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Anime Evolution

Erste Staffel
von

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Alltägliche Überraschungen

1.

Ich wachte aus meinem unruhigen Schlaf auf, als eine sanfte Stimme meinen Namen rief.

Einerseits war ich sehr dankbar dafür; kaleidoskopartige Traumbilder hatten meinen Schlaf zu einer Achterbahnfahrt gemacht, in der ich mich beinahe selbst verloren hätte.

Andererseits war eine Frauenstimme in meinem Zimmer zu dieser Nachtstunde nicht unbedingt das, was eine ideale Ablösung gewesen wäre.

"Akira-sama", erklang die Stimme wieder.

Ich öffnete ein Auge. Neben meinem Bett kniete Akari und verbeugte sich leicht. "Akira-sama. Du hast einen Gast."

Mit einem Schlag war ich wach. Ich richtete mich in meinem Bett auf, ließ meinen Blick durch den dunklen Raum gleiten und schloss die Augen geblendet wieder, als das Licht urplötzlich angeschaltet wurde.

Nur zögerlich öffnete ich die Augen erneut und gab ihnen Gelegenheit, sich an das grelle Licht zu gewöhnen.

Neben der Tür stand Eikichi Otomo, Oberbefehlshaber der UEMF, der United Earth Mecha Force, Oberkommandierender der Geleitschutzflotte, Haupteigner von Tsuki Mining, einer von nur drei Minengesellschaften, die auf dem Mond tätig waren und außerdem mein Vater.

Zumindest soweit es meine Erinnerung anging, die ich in dieser Traumwelt hatte.

Vater lächelte zu mir herab. Er war etwas größer als ich, breiter in der Schulter. Sein Kurzhaarschnitt gab ihm etwas militärisches, obwohl er selbst keinen militärischen Rang bekleidete. Und der Kinnbart ließ ihn irgendwie jünger erscheinen als er war.

"Eikichi", brummte ich ärgerlich.

"Vater heißt das, mein Sohn", kam die ruhige, sonore Antwort. Er sah sich im Zimmer um.

"Du hast umbauen lassen? Die Papierwände wurden fast alle entfernt."

Ich nickte leicht. "Ja. Ich habe die meisten Zwischenwände rausnehmen lassen und stattdessen richtige Zwischenwände gezogen. Sakura bestand darauf. Sie fühlte sich nicht sicher, wenn alles was die Jungs machen müssen, um die Mädchen zu beobachten, ein Loch ins Papier zu stoßen."

Eikichi Otomo klopfte gegen die nächste Wand. "Und das alles, ohne mich zu fragen. Holz?"

"Regips. Wann sollte ich dich denn fragen? Und warum überhaupt? Du warst seit Jahren nicht mehr hier", beschwerte ich mich.

"Aber jetzt bin ich da. Und ich sehe, dass du einige schlechte Angewohnheiten übernommen hast. Erst die Wände und dann das Familienkatana. Warum liegt es neben dir im Bett?"

Ich lächelte dünn. "Weil ein Krieger seine Waffe immer bei sich tragen sollte."

"Ach so. Du siehst dich jetzt also schon als Krieger. Nimmst du es auch mit in die Schule?", spottete Eikichi.

"Bin ich als Mechapilot etwa kein Krieger?", beschwerte ich mich.

"Erwischt", sagte Vater und schmunzelte. Er griff in die Außentasche seines schwarzen Geschäftsanzuges und zog etwas hervor, was er mir zuwarf.

Ich fing es auf. "Was ist das?"

"Ein Orden. Dein wievielter? Ich glaube der fünfte oder sechste. Eigentlich wollte die United Earth eine richtig große Sache draus machen, so mit Fernsehansprache und Parade.

Aber angesichts deines Verhaltens habe ich das abgesagt."

"Dann hast du tatsächlich mal Rücksicht auf mich genommen? Irgendwie kann ich das nicht glauben."

Eikichi kam näher, stellte sich direkt neben mein Bett. Er betrachtete den Oni, der in demutsvoller Haltung neben meinem Bett kniete.

"Hier hat sich einiges verändert. Du hast dich verändert. Du hast einen Oni in deine Dienste aufgenommen. Das erklärt einige der Daten, die wir bei der Zerstörung des ZULU erhalten haben. Deine Besessenheit für das Katana, es hängt damit zusammen, richtig?"

"Wenn du alles weißt, warum fragst du dann? Gibt es da nicht eine Plattform mit fünfzigtausend Soldaten, die du leiten solltest?", erwiderte ich ärgerlich.

"Die Plattform, die Soldaten, die Versorgung der Erde mit Helium 3 und die Verteidigung der gesamten Menschheit, Akira", tadelte Eikichi leise.

Ich sah fort. "Kommt jetzt wieder die Ich bin ein hoch beschäftigter Mann-Platte?"
 

Vater setzte sich neben mich auf das Bett. "Junge. Ich gebe zu, ich habe mich die letzten Jahre überhaupt nicht um dich gekümmert. Ich wollte einfach nicht, dass du glaubst, dass ich dich wieder in einen Mecha stecken will..."

"Tolle Ausrede, alter Mann", erwiderte ich bissig und sah ihn wieder an.

"Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit, Akira", gestand er leise. "Es hat mehrere Gründe. Ich wusste, irgendwann würdest du wieder in einen Mecha klettern, ohne Frage. Alleine schon, weil Uno-kun da oben täglich ihr Leben riskiert. Aber das hatte Zeit. So habe ich zumindest gedacht.

Es konnte ja niemand wissen, dass die Kronosier binnen von zwei Wochen gleich zwei supermassive Angriffe starten würden."

"Du musst es wissen. Mit dem OLYMP steht und fällt die Erde", erwiderte ich trotzig.

Kurz sah es so aus, als wollte sich Eikichi rechtfertigen. Aber dann sah er zu Boden und nickte traurig. "Ja, ich hätte es wissen müssen. Ja, ich hätte dich viel früher zwingen sollen, in einen Mecha zu steigen, weil du der Beste bist. Ja, auf meinen Schultern ruht eine riesige Last. Eine Last, bei der du eifrig mittragen darfst, selbst wenn du nicht in einem Cockpit steckst."

"Das hast du gut erkannt, alter Mann."

Eikichi sah wieder zu mir herüber. "Ich habe Fehler gemacht. Ich war arrogant, trotzig und selbst verliebt. Allerdings hatte ich auch jeden Grund dazu. Mein Herr Sohn hat mich vielleicht in die Lage versetzt, Titanen-Station und OLYMP zu bauen. Aber mein Talent war es, das sie erschaffen und beschützt hat. Ich war es. Nicht du. Und während dir gestattet wurde, in deinem Schneckenhaus zu bleiben und deine Wunden zu lecken, war ich es, der die Menschheit weiter verteidigt hat. Ich und Uno-kun, die trotz deines kläglichen Abgangs weiter blieb und immer wieder ihr Leben riskiert hat!"

Ich erstarrte. Mein Inneres fühlte sich an, als würde eine eiskalte Hand wahllos über meine Eingeweide streichen.
 

Vater sah verlegen fort. "Tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich weiß, du machst dir Vorwürfe, weil du nicht früher zurückgekehrt bist.

Aber Uno-kun hat die Hoffnung nie aufgegeben. Es verging kein Tag, an dem sie nicht gesagt hat, dass du den nächsten wieder bereit bist, mit ihr auf den OLYMP zurück zu kehren.

Aber es ging halt nicht früher. Du warst noch nicht soweit. Und wenn ich drüber nachdenke, bist du es eigentlich immer noch nicht."

"Es ist fies von dir, Megumi ins Spiel zu bringen", zischte ich wütend.

Akari erhob sich aus ihrer Position. "Meister, soll ich...?"

Ich gebot ihr mit einer Hand Einhalt.

"Du hast deinen Oni gut dressiert, wie ich sehe. Sogar gut genug, dass er einen Menschen angreifen würde?"

"Nur jene die meinen Herrn attackieren", warf Akari vorlaut ein.

"So, so." Eikichi lächelte. "Das muß deine Besonderheit sein, Akira. Als du gehen musstest, hat auch Makoto den Mut verloren.

Aber kaum warst du wieder da, da ist er wieder in einen Mecha gestiegen. Zusammen mit Futabe-senseis Enkel bietet er ein tolles Gespann. Und deswegen bin ich eigentlich hier."

Vater sah wieder zu Boden. "Verzeih, dass ich erst jetzt damit herausrücke, Akira. Aber ich wollte... Die Gelegenheit nutzen, um seit langer Zeit wieder mit dir zu reden, bevor ich meine Forderungen stelle. Ich weiß, du hast nach der schlimmen Sache noch nicht deine volle Erinnerung zurück. Und ich verlange viel von dir. Vielleicht zu viel. Aber die Kronosier werden wieder aktiver. Und das, was du in den letzten drei Jahren erreicht hast, wird reichen müssen..."
 

"Vater", sagte ich leise.

Eikichi sah auf. "Du hast mich doch nicht eben wirklich Vater genannt?"

"Weil du tatsächlich mit mir geredet hast", bestätigte ich. "Ich habe schon vor einiger Zeit eine wichtige Entscheidung getroffen. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die ich beschützen möchte. Beschützen muß. Und damit ich dies kann, werde ich wieder öfter in einen Hawk steigen. Nicht so oft, wie du es gerne hättest, aber oft genug. Zu viele meiner Pflichten sind hier auf der Erde. Rechne mit mir, aber nimm mir nicht meine ganze Zeit."

Vater senkte den Kopf. "Ich werde tun was ich kann. Aber das Komitee hat..."

Das Komitee? Die Dachorganisation für die Gesamtverteidigung der Erde? Der größte Schmerz im Arsch seit der Zusammenführung von Frauen und Telefonen?

"Was haben die Bürohengste diesmal ausgeheckt?"

Eikichi seufzte tief. "Ihnen hat deine Performance bei der Vernichtung des ZULU sehr gut gefallen. Und auch die Leistung von Makoto und Yoshi hat sie begeistert. Sie wollen euch fünf haben. Für eine spezielle Einheit."

"Momomomomoment. Uns fünf? Klar, du meinst mich und Megumi, dazu Mako-kun. Aber was bitte hat Yoshi damit zu tun? Und wer ist Nummer fünf?", fragte ich aufgebracht.

"Nummer fünf ist meine Idee. Lilian, nein, Lonne ist eine hervorragende Pilotin. Eine wirklich hervorragende Pilotin. Wir können nicht auf sie verzichten. Das Komitee weiß nichts von ihrer Herkunft, aber ich habe ihnen einen Bericht über phänomenale Testergebnisse untergeschoben. Und Yoshi wird wieder zu Makoto ins Cockpit steigen. Das macht fünf, oder?"

"Ja. Das macht fünf", erwiderte ich wütend. Ich hatte keine Zweifel daran, dass Lilian für mich in einen Erdmecha steigen würde. Absolut keinen. Und das bedrückte mich. Ich würde sie ausnutzen. Und das machte mich nicht wirklich besser als die Kronosier, die ihr eine Bombe auf den Rücken geschnallt hatten, damit sie die Titanen-Station vernichtete, während sie im Glauben gelassen wurde, sie würde lediglich Scans vornehmen.
 

"Ihr werdet dafür aus den Hekatoncheiren ausgegliedert. Ihr bildet das Pantheon.

Das Komitee hat beschlossen, auf der fast fertigen ARTEMIS-Plattform drei Kreuzer auf Rumpf zu legen. Die BISMARCK-Klasse soll so schnell wie möglich gefertigt werden.

Seit heute Morgen arbeiten die Werften weltweit daran, Teile für die BISMARCK-Klasse vorzufertigen, um die Arbeiten voran zu treiben."

"BISMARCK-Klasse? Wie viel haben die Deutschen gezahlt, damit die Kreuzer diesen Namen bekommen?", fragte ich leicht belustigt.

"Gar nichts. Sie verfügen nur über die meisten freien Kapazitäten der Schwerindustrie, die für dieses Projekt benötigt werden. Man... hielt es für klug, ihnen Honig um den Bart zu schmieren. Jedenfalls wird der erste Kreuzer in einem halben Jahr zum Testflug bereit sein.

Die drei Kreuzer tragen die Namen BISMARCK, HINDENBURG und GRAF SPEE."

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Drei Kreuzer. Es geht also los."

Eikichi nickte schwer. "Ja. Mit ihnen und einem Kontingent aus zwanzig Begleitschiffen werden wir ein zweites Mal versuchen, den Mars anzugreifen. Du und deine Freunde werden als Speerspitze die Attacke anführen. Die Hekatoncheiren werden euch wahrscheinlich begleiten. Falls die Kreuzer nicht mit eigenen Kontingenten an Mechas ausgerüstet werden."

Eikichi erhob sich wieder. "Du weißt Bescheid. Damit ist meine Aufgabe erfüllt. Es kann sein, dass ich dich im Zuge der Vorbereitungen weit öfter einsetze als dir lieb ist. Aber gerade du solltest wissen, wie immens wichtig ein Angriff auf die Kronosier auf dem Mars ist. Und wie schwierig es ist."

Ich wusste, das sollte mir etwas sagen. Aber mein aufgeprägtes Wissen lieferte mir keinerlei Informationen. Wütend schüttelte ich den Kopf. Wann schenkte mir endlich jemand reinen Wein ein? "Es wird schon gehen."

"Es... Es freut mich, dass du die Sache bereits so gut verdaut hast, Akira." Vater ging zur Tür und löschte das Licht. "Schlaf jetzt weiter, mein Sohn. Ich kehre zum OLYMP zurück. Und rede mit Lonne und Yoshi..."
 

