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Equinox

von

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Kapitel I - Wer an sich selbst glaubt...

Kapitel 1 - Wer an sich selbst glaubt...
 

Lang, lang ist's her... ja, ich weiß, seit Equinox zum ersten Mal bei animexx hochgeladen war, sind mittlerweile mehrere Jahre vergangen... seitdem ist es komplett überarbeitet und korrigiert worden, und glaubt mir, dass war viel Arbeit, verflucht viel Arbeit, oder anders ausgedrückt: Ich wäre fast gestorben! O_O Aber ich habe tapfer durchgehalten und kann nun mit Stolz die endgültige Version von Kapitel I präsentieren!!! Ein denkwürdiger Moment, der mich irgendwie melancholisch stimmt...

An alle, die Equinox schonmal gelesen haben: Bitte, lest es nochmal von Anfang an. Es hat sich so viel geändert und man muss diese neue Fassung kennen, um die Geschichte wirklich verstehen zu können. An alle "Neueunsteiger": Ich hoffe, dass Euch diese Fanfic gefällt und bitte lest weiter! *verbeug* Equinox ist für mich wie ein alter Freund, der mir sehr am Herzen liegt, und ich hoffe, dass es (auch im neuen Gewand...) vielen gefallen wird.

Zuletzt möchte ich Tía, Yoko und natürlich meinem Fünkchen danken, ohne die ich das hier niemals durchgehalten hätte. Danke an alle aus dem Equinox-RPG und an alle, die mir Comments geschrieben und mich motiviert haben. Das hier ist nur für euch! Daisuki!!! ^.^
 

Er lief so schnell er konnte durch das kalte, feuchte Gras. Ein kurzer, aber heftiger Regenschauer hatte nur wenige Stunden zuvor scheinbar alles Alte in der Natur hinfort gespült. Noch lagen Reste von Nebel wie geisterhafte Fetzen über den weiten Feldern und gaben dem ausklingenden Tag eine unwirkliche Atmosphäre. Der Junge aber hatte keine Augen für seine Umgebung, er rannte mit starr ins Nichts gerichtetem Blick immer weiter geradeaus, bis ihn irgendwann ein hässliches Stechen in seiner Seite zum Anhalten zwang. Er schnappte nach Luft, die Augen krampfhaft auf den wie von tausend kämpfenden Ameisen überfluteten, hell und dunkel flirrenden Boden gerichtet, und wischte sich mit einer Hand hastig den Schweiß von der Stirn.

Weiter, nur weiter, fuhr es ihm durch den Kopf. Er durfte nicht stehen bleiben, nicht jetzt, wo er es doch beinahe schon geschafft hatte! Er warf sich seinen langen braunen Zopf über die Schulter und rannte weiter. Jetzt kam es ganz allein auf seine Schnelligkeit an, denn schon hörte er hinter sich dumpfe Schritte durch das feuchte Grün der Wiese brechen. Langsam aber sicher kroch ein leises Gefühl von Panik mit kalten, klammen Fingern in ihm hoch. Auch wenn er seinen Verfolger nicht sehen konnte und es auch schlicht und einfach nicht wagte, sich nach ihm umzudrehen - es war ihm klar, wer dort hinter ihm war, und so zwang er sich dazu, sein Tempo sogar noch ein kleines bisschen mehr zu beschleunigen.

In seiner Brust schien eine glühend heiße Axt zu toben. Das Atmen fiel ihm mit jedem Schritt schwerer, aber der Mut der Verzweiflung trieb ihn mit schmerzhaften Schlägen zum Weiterlaufen an. Wenn er jetzt so kurz vor dem rettenden Waldeingang aufgab, dann hatte er alles verloren, und dieser Gedanke ließ ihn die letzten Kräfte mobilisieren, die er eben noch irgendwo in seinem völlig erschöpften Körper finden konnte. Er spürte kaum mehr die nassen Grashalme unter seinen nackten Fußsohlen, nahm nichts mehr um sich herum wirklich bewusst wahr außer dem grünen Flirren der zum Greifen nahe und doch so unendlich weit entfernt scheinenden Bäume, die vergeblich ihre rettenden Schatten nach ihm ausstreckten.

Jeder Atemzug von der feuchten, kühlen Luft schien ein langes, rostiges Messer Stück für Stück in seine Lunge hineinzutreiben. Dennoch verlangsamte er sein irrwitziges Tempo nicht etwa, obwohl er seine Beine kaum noch als solche wahrnehmen konnte. Er wusste, er würde jeden Moment zusammenzubrechen, wenn er nur stehen blieb, und so gelang es ihm auf irgendeine wundersame Weise tatsächlich, noch einmal an Geschwindigkeit zuzulegen. Das Gras, die Bäume, der Himmel, alles raste in einem konturlosen Farbenrausch an ihm vorbei, während der Waldrand näher und näher kam - ebenso wie sein Verfolger. Der Junge spannte seinen Körper, legte einen letzten halsbrecherischen Sprint ein, sah sich beinahe schon in das Dunkel des Waldes eintauchen...

Und sah dann im nächsten Augenblick noch etwas ganz anderes auf sich zukommen, nämlich die feucht glänzenden, saftig grünen Halme der Wiese, durch die er eben noch so tapfer und athletisch gelaufen war. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und schien doch gleichsam zu einer unerträglichen Ewigkeit zu zerfließen, so wie ein Klumpen schmelzenden Wachses in der prallen Mittagssonne. Vielleicht war es ein Stein, vielleicht auch eine Wurzel, die aus dem Wald hinaus bis in die dunstige Ebene ragte. Er spürte eigentlich gar nicht wirklich, wie es ihm die Füße unter dem Körper wegriss, doch die Chance zu jedweder Reaktion blieb ihm ohnehin verwehrt.

