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Dritter Teil: Das Licht der Welt

Fortsetzung von "Du kennst mich nicht und doch hasst du mich" und "Gift in Körper und Seele"
von

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Der einzige Halt

Mit ausgestreckten Beinen hockte Lee auf einem kleinen Schemel, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Heizung und wendete abwesend die Hände, die ineinander gefaltet waren. Teilnahmslos verfolgten seine schwarzen Augen die stockenden, schwachen Bewegungen, während neben ihm die Dusche rauschte.

Seit fünf Minuten verharrte er in dieser zusammengesunkenen Haltung, seit vier Minuten rauschte das Wasser, ohne auf ein Ächzen aufmerksam zu machen.

Joeys Beine hatte versagt. Nun kauerte er auf dem Boden, geduckt und reglos. Nur seine Schultern hoben und senkten sich im schnellen Takt. Nass hing das blonde Haar vor seinem Gesicht, die Lider waren gesenkt, der Mund öffnet.

Noch immer prasselte das warme Wasser auf ihn hinab. Es vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit. Doch... hier war er nicht sicher!

Als erwache er aus einer tiefen Benommenheit, bewegte er die Lippen, hustete leise und hob den Kopf. Leeds Worte hatten alles gesagt. Weshalb er hier war...

Der Mann... Joey hatte seine Stimme wieder erkannt. Sie war mit der besorgten und freundlichen, die er zuerst gehört hatte, nicht zu vergleichen. Langsam holte Joey Luft, stieß ein leises Stöhnen aus und fischte das Haar aus seinem Gesicht.

>Ich verstehe es nicht<, dachte er sich erschöpft. >Wie habe ich das jetzt wieder geschafft?<

Matt ließ er die Hand sinken, zögerlich begann er zu blinzeln und lehnte sich nach vorn, lehnte sich aus dem warmen Wasserstrahl.

Zu viele Gefühle, zu viele Ängste tummelten sich in ihm, zu viele Gedanken und Befürchtungen. Er konnte sie nicht ordnen. Nur eines wusste er...

>Verprügelt mich, jagt mich, haltet mir eine Pistole an den Kopf, schießt auf mich, aber... tut mir das nicht an! Alles, nur das nicht!<

Unentschlossen richtete er sich auf den Knien auf und rieb sich die Oberarme, als würde es ihm frösteln.

>Dagegen ist niemand immun... dagegen kann man nicht immun sein!<

Nach einem kurzen Zögern, schob er sich zurück in das warme Wasser und kauerte sich dort hin. Er winkelte die Beine an, schlang die Arme um die Knie und ließ den Kopf sinken.

>Seto... sicher sucht er bereits nach mir. Und ich Blödmann hätte ihm die Sorgen ersparen können, die er sich in diesen Minuten sicher macht! Warum habe ich es immer noch nicht gelernt, geistesgegenwärtig zu handeln?! Ich bereite ihm nichts als Sorgen! Ebenso hätte ich meine Augenprobleme ernster nehmen müssen! Weshalb fällt das mir immer erst ein, wenn es zu spät ist?!< Joey stützte die Stirn auf die Knie, sein verschrammter Leib hob sich unter einem tiefen Atemzug. >Was ich jedoch gelernt habe, ist, vergangenen Fehlern nicht nachzutrauern. Ich muss mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, so beschissen die Gegenwart auch aussieht.< Langsam drehte er das Gesicht zur Seite. >Tatsache ist, dass ich diesmal nicht auf seine Hilfe bauen kann. Ich muss selbst mit den Zuständen fertig werden... und das dürfte ich nach all den Erlebnissen doch bewerkstelligen! Ich kann auf keinerlei Hilfe warten. Doch... ich habe Angst! Ich habe in diesen Minuten mehr Angst, als in der Fabrikhalle, in der wir Katagori gegenüberstanden... dabei ist eine Vergewaltigung doch etwas, das ich überleben kann.< Stockend ballten sich seine Hände zu Fäusten. >Als Chester sich an mir verging, konnte ich mich vor Angst kaum regen! Nur durch wenige Berührungen fühlte ich mich so unglaublich hilflos und panisch! Auch, als mich die Typen auf den Boden drückten...