Die Tür glitt zu. Verdammt, der alte Mann verstand es nach wie vor, mich nicht nur tief in die Scheiße zu reiten. Nein, er hatte auch noch ein Riesentalent dazu, mir die wirklich unangenehmen Aufträge zuzuschustern.

"Akari?" "Meister?" "Du kannst dich ebenfalls wieder schlafen legen."

"Aber Akira-sama, ich schlafe doch nie", erwiderte der Oni.

"Hä? Und was machst du die ganze Nacht?", fragte ich erstaunt.

"Nun, ich mag es, dir beim schlafen zuzusehen, Akira-sama. Es hat so etwas Beruhigendes auf mich." Der Oni lächelte sanft, und mein anfangs aufbrausender Zorn wurde beinahe sofort wieder gestillt. "Wenn auch nichts im Fernsehen läuft", erklärte ich burschikos und zog die Decke bis zu meinem Kinn. "Gute Nacht, Akari."

"Gute Nacht, Meister."
 

2.

Ich weiß nicht, ob der alte Mann, der in dieser Welt mein Vater sein sollte, eine beruhigende Wirkung hatte, oder ob es der Gedanke war, dass Akari auf mich achtete, den Rest der Nacht schlief ich erstaunlich gut und ruhig.

Ich erwachte lange vor meiner Zeit, nur um Akari dabei zu erwischen, dass sie neben meinem Bett hockte und meine Manga-Sammlung durcharbeitete.

Wie ich es vermutete, hatte sie es dabei vor allem auf meine Shojos abgesehen.

"Oh, Akira-sama. Es ist noch viel zu früh. Du hast noch über eine halbe Stunde Zeit, bevor du aufstehen musst."

Ich winkte ab. "Dann nutze ich diese Zeit eben. Wolltest du jetzt wirklich mich im Schlaf betrachten oder hattest du es von vorne herein auf meine Mangas abgesehen?", triezte ich sie, während ich aus dem Bett stieg.

Akari wurde rot. "Nach vier Stunden wurde es tatsächlich etwas langweilig."

Ich grinste schief. Einerseits war ich beruhigt, dass sie nicht derart besessen von mir war. Andererseits beunruhigten mich die vier Stunden, die sie durch gehalten hatte.

"Da habe ich mir etwas zum lesen genommen. Oh, ich habe gar nicht gewusst, dass du so schöne Sachen in deinem Schrank hast. Liebesgeschichten, Beziehungsprobleme, alles was das traurige Herz erwartet."

Ich unterdrückte den dezenten Hinweis auf die andere Schrankseite, die mit Shonen geradezu überfüllt war. "Nun, was du dir da gekrallt hast, sind meine Shojo. Wenn du so willst, Mädchenmanga. Ich lese einige von ihnen ganz gerne." Ich streckte mich und beschloss, die überschüssige Zeit für eine Reihe Liegestütze und ein anschließendes Bad zu verwenden.

"Das ist eine interessante Seite an dir, Akira-sama. Bisher sah ich dich immer mehr als überlegenen Krieger an", murmelte Akari leise.

"Worauf willst du hinaus? Darf sich ein Mann nicht für Liebesbeziehungen interessieren? Macht ihn das schlechter?", blaffte ich.

Akari erschrak fürchterlich und verneigte sich vor mir. "Entschuldige, Meister, wenn meine Wortwahl dich erzürnt hat."

Ich spürte wie mir das Blut in die Wangen schoss. "Verzeih mir, Akari. Ich wollte dich nicht anbrüllen. Es ist nur so, dass Shojo im Gegensatz zu Shonen oftmals komplexere Geschichten sind. Mehr Inhalt quasi. Und sie berühren wesentlich öfter neue Themen als die Shonen.

Ich lese halt gerne, was mir Spaß macht. Und dabei achte ich nicht darauf, was mir Spaß machen sollte."

Akari strahlte mich an. "Das ist mein Meister."

Ich schüttelte resignierend den Kopf. Mein Oni hatte mal wieder auf absolute Verehrung geschaltet. Ich musste wirklich aufpassen. Nicht das mir das irgendwann gefiel.

**

Der Weg zur Schule erschien mir besonders schön. Auch wenn ich es nicht laut aussprach, das Gespräch mit Eikichi hatte mir gut getan. Natürlich, ich benahm mich ihm gegenüber meist wie ein ungestümer heranwachsender Wolf, der das Alphatier immer und immer wieder herausforderte, obwohl er weder die Kraft noch die Ausdauer hatte weder ihn zu besiegen, noch das Rudel sicher zu führen.

Und ich folgte seinem Willen nur äußerst ungern. Aber in dieser Anime-Konstruktwelt lief nicht alles so, dass es für mich immer von Vorteil war. Ich schmunzelte bei diesem Gedanken. Natürlich nicht, sonst würde es ja langweilig werden.

"Akira-sama!", rief eine Stimme hinter mir. Bevor ich mich umdrehen konnte, hing mir Lilian am Arm. Vorwurfsvoll sah mich das weißblonde Mädchen an. "Warum bist du ohne uns losgegangen?"

Ich tätschelte der kleinen Außerirdischen den Kopf. "Ich brauchte mal etwas Zeit zum nachdenken, Lilian. Vater war Gestern im Haus. Und er hat mir etwas sehr merkwürdiges gesagt."

Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung, und Lilian umklammerte meinen Arm, als würde nur dieser Griff sie vor dem sicheren Ertrinken retten.

"Dein Vater?", hakte sie nach.

"Ja. Er weiß, wer du bist. Ich meine, woher du kommst und so."

Lilians Augen schimmerten feucht. "Komisch. Ich weiß es nicht. Ich meine... Mein ganzes Leben erscheint mir wie durch eine milchige Scheibe aufgenommen, bis zu dem Punkt, als man mich in den Delta setzte und zur Erde jagte.

Er weiß es also? Ich wäre sicherlich längst im Gefängnis oder in einem Verhör, wenn er mich..." Sie schluckte leicht bei dem Gedanken, als Feind gefangen gesetzt zu werden.

"Ja. Er deckt dich. Aber die Geschichte hat einen Preis. Du erinnerst dich an unseren Schulausflug Gestern?"

"Wie versprochen habe ich mich mit meiner Freundin abgegeben und dir mehr Freiraum gelassen", beschwerte sie sich.

Tatsächlich hatte sie sehr viel Zeit mit Ami Shirai verbracht. Wusste der Henker, wieso die beiden einander als allerbeste Freundinnen ausgesucht hatten.

"Das ist es nicht. Du hast gesehen wie Blue Lightning eingegriffen hat?", setzte ich den Gedanken fort.

"Ja, habe ich. Du hast wirklich eine exzellente Choreographie drauf. Dazu kommen deine überdurchschnittliche Präzision und eine traumhaft gute Synchronisation mit deinem Hawk", stellte sie fachmännisch fest.

Ich nickte grinsend. "Du weißt, dass ich in Blue saß, richtig?"

"Natürlich. Wer dich einmal im Kampf erlebt hat, vergisst es nicht", erwiderte sie mit einem Lächeln.

"Jedenfalls, Makoto und Yoshi sind zusammen in einen Eagle geklettert und haben mich unterstützt."

"Yoshi auch? Hm. Das erklärt die äußerst präzisen Schüsse. Ich beobachte Yoshi-sama öfter bei seinem Bogentraining. Er ist ein großer Meister in dieser Disziplin. Die ballistischen Waffen des Eagle müssen ja wie für ihn geschaffen sein."

"Ja, das denkt mein Vater auch. Und noch etwas anderes denkt er. Er will, dass..."

"Ich bin dagegen!", klang neben mir die Stimme von Megumi auf. "Guten Morgen, Akira."

Erschrocken wirbelte ich herum. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen gehört, geschweige denn ihre Präsenz gespürt.

"Guten Morgen", erwiderte ich.

"Ich bin dagegen. Und dabei bleibt es. Akira, sie würde es nur wegen dir tun. Und damit nutzt du sie schlimmer aus als ihre eigene Rasse dies getan hat", sagte sie in einem beschwörenden Ton.

"Was?", fragte Lilian erstaunt.

"Ja, ich weiß das. Und ich habe mich lange mit diesem Gedanken beschäftigt, Megumi. Aber... Vater deckt sie. Es würde noch leichter gehen, wenn sie einen aktiven Nutzen für die Menschheit hat."

"Wer?", warf Lilian ein.

"Es wäre aber noch leichter, sie zu verstecken, wenn sie überhaupt gar nicht erst ins Rampenlicht treten würde", konterte Megumi wieder. "Wenn sie keiner kennt, kann sie auch keiner..."

"Wie? Worum geht es?", fragte Lilian mit unschuldigem Augenaufschlag.

"Es geht um dich. Vater wollte nämlich, dass...", begann ich, wurde aber von Lilian unterbrochen.

"Apropos Vater. Akira-sama, ich finde dieses Leben sehr schön und ich finde es wundervoll mit dir, Yoshi-sama, Megumi-sama, Makoto-sama, Kei-sama und Sakura-sensei zusammen zu leben. Aber irgendwie erscheint es mir nicht richtig, dies ohne eine Gegenleistung zu tun.

Ich meine, auch wenn ich es nicht gewusst habe, beinahe hätte ich achttausend Menschen getötet. Dennoch hast du mich aufgenommen und mich beschützt. Du und Megumi-sama." Lilian schluckte hart. "Und du lässt mich dieses ganz normale Leben leben. Ich würde dafür gerne etwas zurückgeben. Aber es gibt leider nur eine Sache, die ich wirklich gut kann. Und da dein Vater ohnehin Bescheid weiß, Akira-sama..."

Sie ließ meinen Arm los, trat einen Schritt zurück und verbeugte sich tief vor mir und Megumi. "Colonel Otomo, Captain Uno, ich bitte Sie, meine Hilfe als Mechapilotin anzunehmen."
 

Ich spürte, wie sich Megumis Finger in meinen Arm krallten. "Das hast du mit ihr abgesprochen", warf sie mir vor.

"Hey. Ich bin genauso überrascht wie du", erwiderte ich. "Aber seien wir mal ehrlich. Sie ist eine Spitzenpilotin, und wir können sie im Pantheon sicher sehr gut gebrauchen."

"Pantheon?", argwöhnte Megumi.

"Eine neue Spezialeinheit, die frisch ausgehoben wird. Ich erzähle dir später davon. Lilian, nun komm wieder hoch mit dem Kopf. Ich werde mit Vater reden, ob es möglich ist."

"Stapel mal nicht so tief, ja?", zischte Megumi und krallte sich noch etwas stärker in meinen Arm.

Lilian beendete ihre Verbeugung und hing einen Augenblick später wieder an meinem Arm. "Danke. Danke, Ihr beiden. Mehr als diese Chance will ich ja gar nicht."

Ich seufzte leise. "Ich nutze dich aus, Lilian."

"Das siehst du falsch, Akira-sama. Ich nutze dich aus, weil ich ohne Gegenleistung bei dir wohne. Weil du mich vor dem Militär bewahrt hast und mich immer noch versteckst.

Es ist nur recht und billig, wenn ich etwas zurückgebe."
 

"Was zurückgeben?", erklang hinter mir eine Männerstimme. Gleichzeitig spürte ich die Präsenz einer großen Wut.

Ich sah nach hinten und erkannte meinen Kumpel Doitsu. Seine Augen fixierten mich und die Geste, mit der er seine Brille die Nase hoch schob, hatte etwas Kämpferisches. "Akira..."

"Reg dich ab, reg dich ab, bitte", sagte ich schnell. "Egal, was du denkst, es ist falsch."

"Oh, ich denke gerade eine ganze Menge, mein alter Freund." Er sah zu Megumi herüber und übergangslos lächelte er. "Guten Morgen, Megumi-chan." Danach sah er Lilian an. "Guten Morgen, Lilian-chan. Wenn dieser große plumpe Trottel irgendeine schlimme Sache mit dir vorhat, dann sag es mir, ja?"

Nachdenklich, mit einem Finger auf der Unterlippe murmelte sie: "Also, die Sache kann man schon als schlimm betrachten. Aber ich mache es ja freiwillig."

Ich hatte das dringende Bedürfnis, mir mit einer Hand vor die Stirn zu schlagen. Lilians Worte hatten in etwa den gleichen Effekt wie wenn man einen Benzinkanister in einen Brand warf.

Doitsu explodierte vor meinen Augen regelrecht. "AKIRAAAAAA!"

"Es... Es geht nur um Tod und Verwüstung. Nicht was du schon wieder denkst, Junge."

"Tod? Verwüstung?", fragte er mit mühsam beherrschter Wut.

"Ja, das kommt in etwa hin", bestätigte Lilian nachdenklich.

"Ich kapiere gar nichts", beschwerte sich der streng erzogene Junge.

"Willkommen in meiner Welt", sagte ich dazu.

Doitsu regte sich schnell wieder ab. Die Aura aus Wut schraubte sich langsam herunter. Wieder schob er die Brille die Nase hinauf. Dabei ging ein Schimmer über die Gläser. "Wie dem auch sei. Akira, komm heute Abend zu der alten Lagerhalle, in der wir neulich gepokert haben. Und bring dein Familienschwert mit."

Doitsu ging an uns vorbei und winkte nach hinten ohne sich umzudrehen. "Bis dann."
 

Ich sah ihm nach. "Mann, ist der sauer."