Das Nächste, was er wieder ganz bewusst wahrnahm, war der harte und überaus schmerzhafte Aufprall auf dem regennassen Erdboden. Das feuchte Gras schlug ihm wie tausend brennende Peitschenhiebe auf den Körper, während sich eine ganz und gar unverschämte Unzahl von winzigen Steinen geradewegs in seine Haut zu bohren beschloss. Doch für all diese körperlichen Leiden und Qualen, so unangenehm sie auch immer sein mochten, konnte der Junge kaum mehr Beachtung aufbringen, als es eben unvermeidbar war.

Dies mochte höchstwahrscheinlich daran liegen, dass seine (ohnehin schon reichlich in Mitleidenschaft gezogene!) Wahrnehmungsfähigkeit sich momentan auf eine vollkommen andere Sache konzentrierte, und das war der flackernde Umriss jener dunklen Gestalt, die sich ihm nun frei von jeglicher Hast, ja fast schon boshaft ruhig und gemächlich näherte. Er wollte aufstehen, weiterlaufen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Der Waldrand schien so nah, so lächerlich nah, nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Ziel...

Und dennoch hätte es genauso gut am anderen Ende des Planeten liegen können. Er konnte einfach nicht mehr! All die Kraft, die er für seinen letzten entscheidenden Lauf gesammelt hatte, war nun mit einem Schlag aus seinem Körper gewichen. Er schnappte mühsam nach Luft und versuchte verzweifelt, sich irgendwie noch einmal aufrappeln zu können, aber seine Füße fanden keinen Halt in dem feuchten Gras, rutschten hilflos zur Seite ab und ließen ihn zum zweiten Mal auf den kalten, steinig-matschigen Boden fallen.

In diesem Augenblick begriff er, dass es vorbei war. Sein düsterer Verfolger kam unaufhaltsam näher und näher, war nun schon bis auf wenige Schritte an ihn herangetreten und es blieben dem Jungen bestenfalls noch Sekunden, bis er ihn auch tatsächlich erreicht haben würde. Wie durch einen Schleier hindurch nahm er wahr, wie der rennende Schatten auf ihn zukam, um das zu vollenden, was er die ganze Zeit über mit all seiner Kraft so verzweifelt hatte verhindern wollen.

Er zog an ihm vorbei und schenkte ihm noch ein letztes, spöttisches Lächeln, bevor er locker und entspannt dem Waldrand entgegenlief und mit seinem Körper das gelbe Band durchtrennte, das zwischen den Bäumen gespannt war, dort, wo schon die anderen Kinder auf den blonden Jungen warteten, der da eben als Erster ins Ziel gekommen war. Erschöpft, aber sichtlich zufrieden nahm er ein kühles Getränk entgegen und kippte es in einem einzigen Zug herunter.

Dann blickte er auf und sah erwartungsvoll grinsend in jene Richtung, wo der Gestürzte immer noch in der regendurchtränkten Wiese lag. Dieser verspürte jedoch nicht einmal mehr die geringste Lust, überhaupt jemals wieder aufstehen zu müssen, denn das Rennen war gelaufen und außer ein paar mitleidigen Blicken würde er heute wohl nur noch das Gelächter der anderen Kinder ernten. Sein Sturz musste furchtbar komisch ausgesehen haben! Er ballte die Hände zu Fäusten und warf einen trotzigen Blick in Richtung des grau verschleierten Himmel, der sich weit über ihm von Horizont zu Horizont aufspannte. Warum musste das Schicksal denn auch wieder einmal ausgerechnet ihn so unvorstellbar hart treffen? Sicher, ihr Wettlauf war faktisch noch nicht vorbei, aber ob er nun als Zweiter oder als Letzter ins Ziel kam, das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr

Er hatte verloren.

"Shinya, hast du dir wehgetan? Soll ich dir vielleicht aufhelfen?" Die Stimme des blonden Jungen klang freundlich und ehrlich besorgt, aber Shinya kannte diesen Tonfall sogar weit besser, als ihm lieb war - der Blondschopf machte sich wieder einmal über ihn lustig. Sollte er doch! Er hatte es jedenfalls ganz bestimmt nicht nötig, sich auch noch von ihm auf die Beine ziehen zu lassen, nein, wenigstens diesen einen Triumph würde er nicht bekommen! Stattdessen holte er noch einmal tief Luft und kämpfte sich dann zwar etwas unbeholfen, aber doch immerhin aus eigener Kraft wieder zurück auf die Füße.

Ein kurzer prüfender Blick nach unten verschaffte Shinya einen ersten Eindruck von der überaus reichhaltigen Vielfalt an Schürfwunden, die seinen gesamten Körper wie ein rotes Netz auf einem Grund aus heller Haut und bräunlich grünem Schlamm überzogen. Besonders sein rechtes Knie hatte es schlimm erwischt. Aus einer ganz offensichtlich recht tiefen, heftig pulsierenden Wunde sickerte Blut über sein geschundenes Bein hinab und dabei brannte sie, als ob man ihm einen wieder und wieder explodierenden Feuerwerkskörper in seine Haut gerammt hätte.