Warum nur ist etwas Derartiges schlimmer, als in den blanken Lauf einer Pistole zu blicken, als dem Tod gegenüberzustehen! Eine Schussverletzung verheilt, doch so etwas...? So etwas brennt sich zu tief in die Seele eines Menschen! Das lässt sich nicht so einfach wegstecken! ...

Vielleicht kann ich ja abhauen? Vielleicht sind diese Typen genau so blöd wie Katagori? Vielleicht finde ich einen Weg, das Schlimmste zu verhindern?<

All seine Gedanken endeten abrupt, als eine kühle Brise Joey erreichte. Die Tür der Dusche öffnete sich und der Blonde richtete sich etwas auf. Ohne ihm eines Blickes zu würdigen, stellte Lee die Brause ab und griff hinterrücks nach einem Handtuch. Dieses warf er träge nach Joey und es landete auf dessen Kopf. Während er irritiert nach dem weichen Stoff tastete, wandte sich Lee ab. Dabei legte sich die Hand auf den Bauch, als würde er dort Schmerzen verspüren. In langsamen, schleppenden Schritten erreichte er ein kleines Regal, griff in das oberste Fach und holte ein kleines Fläschchen heraus, mit dem er sich auf den Rückweg zur Dusche machte.

>Joseph Wheeler! Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!< Langsam zog sich Joey das Handtuch vom Kopf. >Es bringt dir nichts, wenn du vor Angst schlotterst! Also zeig etwas Optimismus und wenn das nicht funktioniert, dann sei wenigstens entschlossen, dich zu wehren! Du lässt doch sonst nicht alles mit dir machen! Die sollen bloß nicht glauben, dass sie leichtes Spiel mit dir haben!<

In diesen Sekunden schlürfte Lee an der Dusche vorbei und warf auch das kleine Fläschen nach ihm. Mehr als lustlos und desinteressiert und Joey bekam es zum Glück nicht ab.

"Haare waschen", hörte er nur den nuschelnden Befehl.

"Wa...?" Irritiert starrte Joey ihm nach.

Lee war bereits wieder verschwunden und Geräusche ertönten, als wäre er auf der Suche nach etwas. Eine Antwort erhielt Joey jedenfalls nicht.

>Dieser Mann.< Er blinzelte und rieb sich die Augen. >Vielleicht kann man mit dem reden? Vielleicht gibt es doch einen Fluchtweg?<

Nach einem kurzen Zögern begann er nach dem kleinen Fläschen zu tasten, das neben ihm gelandet war.

>Dann wasche ich mir eben die Haare. Dann werde ich der Bestie wenigstens sauber zum Fraß vorgeworfen!<

Endlich wurde er fündig, tastete den Gegenstand ab und fand endlich einen Schraubverschluss.
 

Flink hievte Kaiba die Reisetasche auf die Rücksitze des Autos, das vor dem Tor des Camps bereitstand, ihn hinunter in das Dorf bringen würde. Er hatte es sehr eilig, bald würden die anderen von ihrem Ausflug zurückkehren. Schnell schob er den Koffer über die Sitzpolster, schlug die Tür zu und wandte sich ab. Noch ein einziges Mal musste er zum Bungalow zurück. Sofort machte er sich wieder auf den Weg.

>So gehe ich also mit Verantwortung um!<, dachte er sich verbissen, als er durch das Gras stampfte. >Ich habe wirklich gut auf Joseph aufgepasst! Warum zur Hölle bin ich nicht im Bungalow geblieben?!< Er schob sich durch zwei eng beieinander stehenden Bäume und erspähte das Ziel in nicht allzu weiter Entfernung. >Jetzt reiß dich zusammen! Ich darf keinen vergangenen Fehlern nachtrauern! Ich muss mich darauf konzentrieren, was ich jetzt tun kann!< Seine Miene verfinsterte sich, als er den Haus erreichte und in ihm verschwand. >Joseph! Verdammt, wo bist du nur?!< Behände sprang er die Stufen hinauf, erreichte das Schlafzimmer und erblickte Joeys Reisetasche, die gepackt und fertig zum Abtransport vor dem Hochbett stand. Er starrte sie an, verlangsamte seine Schritte und blieb stehen, um sie weiterhin zu mustern. Ausdruckslos blieben seine Augen auf sie gerichtet. Nur die Augenbrauen verzogen sich allmählich, bis eine leise Furcht, beinahe eine Niedergeschlagenheit dem jungen Gesicht Ausdruck schenkte.