"Wegen mir?", fragte Lilian bestürzt. "Soll... Soll ich mit ihm reden? Ich meine, ich..."

"Nein", sagte Megumi fest. "Dies hat nichts mit dir oder mir zu tun. Es geht um etwas vollkommen anderes. Er war wütend auf Akira, und er war eifersüchtig. Aber das mit der Lagerhalle... Es hat andere Gründe."

"Eifersüchtig? Wieso das denn?", fragte Lilian und begann auf einem Schokoriegel zu kauen, den sie aus ihrer Tasche hervorgezaubert hatte.

Megumi lächelte dünn. "Mal in letzter Zeit in den Spiegel gesehen?"

"Ach Quatsch", rief sie unbeschwert. "Du bist doch viel hübscher als ich, Megumi-sama."

Bei diesen Worten wurde Megumi rot. "Jetzt redest du Unsinn."

"Stimmt gar nicht. Akira-sama denkt doch dasselbe. Nicht wahr?"

Entsetzt ruckte mein Kopf hoch. Von einem Moment zum anderen hatte ich das Gefühl, gerade mit überhöhter Geschwindigkeit gegen eine massive Mauer gefahren worden zu sein.

"Nicht wahr, Akira-sama?", hakte Lilian nach.

"Ach", sagte ich und lachte leise, "Megumi weiß doch genau, was ich von ihr denke."

"So, weiß ich das?", fragte sie, senkte den Blick, ließ meinen Arm los und beschleunigte ihren Schritt.

"Megumi", sagte ich leise. Doch das, was ich für schnelle Schritte hielt, war in Wirklichkeit irgendeine Form von getarntem Laufen. Schnell war sie um die nächste Ecke verschwunden.

"Akira-sama", tadelte mich Lilian, "manchmal bist du so was von dämlich."

Ich wollte etwas erwidern, wütend über ihre Wortwahl sein.

Doch dann senkte ich nur resignierend den Kopf. "Da hast du wohl Recht, Lilian."
 

3.

Unterricht bei Ino-Sensei bedeutete vor allem eines: Yoshi strahlte mit seinem Lächeln, dass es beinahe eine Pein war, wenn man ihn direkt ansehen musste. Und in dieser Stunde war es besonders schlimm. Das lag wohl daran, dass Sakura ihm erlaubt hatte, ihr dabei zu helfen, was sie heute tragen wollte. Und der gute Yoshi war sichtlich stolz auf sein Werk.

Ich hingegen befürchtete, dass Sakura für den schwarzen Minirock und den engen, roten Blazer mittelfristig Ärger mit der Schulleitung kriegen würde.

Andererseits, bei den wohl geformten Beinen wäre es ein Verbrechen gewesen, sie in einen langen Rock oder in eine schlabberige Hose zu hüllen.

Ach, was dachte ich da, das war meine Cousine da vorne.

Aber wir waren nicht blutsverwandt.

Dennoch blieb sie meine Cousine. Und warum dachte ich überhaupt so über sie nach? Ich war doch... Ja. Was war ich eigentlich?

"Akira!" Verwirrt sah ich auf.

"So, da nun auch Akira-kun wieder aufmerksam ist, können wir die Stunde fortsetzen. Die Masse eines Körpers nimmt bei Beschleunigung nach folgender Formel zu... Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit hoch zwei. Diese Formel erklärt die vereinfachte Form der Relativitätstheorie. Es gibt dazu noch die spezielle Relativitätstheorie, aber außer mir gibt es weltweit nur zwanzig Menschen, die sie im vollen Umfang verstehen."

Ich unterdrückte ein Auflachen. Für mich stellte die spezielle Form ein Buch mit sieben Siegeln dar. Und Sakura wollte sie tatsächlich beherrschen? Das war doch etwas sehr aus der Luft gegriffen.

Ihr böser Blick traf mich, und ich beschloss, meine Gedanken hinter einer undurchdringlichen Maske zu verstecken.

Glücklicherweise rettete mich der Pausengong.

"Ich möchte, dass Ihr alle bis zur nächsten Stunde die Biographie des Mannes studiert, der die Relativitätstheorie aufgestellt hat. Albert Einstein. Ihr seid entlassen."

Ich erhob mich. "Klasse verneigen."
 

Ein merkwürdiges Ritual, welches Respekt gegenüber der Lehrkraft ausdrücken sollte. Ich hielt es für antiquiert und fadenscheinig. Aber wann wurde ich schon mal gefragt?

"Yoshi", raunte ich zur Seite, "du musst dich nicht bis zu deinem Tisch hinab verbeugen."

"Klappe", raunte er zurück. "Ich drücke nur meinen tiefen Respekt vor Ino-Sensei aus."

"Respekt vor ihr oder vor gewissen körperlichen Attributen?", erwiderte ich grinsend, während ich meinen Platz verließ.

"Suchst du heute Streit, Akira?", erwiderte Yoshi und baute sich vor mir auf. "Ich habe von der Sache mit Doitsu gehört. Willst du jetzt auch noch mit mir Ärger?"

"Hat dir heute jemand was in den Kaffee getan?", beschwerte ich mich. "Ich bin nicht anders als sonst auch."

"Vielleicht sollte ich mir den wahren Akira dann mal eine Zeitlang genauer ansehen", brummte er.

Ich verfrachtete meine Hände tief in den Hosentaschen. "Tu, was du nicht lassen kannst."

Langsam passierte ich ihn und verließ den Raum.
 

"Akira!" Yoshi holte mich ein und legte mir eine Hand auf die Schulter. "Tut mir Leid, ich bin wohl etwas gereizt. Die Sache mit dem Eagle Gestern und dein Angebot heute, mit einzusteigen in dieses Pantheon..."

"Schon gut. Ich habe heute selbst nicht die beste Laune", gestand ich.

Langsam füllte sich der Flur mit Schülern. Aus dem Raum der Parallelklasse trat Megumi hervor. Sie musterte mich für einen Moment, bevor ihr Blick so eiskalt wurde, wie sie es sonst nur bei Fremden tat.

Ich spürte, wie sich mein Magen umdrehte. "Megumi, ich..."

Barsch wandte sie sich ab und ging wieder in die Klasse zurück.

"Nanu? Was war das denn?", fragte Yoshi erstaunt.

"Der Grund dafür, dass meine Laune heute im Keller ist." Wütend stopfte ich die Hände noch tiefer in meine Hose und schritt schneller aus.
 

"Wohin gehen wir eigentlich?", fragte Yoshi. "Zum Dach geht es jedenfalls in eine andere Richtung."

"Wir gehen zur Sporthalle." Ich nahm die Linke aus der Hosentasche und reichte Yoshi einen Zettel."

"Hm. Von wem ist denn dieser Zettel?"

Ich deutete auf die mit feinen Linien geschriebenen Schriftzeichen. "Nach der Handschrift zu urteilen war es ein Mädchen."

"Ein Mädchen? Hm, der Text liest sich mehr wie eine Herausforderung: Triff mich in der große Pause im Abstellraum der Turnhalle."

Er sah mich an. "Keine Unterschrift. Das könnte eine Falle sein."

"Natürlich könnte es eine Falle sein. Deshalb bin ich ja so froh, dass du mitkommst, Yoshi", erwiderte ich, nahm den Zettel zurück und stopfte ihn zurück in die Tasche.

"Wäre es dann nicht besser, wenn ich die anderen rufe?", murmelte er nachdenklich.

"Nein, besser nicht. Denn es könnte ja auch sein, dass es keine Falle ist. Und vielleicht ängstige ich ein armes Mädchen vollkommen zu Tode, wenn ich mit einem Berserkerkommando aufschlage..."

"Oh, du bist ja so ein guter Mensch", sagte Yoshi grinsend und klopfte mir auf die Schulter. "Und wenn es doch eine Falle ist, kriege ich die Hälfte der Schläge ab, nicht?"

"Geteiltes Leid ist halbes Leid", bestätigte ich grinsend.

**

Während ich meinen Gang zur Turnhalle antrat, sah ich ab und an über meine Schulter zurück. Falls es eine Falle war, dann musste es jemanden geben, der Bescheid gab, dass ich wirklich unterwegs war. Tatsächlich hatte ich auch mehrmals das Gefühl, einen brennenden Blick in meinem Nacken zu haben. Doch wenn ich mich umsah, konnte ich niemanden sehen.

Yoshi und ich erreichten die Turnhalle.

Dort übernahm unsere lange Erfahrung. Wir gingen am Hallenrand entlang, vermieden, die Schuhe über den Boden quietschen zu lassen und bewegten uns gleichmäßig, aber nicht zu schnell. Leise war hier das Zauberwort.

Vor der Tür des Abstellraums teilten wir uns auf. Yoshi ging links in Stellung, ich rechts. Er nickte mir zu und ich riss die Tür auf. Wir waren bereit, entweder sofort stiften zu gehen oder einen Kampf zu beginnen.

Allerdings nicht bereit für das, was sich unseren Augen bot.

Ich spürte, wie mir die Kinnlade herab sackte.

Vor mir und Yoshi hockten zwei Jungen aus meinem Jahrgang auf einer Matte und lösten sich gerade von einem intensiven Kuss.

Beide wurden puterrot, und ich spürte, wie mir selbst das Blut in die Wangen schoss.

"Ich... Ich kann das erklären, Akira-kun!", haspelte der hintere hastig hervor. Sein Gegenüber verbarg das Gesicht an seiner Brust und zitterte. "Sieh mal, er ist in Wirklichkeit ein Mädchen und nur wegen dieser dämlichen Wette mit ihrem Vater hat sie sich... Ich meine, ich habe es zufällig herausbekommen und wir haben uns verliebt und..."

Für einen Moment beobachtete ich die beiden genauer. Zwei Namen wollten sich in mein Bewusstsein drängen, aber ich unterdrückte das. Yoshi starrte noch immer mit weit aufgerissenen Augen auf die Matte herab.

"Hör mal", sagte ich und wandte den Blick ab, "bisher habe ich noch keinen von euch beiden erkannt. Und ich habe auch nichts gesehen, klar? Also macht ganz schnell einen Abgang."

Die beiden kamen hoch und wollten sich an mir vorbei drücken, mit dem Wort Entschuldigung auf den Lippen.

Aber ich hielt sie auf. "Deine Freundin sollte sich das Hemd wieder zuknöpfen, Kumpel."

Die beiden wurden erneut puterrot. Und nachdem besagtes Hemd und die Uniformjacke geschlossen waren, verließen sie mit einer erneuten Entschuldigung den Geräteraum.
 

Ärgerlich schüttelte ich den Kopf. "Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert hat. Zwei Jungen sich küssen zu sehen oder jemanden bei etwas zu erwischen, was ich nicht tun kann."

Yoshi erwachte aus seiner Starre und hob abwehrend die Arme. "Wenn du unbedingt einen Jungen küssen willst, ich helfe dir jedenfalls nicht."

Ich winkte müde ab. "Ach, Quatsch. Der eine war wirklich ein Mädchen. Ich habe den Brustansatz gesehen. Und wenn ich jemanden küssen will, dann sicher nicht so einen hässlichen Burschen wie dich."

"Da spricht mal wieder der pure Neid aus dir, Akira", erwiderte er und legte in einer dramatischen Geste eine Hand vor die Stirn. "Es ist aber auch ein Fluch, so gut auszusehen wie... DER SCHON WIEDER!"

Mein Kopf fuhr herum. Wie der schon wieder?

Ich sah zum Eingang und erkannte einen jungen Mann mit sehr ernstem Blick und einer Glock19 in der Hand. Er schritt sehr schnell auf Yoshi zu, und der ernste Blick wurde zu Ärger, während er die Waffe hob. "Du schon wieder."

Die Waffe zeigte beinahe auf Yoshi, als dieser einen schnellen Schritt vor trat und den Waffenarm beiseite drückte. Seine andere Hand zuckte vor und zielte mit dem Handballen auf das Kinn seines Gegenübers.

Der lächelte nur gering schätzend und tauchte unter dem Schlag hindurch und riss sein Knie hoch.

Ich wollte eingreifen und machte einen schnellen Schritt auf ihn zu. So, das war also der Kerl, der Yoshi Vorgestern bei der Observation von Sarah Anderson einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte?

Ich duckte mich, um aus dem Schussfeld der fort gedrückten Pistole zu kommen und machte mich bereit, den Unbekannten nach bester American Football-Manier zu tacklen, als sich eine zarte Hand auf die Schulter von Yoshis Spielkameraden legte. Die Aufwärtsbewegung des Knies stoppte. Eine andere Hand legte sich auf Yoshis Gesicht und sofort verlor der Körper seine ganze Anspannung. "Hört auf. Dafür sind wir nicht hier", stellte das junge Mädchen fest, welchem die Hände gehörten.
 

Sie sah zu mir herüber. "Otomo-sama. Danke, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Wir müssen uns unterhalten."

"Sag nicht sama zu mir, Sarah", erwiderte ich.

Sie lächelte fein, während sie mit einer Kraft, die man ihrem schlanken Körper gar nicht zugetraut hätte, die beiden Streithähne einen Meter auseinander schob.

"Es ist angemessen für den Mann, der mir das Leben gerettet hat." Sie sah den Fremden an. "Daisuke. Du weißt, was zu tun ist."

Der junge Bursche ging in Hab acht. "Ma'am." Er sah zu Yoshi herüber. "Ich checke den Raum auf Wanzen. Bewache du die Tür."

Yoshi nickte und schloss die Türen zur Halle wieder.