Shinya biss die Zähne zusammen, aber dennoch drang ein leises Wimmern über seine bleichen Lippen, während er mühsam humpelnd die letzten Meter bis zum Ziel zurücklegte. Seine Kleidung war unangenehm nass und kalt, sein einstmals geflochtenes langes Haar hatte sich nun größtenteils gelöst und klebte ihm in wirren, von Schweiß und Dreck durchtränkten Strähnen im Gesicht. Ein leises, entferntes Keuchen kündigte an, dass sich nun endlich auch die anderen Kinder näherten, die ebenfalls an dem Rennen teilgenommen hatten. An ihrer Spitze lief ein Junge, dessen Gesicht ebenso rot war wie seine völlig verstrubbelten Haare, dahinter ein sommersprossiges Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz.

"Deine Wunde versorgen wir später, jetzt trink erst mal was!"

Shinya drehte sich um und ergriff hastig den Becher, den ihm Sylvie, ihres Zeichens jüngste Betreuerin seines Kinderheimes, so überaus verlockend darbot. Besagtes Heim - ein altes, schon vor sehr langer Zeit verlassenes Herrenhaus - schmiegte sich still und abgelegen an den Rand von Arvesta, des größten Waldes auf dem grünen Kontinent Silvania. Nur sehr selten verirrten sich Reisende in die stets leicht schwermütig verträumte, regnerische Gegend, die eingebettet zwischen dichten Wäldern und den ersten sanften Hügeln der Sinya-Höhen lag.

Hier im Grenzgebiet zwischen den von großen Städten, weiten Ebenen und einsamen Küstenstreifen bestimmten silvanischen Flatlands und den bergigen Wäldern der Midlands, in deren verzauberte Einsamkeit sich die naturverbundenen Elbenvölker vor der stetig wachsenden Zivilisation zurückgezogen hatten, schien die Natur das ganze Jahr über in zartem, melancholischem Schlummer zu liegen. Und mitten in dieser Ruhe hatte eine Gruppe junger Idealisten, unter ihnen auch eine Frau namens Sylvie, jenes alte Herrenhaus mitsamt einer weitaus weniger ruhigen Horde elternloser Kinder bezogen.

Eines dieser Kinder war Shinya, der es nun genoss, wie das kühle Wasser ihm den Hals hinabrann, und einige Sekunden lang die funkelnd grünen Augen schloss, um seinen rasenden Herzschlag wieder zur Ruhe zu bringen. Als er es schließlich wieder fertig brachte, seine Lider langsam und bedächtig zu heben, da blickte er geradewegs in ein ihm nur allzu gut bekanntes Gesicht - das Gesicht eines Jungens mit strubbeligen blonden Haaren, der wie immer ein spöttisches Leuchten in den Augen und ein breites Grinsen auf den Lippen trug.

"Na, willst du mir gar nicht zum Sieg gratulieren?"

"Verzieh dich, Phil!" Shinyas Antwort klang sogar noch weit unfreundlicher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, waren sein alter Freund Phil und dessen weithin bekannte, stets so umwerfend komische Sprüche! Augenblicklich spürte er den strafenden Blick von Sylvie in seinem Nacken, aber das war ihm momentan so vollkommen egal, wie überhaupt nur irgendetwas es hätte sein können.

Phil erwiderte die finstere Kälte in den Augen des Jungen mit einem hilflos verwirrten Blinzeln.

"Was ist denn? Ich habe fair gewonnen, jetzt akzeptiere das bitte auch!" In sehr viel leiserem Tonfall, gerade so, dass nur Shinya ihn hören konnte, fügte er hinzu: "Is ja nicht meine Schuld, wenn du unbedingt über deine Füße fallen musst... sah aber echt gut, Shinya."

"Halt den Mund!" Shinya unterdrückte nur mit einiger Mühe den Impuls, seine Faust kurzerhand in Phils selbstzufriedenem Grinsen zu versenken. Er konnte und er wollte sich nicht mehr länger beherrschen. "Ich akzeptiere gar nichts, okay? Vor allem nicht dein dummes Gelaber!"

"Shinya!" Sylvie kam mit jener unheilvollen Miene, die stets ankündigte, wenn eines der Kinder sie um ihre ansonsten wahrhaft engelsgleiche Geduld gebracht hatte, auf die beiden Jungen zugestapft und stemmte sich die Hände in die Hüften. "Was soll denn das jetzt schon wieder? Wir haben doch ausgemacht, dass es bei unserem Sommer-Abschieds-Fest dieses Jahr mal keinen Streit gibt, schon vergessen? Und was ist jetzt? Du bist doch kein Kind mehr, Shinya! Kannst du dich denn nicht wenigstens einmal wie ein ganz normaler Junge benehmen?"

Shinya verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich von der sichtlich entnervten Betreuerin ab. Nein, er konnte und er wollte sich nicht wie ein normaler Junge benehmen - was nicht zuletzt daran liegen mochte, dass er auch überhaupt kein normaler Junge war. Wenn Shinya in seinem achtzehnjährigen Leben eines gelernt hatte, dann war es, dass normale Jungen ganz im Gegensatz zu ihm keine braunen Katzenohren auf dem Kopf und auch keinen Katzenschwanz hatten, die beide nicht so recht zu seinem ansonsten eindeutig menschlichen Aussehen passen wollten.