In diesen Sekunden plagten ihn mehr Sorgen, als zu dem Zeitpunkt, als Joey mit der Schussverletzung im Krankenhaus gelegen hatte. Ungewissheit war bei weitem schlimmer als das! Sie erlaubte, an mehrere grausame Geschehnisse zu denken, alles als möglich anzusehen.

Joey liegt im Krankenhaus. Ja, er ist dort!

Die Wunde heilt. Ja, es wird ihm besser gehen!

Doch nun?

Kaiba legte den Kopf schief, verengte sinnierend die Augen.

Joey ist verschwunden. Niemand weiß, wo er ist!

Ob es ihm gut geht? Keiner weiß es!

Ist er verletzt? Niemand kann das sagen!

Die Miene des jungen Geschäftsmannes begann zu zucken. Zögerlich trat er einen Schritt näher.

Hätte Joey doch zumindest sein Handy dabei! Dann könnte die Kaiba-Corperation ihn orten! Würden doch wenigstens kleine Hinweise existieren!

Kaiba verdrängte diese sinnlosen Grübeleien über das "hätte, könnte, würde", erreichte die Tasche und griff nach ihr. Nichts von alledem war geschehen! Keine Hinweise, kein Handy! Nicht einmal die leiseste Ahnung, wo Joey sich befand!

Ein letztes Mal blickte sich Kaiba in diesem Raum um und besah sich die Matratze, die neben ihm auf dem Boden lag. Die verwühlte Decke, das Kissen, das er nahe der Tür gefunden hatte.

Würde er je wieder den schlafenden Joey sehen?

Würde er je wieder durch das leise Grunzen aufwachen?

Würde er je wieder schlaflose Nächte verbringen, weil Joey ihn durch Herumrollen aus dem Bett drängte?

Er biss sich auf die Unterlippe, umfasste den Griff der Tasche fester und wandte sich ab. An solche Zweifel durfte er nicht denken! Er würde tun, was in seiner Macht stand! Und er, Seto Kaiba, besaß eine große Macht! Wenn nötig, würde er ganz Thüringen auf den Kopf stellen!

Mit Joeys Tasche verließ er den Bungalow, schloss die Tür hinter sich und machte sich eilig auf den Rückweg zum Auto. Er würde Jahre hier verbringen! Er würde hier bleiben, bis die Suche erfolgreich endete! Er würde nicht locker lassen, wenn nötig, sogar all seine Angestellten einfliegen lassen, damit sie sich an der Suche beteiligten! Und wenn es Menschen geben sollte, die an Joeys Verschwinden die Schuld trugen, würde er sie bestrafen! Und wenn man Joey auch nur ein Haar gekrümmt hatte, dann würde es den Verantwortlichen zehnfach zurückzahlen!

>Niemand darf Joseph etwas antun, so lange ich lebe!<

Nach kurzer Zeit durchschritt er das Tor zum letzten Mal, warf die Tasche zu der anderen auf die Rückbank und richtete sich auf, um die Tür zu schließen. Er tastete nach ihr, linste zufällig zur Seite... und erstarrte.

Nur wenige Meter entfernt, trat Daniel Ray schlendernd aus dem Wald. In seinen Händen hielt er einen kleinen Stock, den er gedankenverloren wendete und mit den Fingernägeln bearbeitete. Kaiba starrte ihn an. Der hatte ihm gerade noch gefehlt... er konnte es sich nicht leisten, von jemandem gesehen zu werden, mit dem die anderen zu tun hatten.

Langsam richtete er sich auf und als Daniel auf ihn aufmerksam wurde, verlangsamte er seine Schritte und blieb stehen. Binnen kürzester Zeit verzog sich sein ausdrucksloses Gesicht verächtlich, den Stock ließ er sinken. Kaiba atmete tief ein, brach den Blickkontakt ab und schlug die Tür zu. In dieser Sekunde verließ der Mitarbeiter, der ihn in das Dorf fahren würde, das weiße Haus und kam näher. Daniel verzog die Augenbrauen, musterte den Wagen flüchtig und lenkte den Blick erneut auf Kaiba. Dieser drehte sich flüchtig zu dem Fahrer um.

"Du reist ab?", erkundigte er sich leicht irritiert und rollte das Stöckchen zwischen zwei Fingern.

