba folgte dem Polizisten in den Raum, wo er sogleich vorgestellt wurde. Der junge, beinahe zu junge Mann, wies mit einer knappen Kopfbewegung auf ihn.

"Er hat ein Anliegen."

Der Polizeichef musterte Kaiba flüchtig und desinteressiert, bevor er leise brummte und die Bratwurst sinken ließ.

"Ich habe Pause."

Der junge Polizist zuckte mit den Schultern und wandte sich an Kaiba.

"Tja, wie Sie sehen, werden Sie sich wohl noch einen Moment gedulden mü..."

Er verstummte, als Kaiba in schnellen Schritten an ihm vorbeizog, flink den Schreibtisch erreichte und sich förmlich vor dem Polizeichef aufbaute.

"Hören Sie!", stieß er drohend aus und rammte die Faust auf das raue Holz hinab. "Ich verlange, dass Sie sich mein Anliegen sofort anhören und entsprechend handeln! Im Gegensatz zu Ihnen habe ich keine Zeit, die ich vergeuden kann! Ich lasse mich nicht vergackeiern... und zur Hölle noch mal, stecken Sie die gottverdammte Bratwurst weg!"

"Immer mit der Ruhe." Der Polizeichef kaute weiter, zeigte sich wenig beeindruckt. Jedoch schickte er den jungen Polizisten mit einer trägen Bewegung nach draußen und richtete sich ebenso lahm auf. Anschließend schickte er Kaiba einen mürrischen Blick und biss in die Bratwurst, worauf der Ketschup auf einige wahrlose Blätter tropfte. Die Miene des jungen Japaners verdunkelte sich wutentbrannt.

"Sie können hier nicht so einfach auftauchen und verlangen, dass man sich sofort mit Ihnen befasst." Mit einer faulen Bewegung wischte der dicke Mann den Ketschup weg. "Wie heißen Sie eigentlich."

"Ich bin Seto Kaiba!", kam die fauchende Antwort. "Und ich habe sehr wohl das Recht, so etwas zu verlangen!" Kaiba presste die Lippen aufeinander und stützte sich auf den Schreibtisch, den Mann scharf fixierend. "Ein Bekannter ist verschwunden! Jemand, der kein Wort Deutsch spricht, sich hier nicht auskennt und möglicherweise sogar blind ist! Sehen Sie das als dringendes Anliegen an?!"

Der Polizeichef rümpfte die Nase.

"Seto Kaiba... mm... hab schon mal von Ihnen gehört."

"Was tut das zur Sache!", stieß Kaiba erschöpft aus. Er wünschte sich, laut schreien zu können, seine Fingernägel bohrten sich in das Holz.

"Wie lange ist denn Ihr 'Bekannter' schon verschwunden." Mit einer routinierten, beinahe schon gelangweilten Miene, begann der Mann in einem der fast leeren Schubfächer zu wühlen. Diesmal zögerte Kaiba mit der Antwort. Seine Miene verzerrte sich säuerlich, als er die Augen verengte und die Nase rümpfte. Erneut holte er tief Atem, bevor er sich aufrichtete.

"Seit knapp vier Stunden."

Daraufhin hielt der dicke Mann in jeglichen Bewegungen inne und wollte anheben, doch Kaiba unterbrach ihn schnell, indem er hastig den Kopf schüttelte.

"Jetzt lassen Sie diese bescheuerte Regelung außer Acht! Wenn ich weitere zwanzig Stunden warten muss, bis die Suche eröffnet wird, komme ich um den Verstand!"

Der Polizeichef brummte; die Bratwurst wanderte langsam zu seinem Mund zurück.

"Verdammt, anstatt hier tatenlos spazieren zu gehen, könnten sich Ihre Männer nützlich machen! Ich kenne mich in diesem Dorf nicht aus und bin auf Ihre Hilfe dringend angewiesen!"

Kauend runzelte der Mann die Stirn, Kaiba stand keuchend vor ihm.

"Herr Kaiba, ich bin ein Mann, der seinen Job sehr ernst nimmt." Wieder tropfte Ketschup vom Brötchen. Interessiert suchte der Polizeichef nach dem Fleck auf seiner Hose. "Mein Job ist es, die Gesetze zu vertreten und ich werde gegen keines dieser Gesetze verstoßen, es auch nicht 'außer Acht lassen'. Ich bitte Sie, wie würde ich denn da stehen, wenn ich..."

"Jedenfalls nicht schlechter, als Sie es bereits tun!", fauchte Kaiba verächtlich.