Keiner wusste, woher der kleine Halbdämon gekommen war, als ihn eine Gruppe von Gardisten halbtot und eingesperrt im Keller eines verlassenen Hauses inmitten der Großstadt Haída gefunden und in das nahe gelegene kleine Kinderheim am Rande der Wälder gebracht hatte. Doch auch wenn man sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt hatte, dass der Junge mit dem langen braunen Zopf, den grünen Katzenaugen und den kleinen spitzen Eckzähnchen eben immer etwas anders war als die anderen Kinder - er war und er blieb ganz sicher alles andere als normal. Davon einmal abgesehen war er in diesem Augenblick ganz einfach nur wütend und enttäuscht und vor allem hatte er genug von Super-Phil, den doch sowieso alle liebten, der alles konnte und der immer nur brav und nett, kurzum: der eben einfach von Kopf bis Fuß perfekt war.

"Auf eure großartige Siegesfeier kann ich gerne verzichten!", knurrte er Sylvie entgegen. "Du hast Recht, ich bin kein Kind mehr, und ich habe andere Sorgen, als am Lagerfeuer zu hocken und irgendwelche Liedchen zu singen! Außerdem bin ich jetzt müde, also gute Nacht, bis morgen und viel Spaß noch!"

Ohne die Antwort der jungen Betreuerin abzuwarten oder noch länger in die teils lachenden, teils reichlich entnervten Gesichter der umstehenden Kinder zu blicken, fuhr Shinya mehr oder weniger elegant herum und lief dann halb humpelnd, halb rennend den matschigen Waldweg entlang, bis er endlich das große, alte Steingebäude seines Heimes vor sich auftauchen sah. Ein feuchter, schwerer Regenduft lag zwischen den zarten Farnen und den dunklen Stämmen, an denen sich gelblich weiße Pilzkolonien in den fantastischsten Formationen empor rankten.

Die schwermütige Schönheit der Natur berührte ihn im Moment jedoch herzlich wenig - dafür war er allerdings auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Schmerzen in seinem Knie zu ignorieren, die sich nicht so recht zwischen Brennen, Stechen und Pochen entscheiden konnten und deshalb all diese Hochgefühle auf eine äußerst quälende Art und Weise miteinander kombinierten und abwechselten. Er musste die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht doch einfach wieder kehrt zu machen und Sylvie um ein bisschen Wundtinktur anzubetteln, kam dann aber endlich doch verschwitzt und wiederum völlig außer Atem auf dem großen Platz vor dem Heim an.

Shinya schleppte sich zu der ebenholzfarbenen Eingangstüre hin und fand sie wie erwartet unverschlossen vor. Die abgeschiedene Lage des alten Hauses machte jegliche Sicherheitsvorkehrungen überflüssig - und außerdem wusste der Halbdämon nur allzu gut, dass es hinter der prunkvollen, wenn auch etwas heruntergekommenen Fassade des ehemals so herrschaftlichen Hauses nicht mehr viel zu holen gab. So stieß er die Türe kurzerhand auf und stolperte in den Flur, in dem die Schuhe der Kinder ordentlich nebeneinander aufgereiht unter ihren etwas schäbigen, dafür aber umso wärmeren Jacken standen, die Sylvie für den nahenden Herbst sicherheitshalber schon mal vom Dachboden des Heimes hervorgeholt hatte. In einer Ecke ruhte ein alter hölzerner Schlitten mit schwarzen, schmiedeeisernen Kufen und wartete stumm und sehnsüchtig auf den ersten Schnee.

Der von regennassen Füßen glatt gewordene Fliesenboden war gefährlich rutschig und so ging Shinya zwar gerade noch so eilig, wie sein verletztes, etwas steif gewordenes Knie das eben zuließ, aber dennoch mit der nötigen Vorsicht auf die schmucklose Türe zu, die ins Innere des Hauses führte. Im Laufe der langen Jahre, in denen das Herrenhaus leer gestanden hatte, war das ursprüngliche Portal dem zerstörerischen Treiben von Wind und Regen zum Opfer gefallen, und so hatte Sylvie es durch ein billiges, dafür aber äußerst widerstandsfähiges dunkles Holz ersetzt, das die Kälte so weit wie möglich fernhielt, in dem altmodischen Prunk des sonstigen Umfelds aber reichlich fehl am Platz wirkte.

Den Katzenjungen kümmerte aber auch das im Augenblick reichlich wenig. Er war froh, den Eingangsflur hinter sich lassen zu können und trat durch die kahle Türe in den Gemeinschaftsraum des Heimes. Der dunkelrote Teppich dort empfing ihn mit wunderbarer Weichheit und trocknete schnell seine feuchten, nackten Füße. Shinya hatte es plötzlich nicht mehr ganz so eilig, an dem langen und wie immer äußerst chaotischen Spieltisch vorbeizuhumpeln, der wie fast alle Möbel hier aus dunklem Holz bestand. Das überall herumliegende Spielzeug und die allgemein vorherrschende Unordnung brachten dennoch eine freundliche, warme Atmosphäre in das an und für sich recht düstere Gemäuer. Der Halbdämon vollführte einen ungelenken Slalom durch den großen, aber dafür auch äußerst vollen Raum, bis er schließlich am Fuß der hölzernen Treppe ankam, die in das erste Obergeschoss und somit auch zu ihren Schlafräumen führte, und machte sich dann an den Aufstieg.