Kaiba konnte und wollte sich nicht auf ihn einlassen. Er hatte keine Zeit und konnte nur hoffen, dass Daniel den anderen nicht von diesem Treffen berichtete. Von dem Treffen, bei dem Joey nicht anwesend war, obgleich doch jeder erfahren würde, dass Kaiba mit ihm abgereist war.

"Was geht's dich an", antwortete er knapp und öffnete die Beifahrertür des Autos, als der Fahrer das Tor hinter sich ließ. Somit stieg er ein. Der Mann tat es ihm nach wenigen Sekunden gleich und als der Motor gestartet wurde, schickte Kaiba Daniel einen kurzen, mahnenden Blick.

>Vermassle es mir bloß nicht!<

Dann setzte sich der Wagen in Bewegung und Daniel trat zur Seite, sah dem Auto nach und runzelte die Stirn.

>Was zur Hölle soll das...?<
 

Vorsichtig tastete sich Joey aus der Dusche. Als er sicheren Boden unter den Füßen hatte, schlang er sich das Handtuch um die Hüfte und band es fest. Gerade hatte er dies geschafft, da spürte er die Kante eines gepolsterten Hockers an seinem rechten Knie.

"Hinsetzen." Auch Lee zog sich einen Stuhl heran, ließ sich kraftlos auf ihm nieder und zückte, leise hustend, die Salbe. Nachdem Joeys Hände das Polster gefunden hatten, setzte er sich vorsichtig darauf und blickte sich sogleich um. Er hörte Leeds schweren Atem, spürte ihn sogar etwas auf seiner Haut, als sich der junge Mann etwas nach vorn lehnte. Wieder hustete Lee, bevor er all seine Kräfte aufwendete, um die kleine Tube aufzuschrauben. Währenddessen schenkte er Joey keine Aufmerksamkeit, starrte nur nach unten. Joey jedoch, blinzelte in seine Richtung, die Arme hielt er vor dem Bauch verschränkt. Lange grübelte der Blonde und ebenso lange benötigte Lee, um die Tube aufzuschrauben.

"Bist du Chinese?"

Mit gesenktem Kopf hielt der Angesprochene kurz in jeglichen Bewegungen inne. Er starrte auf die Tube, zog die Nase hoch und richtete sich etwas auf.

"Mm." Somit tunkte er die Fingerspitzen in die Salbe, hob die Hand und näherte sie der verschrammten Schulter zögernd. Er ließ sich Zeit, erweckte den Anschein, als wäre ihm alles lieber als dieser Befehl, den er befolgen musste.

Kurz darauf spürte Joey eine flüchtige Berührung an seiner Schulter. Die Finger, die ihn streiften, glühten.

Er hielt still. Mit ernster, beinahe schon übertrieben verbissener Miene, begann Lee die Wunden zu versorgen. Die Berührungen waren stets von sehr kurzer Dauer und alles andere als intensiv. Gleichermaßen waren es stets nur die Fingerspitzen, die Joey spürte. Dennoch entging ihm das auffällige Zittern der Hand nicht. Es registrierte es sehr früh und lauschte kurz dem geräuschvollen Atem, bevor er eine weitere Frage stellte. Er wollte sich mit ihm unterhalten.

"Warum sprichst du japanisch?"

Diese Frage war nicht mit einem "ja" oder "nein" zu beantworten. Joey hatte sie bedacht ausgesucht und wartete nun aufmerksam. Und er wartete lange, ohne dass es sich lohnte.

"Schule", ertönte die gebrechliche Stimme.

"Lernt man in chinesischen Schulen die japanische Sprache?", erkundigte sich Joey sofort verwundert. Dieses Gespräch, so knapp es bisher auch war, tat ihm gut. Es lenkte ab, ließ ihn die grausamen Tatsachen vergessen. Dem anderen jedoch, schien dies weniger zu gelingen. Wieder stoppte Lee in den Bewegungen, schnappte nach Luft und hielt den Atem an, während er auf die Tube starrte. An seinem Gesicht konnte man deutlich erkennen, dass ihm sogar die Lust an einem Gespräch fehlte. Langsam rümpfte sich die Nase, die trockenen Lippen pressten sich aufeinander und letzten Endes antwortete er nur mit einem leisen Murren. Joey räusperte sich, seine Hände falteten sich ineinander. Nun entschied er sich für direktere Fragen.