Währenddessen zückte Daisuke eine flache Apparatur, mit der er die Wände, die Decke und den Fußboden abging. "Sauber, Ma'am."

"Gut. Aktiviere jetzt den Störsender, Daisuke."

Der junge Mann mit dem viel zu ernsten Gesicht tauschte die Apparaturen aus und stellte ein kleines Gerät neben das einzige Fenster. Kurz war ein sehr hoher Ton zu hören. Dann verriet mir nur ein kleines Ziehen im Hinterkopf, dass der Ton noch da war, aber in eigentlich unhörbare Bereiche gewechselt hatte.

"Die Fensterscheibe nimmt unsichtbar für das menschliche Auge die Vibrationen des Schalls auf, die beim sprechen entstehen. Mittels eines Spezialgeräts, das einen Laserstrahl auf die Scheibe projiziert, können diese nicht wahrnehmbaren Vibrationen in Worte übertragen werden", erklärte Daisuke leise. "Mein Gerät verhindert das."

Ich pfiff anerkennend. Bereits seit der Schilderung durch Yoshi hatte ich geahnt, dass dieser Kerl einiges auf dem Kasten hatte. Aber jetzt glaubte ich wirklich, es mit einem Profi zu tun zu haben.

"Und Wanzen innerhalb des Raumes konnten nicht angemessen werden, richtig?", fragte ich.

"Ja, Colonel", antwortete mir der junge Mann mit ernster Miene. Er konnte kaum älter sein als ich. Moment, hatte er mich gerade Colonel genannt?
 

Yoshi ging in Angriffsstellung, ich selbst machte mich bereit, mich notfalls auf Daisuke zu stürzen. Was ging hier eigentlich ab?

"Ruhig, Otomo-sama. Ihr seid beide bei dem gleichen Verein. Daisuke Honda gehört der United Earth Mecha Force an. Er bekleidet dort den Rang eines Second Lieutenant. Übrigens ist er auch ein Mecha-Pilot, wenngleich er im Moment meinem Schutz zugeteilt ist."

Sie sah mich an, trat zu mir und blickte mir tief in die Augen. "Du... Du erinnerst dich nicht mehr, richtig? Du weißt es nicht mehr?"

Ich starrte auf das kleinere Mädchen hinab und beschloss, erst einmal gar nichts zu sagen.

"Otomo-sama. Nein. Akira-chan. Ich muß wohl etwas weiter ausholen, damit du verstehst. Damit du dich wieder erinnerst. Ich bin... eine Escaped."

Escaped. Das englische Wort für Entkommen. Es ließ etwas bei mir klingeln, Teufel auch, Big Ben begann in meinem Kopf die Mittagsstunde zu verkünden. Übergangslos fühlte ich, wie ich auf die Knie sank. Wie mir heiß und kalt zugleich wurde. Wie in meinem Kopf ein Datenstrom losgetreten wurde, der mir beinahe den Verstand raubte. Ich sackte nach vorne und wurde von Sarah aufgefangen. Ich rang mit meiner Fassung und mit meinem Verstand.

"Es ist gut, Akira-chan", hauchte sie. "Es ist gut. Sträube dich nicht gegen die Erinnerungen. Lass sie auf dich zukommen. Dann geht es schneller vorbei."
 

Übergangslos wechselte die Dateninvasion in meinem Kopf mit einem Flashback ab. Ich fühlte mich plötzlich schwerelos und sah alles durch eine Art bernsteinfarbenen Schimmer. Ich fühlte eine drückende Wärme, eine alles umfassende Müdigkeit. Nur ein leichter Schmerz bemühte sich, mich aus dieser Umklammerung zu retten.

Mühsam, unendlich mühsam drehte ich den Kopf und erkannte durch den bernsteinfarbenen Schimmer eine Art Tank neben mir. In dem Tank schwebte ein weiblicher Körper. Und hinter dem Tank waren zwei, drei, vier, acht, zehn, zwanzig, fünfzig weitere.

Ich spürte ein Würgen in meiner Kehle und kam in die Realität zurück. Wo ich mich prompt übergab.
 

4.

Mitfühlend wischte Sarah mir den Mund ab, während Yoshi mit sichtlich angewiderter Miene den Eimer mit meinem Frühstück entsorgte. Ich japste leise und hatte beide Hände um meinen Leib geschlungen.

"Du erinnerst dich jetzt, oder?", fragte Sarah sanft.

Daisuke warf mir einen undefinierbaren Blick zu, der kurz darauf zu Sarah hinüber glitt und wehmütig wurde.

"Ja", hauchte ich leise. "Etwas. Die Tanks. Die endlosen Reihen von Tanks. Das war..."

"Ja, es war eine kronosische Station. Und in den Tanks, das waren Menschen wie du und ich. Wir waren das." Sarah sah mich aus ihren großen Augen an. Die Erinnerung machte ihr zu schaffen, das merkte ich, als die ersten Tränen in ihnen zu schwimmen begannen. "Und ohne dich... Würde ich immer noch in einem dieser Tanks stecken."

Mühsam richtete ich den Oberkörper auf. Warum meldete sich meine aufgeprägte Erinnerung nicht? Warum verriet sie nicht einfach, was damals passiert sein sollte?

Mühsam, nur sehr mühsam fiel ein Stück nach dem anderen in dem fragmentalen Mosaik, das ich Erinnerung schimpfte, zusammen.

"Die Kronosier", brachte ich leise hervor. "Sie haben uns benutzt. Ich wurde... Entführt, nachdem ich vom Mars..." Ich kippte nach vorne, konnte mich nur mit Mühe auf den Armen abfangen. Der Mars. Für einen winzigen Moment erinnerte ich mich an... An unseren Angriff. Die ursprünglichen Hekatoncheiren. Unsere unmögliche Mission.

Dann die Heimkehr, der Schmerz, der so tief in meiner Seele fest saß.

Und dann die Entführung. Danach lange Zeit nichts, bis zu dem Moment, an dem ich in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit aufgewacht war.

Ich steckte in einem Tank, übersäht mit Anschlüssen und Verbindungen, gefangen von den Kronosiern und ihren menschlichen Söldnern.

"Die Kronosier haben eine überragende Biotechnologie", sagte Sarah leise. "Sie können Dinge machen, von denen wir nur träumen können."

"Richtig. Sie haben das Potential menschlicher Gehirne voll erkannt", murmelte ich leise.

"Ja. Sie haben uns missbraucht. Vielmehr unsere Gehirne. Die absolute Leistungsfähigkeit dieser organischen Rechenmaschinen genutzt und für ihre finsteren Zwecke verwendet."
 

Die Datenfragmente, die Tanks. Eine einsame Südseeinsel schoss in meine Gedanken.

Ich war... Wir waren Teil eines Superrechners. Wir und hundert weitere Menschen.

Wieder würgte ich, aber es kam nichts mehr. Die Zeiten im Halbschlaf, die endlose Schweberei in der Dämmerung. Die komplizierten Datenströme, die durch mein Gehirn jagten.

Und der Gedanke daran, wie plötzlich zwei Kronosier in Begleitung von drei Menschen vor meinem Tank standen. Ich erwachte aus meinem Dämmerschlaf und sah sie direkt an, einen nach dem anderen. Aber ich konnte nichts tun, absolut nichts tun.

"Das ist also Akira Otomo", sagte einer der Kronosier. "Hm, er hat hervorragende Werte. Ich denke, er ist der ideale Proband für unser Experiment. Löschen Sie seine Erinnerungen. Mal sehen, ob sein Gehirn ohne diesen Ballast noch effektiver und noch schneller arbeitet."

Einer der Menschen warf ein: "Wann wollen wir uns daran wagen, ein Gehirn autark in Nährflüssigkeit zu halten? Wäre Otomo nicht der richtige Kandidat dafür? Die Körper verbrauchen doch nur unnötige Ressourcen."

Das Gehirn löschen? Und aus meinem Körper entfernen? Meine Hand schoss hoch, schlug von innen gegen den Tank.

"Oh, oh, der junge Mann hat doch einiges an Energie. Erhöht die Dosis des Tranquillizers", forderte der andere Kronosier.

"Das geht nicht. Es würde seine Gehirnleistung zu sehr herabsetzen", wandte einer der Menschen ein.

"Dann beginnt mit seiner Gehirnlöschung. Ohne seine Erinnerung ist er nur eine menschliche Puppe, mit der wir tun und lassen können, was wir wollen." Lachend, laut lachend gingen die fünf weiter. Zurück blieb ich, verzweifelt, entsetzt. Vor Angst halb tot.
 

"Akira-chan. Akira-chan. Es ist ja gut. Es ist gut", sagte Sarah und strich sanft über mein Haar. Sie hielt mich an ihre Brust gedrückt und wiegte mich sanft. Tränen, meine Tränen hatten ihr Uniformhemd durchnässt. Aber das schien ihr nichts auszumachen.

Ich spürte, wie ich am ganzen Leib zitterte. "Ich... Ich erinnere mich wieder. Ich erinnere mich wieder."

"Weißt du auch wieder, dass du uns alle gerettet hast?", fragte Sarah und ließ mich fahren. Mühsam gelang es mir, mich auf meine Hacken zu setzen. Ich schüttelte den Kopf.

"Die Kronosier hatten damit begonnen, dein Gehirn zu löschen, Akira-chan. Mit jeder Stunde, mit jeder Minute hast du etwas von deinem Ich eingebüßt. Aber du hast es nicht akzeptiert.

Ich schwelgte zu dieser Zeit im Datenstrom, war vollkommen aufgegangen in der Konstruktrealität des Superrechners. Ich hatte schon lange aufgegeben und empfand die unbewusste Arbeit als meine einzige Wirklichkeit. Aber du, Akira-chan, du hast gekämpft."

Sie lächelte, als sie mein Gesicht mit einem zweiten Taschentuch trocknete. "Du hast dich nicht aufgegeben. Du bist in die Ebene eingetreten, hast sie durcheinander gewirbelt. Aus dem Ort der Wärme und Ordnung einen Hort des Chaos gemacht. Und bevor ich mich versah, war meine Erinnerung wieder da, hatte ich meine Persönlichkeit wieder. Ich und die anderen Gefangenen wussten plötzlich wieder, wer wir waren. Und wir stemmten uns dagegen, missbraucht zu werden. Mit dir als Anführer beherrschten wir die Konstruktwelt. Und als sie kollabierte, gelang es uns, einen Notruf abzusetzen, der die UEMF alarmierte."

Ihre Hand strich über mein Gesicht, glitt den Kopf hoch und kam auf einer Narbe auf meiner linken Schläfe zum liegen. "Hier, Akira-chan. Hier hat der Kontakt gesessen, den die Wissenschaftler künstlich überladen haben, um dich schnell zu töten. Sie hatten dich als Gefahr erkannt und sahen in deiner Eliminierung das beste Mittel. Sie haben versucht, dein Gehirn zu kochen. Du wurdest verletzt, sehr schwer verletzt."

Ich nickte schwer und erfühlte die Narbe selbst. Bisher hatte ich sie nie beachtet. Nur instinktiv hatte ich mich immer so gekämmt, dass sie nicht zu sehen war.
 

Wieder wähnte ich mich in dem Tank. Ich spürte den beißenden Schmerz, fühlte die Hitze, das Bild vor meinen Augen flackerte, während die bernsteinfarbene Flüssigkeit Blasen schlug.

Vor meinem Tank stand ein Kronosier und starrte mit brennenden Augen zu mir hinauf. Im Tank neben mir schlug das Mädchen, Sarah, gegen die Wände. Verzweifelt sah sie zu mir herüber.

"Gleich warst du mal, Otomo!", rief der Kronosier.

Das war eine Sekunde, bevor ihn eine Kugel in den Kopf traf und von den Beinen holte.

Kurz darauf sah ich einen Mann im für Mechapiloten so typischen Druckanzug über der Leiche stehen. Er ruckte herum und ich sah sein Gesicht. Sein Entsetzen, als er sehen musste, was ich nur spürte. Und die alles entscheidende Handbewegung, die in diesem Moment mein Leben rettete.
 

Ich sah auf, in der Realität. Mein Blick begegnete dem von Daisuke. Mir fehlten die Worte. Meine Kehle war staubtrocken. Wieder schimmerten Tränen in meinen Augen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nicht ein Ton heraus.

Daisuke winkte ab. "Schon gut, Colonel. Schon gut. Ich wünschte nur, ich hätte den Gamma damals eine Minute schneller erledigt." Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. "Nur eine Minute."

"Danke", kam endlich das Wort hervor, um das ich so gerungen hatte.

Daisuke schluckte hart. "Es war mir eine Ehre", brachte er heiser hervor.
 

Sarah sah mich an. "Erinnerst du dich, Akira-chan? Wir anderen wurden aus den Tanks gerettet." Ihr Blick traf kurz den jungen Offizier, der mit hochrotem Kopf beiseite blickte. "Dabei entstanden Freundschaften, die noch immer halten. Freundschaften und mehr."

Betreten sah Daisuke zu Boden. Ich wusste, dass es auf ihn und Sarah nicht zutraf. Aber man brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass die beiden durchaus mehr hätten teilen können.

"Du, Akira wurdest nicht befreit. Du warst so schwer verletzt, der Biotank war deine einzige Chance. Ein langes halbes Jahr warst du darin gefangen."
 

Erinnerungen drängten darum, befreit zu werden. Ich sah mich in diesem Tank schweben, schwerelos, bis in alle Ewigkeit.