Dieser war im Übrigen sogar keineswegs so schlimm, wie Shinya das zuerst einmal befürchtet hatte. Sondern viel, viel schlimmer. Jede einzelne Stufe brachte ungeahnte Qualen mit sich, und jedes Mal, wenn er dachte, den schlimmsten Punkt nun endlich überschritten zu haben, überzeugte ihn gleich darauf ein neuerlicher Schwerthieb mitten ins Bein vom äußerst unangenehmen Gegenteil. Der Schmerz in seinem Knie schien nicht wirklich besser zu werden, im Gegenteil: Nun begannen auch noch die kleineren Wunden zu brennen und zu jucken. Am liebsten hätte sich der Katzenjunge kurzerhand die Haut vom Körper gerissen, aber da das natürlich nicht möglich war, quälte er sich eben weiter die Treppe hinauf, bis er endlich in jenem langen Flur angekommen war, in dem sich eine schwarze Türe an die nächste reihte und so im grauen Halbdunkel hart konturierte Löcher in die vergilbte, von blassgrünen Ornamenten verzierte Tapete schnitt.

Shinya seufzte. Das Schicksal meinte es wohl wieder einmal ganz besonders schlecht mit ihm, aber das war er ja nicht anders gewohnt. Leise grummelnd tastete er sich an der kühlen glatten Fläche der Wand entlang, bis er endlich das vorletzte Zimmer auf der linken Seite des Ganges erreichte, das er zusammen mit ein paar anderen Jungen bewohnte. Es kostete ihn reichlich Überwindung, doch noch einmal in den nebenan gelegenen Waschraum zu gehen, wo er sich hastig den gröbsten Schmutz, das langsam verklebende Blut und den Schweiß vom Körper wusch, bevor er sich tapfer zurück zu seinem Schlafraum quälte und dort endlich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung auf sein mehr oder minder weiches Bett fallen ließ.

Er blieb einige Sekunden lang regungslos und mit geschlossenen Augen liegen und lauschte auf seine langsam wieder ruhiger werdenden Atemzüge. Dann stand er auf, zog seine immer noch feuchten Kleidungsstücke aus und schlüpfte, nachdem er die ungemütlich kalten Stoffballen wenig liebevoll in eine Ecke des kleinen Zimmers geschmissen hatte, in eine kurze schwarze Hose. Weitaus vorsichtiger ließ er sich nun zum zweiten Mal auf seiner Matratze nieder, streckte sich und zog sich dann die Decke über den Kopf.

Was für ein Tag! Wenn Shinya es nun genauer bedachte, dann war er eigentlich überhaupt nicht müde. Außerdem lastete der raue Stoff viel zu schwer auf seinen zahllosen Wunden und ließ nur ein trübsinniges, dumpfes Licht zu dem Katzenjungen hindurchsickern, also schob er die Bettdecke kurzerhand wieder beiseite und starrte stattdessen an die bleiche Wand des niedrigen Raumes. Ganz unweigerlich (und obwohl er das eigentlich überhaupt nicht wollte) schweiften seine Gedanken zu den anderen Kindern ab, die jetzt und in diesem Augenblick draußen am Waldesrand saßen, Brot und Fleisch über dem Lagerfeuer grillten, fröhliche Lieder sangen und eben einfach ihre liebe Freude am Leben hatten. Shinya wackelte lustlos mit seinen braunen Katzenohren, die vom Regen leicht struppig geworden waren. Er hätte ohne Weiteres ebenfalls bei ihnen sein können, aber stattdessen lag er nun einsam und allein in der Leere seines Zimmers und langweilte sich. Mit einer wütenden, ruckartigen Bewegung richtete er sich auf und griff nach seinem Kissen.

"Gratulation! Du hast es mal wieder geschafft, Shinya!", schrie er dem an und für sich doch vollkommen unschuldigen Stoff entgegen und boxte so stark er nur konnte in das formlose Weiß. Dann packte er es, vergrub sein Gesicht darin und ließ sich nach hinten auf die Matratze fallen. "Du bist ja so unglaublich blöd...", murmelte in die ausgedünnte Daunenschicht hinein.

Dann drehte er sich zur Seite, wickelte sich doch wieder in die wenigstens recht angenehm warme Decke ein und schloss die Augen. Er wollte unbedingt schlafen, wenn die anderen wieder von ihrem Fest zurückkamen, also lag er einfach nur regungslos da, zählte seine Atemzüge und versuchte krampfhaft, seine Gedanken wieder zur Ruhe zu bringen. Was ihm natürlich nicht gelang. Die Zeit schien mit jeder endlosen Sekunde sogar noch ein bisschen langsamer zu verstreichen, aber irgendwann, viele, viele Atemzüge später, übermannte ihn dann doch die erschöpfte Müdigkeit und er schlief endlich ein.
 

Als Shinya wieder erwachte, war es bereits tiefe Nacht. Er konnte nicht sagen, was genau ihn denn eigentlich aufgeweckt hatte, aber von einer Sekunde zur nächsten war er hellwach. Er rollte sich auf die andere Seite und versuchte einige Minuten lang vergeblich, wieder einzuschlafen oder auch nur ein kleines bisschen müde zu werden, als er plötzlich bemerkte, wie durstig er war. Sein Hals brannte und kratzte, als ob er stundenlang gegen den Wind geschrien hätte, und seine Zunge lag trocken wie ein verdorrtes Stück Holz in seinem Mund. War er deshalb aus seinem traumlosen Schlaf erwacht? Er wusste es nicht, aber dafür war er sich umso sicherer, dass er nicht wieder würde schlafen können, ohne etwas getrunken zu haben.