"Haben die dich auch weg gefangen?"

Daraufhin zeigte die bleiche Miene des jungen Mannes keine Regung. Er befasste sich weiterhin mit Joeys zerkratzter Haut, als hätte dieser die Frage nie gestellt.

"Weißt du, ich bin hier auf Klassenfahrt, in einem Jugendcamp und...", als er spürte, wie die Hand auf seiner Schulter abrupt in jeglicher Bewegung stoppte, verstummte er und wandte das Gesicht zur Seite. Noch immer starrte Lee nach unten, ein kurzes Zucken fuhr durch seine Miene, bevor er die Hand weiterführte und Joeys Rücken erreichte. Dieser schaute noch immer in seine Richtung, plötzlich hatte er sich in Grübeleien verheddert, Gedanken und Ideen, die er zuerst ordnen musste, um sie zu verstehen. Infolgedessen schwieg er eine Weile. Hin und wieder hustete Lee, immer wieder spürte Joey das Zittern der kühlen Hand. Nach wenigen Minuten blickte er auf.

"Was macht ein Chinese in Thüringen?", murmelte er leise, seine Augen weiteten sich. "Sag bloß, du warst hier auch auf Klassenfahrt und..."

"Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu belappen?", meldete sich die andere Stimme ganz unverhofft. Sie klang genervt, annähernd sogar aggressiv. Joey atmete tief ein, schloss die Augen und stieß ein leises Brummen aus.

"Ob ich nichts anderes zu tun habe?", antwortete er leise und angespannt. "Doch. Am liebsten würde ich schreien und in Panik ausbrechen. Ich würde auch gern jammern und ängstlich um Gnade winseln aber Gespräche beruhigen mich."

"Das ist idiotisch", meldete sich Lee verbissen zu Wort, auch seine kraftlose Stimme vermochte seine Gefühle recht gut auszudrücken, wenn auch leise. "Das ist total idiotisch."

Endlich redete er. Joey hob die Augenbrauen.

"Ich weiß, es ist nichts anderes als Verdrängung, aber in solchen Fällen braucht man einfach jemanden, mit dem man...", er stoppte abrupt, schluckte und zögerte lange mit den nächsten Worten, "... du... du hast dich lange nicht mehr mit jemandem unterhalten, oder...?"

Unsicher drehte er das Gesicht zu Lee und, er hatte es gewusst, erhielt keine Antwort. Schwerfällig stand Lee auf, tastete konfus nach dem Stuhl und zog ihn hinter sich her, um sich hinter Joey zu setzen. Dieser lauschte den Geräuschen, spürte einen leichten Luftzug auf dem Rücken und verblieb reglos. Nach einem verausgabten Stöhnen fühlte er jene Finger auf seinem Rücken. Natürlich wurde Lee auf die auffällige Narbe aufmerksam, schenkte ihr jedoch kaum Beachtung.

"Wie lange bist du schon hier?", erkundigte sich Joey leise.

Er würde Lee beweisen, dass Gespräche ihre positiven Wirkungen hatten, vorausgesetzt, dieser würde es zulassen. Erneut löste sich die Hand von der Haut des Blonden. Sie senkte sie hinab zu der kleinen Tube und legte sich, wie die andere auch, darum. Noch immer war sie die einzige, für die sich Lee zu interessieren schien. Teilnahmslos betrachtete er sie sich, nach kurzer Zeit zwinkerte er müde.

"Drei Jahre."

Joey konnte es nicht verhindern. Ein kalter Schauer fuhr durch seinen Körper, machte ihn bewegungsunfähig. Starr saß er dort, seine geweiteten Augen waren auf einen nicht existenten Punkt gerichtet, sein Mund stand einen Spalt weit offen. Apathisch begann Lee mit dem linken Zeigefinger in der Salbe zu rühren, als wolle er sich selbst bestätigen, nickte er.

"D... drei..." nur abgehackte Silben kamen über Joeys Lippen, als er gegen das Entsetzten ankämpfte.

>Drei Jahre?!<, schrie es in ihm.

"Drei Jahre?!" Erschrocken fuhr er in die Höhe und drehte sich um, worauf Lee reflexartig und übereilt zurückwich. "Drei Jahre..."