"Mm...", er wurde fündig, wischte kurz und richtete sich auf, "ich sage Ihnen, was Sie jetzt tun können. Suchen Sie sich hier eine Bleibe, entspannen Sie sich und warten Sie die zwanzig Stunden. Danach verspreche ich Ihnen, mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, an der Suche zu beteiligen."

"Das ist nicht Ihr Ernst." Kaiba schüttelte ungläubig den Kopf.

Der Polizeichef jedoch, zuckte lediglich mit den Schultern.

"Wer weiß? Vielleicht ist es gar nicht so schlimm?"

"Wie bitte...?" Kaiba erstarrte.

"Vielleicht hat sich Ihr Bekannter nur kurz aus dem Staub gemacht? Vielleicht wollte er sich mal zurückziehen und kommt bald zurück. Dazu gibt es ja die Regel mit den vierundzwanzig Stunden."

"Er ist möglicherweise erblindet!", fauchte Kaiba.

"Manche Menschen sind doch auf ihre Augen überhaupt nicht angewiesen", begann der Polizeichef zu philosophieren. "Manche Blinde kommen sogar besser klar als Sehende. Das ist nun wirklich kein Grund, um..."

Einen japanischen Fluch zischend, drehte sich Kaiba einmal um die eigene Achse. Er raufte sich die Haare, beugte sich nach vorn und taxierte den dicken Mann brennend.

"Hören-Sie!", stieß er aus. "Es ist mir scheißegal, was Sie davon halten! Wenn er wirklich blind sein sollte, dann ist er es erst vor kurzem geworden! Wer weiß, was er in diesem Schreckensmoment getan hat! Jedenfalls hockt er ganz sicher nicht auf eine Wiese und pflückt Blumen!! Als ein Mann, der seinen Job ernst nimmt, müssten Sie auch dieses Anliegen ernst nehmen!"

"Werden Sie nicht frech!" Der Mann schob sich den Rest des Brötchens in den Mund. "Wenn iff fies wär, würd iff fagen, daff mir Ihre Meinung auch feifegal iff, aber..."

Donnernd ging Kaibas Faust auf den Schreibtisch nieder, ein vereinsamter Stiftehalter erzitterte.

"Ich sehe es schon! Mit Ihnen kann man nicht darüber reden! Ich werde meine Zeit sicher nicht damit vergeuden, mit Ihnen dämliche Gespräche zu führen, die zu nichts taugen, mich um keinen Millimeter voranbringen! Ich will Joseph finden und werde alles tun, damit ich das schaffe!!"

Der Polizeichef knurrte wütend.

"Viel Glück."

Langsam richtete sich Kaiba auf, zitternd ballten sich die Hände und seine Vernunft klammerte sich verzweifelt um das letzte Fünkchen der Geduld, von der er seit vier Stunden sehr wenig besaß. Er stand dort und schwieg verbissen, der Polizeichef erwiderte seinen Blick düster, beinahe unbeteiligt. Mit viel Anstrengung gelang es Kaiba, den Atem zurückzuhalten, der aus ihm herausbrechen wollte, Schimpfwörter und Flüche unausgesprochen zu lassen.

Verkrampft biss er die Zähne zusammen, die knirschten.

"Gut." Er nickte, erst langsam, dann schneller. "Toll... das ist... wirklich toll."

Mit diesen Worten schickte er dem hilfsbereiten Mann einen tödlichen Blick und wandte sich ab.

>Das ist nicht wahr!< Zog es ihm durch den Kopf, als er die Tür wütend in die Angeln zurückschmetterte und durch den Flur eilte. >Das kann nicht sein!! Das ist ein Alptraum!!<
 

>Joseph Wheeler! Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!!< Zusammengekauert hockte Joey auf dem Bett. Die Beine hatte er angewinkelt und zu sich gezogen, so weit es ihm möglich war. Das Gesicht hielt er zwischen den Knien verborgen, die Hände verdeckten krampfhaft die Ohren. Er zitterte am ganzen Leib. Seit einer unendlich erscheinenden Zeit, zogen Nerven zerreißende Laute durch das Haus. Gellendes Schreien, klägliches Wimmern, gepeinigtes Ächzen...

Seit einer unendlich erscheinenden Zeit sah sich Joey dieser Nervenfolter hilflos aufgeliefert. Ob er die Ohren verdeckte oder gar die Decke über den Kopf zog... er hörte alles!

>Reiß dich zusammen!! Es bringt dir nichts, wenn du vor Angst schlotterst!< Nur mit großer Anstrengung brachte er diese Gedanken erneut zustande, auch wenn sie sich in diesen Sekunden mehr als unglaubwürdig zeigten. Viel eher wirkten sie wie eine verzweifelte Selbstbelügung. Doch genau das war Joey: verzweifelt!