Der Katzenjunge verdrehte die Augen, dann stand er so leise wie möglich auf, um die anderen im Zimmer auch ja nicht zu wecken. Das Letzte, was er jetzt noch verkraften konnte, war eine Standpauke seiner Mitbewohner, dass er sie zu solch später Stunde aus ihrem wohlverdienten Schlummer riss! Auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem schlich er an den beiden Hochbetten vorbei auf die schwarze Türe zu. Dabei fiel sein Blick mehr beiläufig auf eine der Matratzen - was er dort jedoch sah, erstaunte ihn umso mehr.

Das Bett war leer.

Shinya blieb stehen und vergewisserte sich mit zunehmender Verwirrung, dass auch die übrigen Nachtlager vollkommen unberührt im fahlen Halbdunkel des Zimmers lagen. Aber wie war das möglich? Er konnte sich kaum vorstellen, weil die anderen Kinder zu solch später Stunde noch nicht von ihrer Feier zurückgekehrt waren. Oder hatte er vielleicht gar nicht so lange geschlafen, wie er im ersten Moment gedacht hatte? Allerdings war es draußen wirklich stockdunkel und die Sonne ging auch in den endenden Sommermonaten noch verhältnismäßig spät unter. Konnte das Fest wirklich bis mitten in der Nacht angedauert haben?

Mit einem seltsamen und alles andere als beruhigenden Gefühl in der Bauchgegend öffnete der Halbdämon die Türe seines verlassenen Zimmerchen und trat hinaus in die vollkommene Dunkelheit des Flures. Dort blieb er stehen und sah sich einige Augenblicke lang leicht verloren nach allen Seiten um. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte zwar nicht genau sagen, was ihn denn nun eigentlich so plötzlich gestört und seinen Körper ganz unterbewusst zum Anhalten gezwungen hatte, aber dieses unbekannte, vage Gefühl war dennoch stark genug, um ihm wie ein lähmendes Gift jede noch so kleine Bewegung mit Nachdruck zu untersagen.

Als Shinya dann endlich begriff, was ihn derart irritierte, obgleich seine Augen es zunächst nur beiläufig registriert hatten, lief ihm ein eisig kalter Schauer wie gefrierende Regentropfen langsam über den Rücken hinab. Allmählich begann ihm diese merkwürdige Nacht mit all ihren Vorkommnissen und Absonderlichkeiten sogar ganz verflucht unheimlich zu werden! Er warf einen neuerlichen Blick über die Schulter hinweg, und immer noch zeigte sich ihm das stumme Bildnis seines Zimmers, wie es vom kalten Schein des Mondes in ein unwirklich silbernes Licht getaucht wurde.

Und genau hier lag der Fehler. Die Nacht war zwar finster, aber eben doch nicht stockdunkel, denn der Mond war beinahe kreisrund und nun, da sich die Regenwolken verzogen hatten, auch dementsprechend hell. In den Flur hinaus verirrte sich jedoch kein einziger seiner Strahlen. Es schien vielmehr so, als ob irgendjemand mit chirurgischer Präzision das silbrige Mondlicht Finsternis in den langen Gang ausgeschüttet hätte.

"Jetzt mach dich mal nicht verrückt, Shinya! Das wär verflucht noch mal sehr, sehr lächerlich, wenn ein Halbdämon Angst vor der Dunkelheit hätte, okay?"

Shinya war es mit einem Mal vollkommen egal, wer von seinen Mitbewohnern ihm für sein doch nicht unbedingt im Flüsterton gehaltenes Selbstgespräch den Hals umdrehen würde - beinahe wünschte er sich sogar, dass eine der pechschwarzen Türen sich öffnen und ein verschlafenes Gesicht zum Vorschein kommen würde, um ihn missmutig, aber doch wenigstens lebendig an die späte Uhrzeit zu erinnern. Er sprach laut, mit möglichst fester, beinahe ein wenig trotziger Stimme, wie um sich selbst Mut zu machen - und wünschte sich bereits in der nächsten Sekunde, dass er genau das nicht getan hätte.

Seine Stimme hinterließ ein dumpfes Echo in der Finsternis des Korridors, beinahe wie in einer feuchten, unterirdischen Felshöhle - oder zumindest so, wie sich Shinya das Echo einer feuchten, unterirdischen Felshöhle eben vorstellte, da er noch niemals zuvor in seinem Leben auch tatsächlich eine betreten hatte. Seinen Worten folgte ein unangenehmer Nachhall, der jedoch nicht etwa einfach wieder verklang, sondern ein um andere Mal von den Wänden abprallte, der mit jeder Sekunde lauter und lauter wurde, bis er schließlich wie ein Sturm von spitzen, schmerzhaft kalten Hagelkörnern von allen Seiten auf den Katzenjungen einprasselte.

"Shinya hat Angst! Shinya hat Angst!"

Er schluckte. War das wirklich seine eigene Stimme, die ihm da so unangenehm schrill und misstönend in den Ohren wiederhallte? Mit dem steten Anwachsen der Lautstärke schienen sich auch zunehmend kreischend verzerrte Tonlagen in das geisterhafte Orchester zu mischen, hier und dort begleitet von einem schrillen, auf grausige Art und Weise kindlichen Kichern, das Shinya jedoch hastig in das Reich seiner Einbildung abtat, da er zwar sehr wohl gesprochen, aber in gar keinem Fall gekichert hatte!