Keuchend saß Joey vor ihm und Lee tastete zittrig nach dem Stuhl, um ihn zurückzuziehen, den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Diese Reaktion entging Joey, nur knappe Geräusche konnte er vernehmen. Er sah weder das schreckensbleiche Gesicht, noch die geweiteten Augen oder gar die hektischen, beinahe konfusen und unkontrollierten Bewegungen des jungen Mannes, als er samt Stuhl zurückrutschte.

"Das... das kann doch nicht sein!" Joey schüttelte ungläubig den Kopf. "Weshalb hast du nicht versucht, zu fliehen?!"

"Meine... meine Aufenthaltsdauer...", fauchte Lee mit rasendem Atem und hob die Hand zu einer verworrenen Geste. Das Entsetzen, der Schrecken über die plötzliche Nähe schien ihn nicht loszulassen, "... hat nicht zu bedeuten... dass ich das nicht versucht habe!"

"Aber..."

"Wie kannst du mir das vorwerfen...!" Unter einem gedrückten Ächzen drehte sich Lee auf dem Stuhl zur Seite, krallte die Hand in das Shirt und rang nach Sauerstoff. Die Tube hatte er bei der ersten schnellen Bewegung des Blonden fallen gelassen.

"Das habe ich...", verwirrt hob Joey die Hände, "... Lee, das habe ich nicht so gemeint. Ich kann nur nicht glauben, dass..."

Sobald Lee die Hände bemerkte, kämpfte er sich keuchend auf die Beine, stolperte zurück und stützte sich auf einem Regal ab, bevor er stürzen konnte. Entkräftet ließ er den Kopf sinken und aus seinem Hals drangen Geräusche, als würde sich seine Lunge zuschnüren.

"Ich habe es einmal versucht!", fauchte er dennoch. "Seitdem hab ich eine verdammte Kugel im Bein, die bei jeder Bewegung scheißweh tut! Behaupte nicht, ich hätte es nicht versucht!"

"Lee!", unterbrach Joey ihn verstört. Ohne zu zögern kam er auf die Beine. Dies alles ging zu schnell, als dass er es verstehen könnte. Als das er Leeds impulsive Reaktion verstehen könnte. "Beruhige dich doch...", angetrieben durch große Besorgnis, trat er einen Schritt vor, näherte sich Lee, "... hey, ich habe doch nicht gewusst, dass du..."

Als er kurz davor war, noch einen Schritt zu tun, hob Lee eilig die Hand und streckte sie ihm entgegen, schützend, zurückweisend. Und das erste Mal blickte er ihm in die Augen. Und das mit einer unglaublichen Ernsthaftigkeit, die beinahe einer drohenden Warnung glich.

"Joey, oder wie auch immer du hießt." Mit letzter Kraft schenkte er seiner Stimme Festigkeit, verlieh ihr einen energischen, jedoch vernünftigen Unterton. Joey blieb stehen und Lee ließ allmählich die Hand sinken. "Merk dir eines und merk es dir gut." Lee presste die Lippen aufeinander, unterdrückte den rasenden Atem. "Wenn du mir auch nur einmal zu nahe kommst, dann lasse ich dich sitzen und du kannst sehen, wie du klar kommst. Und wenn du...", die schwarzen Augen verengten sich hassvoll, "... wenn du mich auch nur ein einziges Mal berührst... dann bringe ich dich um!"

Langsam öffnete Joey den Mund. Diese Stimme... er schluckte... das... das war keine leere Drohung. Es war, als hätte sich Stahl durch all seine Glieder gefressen - er konnte sich nicht bewegen, der Atem stockte ihm und binnen kürzester Zeit stürzte eine unglaubliche Trauer über ihn herein, eine solche tiefe Betroffenheit, dass sie sich nicht beschreiben ließ. Seine Augenbrauen verzogen sich bedrückt und es war nur ein Gedanke, der schmerzhaft in seinem Kopf hämmerte.

>Was hat man dir nur angetan...? Welche Leiden musst du durchlebt haben...<

"Lee..." Seine Stimme war nicht mehr als ein kraftloses Flüstern.

Langsam und stockend richtete sich der junge Mann auf, die Hand, die er soeben noch erhoben gehalten hatte, tastete sich ebenfalls zum Regal, so als bräuchte er sie ebenfalls, um genügend Halt zu finden. Seine schwarzen Augen waren abwägend und aufmerksam auf Joey gerichtet, der nun zu einem matten Nicken imstande war. >Das verstehe ich, Lee... das verstehe ich gut.<

"Ich bin blind", hauchte er leise und senkte den Blick. "Ich weiß nicht, ob ich dir nahe bin oder nicht."