Und dann dieses Mädchen, das gegen meinen Tank schlug, der zu diesem Zeitpunkt längst auf dem OLYMP stand. "Ich lass dich nicht gehen", hörte ich es sagen. Das Mädchen sah hoch und ich erkannte... Megumi.
 

Ich schluckte trocken und hart. "Megumi", murmelte ich leise.

"Ja. Sie war jeden Tag bei dir. Sie hat die Hoffnung nie aufgegeben. Hundertachtzig Tage lang verbrachte sie jede freie Minute bei dir. Wir alle haben gehofft, und sie hat unsere Hoffnungen gebündelt.

In dieser Zeit konnte ich dich nur einmal besuchen. Und du hast mich nicht einmal erkannt. Aber ich war... eingebunden in die Verteidigung der Erde.

Denn ich und sieben weitere Menschen, wir... Wir trugen noch immer das Wissen in uns, welches wir als Supercomputer erarbeitet hatten. Wir wurden die Escaped. Das Wissen wurde zu einem Schlüssel. Zum Schlüssel, um unsere Technologie weiter zu entwickeln, um uns in die Lage zu versetzen, die Kronosier zu stoppen und vielleicht zu besiegen.

Die Biotechnik zu erlangen, um dich doch noch zu heilen, Akira-chan."
 

Die Escaped. Es fiel mir schwer, in diesem Wust an neuen Erinnerungen und Informationen eine bestimmte Sache hervor zu heben. Aber Funken für Funken setzte sich meine Erinnerung zusammen. Die Escaped. Der organische Supercomputer, dessen Informationen wir so viel verdankten. Unter anderem verdankten wir es diesen Informationen, dass wir wesentlich mehr Leute in Hawks, Sparrows und Eagles setzen konnten, als es vorher der Fall gewesen war.

Den Stand der Kronosier, die anscheinend jedermann einen Daishi fliegen lassen konnten, hatten wir immer noch nicht erreicht. Aber mit den heftiger werdenden Angriffen hatten wir auch eine stärker werdende Verteidigung aufgebaut.
 

Langsam und mit Mühe erhob ich mich. Yoshi trat schnell hinzu, um mich zu stützen. "Danke, Sarah-chan", sagte ich leise. "Danke, dass du meine Erinnerung zurückgeholt hast."

"Das ist noch nicht alles, Akira-chan. Es gibt noch einen Grund, warum ich dich gerufen habe", eröffnete sie. "Ich weiß, dass dein Vater dich letzte Nacht aufgesucht hat. Du sollst wieder zum Mars fliegen. Du sollst die Hauptbasis der Kronosier erneut angreifen."

Ich nickte schwer. "Ja. Darum ging es Gestern auch."

"Einige der Escaped wollen dich begleiten. Ich will dich begleiten."

"Sarah-chan, es war beim ersten Mal schon ein Himmelfahrtskommando. Und dieses Mal wird es nicht besser werden", wandte ich ein.

"Ach. Und ich soll trotzdem mit, wie?", wandte Yoshi ein. Aber er meinte den Protest nicht ernst.

"Du hast da keinen Einfluss drauf, Akira-chan", sagte Sarah leise. "Es liegt einzig in meinem Ermessen. Aber ich wollte, dass du es schon vorher weißt."
 

Sarah erhob sich. Sie nickte Daisuke zu, der ebenfalls nickte und das Gerät vom Fenster nahm.

"Wir sehen uns, Akira-chan. Futabe-kun."

Daisuke nickte nur stumm. Dann verließen sie den Geräteraum.

"Wie sieht es aus, Alter? Willst du hier noch ein wenig ausruhen oder soll ich dich in die Klasse zurück schleppen? Oder wie wäre es mit etwas zum Mittag. Ach nein, du hast ja gerade erst gekotzt."

"Erinnere mich bitte nicht daran", erwiderte ich. "Ich denke, ich kann alleine stehen. Danke. Gehen wir zurück in die Klasse."

Yoshi nickte und öffnete die Tür für mich. Auf noch etwas unsicheren Beinen trat ich hindurch.

"So, so. Du warst also auf dem Mars, wie?", fragte Yoshi grinsend. "Die Geschichte wird ja immer spannender."

"Und wir zwei", stellte ich leise fest, "stecken mitten drin..."
 

5.

Den Rest des Schultages verbrachte ich im Krankenzimmer. Ich war so wacklig auf den Beinen gewesen, dass es keinen Sinn gemacht hätte, weiter am Unterricht teil zu nehmen.

Offiziell schob ich die Schwäche auf meine Erkältung und erzählte einfach, dass ich einen Rückfall hatte. Inoffiziell stimmte das auch. Ich war immer noch geschwächt. Und dieser Wirbelsturm an Erinnerungen hatte mich von den Beinen gerissen.
 

Die Ruhe tat gut, aber das liegen bekam mir nicht. Aufsetzen konnte ich mich nicht, ohne dass Schwindelgefühl nach mir griff. Und wenn ich die Augen schloss, erschienen die Bilder wieder.

Diese Bilder, wie ich in dem Tank gefangen war.

Wie der Mars immer größer wurde.

Wie wir auf den Mars hinab stiegen. Wir, die Hekatoncheiren. Ich war Gyes. Megumi war Briareos. Und es gab auch einen Kottos. Zu dritt in drei Hawks, nur unterstützt von der Fregatte YAMATO wagten wir den Angriff auf den Feind. Und stießen mitten in ein Wespennest.

Ich versuchte diese Erinnerung fest zu halten, zu vertiefen. Aber es gelang mir nicht. Sie entglitt mir wie ein schlüpfriger Fisch. Heute gab es drei Kompanien a zwölf Mechas, die nach den Hekatoncheiren benannt worden waren. Damals waren es drei Individuen gewesen.

Ich, Megumi und... Ja. Wer war Kottos gewesen? Ich spürte, diese Erinnerung war wichtig, wirklich wichtig. Aber ich hatte sie nicht mehr.

Ich lachte laut und rau. Ich hatte sie nie besessen. Dies war nur eine Konstruktwelt, in die ich durch einen leichtfertigen Wunsch gekommen war. Aber ich spürte, dass ich mich immer mehr darin verlor. Und während sich für mich die Erinnerungen verwischten und mein eigentliches Leben immer bedeutungsloser wurde, kämpfte ich darum, dass meine Erinnerungen an diese Welt im vollen Umfang wieder kehrten.

Ich ballte die Fäuste. Diese Welt war ein fürchterlicher Ort. Und ich und Yoshi waren in ihr gefangen. Wie konnte ein einzelner Mensch nur soviel Schmerz ertragen? Wie? Und ausgerechnet ich? Warum?
 

"Akira-chan!", erklang eine freudige Stimme von der anderen Seite des Vorhangs, den ich zugezogen hatte, damit ich in Ruhe im eigenen Saft schmoren konnte.

Bevor ich mich versah, riss Sakura den Vorhang beiseite, strahlte mich an und zog hinter sich wieder zu.

Ich schluckte, als ich sie sah. Cousinchen trug ein Schwesternkostüm. Allerdings die wirklich knappe Ausführung, die ihr Dekolleté eindrucksvoll betonte.

Und der Rock vorhin in der Klasse war knapp gewesen? Gegen das, was sie nun trug, war er ein Ballkleid!

"Armer Akira. Hat er einen Rückfall erlitten? Aber er hat ja seine Sakura-chan, um ihn wieder aufzubauen." Mit einem schnellen Schritt stand sie neben meinem Bett und riss die Decke hoch. "Zuerst werden wir mal Fieber messen. Danach deinen Blutdruck. Aber zuerst stochern wir etwas mit dem Stäbchen rum."

Sie setzte sich neben mich auf das Bett und hielt einen Spatel in der Hand. "Sag aaah."

"Was soll der Quaaaaargh..."

Ich hätte den Mund nicht öffnen dürfen. Sakura hatte die Gelegenheit genutzt, um mir das Holzstäbchen auf die Zunge zu drücken.

"Gut, gut, gut. Nichts gerötet, kein Belag auf der Zunge." "ARGL!", wandte ich ein, aber ich glaube, sie ließ es nicht als Argument durchgehen.

"Und jetzt Fieber messen", sagte sie, nahm meinen Kopf in beide Hände und drückte meine Stirn gegen ihre. Dabei verzog sie missmutig die Miene. "Also, etwas Temperatur hast du schon, du Armer."

"Moment mal. Sakura, was soll das?", rief ich laut.

"Was soll was? Du wurdest im Krankenrevier eingeliefert und ich kümmere mich um dich. Was ist daran schwer zu verstehen?", erwiderte sie.

"Kannst du das nicht lassen? Ich hatte einen wirklich miesen Tag. Und er ist noch lange nicht zu Ende." In Gedanken suchte ich schon die alte Lagerhalle auf, in der ich mit Doitsu verabredet war.

Übergangslos wurde sie ernst. Sakura ergriff meinen Kopf und drückte ihn fest gegen ihren Brustkorb. "Ich weiß, Akira. Du hast mit Sarah gesprochen. Daisuke hat mich informiert. Ich hielt es für zu früh und wollte es ihr verbieten. Aber ich habe sie nicht mehr rechtzeitig erwischt. Entschuldige, Akira."
 

Ich fühlte mich beschämt. Wie hatte ich jemals schlecht über meine Cousine denken können? Wo sie sich doch so sehr um mich kümmerte. Wo sie sogar dieses Sexy Outfit trug, um mich aufzuheitern. Wo sie mich an ihren Busen drückte. Wo sie doch wusste, dass ich mit Sarah...

"Saaakuraaaa", hauchte ich wütend.

"Ist was?", fragte sie unschuldig und drückte mich noch etwas enger an sich.

"Sakura, wieso kennst du Daisuke und Sarah?", presste ich mühsam hervor.

"Ups, da habe ich mich wohl verplappert." Meine Cousine seufzte tief. "Die Wahrheit ist... Ich bin Daisukes Vorgesetzte. Was glaubst du wohl, habe ich die ganze Zeit hier an der Schule gemacht? Mit meinem Abschlüssen, mit meinen Kontakten? Mit meinen Fähigkeiten?"

Langsam ließ sie mich los. Ich sah ihr in die Augen und erkannte, wie sie sich mit Tränen füllten.

"Du... Du hast mich beschützt?", fragte ich vorsichtig.

Nun begann sie richtig zu weinen und drückte mich erneut an sich. "Oh, du armer Kerl. Du hast soviel vergessen. Das ist so ungerecht. Natürlich habe ich dich beschützt. Dich und Megumi. Zumindest habe ich es die letzten Jahre versucht, so gut es ging. Nach der Entführung im Anschluss an die Mars-Mission..."

"Schon gut, Sakura-chan", sagte ich. "Hat ja anscheinend geklappt, oder? Ich wurde nicht erneut entführt."

"Stimmt", bestätigte sie und schniefte. "Megumi hatte sich ja auch als Köder angeboten, während du dadurch in den Hintergrund getreten bist."
 

Mir wurde heiß und kalt zugleich. Natürlich. Die Fernsehberichte über sie. Offensichtlicher konnte man nicht zeigen, wer das Top-As der Erdverteidigung war, und wo man es erwischen konnte. Und all das hatte sie getan, um von mir abzulenken? Was war ich nur für ein erbärmlicher Trottel.

Und das Schlimmste war, dass sie drei Jahre lang gelitten hatte, in denen ich mich langsam erholt hatte, während sie mit der vollen Erinnerung leben musste. Jeden einzelnen Tag. Und sich jede Stunde fragen musste, wie viel ich über sie vergessen hatte.

Ich fühlte mich so elend. Selbst meine Erinnerung an die Gefangenschaft in dem Tank konnte da nicht mithalten.

Abrupt löste ich mich von Sakura und schwang die Beine aus dem Bett. Schnell schlüpfte ich in meine Schuhe. Das kurze Schwindelgefühl ignorierte ich völlig. "Danke, Sakura-chan. Mir geht es wieder besser. Du bist wirklich die Beste." Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und wandte mich zum gehen.

"Herzfunktion, normal", hörte ich sie leise murmeln, als ich ging.
 

6.

Egal, wo ich auch suchte, ich fand Megumi nicht in der Schule. Meine Nachfragen ergaben auch nichts. Seit der Mittagspause schien sie niemand mehr gesehen zu haben.

Entnervt ging ich aufs Dach, um Gelegenheit zu haben, mich über meine eigene Dummheit zu ärgern. Den Gedanken, nun könnte sie entführt worden sein, unterdrückte ich so gut es ging.
 

Oben angekommen krallte ich meine Hände in den Maschendraht der Umzäunung und nannte mich erst mal zwei Minuten lang einen Vollidioten.

"Das kommt der Wahrheit schon sehr nahe", hörte ich Megumis Stimme hinter mir.

Ich wirbelte herum, sah sie aber nicht. "Megumi? Wo steckst du?"

"Dummkopf. Wo bin ich wohl?"

Ich blickte auf. Und sah ihr Bein über das Dach des Treppenhauses ragen. Hastig kletterte ich hinauf. Und voller Erleichterung sah ich, dass sie es wirklich war.

Megumi starrte in die Wolken, und da ich keine bessere Idee hatte, ließ ich mich neben ihr zu Boden sinken und starrte ebenfalls hinauf.
 

"Wunderschön", murmelte ich.

"Ja, die Wolken sind wirklich herrlich heute."

"Ich meinte nicht die Wolken", erwiderte ich und sah zu ihr herüber.

Megumi wurde rot. "Du musst das nicht tun, Akira. Ich... Ich habe mich schon damit abgefunden. Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich hören will..."

"Womit abgefunden?", fragte ich leise.