"Nein! Ich... ich... hört auf, ja? Das ist ein Alptraum, richtig? Ich liege in meinem Bett, ich schlafe, und das ist alles nur ein dummer, kindischer Alptraum..."

Der Katzenjunge merkte, wie seine Worte ihm zunehmend in einen Tonfall der Panik entglitten. Ein Gefühl von kalter, beklemmender Angst legte sich wie ein raues, dickes Tau um seine Kehle und raubte ihm beinahe die Kraft zum Atmen. Vergeblich versuchte er, zu der klaren, ruhigen Besonnenheit eines rationalen Gedankenganges zurückzufinden. Wenn dies alles nur ein Alptraum war - und daran bestand doch eigentlich gar kein Zweifel, denn normalerweise entwickelten einfache Gänge ja wohl kein derart stimmgewaltiges Eigenleben -, dann hatte er im Grunde genommen auch keinerlei Anlass dazu, sich zu fürchten. Was konnte ihm denn schon geschehen, außer dass er schweißgebadet aufwachen und in dieser Nacht wohl keinen weiteren Schlaf mehr finden würde?

An und für sich überhaupt nichts.

Und trotzdem... aus irgendeinem Grund wusste der Katzenjunge, dass er sich mit diesen krampfhaft vernünftigen Worten doch eigentlich nur selbst belog. Dies war kein Traum. Er war wach, er nahm alles vollkommen bewusst, vollkommen deutlich wahr und diese Sicherheit erschreckte ihn fast am meisten. Trotz der lähmenden Angst war er unfähig, seinen Blick von der dichten Dunkelheit abzuwenden, die sich vor ihm erstreckte und die nun in Bewegung zu geraten schien.

Shinya hatte nie gewusst oder auch nur geahnt, dass sich so etwas wie Dunkelheit tatsächlich bewegen konnte, doch den ebenso grotesken wie erschreckenden Vorgang in dem nächtlichen Korridor hätte er mit keinen anderen Worten treffender beschreiben können. Die triefende Finsternis wurde zu etwas Körperlichem, Greifbarem, und noch im gleichen Augenblick hielt sie ihn fest und nahm ihn unerbittlich gefangen. Der Halbdämon stieß einen tonlosen Schrei aus, wollte herumfahren, in die silbrig helle Zufluchtsstätte seines Zimmers zurücktaumeln, aber die Schatten hielten ihn fest wie klebriger Sirup.

"Shinya! Nein! Hör auf!", hallte das vielstimmige Geschrei und Gekicher durch den wabernden, grauenvoll lebendigen Gang. "Hör auf, Shinya!"

Der Katzenjunge keuchte. Er wagte es kaum mehr, zu atmen, aus Angst, etwas von der träge tanzenden Dunkelheit könnte in seinen Mund fahren, von seinem Körper Besitz ergreifen und ihn selbst zu einem Teil des hysterischen Orchesters machen. Er schlug sich beide Hände vor das Gesicht und stürzte blindlings in den dichten Brei aus Schatten hinein, rannte und rannte mit all seiner Kraft, kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung gegen den zähen Widerstand der Schattenmasse an, doch die missgestalteten Proportionen des Ganges schienen sich mit jedem Schritt weiter in die Länge zu ziehen.

In eine Länge, der so etwas wie ein Ende möglicherweise gar nicht bekannt war.

Die Erkenntnis bohrte sich wie die Klinge eines langen, rostigen Messers genüsslich langsam in Shinyas Brust und ließ ihn beinahe in der Bewegung zusammenbrechen. Sein Körper war ohnehin noch geschwächt genug und er konnte selber nicht sagen, woher er überhaupt noch die Kondition zu solch einem kopflosen Lauf genommen hatte. Und langsam begriff er auch, dass diese vollkommen überstürzte Reaktion ein ganz gewaltiger Fehler gewesen war.

Er hatte sich der lebendigen Dunkelheit ja quasi ausgeliefert, war ihr mit offenen Armen entgegen- statt vor ihr davongelaufen - und hatte nicht eine einzige Sekunde lang darüber nachgedacht, dass sie ihn nun möglicherweise überhaupt nicht wieder gehen lassen würde. Wer sagte ihm denn, dass die Architektonik dieses erschreckend real, aber eben doch nur beinahe normal wirkenden und gerade deshalb so absurden Ortes überhaupt irgendwelchen logischen Gesetzmäßigkeiten folgen musste? Wahrscheinlich konnte das niemand, genauso wenig, wie ihm jemand das Gegenteil hätte bestätigen können, aber allein der bloße Gedanke, noch bis in alle Ewigkeiten durch dieses dichte Schattenmeer laufen zu müssen, war weit mehr, als der Katzenjunge jetzt noch ertragen konnte.

Shinya entspannte seinen Körper, ließ beide Arme lose an seinen Seiten hinabbaumeln und senkte den Kopf, um sich vornüber in die gierige Finsternis fallen zu lassen und seiner sinnlosen Flucht, aber auch der erdrückenden Angst ein rasches Ende zu setzen. Er wusste nicht, ob ihn im finsteren Reigen der Geisterstimmen nicht möglicherweise noch ungleich schlimmere Qualen erwarteten, ob das rasche Ende in Wahrheit nicht doch eher lang und vor allem überaus grausam sein würde, aber auch diese Zweifel gaben ihm nicht mehr die Kraft dazu, um noch weiter vor etwas davonzulaufen, dem er doch höchstwahrscheinlich sowieso nicht entkommen konnte.