"Dann sei vorsichtig, wenn du meine Stimme in deiner Nähe hörst", erwiderte Lee ebenso flüsternd und hob die Hand, um sich einige lange Strähnen aus dem Gesicht zu streifen. Joey nickte betrübt und der junge Mann löste sich langsam von dem Regal, strauchelte zum Waschbecken und stellte das Wasser an. Joey regte sich nicht, während sich Lee hinabbeugte und den Kopf unter den Wasserhahn hielt.

Während es rauschte, trat Joey zurück, tastete nach dem Hocker und setzte sich. Er bewegte sich nur stockend, nun beschäftigte ihn eine andere Frage, eine Frage, die ihm noch wichtiger erschien. Nachdenklich und niedergeschlagen blinzelte er und rieb sich die Augen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er sie jedoch unmöglich an Lee stellen, das würde an grausamer Taktlosigkeit grenzen. Außerdem...

Joey ließ den Kopf sinken und biss sich auf die Unterlippe.

Außerdem... hatte er Angst vor der Antwort.

In diesen Sekunden verstummte das Rauschen. Lee tastete nach einem Handtuch, zog es sich über den Kopf und bewegte es träge auf dem Haar. Dabei ließ er sich Zeit, trocknete sich auch das Gesicht und warf das Handtuch letztendlich in die nächste Ecke. Als er sich umdrehte, richteten sich seine Augen erneut auf Joey und nun wirkte auch er nachdenklich. Er musterte ihn knapp, zog die Nase hoch und steuerte dann in unsicheren Schritten auf die Tür zu.

"Ich hole dir Kleider."

Mit diesen Worten tastete er nach der Klinke, drückte sie langsam hinab und verschwand draußen im Flur.
 

~*To be continued*~



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2010-04-20T10:09:57+00:00 20.04.2010 12:09
Ach mich nervt Lee! Wieso ist der Typo so gemein und fies zu Joey! Ich meine der sieht nichts und das ist schon schlimm genug und dann wird er auchnoch so behandelt! Das ist so schrecklich!
Von:  naboru
2005-09-04T22:58:25+00:00 05.09.2005 00:58
... oh man... lee ist ja echt... nen ziemlich distanzierter typ... und wieder male ich mich weiß der teufel was für sachen aus, warum er so ist *drop*

das daniel ray wieder vor kam, wenn auch nur kurz hat mich irgendwie wütend gemacht... das gespäch zwischen ihm und duke hab ich immer noch nicht vergessen, und das trotz der langen pause -__-
bin ja mal gespannt was da noch kommt und wie sich kaibas entscheidung auf den verlauf der geschichte auswirkt...

also dann...
erstmal bye *winks*
naboru ^__^
Von:  Jono
2005-05-08T22:34:02+00:00 09.05.2005 00:34
hey!!!!!!!!!!!!!!!!
böses böses mädchen, wieso hast du nicht weiter geschrieben? ich dahcte ich lese dein nächstes kapi komplet, aber nein, imemr nur stückweise *heul*
ich bin wirklich enttäuscht von dir, pfffffffffffffffffff

baba vaia
Von:  Yukarri
2005-05-08T14:16:55+00:00 08.05.2005 16:16
Juhu ich bins wieder. Mitlerweile schaue ich jeden Tag ob das nächste Kapitel schon da ist. Du hörst immer an den unpassendsten Stellen auf *schnauf*. Aber trotzdem war es wieder supi. Bin echt gespannt was als nächstes passiert *aufgeregt sei*.
Yukarri
Von:  VegMac
2005-05-08T09:28:05+00:00 08.05.2005 11:28
Hey ho! Ich ma wieder... das isser ja endlich...das Hochladen hat echt gedauert... @.@ Naja...meintest du nicht, dass doeser Teil lustig wäre...? Jedenfalls *heul* ahhhh!... wieso muss immer Joseph so etwas passieren... *Joseph in die Arme nehm und durchs Haar wuschel*... so, muss dann jetzt ma weg (Mathe lernen -.-' bahh)... cuu bis zum nächsten Kapi ^.~
Ann-Chan


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