Sie hatten Lee nach oben geschleppt und dennoch hörte er sein Leiden! Nicht selten vernahm er auch das Klirren eines gläsernen Gegenstandes...

Das Schlimmste jedoch... war das Lachen der Männer, die sich in der Küche ihrem Bier hingaben!!

Sie scherten sich einen Dreck darum, was in der ersten Etage geschah! Sie ließen sich nicht einmal stören! Als wären sie dergleichen gewöhnt!!

Verkrampft biss die Joey die Zähne zusammen und unter einem gedrungenen Ächzen, ließ den Kopf noch tiefer sinken, presste das Kinn auf die Brust und schob die Hände weiter zum Nacken, wo er sie hastig ineinander faltete.

>Also... also zeig etwas Optimismus...< Gehetzt schnappte er nach Luft, ein Nerven zerreißender Schrei ließ ihn zusammenzucken. >Und... und wenn das nicht funktioniert... dann sei wenigstens entschlossen, dich zu wehren...<

Nachdem der Schrei ausgeklungen war, folgte eine ungewohnte, nahezu gespenstische Stille. Joey verharrte reglos und lauschte angespannt.

Diese Lautlosigkeit...

In der Küche brachen die Männer in schallendes Gelächter aus, in der ersten Etage jedoch, herrschte Stille. Seit einigen Minuten hatte sie nicht mehr so lange angedauert.

>Lee...< zitternd lockerten sich die Hände, lagen alsbald entspannt ineinander gefaltet, auf dem Nacken des Blonden. >Wie soll ich zum Widerstand entschlossen sein, wenn ich Zeuge deiner Mutlosigkeit und deines Leidens werde?!< Unter einem gequälten Seufzen, spreizten sich die Finger voneinander. >Wer schenkt mir in so einer Situation Kraft?!<
 

"Pikotto...", langsam ließ Kaiba die Zigarette sinken.

Er kauerte in einem großen Sessel, die Füße hatte er auf einen kleinen Tisch gelegt. Er hatte eine "Bleibe" gefunden. Eine Bleibe, anders konnte man es nicht nennen. Nur ein kleines Zimmer und ein Bad. Durch die wenigen Spalten der zugezogenen Gardinen konnte man die Finsternis erkennen, die vor den Fenstern lag. Ja, es war tiefe Nacht. Seit langer Zeit war Kaiba nicht mehr aufgestanden, an seinem Ohr hielt er träge das Handy, die Finger der anderen Hand hielten die Zigarette, die den kleinen Berg des Aschenbechers weiter ansteigen lassen würde. Niedergeschlagen und erschöpft starrte Kaiba auf die dunkle Decke des Zimmers, nur eine kleine Lampe brannte. In der Leitung herrschte Stille. Langsam atmete Kaiba ein, blinzelte müde und hob die Zigarette erneut zum Mund, ein leises Rauschen, ein Atemzug auch in der anderen Leitung.

"Was willst du tun?", erkundigte sich eine ruhige Stimme.

Als Kaiba den Mund einen Spalt weit öffnete, stieg sogleich der Rauch gen Zimmerdecke auf. Abwesend betrachtete er ihn sich und kurz darauf zog ein Grinsen an seinen Lippen.

"Wollen tue ich viel", flüsterte er. "Die Frage ist, was KANN ich tun. Die Polizei ist nicht dazu bereit, sich vorzeitig an einer Suche zu beteiligen. Soll ich das Dorf durchlaufen und dabei jeden, der mir entgegenkommt, Fragen stellen? Zumal es möglich ist, dass Joseph....", er verstummte und seine Miene verlor an Ausdruck, während seine Augen den Strukturen des aufsteigenden Rauches folgten.

"Was ist möglich?", meldete sich Pikotto nach kurzer Zeit zu Wort.

Als hätte Pikotto diese Frage nie gestellt, regte sich Kaiba nicht. Gemächlich glitten seine Pupillen höher, bis der Rauch an Struktur verlor und die schweren Nebelschwaden verfestigte, die leblos im Raum trieben.

"... nicht einmal mehr in diesem Dorf ist", hauchte er beinahe lautlos.

"Woher willst du das wissen?" In der Leitung ertönten Geräusche, das Klicken eines Feuerzeuges. "Vielleicht ist er ganz in deiner Nähe und du weißt es nur nicht."

"Was ist, wenn ihm etwas zustieß?" Kaiba schloss die Augen und lehnte sich erschöpft zurück. Daraufhin herrschte lange Stille, die hin und wieder nur durch das leise Atmen unterbrochen wurde.