"Damit abgefunden, dass du mich nicht liebst. Nicht auf die gleiche Art, auf die ich dich liebe. Ich verstehe es jetzt langsam."

Erschrocken sah ich sie an. "M-Megumi, du..."

"Ich sagte schon, ich bin drüber hinweg. Ich liebe dich, aber ich sehe jetzt, dass du mich nicht liebst. Für dich bin ich bestenfalls ein Ersatz für deine Schwester. Ich habe das lange nicht erkannt. Aber es tut mir nicht mehr weh." Sie seufzte leise. "Trotzdem will ich weiter bei dir sein. Bei dir wohnen. Das mit dir teilen, was du bereit bist zu geben. Ich weiß, das ist so unreif und selbst zerstörerisch. Aber ich bin nicht stärker."

Ich wollte aufspringen. Sie anbrüllen. Ihr Vorwürfe machen. Irgendetwas tun, was ihr bewies, dass sie Unrecht hatte. Aber stattdessen verschränkte ich nur die Arme hinter dem Kopf.

"Ich liebe dich aber", sagte ich leise.

"Ich weiß", erwiderte sie. "Aber diese Form der Liebe reicht mir nicht. Ich will mehr, Akira. Ich will dich ganz. Doch wie es aussieht, muß ich dich mit der ganzen Welt teilen."

"Vielleicht musst du das nicht", sagte ich sanft.

"Nein, tu das nicht. Nicht, nachdem ich mich endlich damit abgefunden habe. Bitte, Akira, sage so etwas nicht. Es reißt nur die Wunden wieder auf, die ich verheilt glaubte." Sie legte ihr Kinn auf ihre Brust. "Sag mir bitte nicht, was ich hören will."

"Ich sage, was ich gerne aussprechen will", erklärte ich trotzig.
 

Megumi wirbelte herum, kam halb auf mir zu liegen. Ihre Lippen drückten sich auf meine. Ich spürte ihren Kuss so intensiv wie es sonst nur eine Verletzung konnte. Und ich spürte die Trauer, die hinter diesem Kuss lag.

Sie löste sich von mir. Tränen standen in ihren Augen, aber sie lächelte. "Wenigstens das habe ich von dir."

Sie erhob sich und sprang vom Dach des Treppenhauses.

Ich warf mich zum Rand des Daches und sah ihr nach. "MEGUMI!"

Bevor sie im Treppenhaus verschwand, winkte sie noch einmal zu mir hoch. "Wir sehen uns Zuhause, Akira."

Ich schluckte hart. Warum hatte sie ihr Hemd so weit herunter geknöpft?
 

7.

Langsam, geradezu gemächlich zog ich mich an. Eine weite, schwarze Stoffhose, die mir Bewegungsfreiheit garantierte. Ein loses, schwarzes Stoffhemd aus Flanell, welches verhindern würde, dass ich mich erneut erkältete.

Dazu das Katana auf meinem Rücken. Die schwarze, abgewetzte Lederjacke darüber bildete das I-Tüpfelchen. Ich war bereit.

Ich ließ mich auf mein Bett fallen und zog meine Socken an, natürlich auch in schwarz.

"Du willst also wirklich gehen", sagte Megumi vom Eingang her.

Im Gegensatz zu heute Nachmittag wirkte sie wie sonst auch. Es schmerzte mich, ihr dabei zuzusehen, wie sie diese Scharade aufrechterhielt. Aber ich wusste, dass ich nichts tun konnte, um sie von meinen Gefühlen zu überzeugen.

Wie denn auch, wenn ich selbst noch nicht wusste, was ich für sie fühlte? Ich brauchte Zeit. Und ich war dankbar dafür, dass sie für diese Zeit meine Nähe nicht verließ.

"Kein Krieger kann einer Herausforderung widerstehen", antwortete ich fest.

"Erzähl mir nicht so einen Quatsch. Selbst Ihr Männer kommt nicht immer mit der Ausrede durch, Ihr hättet zuviel Testosteron im Blut. Außerdem hast du zu wenig rohes Fleisch gegessen", erwiderte sie.

"Wenn du es genau wissen willst, Doitsu Ataka ist mein Freund. Und wenn dieser Freund eine solche Forderung stellt, dann ist ihm etwas sehr ernst. Und als sein Freund habe ich die Pflicht, diesen Ernst zu respektieren. Deshalb werde ich gehen."

"Ich komme mit", sagte sie.

"Das brauchst du nicht. Das wird ne typische Männerrunde. Wir machen uns gegenseitig Vorwürfe, versuchen einander umzubringen, das übliche halt", scherzte ich.

Megumi warf mir einen spöttischen Blick zu. "Du wirst mich nicht los, Akira."

"Bist du nicht noch entrüstet und verletzt wegen heute Morgen?" Ich setzte meine größte Trumpfkarte und schämte mich sofort dafür.

"Klar bin ich das. Ich habe ja auch nur gesagt, dass ich mit komme. Dir zu helfen habe ich mit keinem Wort erwähnt, Akira. Vielleicht habe ich Glück und ich kann dabei zusehen, wie du so richtig fies verprügelt wirst", konterte sie.

"Du kannst ja ein richtiges Biest sein, wenn du willst."

"Hey, ich wurde an über zwanzig Handfeuerwaffen ausgebildet, beherrsche seit drei Jahren einen Hawk-Mecha, habe über einhundert gegnerische Piloten besiegt, viele dabei getötet. Natürlich kann ich ein Biest sein."

"Bist du bestechlich? Ich hätte dich nämlich gerne auf meiner Seite anstatt auf der meiner Gegner", brummte ich.

"Darauf hast du leider keinen Einfluss, Akira", sagte sie mit falschem Bedauern in der Stimme.

"Okay. In drei Minuten gehe ich los. Sei da oder sei es nicht", sagte ich und gab mich geschlagen.

Megumis Augen leuchteten auf. "Ich brauche nur zwei."
 

Als sie aus dem Türrahmen verschwunden war, ging ich langsam zur Haustür. Bedächtig griff ich mir die leichten Sportschuhe, zog sie an und verschnürte sie.

Kurz bevor ich fertig war, landete Megumi neben mir und zog ihr Paar Schuhe an. Ich hatte nicht gerade Pumps erwartet, aber die Sportschuhe überraschten mich doch.

Auf meinen Blick zuckte sie nur mit den Achseln. "Vielleicht muss ich dich ganz schnell im Stich lassen", scherzte sie.

Als ich darauf mit einem herzzerreißenden Blick antwortete, gab sie mir einen Klaps gegen die Schulter. "War nur Spaß."

Nach außen hin lächelte ich, aber im Innern machte mir die Situation Angst. Sie hatte mir gerade erst ihre Liebe gestanden. Und nun benahm sie sich wie immer, nur ein, zwei Stufen aufgedrehter. Zu einem Zeitpunkt, zu dem ich noch überhaupt nicht wusste, wie tief ich für sie wirklich empfand. Das ich sie ebenfalls liebte, stand für mich außer Frage. Nur war es genug, um für sie zu sterben?

Ich dachte kurz daran, wie ich mit Blue Lady Hawk unter Einsatz meines eigenen Lebens Lady Death vor einem harten Absturz bewahrt hatte. War es genug, um auch ein zweites Mal für sie zu sterben?

Wütend schüttelte ich den Kopf. Warum war ich nur so unentschlossen?
 

Kurz sah ich hinter mich. "Du brauchst nicht mitkommen, Akari."

Der Oni verharrte hinter mir und verbeugte sich tief. "Ja, Meister."

Ich erhob mich, um das Haus zu verlassen, Megumi neben mir. Als sich die Haustür fast geschlossen hatte, griff ich zu und öffnete sie wieder einen Spalt. Ich seufzte tief. "Nun komm schon."

Der Oni sah freudestrahlend auf und sprang auf. "Ja, Akira-sama!"

**

Ich erkannte die Lagerhalle kaum wieder.

Letzten Freitag hatten wir, Doitsu, Yoshi, ich und Kenji im kleinen Büro der Halle ein wenig gepokert. Damals war die Halle mit Waren überfüllt gewesen. Heute aber war sie leer geräumt. Ein einzelner Spot entriss den blanken Hallenboden der Dunkelheit.

Als ich eintrat, Megumi schräg links hinter mir und meinen Oni auf der anderen Seite, flammten mehrere Scheinwerder auf und enthüllten weitere Details. Unter anderem gut zehn Männer, die schwarze Anzüge trugen.

Ich registrierte mit sicherem Blick die Beulen auf den Innenseiten der Jacken, die auf versteckte Waffen schließen ließen. Die klischeehaften Sonnenbrillen und die auffälligen Ohrstecker, die zu einem Kommunikationssystem gehörten, brachten meine Vermutungen auf den Punkt.

Doitsu Ataka stand vor der Reihe aus Männern. In der linken Hand hielt er ein Katana. Er lächelte freudlos. "Komm rein, Akira."

Für einen Moment zögerte ich. "Megumi, geh. Akari, du achtest auf sie."

"Was? Du willst da rein? Ohne Rückendeckung?", beschwerte sich die Mechapilotin.

"Uno-kun!", sagte Doitsu förmlich. "Du solltest auf Akira hören."

"Ich lass ihn doch nicht hier alleine, mitten unter..." Megumi stockte mitten im Satz.

Die Männer hinter Doitsu begannen leise zu lachen.

Ich sah sie an, aber ihr trotziger Blick sprach tausend Bände. Unauffällig berührte sie mit der Rechten ihre Jacke. Ich verstand die Geste. Hatte dieses kleine Biest wirklich eine Waffe mitgebracht...

Ich seufzte leise. "Na, dann los."
 

Mit zwei schnellen Schritten hatte ich den großen Spot erreicht, an dessen Rand nun auch Doitsu trat. Wir sahen einander lange in die Augen.

"Hier bin ich, wie bestellt", sagte ich endlich. "Was kann ich für dich tun?"

Doitsu schob in der für ihn so typisch dramatischen Geste seine Brille die Nase wieder hoch. "Vorweg, es tut mir aufrichtig Leid, Akira. Bitte nimm es nicht persönlich."

"Es würde mir helfen zu wissen, was ich nicht persönlich nehmen soll", murrte ich.

"Und warum du dafür so viele Helfer brauchst!", erklang hinter mir eine bekannte Stimme.

Yoshi, natürlich. Kurz wandte ich mich nach hinten und sah den Freund eintreten. Er wirkte ernst und konzentriert.

"Wo hast du so lange gesteckt?", scherzte ich.

"Wie dem auch sei. Wenn Ihr beide schon einmal hier seid, Uno-kun, Yoshi-kun, kann ich es auch nicht ändern. Es hätte mir aber sehr gefallen, wenn ich die Sache mit Akira alleine hätte austragen können", sagte Doitsu leise.

"Oh, kein Bange. So lange die Sache auch unter euch beiden bleibt, werden wir nichts unternehmen", sagte Yoshi ernst und trat knapp hinter mich.

"Alter, das sind ein paar viele, zudem haben die Wummen", flüsterte er mir zu. "Ich kann sie zwar nicht sehen, aber Akari ist doch hoffentlich auch hier, oder?"

Ich nickte knapp. Erleichtert trat Yoshi wieder einen Schritt zurück.
 

"Also, Doitsu, alter Freund. Wollen wir noch warten, bis Kenji und Kei eintreffen oder erklärst du mir gleich, was du von mir willst?"

Doitsu lächelte zu mir herüber. Ein Schimmer schien dabei von seinen Zähnen auszugehen. "Ich denke, wir können beginnen, Freund." Er trat einen Schritt vor. "Du solltest wissen, Akira, dass meine Familie... In einem kleinen Unternehmen beschäftigt ist, dass sich um das Wohl und die Belange von Privatleuten und kleineren Firmen kümmert."

Die Anzugträger lachten leise dazu.

"Damit dieses Geschäft reibungslos funktioniert, gibt es Regeln. Regeln, die man nicht brechen sollte. Respekt ist eine dieser Regeln. Du hattest vor einiger Zeit einen kleinen Zusammenstoß, nicht wahr? Drei meiner... Mitarbeiter sind mit dir kollidiert und es kam zu einem Kampf."

Ich dachte an die Nacht auf dem Hügel, als mich die Yakuza verfolgt und mit Katanas bedrängt hatten. Wie Akari befreit wurde. Langsam nickte ich.

"Die... Sache ging für mein Unternehmen äußerst unbefriedigend aus, Akira. Nun verlangt es der Respekt, den ich für meine Mitarbeiter empfinde, dass ich dieses Ergebnis korrigiere."

"Das war es also? Wir zücken unsere Schwerter und schlachten uns ab? Weil deine Leute das letzte Mal gegen mich verloren haben?", fragte ich mit eisiger Stimme.

"Ja, so in etwa kommt es hin. Ich habe allerdings nicht vor, mich abschlachten zu lassen", sagte Doitsu und schob wieder die Brille die Nase hoch.

"Ich ebenso wenig. Aber bevor wir das tun, solltest du wissen, dass diese drei... Mitarbeiter versucht haben, mein Katana zu stehlen. Du verstehst hoffentlich, dass ich das nicht zulassen konnte, oder?"

Kurz trafen sich unsere Blicke. Doitsu ließ den Arm mit der Waffe sinken.

"Sama!", rief eine Stimme aus dem dunklen Hintergrund der Halle. Ein groß gewachsener Mann mit schneeweißem Haar trat in den Lichtkreis. Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine große, X-förmige Verbrennung ab. "Ich verlange Gerechtigkeit! Die musst du mir geben!"