"Du meinst wirklich, dass er blind ist?"

"Eine andere Erklärung sehe ich nicht", antwortete Kaiba sofort. "Was hätte er für einen Grund, fortzugehen? Keinen, und das ist es! Er hat sogar das Camp verlassen! Ein Moment unüberlegt handeln, sich von der Panik leiten lassen. Dann geht etwas Derartiges schnell. Welche Panik? Die Panik durch das plötzliche Erblinden. Hast du eine bessere Idee?"

"Mm..."

"Jetzt stehen wir immer noch vor der gottverdammten Frage, was ich unternehmen soll." Beiläufig drückte Kaiba die Zigarette aus und fuhr sich durch das Haar. "Ich kann hier nicht einfach herumsitzen und die zwanzig Stunden abwarten! Zwanzig Stunden, verdammt noch mal! Weißt du, was das für eine lange Zeit ist, wenn man sich in so einer verfluchten Situation befindet? Andere Polizeistellen gibt es in der Nähe des Dorfes nicht! Nicht einmal über fünfzig Einwohner scheint es zu haben! Kaum jemanden, den ich für die Suche vielleicht gewinnen könnte! Aber ich werde nicht vorankommen, wenn ich spazieren gehe und jeden einzelnen frage!"

"Falls Josephs Verschwinden wirklich der Mithilfe anderer Menschen zu verdanken ist", begann Pikotto zu grübeln, Kaiba biss sich auf die Unterlippe, "... dann sollten wir versuchen, uns in deren Lage zu versetzen."

"In deren Lage?!" Kaiba fuhr in die Höhe. "Wir wissen nicht, ob andere Menschen daran die Schuld tragen, geschweige denn, was sie mit seiner Entführung gedenken würden, zu erreichen! Wie soll ich mich in deren Lage versetzen, obwohl ich keine Ahnung von alledem habe?!"

"Beruhige dich", brummte Pikotto grüblerisch. "Ich wollte damit lediglich sagen, dass du abgelegenere Orte aufsuchen solltest. Nur wenige, die einen Menschen entführen, verstecken diesen in ihrem Haus. Zumeist existiert ein geheimes Versteck, das unauffällig genug ist."

"Du hast Recht, so beschränkt sich die Suche." Kaibas Blick richtete sich auf eine kleine Wanduhr. "Dann nehme ich mir einen weniger bewohnten Teil des Dorfes vor."

Somit richtete er sich auf und erhob sich. Pikotto hatte die Geräusche gehört.

"Willst du die Suche sofort fortsetzen?"

"Tse." Kaiba war bereits auf dem Weg zur Tür, nebenbei schnappte er nach einem kleinen Schlüssel, der auf einer Kommode lag. "Bis es hell wird, sind es noch fünf Stunden. Die Zeit kann ich nicht mit schlafen verschwenden, geschweige denn, ich schaffe es, in den Schlaf zu finden." Er öffnete die Tür, trat in das dunkle Treppenhaus und schloss sie sogleich hinter sich. "Wenn ich das tue, dann kann ich auch gleich die restlichen fünfzehn Stunden untätig herumsitzen."

"Mm."

In eiligen Schritten stieg Kaiba die Treppen hinab und erreichte schnell das Erdgeschoss. Dort verlangsamte er den Gang, sein Blick sank nachdenklich, beinahe verbissen auf den düsteren Boden und dann blieb er stehen.

"Pikotto", sagte er leise. "Das ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, meine Macht wäre keinen Pfifferling wert."
 

Bald erhob sich die Sonne hinter den Bergen Thüringens und verdrängte die nächtliche Finsternis aus der waldigen Gegend. Binnen kürzester Zeit erloschen die Sterne am Himmel und dieser färbte sich in einem harmonischen Rot-Ton.
 

Als Joey ein leises Geräusch vernahm, öffnete er die Augen und binnen kürzester Zeit war er wach. Jemand öffnete die Tür zu seinem Zimmer und an der Art, wie dies getan wurde, konnte er feststellen, dass es sich nicht um einen der brutalen Männer handelte.

Nein, sie wurde langsam aufgeschoben und nachdem schlürfende Schritte ertönt waren, klackte sie leise in das Schloss zurück. Joey konnte es sich nicht erklären, doch mit dem Erscheinen jenes jungen Mannes verschnellerte sich der Takt, in dem sein Herz schlug. Er war nervös, richtete sich nur stockend auf und starrte zur Tür. Langsam ließ Lee die Hand von der Klinke rutschen, holte tief Luft und drehte sich zu dem Blonden um, der reglos dort kauerte. Zögernd richteten sich die schwarzen Augen auf diesen, um ihn zu mustern, wenn auch nur flüchtig.

Dann löste er sich von der Tür und durchquerte in den kraftlosen Schritten den Raum, bis er das Fenster erreichte. Ohne Joey einen weiteren Blick zu schicken, griff er durch die Gitterstäbe, öffnete das Fenster und kippte es an. Sogleich schlängelte sich eine frische Brise durch den Spalt und begann die dicke Luft, die schwer im Zimmer lag, zu verdrängen. Joeys Augen waren Lee gefolgt, machten nicht den Anschein, blind zu sein, als sie sich zufällig direkt auf ihn richteten. Noch immer jagte eine eiskalte Gänsehaut durch Joeys Körper, wenn er an die Schreie letzter Nacht dachte. Wenn er sich nur an sie erinnerte, fühlte er sich, als würde sich sein Herz krampfend zusammenziehen. Langsam tasteten sich die bleichen Hände über die alte Tapete, erreichten das Fensterbrett und legten sich darum.

Eine weitere Brise zog zu ihnen hinein und flüchtig schloss Lee die Augen, um diesen Freiheitsgruß mit größtem Genuss zu behandeln. Zögernd presste Joey die Lippen aufeinander. Er wollte, nein, er musste die Frage in den nächsten Sekunden loswerden.

Nach den gestrigen Geschehnissen konnte er nicht länger warten, zumal ihn Grübeleien gequält hatten. Er sah sich dazu getrieben, die Frage zu stellen, sah sich dazu gezwungen, die Antwort zu erfahren, so sehr er sich auch vor ihr fürchtete. Als er einen leisen Atemzug vernahm, ließ er den Kopf sinken und faltete beide Hände auf dem Schoss ineinander.

"Lee...", hob er leise an, ohne es zu wagen, aufzublicken. Der Angesprochene jedoch, drehte langsam das Gesicht zu ihm. "Was ist mit dir?"

Lee's Miene zeigte keine Regung, die schwarzen Augen blieben nahezu ausdruckslos auf Joey gerichtet. Die Hände verharrten an der Kante des Fensterbrettes. Und er schwieg.

"Du hast geschrieen", murmelte Joey leise und begann unsicher die Hände zu bewegen. "Ich habe alles gehört." Seine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Seufzen. "Das ist grässlich..."

Lahm lehnte sich Lee nach vorn und stützte die Stirn auf eine seiner Hände. In dieser Haltung schloss er die Augen.

"Ich weiß, dass ich mich falsch benommen habe und es tut mir leid, auch wenn es dir nach dieser Nacht vielleicht nicht viel bedeutet. Aber ich... ich habe mir Gedanken und Sorgen gemacht... die ganze Zeit, bis jetzt. Und..."

"Ich sterbe."

Joeys Lippen bewegten sich weiterhin, jedoch stumm. Diese Worte...

Noch bevor er ihren Wert verstehen und realisieren konnte, was mit ihnen gemeint war, versagte seine Stimme und er war zu nichts mehr imstande, das einer Reaktion ähnelte. Nur einen kurzen, äußerst schmerzhaften Stich in der Nähe seines Herzens spürte er, bevor er reglos verharrte und mit ausdruckslosen Augen in die Finsternis starrte.

Auch Lee verblieb kurz in der Haltung, bevor er sich langsam und stockend in eine Aufrechte kämpfte. Seine Lider waren gesenkt, die linke Hand legte sich schützend vor den Bauch, während die andere stützend auf dem Fensterbrett liegen blieb. Er blickte auf den Boden hinab, holte tief Atem und blinzelte müde.

"Er dürfte bald im Endstadium sein." Seine Lippen bewegten sich beinahe lautlos, nur ein kraftloses Flüstern kam über sie. "Der... Aids."

Somit schwieg er und schien sich in Erinnerungen zu verheddern, er war abwesend, wenn auch nur durch die erneute Einsicht der Wahrheit. Lange Zeit herrschte Stille in jenem Zimmer. Beide bewegten sich nicht, nicht einmal ein Blinzeln gelang Joey.

>Aids... Ich sterbe... Aids... Aids...< Immer und immer wieder hörte er diese Worte in seinem Kopf, wie sie sich wiederholten, gleich einer grauenhaften Endlosschleife. Allmählich veränderte sich seine Miene. Die Augenbrauen verzogen sich... ungläubig, beinahe trotzig, als wolle er sich vor der Wahrheit schützen, sich davor schützen, all diese Tatsachen einzusehen. Stockend bewegten sich seine Lippen, zu konfus, um vollständige Worte hervorzubringen und bald senkte er den Kopf.