Ich erkannte den Mann kaum als den Wortführer der Gruppe wieder, gegen die ich gekämpft hatte. "Ach, der schon wieder. Hat dir die Hinrunde nicht gereicht?"

Ich wandte mich ihm zu. "Wenn du so sauer auf mich bist, warum trittst du nicht gegen mich an?"

Entsetzt wich der Weißhaarige einen Schritt zurück. "Ich bin kein Gegner für dich. Aber Ataka-sama wird dich besiegen!"

Doitsus Kiefer mahlten aufeinander. "Aniki... Ich bin enttäuscht von dir. Unter welchen schlimmen Voraussetzungen hast du mich hierher gelockt? Mich gezwungen, einem Freund ein Duell aufzuzwingen? Das ist keine Tat, die Respekt gebiert und Ehre trägt."

"Sama. Wir sind alle hier! Er ist hier! Ich verlange mein Recht!"

Ruckartig wandte sich Doitsu ihm zu. "Rache ist eine Sache. Aber gewöhnlicher Diebstahl..."

Im Dunkel der Halle spannten sich unüberhörbar die Hähne von mehreren Waffen. Das metallische Klicken war für jeden unverkennbar, der es einmal gehört hatte.

"Sama. Ich bestehe darauf." Ein breites, hässliches Grinsen verunzierte sein vernarbtes Gesicht.

"Du sinkst immer tiefer, Aniki. Ich werde mir dafür deine Hand holen", hauchte Doitsu ernst.
 

Ich fixierte diesen Halunken. Er hatte tatsächlich ihm ergebene Männer mitgebracht, die nun nicht nur mich, sondern auch Doitsu und seine Leute bedrohten.

Akari erschien neben mir. "Meister. Außer den zehn hinter Doitsu-sama befinden sich fünf weitere hier unten in der Halle, drei oben auf einer Galerie und weitere vier an allen Ausgängen. Soll ich?"

"Nein, noch nicht, Akari", flüsterte ich belustigt.

Ich machte einen Schritt auf den Weißhaarigen zu. "Der Oni hat dich ja fürchterlich zugerichtet, hm?", rief ich laut. "Sei froh, dass er sich damit zufrieden gegeben hat, dich noch hässlicher zu machen. Dein erbärmliches Leben hat er dir ja gelassen."

Mein Gegenüber begann zu zittern. "Du..."

"Oni?", fragte Doitsu interessiert.

"Ach, hat er das gar nicht erzählt? Als er mit zwei seiner Männer hinter mir her war, hat er auf einem Hügel nahe einem Tempel einen kleinen Schrein zerstört. In dem Schrein wohnte ein Oni. Der nahm das nicht wirklich gut auf und hat ihn tüchtig in die Mangel genommen. Deshalb hat er jetzt diese Narbe und die weißen Haare."

Doitsu nickte. "Verstehe. Und mir hat er erzählt, du warst das."

Wütend schüttelte ich den Kopf. "Kann ich Haare färben, oder was?"

"Das doch nicht, die Narbe", korrigierte sich Doitsu.

"Oh. Ja, verstehe." Ich sah den Burschen erneut an. "Wie du siehst, hässlicher Kerl, hat der Oni mich verschont. An deiner Stelle würde ich mich jetzt fragen: Wieso? Und dann gleich noch etwas anderes: Wo ist dieser Oni jetzt?"

Angst glomm in den Augen des Weißhaarigen auf. Sein Blick ging in der Halle hin und her, aber entdeckte natürlich nichts.

"Soll ich, soll ich?", rief Akari aufgeregt.

Ich schüttelte kurz den Kopf. Der Oni war mein Trumpf. Ich wollte ihn nicht zu früh einsetzen.

"Du solltest gehen, solange du noch Zeit dafür hast", stellte ich fest, während mein Gegenüber langsam in Panik verfiel.

"Du machst mir keine Angst. Der Oni ist nicht hier. Er kann nicht hier sein! Das ist unmöglich!"
 

Im Hintergrund der dunklen Halle ertönte ein lautes Knacken. Der Weißhaarige zog seine Waffe und feuerte einen kurzen Schuss in die entsprechende Richtung.

Akari hob neben mir beteuernd die Hände. "Ich war das nicht!"

Mein Blick wechselte kurz zu Doitsu. "Der Kerl hat definitiv nicht mehr alle Tassen im Schrank. Schmeiß ihn besser raus, solange du noch kannst."

"Wer hat nicht mehr alle Tassen im Schrank?" Von einem Moment zum anderen sah ich in die Mündung einer Walter PPK.

Ich schluckte trocken. Die Situation war übel. Zehn Mann, wohl eher Doitsu ergeben, waren hier in der Hallenmitte. Acht, die auf Weißhaar hörten, befanden sich hier in der Halle, vier weitere an den Ausgängen, die ich der Einfachheit halber auch ihm zuordnete. Zudem hatten sie Deckung durch die Dunkelheit, während wir hier geradezu im Rampenlicht standen.

Ich schnippte mit den Fingern. "Akari."

Der Oni trat neben mich. "Meister?"

"Kannst du die Halle ausleuchten?"

"Mit wem redest du da, Akira?", fragte Doitsu erstaunt.

"Ja, dafür muß ich aber sichtbar werden."

"Gut, tu es."
 

Kurz darauf gab es einen gewaltigen Lichtblitz, der mich beinahe blendete, obwohl ich meine Augen mit dem Unterarm abgedeckt hatte. "Das war etwas zuviel des Guten", beschwerte ich mich.

"Das war ich nicht", widersprach der Oni.

Ich öffnete die Augen und blinzelte. Ich erkannte gerade rechtzeitig genug von meiner Umgebung, um zu sehen, wie der Weißhaarige die Waffe wahllos von sich hielt und den Abzug ziehen wollte. Und die Waffe deutete auf... "MEGUMI! RUNTER!"

Der Schuss fiel, und mein Herz blieb stehen. Ich fuhr herum, glaubte sehen zu können, wie die Kugel an mir vorbei flog. Auf Megumi zu, die sich bei meiner Warnung zu Boden geworfen hatte. Ich sah die Kugel in ihr Haar eintreten, es aufwehen... Und hinter ihr eine Glasscheibe zerschlagen.

Wieder wirbelte ich herum, wollte mich auf den Kerl stürzen, aber da hockte er bereits auf dem Boden und umklammerte seine Rechte. Ein Pfeil steckte in ihr.

Yoshi hatte seinen Bogen mitgebracht und bereits einen zweiten aufgelegt. "Nächstes Mal ziele ich auf dein Herz."

"Macht sie fertig! Los, tötet sie, tötet sie alle!", blaffte der Weißhaarige.
 

In diesem Moment betrat der Besitzer der Blendgranate die Halle - und brachte Freunde mit. Als die Männer im Anzug sahen, dass die Neunankömmlinge automatische Waffen trugen, unterließen sie den Griff zu den eigenen Waffen.

Ich zählte zwanzig Soldaten, die zielsicher und schnell genau die Yakuza in die Mangel nahmen, die nicht zu Doitsu gehörten.

Dann betrat er die Halle. Und ich erstarrte. Ich kannte dieses Gesicht. Nur zu gut.

"Sensei", hauchte ich.

Der ältere Mann ließ seinen Blick durch die Halle gleiten, bis er auf Megumi ruhte. Dann wanderte der Blick zu mir weiter.

Megumi, natürlich! Ich hatte mich gar nicht weiter um sie gekümmert, nachdem die Kugel sie verfehlt hatte.

"Mir geht es gut!", sagte sie, als ich sie ansah. "Mir tun zwar die Hände vom auffangen weh, aber das ist nicht so schlimm. Kümmere du dich gefälligst um den da."

Irritiert sah ich wieder zurück zu Sensei. Das war nicht gerade respektvoll gewesen.

"Nun, Ataka-kun, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich diese Männer entfernen. Darüber hinaus dürfte Ihr Streit mit meinem Schüler damit erledigt sein", sagte der Mann mit fester, ernster Stimme.

Doitsu sah ihn an. "Ich bin nicht in der Position, Ihnen etwas vorzuschreiben", stellte er fest. "Aber gestatten Sie mir eine Frage: Wer sind Sie?"

"Ich bin Jeremy Thomas. Commander Jeremy Thomas. Ich war lange Zeit Akiras Lehrmeister. Und ich bin es seit heute erneut."
 

Mir ging ein kalter Schauder über den Rücken. Mit diesem Mann war ich zum Mars geflogen. Er hatte die YAMATO kommandiert. Er hatte seinen Hals und den seiner Crew riskiert, um mich und Megumi aus der dicken Scheiße raus zu holen. Er war... Ein leuchtendes Vorbild.

Ernüchternd erinnerte ich mich an eine weitere Sache, die Jerry betraf: So ernsthaft er in einer Schlacht war, so gut er auch kommandierte, er hatte ein gewaltiges Problem. Er verhätschelte uns so sehr, dass es bis hart an die Schmerzgrenze ging. Besonders Megumi und...

Nun, wir hatten eigentlich alle drunter zu leiden gehabt. Aber er hatte es eigentlich immer gut gemeint.

"Sind damit alle Fragen geklärt? Kann ich Colonel Otomo damit wieder mitnehmen?", fragte Commander Thomas leise.

"Nun, der Streit ist beigelegt", sagte Doitsu leise. "Ich wurde unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher gelockt." Im Hallenhintergrund organisierte sich der Abmarsch der Gefangenen.

"Aber eine Sache gibt es da, die noch nicht erledigt ist", stellte Doitsu fest.

"Was denn noch?", rief Megumi aufgebracht. "Er sollte bestohlen werden. Die Typen, die dich hergelockt haben, haben das veranlasst. Wo siehst du bitte noch einen Grund, um sich zu prügeln?"

"Du bringst es auf den Punkt, Megumi", sagte ich ernst. Ein flüchtiges Grinsen huschte über mein Gesicht. Ich löste die Schnur, die das Katana unter der Lederjacke auf meinem Rücken hielt und fing es geschickt mit der Linken auf. Langsam führte ich den Griff nach vorne.

"Richtig. Er ist hier", erwiderte Doitsu und legte sein Katana mit der Linken an die Hüfte, "ich bin hier, wir tragen beide Schwerter."
 

"Das ist alles? Ihr wollt mit tödlichen Waffen aufeinander losgehen? Weil Ihr es könnt?", rief Megumi verzweifelt.

Langsam, Doitsu nicht aus den Augen lassend, trat ich in den Mittelspot zurück. Mit einem Ruck warf ich die Lederjacke nach hinten und zog sie aus.

Doitsu öffnete seine Anzugjacke und warf sie ebenfalls nach hinten. Langsam begannen wir einander zu umkreisen.

"Ich habe dich schon sehr oft beim Kendo beobachtet, Akira. Ich freue mich auf diese Gelegenheit. Ich freue mich wirklich auf diese Gelegenheit", sagte Doitsu mit einem Glitzern in den Augen.

"Und ich habe mich immer gefragt, wie stark du wirklich bist. Dein Geschick und deine Strategie waren immer eloquent. Deine Arme sind sehr stark. Es war offensichtlich für mich, dass du etwas trainierst, was starke Arme erfordert. Ich hätte allerdings auf boxen getippt."

"Tai-boxen, wenn du es genau wissen willst", sagte Doitsu leise.

Wir stoppten in unserer Bewegung, sahen einander an.

Dann verbeugten wir uns voreinander und die Umstehenden wichen hastig bis an die Hallenwände zurück. Jemand erbarmte sich und machte das ganze Licht in der Halle an. Bis auf die zehn Gefolgsleute, meine Freunde und drei Kommandosoldaten unter Jerry war die Halle leer.

Ein ideales Kampfgebiet.
 

Mein linker Daumen legte sich unter das Stichblatt des Katana und schob es ruckartig ein paar Zentimeter aus der Scheide. Direkt in die griffbereite rechte Hand. Ich griff zu und führte sofort einen Hidarikiriage aus, einen Aufwärtschlag von links unten.

Doitsu blockte, und unsere Klingen trafen aufeinander, verharrten sekundenlang, nur von unserer Kraft getragen, in der Luft.

Dann sprangen wir auseinander und begannen wieder einander zu umkreisen.

Ich hob das Katana zu einem Karatake, einem von oben geführten Schlag und griff ihn frontal an. Doitsu fing meinen heftigen Hieb mühelos ab, war aber nicht auf den Tritt vorbereitet, der ihn mittig auf den Bauch traf und meterweit durch die Luft wirbelte, mitten hinein in einen Stapel alter Kisten. Er zerbrach Dutzende der Holzkisten und verschwand in einer Staubwolke. Was war in den Kisten drin gewesen? Exportsand aus der Sahara?

Es vergingen ein paar Sekunden, dann erkannte man einen Schatten in all dem Staub, der aufrecht mit einem Katana in der Hand auf mich zuging.

Kurz darauf brach Doitsu aus dem Staub hervor und japste nach Atem. "Widerliches Zeug. Das schmeckt echt grauenvoll. Hey, Akira, der Tritt war nicht gerade fair."

"Ich kann mich nicht erinnern, dass wir Regeln vereinbart haben", konterte ich amüsiert.