>Endstadium... Aids... Aids...<

Er zwinkerte, seine Finger vergruben sich in der Decke und nach einem verworrenen Zögern, schüttelte er den Kopf. Zuerst langsam, dann schnell und verdrängend. Es war zu grausam... um real zu sein.

"Aber das kann nicht sein...", murmelte er leise bei sich, "... ich meine... meine, die... die Männer müssen doch aufpassen... das kann doch nicht..."

Er verhedderte sich in unbedeutenden Wortfetzen und schüttelte weiterhin den Kopf, bis sich Lee langsam zu regen begann und das Gesicht zu ihm drehte. Kein Ausdruck lag in den schwarzen Augen, als sie sich auf Joey richteten.

"Was weißt du denn schon?", murmelte er mit einem leisen Anflug von Verachtung und Joey verstummte augenblicklich. Geduckt blieb er kauern und starrte nach unten, den Kopf noch immer bewegend, abwesend und sachte, als bekäme er es selbst nicht mit. Somit löste sich Lee von dem Fenster, trat in schleppenden Schritten näher und blieb in sicherer Entfernung zu dem Bett stehen. Er glaubte, ein schweres Schlucken zu erkennen, die Hände, die sich immer fester in der Decke verkeilten.

"Weißt du, was sie für fünfzehn Minuten mit dir verlangen werden?", fuhr er fort, beinahe kühl und unbeteiligt, als hielte er einen unbedeutenden Vortrag. "Sechzig Euro."

Verkrampft zog Joey die Schultern zusammen, erneut bildete sich eine kalte Gänsehaut auf all seinen Gliedern.

"Und... weißt du auch, was sie für ungeschützten Geschlechtsverkehr verlangen?" Lee hob den Kopf, blickte von oben auf Joey herab, als läge ihm viel an der Einschätzung der Reaktion, die er sogleich erhalten würde. "Siebzig."

Joey zitterte, als er nach Luft schnappte und aus der Benommenheit aufschrak, als wäre ein lauter Knall dafür verantwortlich. Doch er sagte nichts, war noch immer nicht dazu imstande. Stattdessen starrte er ziellos nach oben. Mit Augen, in denen sich deutlich das Entsetzen widerspiegelte.

"Kannst du dir auch nur im Entferntesten vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn das Leben durch zehn lausige Euro zerstört wird...?" Lee sprach leiser, abwägend, jedoch nicht so, als würde es sich um ihn drehen, als spreche er von einem Bekannten, der all dies erlebte.

"D-das kann nicht sein!" Schneller als erwartet, zerrte Joey die Decke zur Seite und schaffte sich somit mehr Freiraum. Sein Gesicht war von schmerzhaftem Mitgefühl befallen, als er sich auf die Knie erhob und entsetzt keuchte. "Lee...! Zehn Euro?!" Wieder ächzte er ungläubig und begann wirr mit den Händen zu gestikulieren, völlig aufgelöst. "Die lassen das zu?? Aber warum?! Ich meine, was besitzen die für ein Recht, dein Leben zu zerstören?! Wie können die all das zerfetzen, wovon du träumst, wie können die alles zunichte machen... wegen zehn Euro!!" Nun schrie er und während er nach Atem rang, trat Lee vorsichtig einen Schritt zurück. Die Hände hatten ihren Platz erneut auf seinem Bauch gefunden, in seiner Mimik schlich sich ein unauffälliges Erstaunen ein, ein Unverständnis, beinahe eine leise Verwirrung.

"Was sind das für Menschen?! Lee, sag mir, dass das nicht wahr ist! Sag es!! Das kann nicht sein... das...", er ließ sich niedersinken, schüttelte erneut den Kopf. "Aids ist... ist eine grässliche...", er verschluckte sich am eigenen Atem, während er konfus an der Decke zerrte, "... wegen zehn Euro?! Deshalb die Schreie, deshalb deine Schwäche! Mein Gott, ich verstehe es!" Eilig hob er die Hände und rieb sich das Gesicht, laut und auffallend fiel sein Atem, als er es verbarg. "Aber... aber es gibt doch Heilungsmöglichkeiten!" Wie vom Blitz getroffen, ließ er die Hände sinken und starrte in Lee's Richtung. Dessen Augenbrauen verzogen sich irritiert. "Aids ist doch nicht mehr tödlich, oder...? Ich meine, man kann etwas dagegen machen! Eine Therapie! Medikamente! Irgendetwas! Mein Gott, die medizinische Wissenschaft ist so voran geschritten! Es muss einen Weg geben, den Aids zu überwinden! Warum...", beinahe flehend wirkten seine nächsten Worte, "... warum sprichst du vom Sterben, Lee? Wenn du doch überleben kannst...?"

Diesen Worten schenkte Lee keine Beachtung, nein, er wich aus einem anderen Grund einen weiteren Schritt zurück, auf einen nahe stehenden Stuhl zusteuernd. Verwirrt blieben seine Augen auf Joey gerichtet, der keuchend dort kauerte und den Anschein erweckte, mit dem größten Entsetzen zu kämpfen, das auf dieser Welt existierte. Konfus versuchten die braunen Augen den Bewegungen zu folgen.

"Lee...?", flüsterte er wieder, als er keine Antwort erhielt. "Du musst dir helfen lassen, bevor es zu spät ist... du musst doch irgendetwas dagegen tun..."

"Was... was spielst du dich so auf." Lee schnitt eine flüchtige Grimasse, während seine Hand nach hinten tastete, nach der Lehne des Stuhles suchte. "Hier geht's nicht um dich..."

"Denkst du, ich habe kein Herz?!", fiel Joey ihm aufgebracht ins Wort. "Was meinst du, wer ich bin! Ich komme hier her, an diesen scheußlichen Ort und lerne dich kennen! Du, der sich um mich kümmert! Glaubst du, ich denke auch nur eine Sekunde an mich, wenn ich dein Leiden mitbekomme?? Denkst du, ich habe in dieser Nacht auch nur ein einziges Mal an mich gedacht?? Während du schriest?! Ich habe doch ein Herz, verdammt noch mal!! Ich mache mir Sorgen und jetzt erfahre ich so etwas?? Ich erfahre, dass der Aids dir all diese grässlichen Qualen bringt... das du sterben wirst!! Was soll ich deiner Meinung nach tun??" Entkräftet ließ sich Joey nach vorn sinken. "Soll ich dir ein knappes "Mein Beileid" zuwerfen und anschließend nie wieder daran denken?! Verlangst du das von mir? Ja?!"
 

~*To be continued*~



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Kommentare zu diesem Kapitel (8)

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Von: abgemeldet
2010-04-20T10:10:56+00:00 20.04.2010 12:10
Mit der Bratwurst! xDDD Das war ein Moment der hat echt gut getan. Da konnte man mal lachen und musste sich kurz keine Sorgen und Gedanken über den Fortlauf der FF machen,
Von: abgemeldet
2005-09-17T14:19:48+00:00 17.09.2005 16:19
ich habe so eben ein neues lieblings-zitat:
seto kaiba:
"... und zur Hölle nochmal! Stecken Sie die gottverdammte Bratwurst weg!!"

XDDDDDD mich hats umgehauen. auch wenn einen alles ziemlich runter zieht aber das war einfach zu köstlich ^^
Von:  naboru
2005-09-04T23:39:56+00:00 05.09.2005 01:39
... O__O
das wird ja von mal zu mal schlimmer...
nya... jetzt hat kaiba zumindest etwas ahnung von der deutschen bürokratie... *sigh* oh man, ich wäre aber auch ausgeflippt, wenn mir so nen beamter gegenübersitzen würde... oh gott... ich wäre dem an die kehle gesprungen
aber den einen atz, den kaiba zu pikotto (ist das jetzt richtig geschrieben) gesagt hat, fand ich genial:
<< "Pikotto." Sagte er leise. "Das ist das erste Mal, das ich das Gefühl habe, meine Macht wäre keinen Pfifferling wert." >>
oh man... jetzt merkt man total, wie viel kaiba an joey liegt...

und das mit lee... ich hab mir schon sowas gedacht... oh man... joey rastet ja wirklich total aus... aber versteh ich... und lee ist immer noch so... teilnahmslos... ich bin ja mal gespannt, wie das mit den beiden weiter geht...
*sigh*
ok, also dann bye *winks* nabo ^^
Von:  Yukarri
2005-05-12T19:03:06+00:00 12.05.2005 21:03
Boah, langsam wirds ja richtig ernst. Schon schrecklich wenn man weiß das es sowas in anderen Ländern wirklich gibt und selbst in Deutschland Menschen vergewaltigt werden. Und das durch so einen Vorfall dein ganzes Leben zertstört werden kann.
Die beiden tun mir Leid vorallem Lee, da er ja AIDS hat *mitleidhab*.