"Na warte", brummte Doitsu, und ein freudiges Leuchten trat in seine Augen. Er attackierte mich frontal, wir tauschten ein paar sehr schnelle Hiebe aus, hauptsächlich Miginagi und Hidariginagi, Schläge auf den Rumpf. Doch Doitsu bekam für einen Moment Oberwasser und führte einen Tsuki aus, einen Stich aus nächster Nähe. Mühsam brachte ich mein Katana hoch und drückte die Waffe fort von mir. Und bot ihm genügend Eröffnung, um mir sein Knie in den Magen zu rammen. Ich taumelte mehrere Meter zurück. Alles krampfte sich in mir zusammen. Ich stürzte auf die Knie herab, ließ das Katana aber nicht fahren. Ein Hustenreiz geißelte mich für mehrere Sekunden und endete damit, dass ich Blut spuckte.

Verdammt, hatte er mich so schwer erwischt? Den Magen, die Lunge?
 

Eine kurze Untersuchung in meinem Mund offenbarte, dass ich im Eifer des Gefechts auf Zunge und Wangeninnenseite gebissen hatte. Der salzige Geschmack von Blut erfüllte erneut meinen Mund und ließ mich wieder husten. Ich wischte mir den Mund ab und erhob mich wieder. "Weiter geht es."

"Gut. Wenn du schon aufgegeben hättest, wäre es ja auch langweilig geworden, Akira", kommentierte Doitsu und griff wieder an.

Ich hatte meine Kräfte überschätzt, der Kick mit dem Knie war viel zu hart gewesen und ich hatte mir zu wenig Zeit für die Erholung gegönnt. Deshalb wurde ich von Doitsu in die Defensive gedrängt. Er führte hauptsächlich Karatake-Hiebe aus, die ich schließlich nur noch abwehrte. Doch das forderte ihn nur noch mehr heraus und langsam fühlte ich die Kraft aus meinen Händen weichen. Für einen Augenblick zog ich ernsthaft in Betracht, hier zu sterben. Wirklich zu sterben.

Dann trieb ein weiterer Hieb des Freundes, der nun wie ein Besessener auf meine Deckung eindrosch, die Waffe bis auf wenige Zentimeter über meinen Augen zurück.
 

"AKIRA!", hörte ich Megumi rufen. Ich sah hoch zu Doitsu, der keine Anstalten machte, seinen Angriff abzubrechen. Und schloss die Augen.

Mit Gewalt drückte ich meine Waffe wieder hoch. Ich öffnete die Augen wieder und sah, dass mein Katana in einem fahlweißen Licht flammte. Mein KI breitete sich auf der Waffe aus.

Doitsu verharrte zwei Meter von mir entfernt und schüttelte die rechte Hand. "Autsch, das tat weh. Eine KI-geschützte Waffe ist ganz schön hart."

Er grinste breit, nahm sein Katana wieder in beide Hände und sah dabei zu, wie seine eigene Klinge in purem KI gebadet wurde. "Aber wenigstens kämpfst du jetzt mit voller Kraft gegen mich. Brauchst du noch Luft, oder kann es weiter gehen?"

Ich grinste matt. KI, die geheimnisvolle Kraft, die jedem Körper innewohnte. Jedem lebenden Wesen, jeder lebenden Zelle.

Jene geheimnisvolle Kraft, die neben Blut und Lymphe einen eigenen, beinahe mythischen Kreislauf im menschlichen Körper hatte. Die Energie, die sowohl zerstören als auch heilen konnte.

KI bildete sich eigentlich immer, aber dann besonders gut, wenn Yin, das Starke, und Yang, das Sanfte, einander die Waage hielten.

Ein Mensch, der mit KI geübt war, konnte dieses KI gezielt erzeugen, indem er die Gleichheit von Yin und Yang herbeiführte und steigerte.

Es gab bestätigte Berichte, wonach KI auf andere Menschen zu Heilungszwecken projiziert worden war. Und es gab Tatsachen wie diese, wo eine Waffe durch das KI schärfer, schneller, stärker und stabiler geworden war.

Mein KI erschien mir unbegrenzt. Immerhin hatte ich sogar ein Herkules-Schwert mit meinem KI überzogen.

Damit rührte ich immer noch nur an der Oberfläche der Fähigkeiten, über die ein wahrer KI-Meister verfügte. Aber für heute und jetzt reichte es mir vollkommen.

"Es kann weiter gehen", raunte ich und lief, die Klinge zu einem Miginagi angehoben, auf meinen Gegner zu.

Doitsu verlagerte auf einen Karatake und für einen Moment wusste ich nicht, ob dies eine Finte war oder ob er rechtzeitig blocken würde. Bis wir einander passierten.

Und erstarrten.
 

Ich schluckte hart und trocken, als sich die Spitze des Katanas in meinen Hals bohrte und einen kleinen Blutstropfen herab rinnen ließ.

Doitsu schluckte nicht weniger hart, immerhin lag meine Klinge auf seiner Halsschlagader.

"Das reicht jetzt", sagte Commander Thomas laut. Er stand zwischen uns, weiß der Henker, wie er das so schnell geschafft hatte. Und er hatte nicht nur unseren Sturmlauf gestoppt, sondern auch die Griffe unserer Waffen geführt, damit sie auf unsere Kehlen zielten.

"Keine Einwände", murmelte ich und beobachtete, wie das Blut auf Doitsus Klinge floss, wo das KI es langsam verdampfte.

"Ich hatte genügend Spaß für heute", bestätigte der Freund.

"Na, dann ist ja gut." Der Commander ließ die Griffe los und wir konnten unsere Waffen wieder senken.

Erleichtert atmete ich auf und löschte das KI um meine Klinge. Auch Doitsu tat es, wischte die Waffe kurz mit einem Tuch aus Reispapier ab und machte sich auf, um das kunstvoll verzierte Futteral aufzulesen.

"Das hat Spaß gemacht, Akira", sagte er aufgeregt. "Das sollten wir bei Gelegenheit wiederholen."

"Von mir aus gerne. Sag wann und wo und... Auuutsch!"

"Nichts wirst du!", blaffte mir Megumi ins Ohr. In das Ohr, dessen Ohrläppchen sie ohnehin gerade schmerzhaft malträtierte. "Ich stehe doch nicht noch mal tausend Ängste um dich aus, Akira! Du gehst jetzt schön mit uns nach Hause, klar?"

Wütend setze sich Megumi in Bewegung, lockerte aber nicht den Griff um mein Ohr, sodass ich ihr in einer sehr unbequemen Haltung folgen musste. "Heeeey", protestierte ich.

Das breite Grinsen Yoshis und Akaris Kichern, das sie hinter einem Ärmel zu verbergen versuchte, ignorierte ich. Zumindest versuchte ich es.

**

"Nun erzähl schon, Sensei. Wie ist es dir ergangen?", fragte ich aufgeregt und schenkte dem Mann Reiswein nach.

Jeremy Thomas unterbrach kurz seine Tätigkeit, ausgiebig Megumis Kopf zu tätscheln, und sah zu mir herüber. "Danke, mein Junge. Nun, wie du weißt, bauen wir ja den zweiten Fahrstuhl über dem Nordatlantik. Sobald ARTEMIS und APOLLO fertig sind, können wir einen fast hundertprozentigen Schutz aufbauen. Dann werden die Kronosianer auch ihre Rekrutierungen nicht mehr so offensichtlich durchführen können. Geschweige denn auf die Erde gelangen oder sie wieder verlassen." Er begann wieder damit, Megumis Kopf zu tätscheln. "Das tun wir alles für euch. Ihr seid die Zukunft. Die Hoffnung der Menschheit. Und damit meine ich euren Jahrgang, weniger euch zwei Elitesoldaten."

"Na ja, Elite", murmelte ich amüsiert.

"Wer von mir ausgebildet wurde, gehört zur Elite", erwiderte Jerry ernst.

"Schon gut, schon gut", rief ich und hob abwehrend die Hände. "Ich will deine Fähigkeiten als Ausbilder nicht kritisieren."

"Dein Glück", brummte er und setzte das Tätscheln fort. Megumi seufzte ergeben.

"Jedenfalls wurde ich von ARTEMIS wieder abgezogen. Für den bevorstehenden Angriff auf den Mars. In einem Jahr können wir soweit sein. Und du sollst die erste Attacke führen, Akira."

Ich erschauerte bei den Gedanken, teils vor Aufregung, teils vor Grauen. "Ich bin nicht sicher, wie ich dazu stehe", sagte ich leise.

In den Augen des Commanders trat unverhohlenes Mitleid. "Ich weiß. Dein Verlust, unser Verlust war sehr groß. Aber es ist für das Wohl der Menschheit. Der gesamten Menschheit.

Willst du etwa, dass Menschen in Zukunft in diese Biocomputer integriert werden? Oder auch andere Geschwister und Freunde verlieren?"

"Nein", sagte ich. Es war eine knappe Antwort, aber ich meinte sie ernst.

"Gut, Akira. Was uns aber zu einer wichtigen Frage bringt", sagte Sensei und beugte sich vor.

Ich beugte mich ebenfalls vor.

"Ist es in Ordnung, dass diese Zivilisten alles mithören?" Jerry deutete auf Lilian, Kei und Yoshi. "Von der Dame da mal ganz zu schweigen."

Akari sah erschrocken auf. "Was? Stimmt was nicht? Bin ich falsch angezogen?"

Ich grinste breit. "Ja, Sensei, das geht in Ordnung."

"Ich wollte es ja nur wissen", brummte er und setzte sein Tätscheln fort.

"Kannst du nicht mal jemanden anderen nerven?", fuhr Megumi ihn an.

"Du magst mich nicht mehr. Mich, deinen alten Sensei", warf er ihr vor.

"Das ist es nicht", rechtfertigte sie sich.

"Früher hast du das so gerne gehabt", meinte er wehmütig.

"Von mir aus mach weiter", brummte sie. Ihr wütender Blick traf mich. Lautlos formten ihre Lippen die Worte Plätze tauschen, was ich mit einem vehementen Kopfschütteln ablehnte.
 

In diesem Moment ging die Tür und wir hörten Makoto rufen: "Bin wieder da."

"Ist das Mako-chan?", fragte Jerry aufgeregt. "Er wohnt auch hier?"

"Sakura ebenfalls", stellte ich fest.

Megumi atmete erleichtert auf. Die Aufmerksamkeit ihres und meines alten Lehrmeisters wandte sich einem neuen Ziel zu.

Makoto kam in die Tür und lächelte. "Nun seht mal, wen ich auf der Straße aufgelesen habe." Er griff neben sich und zog einen großen, stattlichen, schwarzhaarigen Mann mit Brille in den Türrahmen.

Doitsu Ataka sah verlegen in die Runde und sagte: "Tut mir Leid, dass ich hier so reinplatze. Aber ich bin Zuhause raus geflogen. Kann ich vielleicht diese Nacht bei dir schlafen, Akira?"

"Was? Und das, nachdem Ihr zwei euch fast getötet hättet?", brauste Megumi auf.

Ich winkte ab. "Wir haben nur gespielt, nur gespielt. Natürlich kannst du bei mir pennen, Doitsu. Komm, wir essen gerade zu Abend. Es ist genügend da und Ino-Sensei kommt sicher auch gleich."

Zögernd legte Doitsu seine Tasche ab und setzte sich zu uns an den Tisch.

Makoto setzte sich links von ihm und kam so in die Reichweite des Commanders.

"Mako-chan", sagte Jerry und begann nun Makotos Kopf zu tätscheln, "du hast dich seit der Marsmission ganz schön gemacht. Bist ja sogar noch niedlicher geworden."

Ich befürchtete einen Wutausbruch meines Cousins, aber stattdessen strahlte er über sein ganzes Gesicht. "Danke, Sensei."

Yoshi hob eine Hand. "Äh... Mako?"

"Ja?", fragte er und ließ sich ausgiebig weiter tätscheln.

Yoshi wurde rot. "N-nichts, schon gut."

Ich wechselte einen schnellen Blick zwischen den beiden. Und schlug eine Hand vor meinen Kopf.

Und wieder hatte mein Leben in dieser Welt noch etwas mehr Gas gegeben.
 

Ich grinste schwach. "Fehlt nur noch, dass Akane-sempai und Hina-chan auch noch hier einz..."

Megumi war herüber gehastet und schloss meinen Mund mit ihrer Rechten. "Sprich es nicht aus. Sonst passiert es wirklich noch."

"So ein Quatsch", brummte ich beleidigt.

"Bei dir ist alles möglich", konterte sie.

"Das kann ich nur bestätigen", erwiderte Makoto.

Ich lachte leise und die anderen fielen ein.

Das Leben hier hatte auch viele schöne Seiten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2007-01-26T09:49:22+00:00 26.01.2007 10:49
Wie immer: PHÄNOMENAL!Mach ruhig weiter so. ^^
Von: abgemeldet
2005-05-02T17:31:02+00:00 02.05.2005 19:31
Es ist einfach...
*fast am flennen war, als sies gelesen hat*
Mit dem Kap bin ich noch nicht ganz fertig, aber über die Vergangenheit hab ich schon die ganze Zeit rumgerätselt...
Favo: Megumi! Die Frau hats einfach drauf!!
Von:  Carnidia
2005-02-12T10:50:07+00:00 12.02.2005 11:50
Kann nur zustimmen! Sie ist einfach absolute Spitze ^.^
Juhuuu und es sind noch so viele Seiten zum lesen *freu hüpf*
hihihi ...
^.^v
Von:  CaptainHarlock
2005-01-18T23:58:01+00:00 19.01.2005 00:58
Oh man, außer mir nur ein weiter der deine Story gelesen hast, das ist nicht so gut.....
Aber das wird schon, schließlich is die STory einfach nur der Hammer^^

see ya, Harlock (BlackMarauder)


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