Bin gespannt wie Seto Joey rettet. Der arme Kerl ist ja auch total am Verzweifeln.
War wieder ein super Kapitel (auch wenn mit schrecklichen Tatsachen).
Bis zum nächsten Mal.
Yukarri
Von:  Jono
2005-05-11T22:24:12+00:00 12.05.2005 00:24
Moni? Du bist schlimm, weiß du das? Du hälst uns hier Gefangen mit den Gedanken,w ann er endlich weiter geht...Ich kann nicht mehr, ich musste so lange warten, und was machst du? Du quälst uns *heul*
Ok, spaß bei Seite..
In dieser Story oder Kapi, wie auch immer, kommt das Thema Aids vor. Ich finde es schrecklich, dass nur wegen 10 Euro dein ganzes Leben ruiniert werden kann. *kopf schüttel*
Die Menschen heut zutage sind richtig grausam ^^

Und dass du Joey leiden lässt ist wirklich gemein von dir, aber ich kenne dich inzwischen nciht anders :P
Aber du machst es wieder gut ne? Indem du ne Lemon zwischen Joey und Seto schriebst *____*
Das wär mal was... Das würde bestimmt gut rüberkommen...Ich weiß es so genau, weil ich paar andere Werke gelesen habe, die du mir zugeschickt hattest ^^
So genug von mir, man liest sich zum nächsten Kapi, oder ENS, is ja egal ^^
also bis dann *winke*

baba vaia
Von:  VegMac
2005-05-11T19:44:46+00:00 11.05.2005 21:44
Ui! Ein neues Kappi!!! Die beiden können einem echt Leid tun, oder sollte ich sagen drei? Schließlich is der arme Lee im Moment am Schlimmsten dran...oO
Diese nervenaufreibenden Geschehnisse, die dir immer wider einfallen, sind echt heftig! Aber ist es nicht das, was wir alle lesen wollen?! Schmerz...Liebe...und Leidenschaft... *im Übereifer die Hand heb und wild gestikulier* Naja...Leidenschaft wird es wohl in nächster Zeit wieder nicht geben...aber umso mehr Verzweiflung und Trauer
(ich bekomm immer ne Gänsehaut, wenn ich irgendwo lese, dass Seto weint #.# gottchen *wieder anfang zu heul*)...
Es ist immer eine Wohltat zu hören, dass es eine nächste Geschichte geben wird...so hat man die Sicherheit, dass Seto oder Joseph nicht iregndwie sterben... (dies tut auch wirklich keinen Abbruch an der Spannung.. nein... nein *kopfschüttel* LOL)
See you, space cowboy XD
Ann-Chan
Von:  VegMac
2005-05-11T19:29:54+00:00 11.05.2005 21:29
Ui! Ein neues Kappi!!! Die beiden können einem echt Leid tun, oder sollte ich sagen drei? Schließlich is der arme Lee im Moment am Schlimmsten dran...oO
Diese nervenaufreibenden Geschehnisse, die dir immer wider einfallen, sind echt heftig! Aber ist es nicht das, was wir alle lesen wollen?! Schmerz...Liebe...und Leidenschaft... *im Übereifer die Hand heb und wild gestikulier* Naja...Leidenschaft wird es wohl in nächster Zeit wieder nicht geben...aber umso mehr Verzweiflung und Trauer
(ich bekomm immer ne Gänsehaut, wenn ich irgendwo lese, dass Seto weint #.# gottchen *wieder anfang zu heul*)...
Es ist immer eine Wohltat zu hören, dass es eine nächste Geschichte geben wird...so hat man die Sicherheit, dass Seto oder Joseph nicht iregndwie sterben... (dies tut auch wirklich keinen Abbruch an der Spannung.. nein... nein *kopfschüttel* LOL)
See you, space cowboy XD
Ann-Chan
Von:  Dark-Unicorn
2005-05-11T18:27:07+00:00 11.05.2005 20:27
Mein Gott! 10 lausige Euros, die über Leben und Tod entscheiden? Was für eine grausame Vorstellung. Es ist so furchtbar, was diese Menschen machen.. wie sie einfach so über das Leben eines anderen Menschen entscheiden. Und niemand kann etwas daran ändern.. Echt schrecklich.
Ist schon furchtbar, wie du deine Figuren mal wieder leiden lässt.. Seto wird Joey wohl so schnell nicht finden. Joey leidet derweil, wird psychisch und physisch missbraucht, leidet zusammen mit Lee, der wohl ebenfalls nicht so schnell dort wegkommen wird, der auch leidet, der bald sterben wird..
Diese Vorstellung kann einen wirklich ferig machen. Hoffentlich gibt es wenigstens so etwas ähnliches wie ein Happy End. Der bittere Beigeschmack bleibt schließlich so.
Auf baldige Fortsetzung hoffend..
Man hört sich, Dany


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