Und da sah er plötzlich am Ende des Korridors eine Türe auftauchen.

Eine Türe an der seitlichen Außenwand des Herrenhauses. An der seitlichen Außenwand des Herrenhauses im ersten Stock, um genau zu sein. An einem Ort, an dem es ja nun wirklich alles, nur ganz gewiss keine Türe geben durfte, denn welchen Sinn machte schon eine Türe, die geradewegs ins Nichts (beziehungsweise in den freien Fall) führte? Der Katzenjunge schüttelte den Kopf und hätte bereits im nächsten Augenblick schon beinahe wieder darüber lachen können, dass er sich an einem Ort wie diesem überhaupt noch derartige Gedanken machte.

Durften Schatten kreischen, tanzen, kichern? Durften Treppen verschwinden? Durfte Mondlicht zerschnitten werden? In diesem makabren Reigen der Absurditäten zählten nicht länger die Maßstäbe und Entscheidungsgründe des gesunden Menschenverstandes, sondern einzig und allein die Hoffnung darauf, überhaupt irgendwie wieder aus dieser unerträglichen Dunkelheit zu entkommen, weit weg von sämtlichen Geisterstimmen, die ihn verfolgten und mit jedem Schritt lauter und hysterischer wurden! Wen kümmerte es denn da bitteschön noch, ob seine Rettung nun eigentlich existieren durfte oder nicht?

Der Halbdämon holte tief Luft, drehte mit zittrigen Fingern den angelaufenen Messinggriff in seiner Fassung herum und stieß dann mit einem Ruck die dunkle Türe nach außen auf. Er konnte nicht sehen, was sich hinter ihrem schwarzen Rahmen befand, da die Schatten hartnäckig seinen Blick verdunkelten. Es fiel ihm mit jedem Schritt schwerer, sich zu bewegen, denn die grauenhaft klebrige Finsternis heftete sich an seinen Körper und versuchte mit aller Macht, ihn zurückzuhalten.

Wollte sie ihn etwa daran hindern, durch dieses schwarze Portal zu treten? Aber wieso? Lag dahinter tatsächlich seine Rettung, oder möglicherweise etwas noch ungleich Schlimmeres, Grausameres, das diese grässliche Flucht nur noch weiter in die Länge ziehen würde? Einen Moment lang zögerte Shinya und suchte verzweifelt nach dem rechten Mut, um den Weg in die Ungewissheit zu beschreiten. Seine Bewegungen verlangsamten sich, und er spürte, wie der Sirup lebendiger Schatten sich ekelhaft warm und klebrig um seine Gliedmaßen schlang und ihn so Stück für Stück gefangen nahm.

"Shinya, nein! Hör auf!"

Der Katzenjunge horchte auf. Mischte sich da nicht ein ängstlicher, ja fast schon panischer Unterton in die schrille Hysterie der kreischenden Dunkelheit? War diese Furcht etwa der Grund, warum sie mit jeder Sekunde ihre schleimigen Finger gieriger nach ihm ausstreckte? Und da wusste er mit einem Mal, dass er das Richtige tat. Doch mit der rettenden Erkenntnis kroch auch eine schmerzende, bedrückende Angst in ihm hoch. Was, wenn es zu spät war? Wenn er nur wenige Augenblicke zu lange gewartet und so seine letzte Chance endgültig verspielt hatte?

Shinya wusste, dass es so oder so sinnlos war, sich darüber seinen Kopf zu zerbrechen. Stattdessen sammelte er all die Kraft, die er angesichts des plötzlichen Lichtes am Ende eines schier endlosen Tunnels noch irgendwie mobilisieren konnte. Dann drückte er sich aus der klebrigen Schattenmasse ab und warf sich in die Dunkelheit hinter der Türe.

Der Aufprall auf dem Boden kam weit schneller als erwartet und auch nicht einmal annähernd so hart und vernichtend, wie es angesichts der Höhe eines zweiten Stockwerks wohl eigentlich zu befürchten gewesen wäre - trotzdem immer noch hart genug. Einige Sekunden lang lag der Halbdämon benommen da, die Augen krampfhaft geschlossen und all seine Sinne gleichermaßen betäubt.

Das misstönende Konzert der unheimlichen Stimmen hallte ihm immer noch in den Ohren nach, obwohl er sich nahezu vollkommen sicher war, dass es eigentlich aufgehört hatte. Stattdessen hörte er jetzt ein seltsames Knistern und Knacken, ähnlich dem lauten Prasseln eines frisch entzündeten Kaminfeuers. Wie auf ein geistiges Kommando hin drang im gleichen Moment, als Shinya diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, eine Hitzewelle zu ihm vor, die sich wie ein erdrückender Schleier über die kühle Nachtluft legte.

Der Katzenjunge hob immer noch reichlich orientierungslos seinen Kopf, dann öffnete er vorsichtig die Augen und blinzelte geradewegs in einen unglaublich hellen, unglaublich großen Fleck, der ihn nur umso mehr blendete und schmerzte, da seine Wahrnehmung immer noch an die bleierne Dunkelheit des Ganges gewöhnt war. Im ersten Moment war es ihm unmöglich, überhaupt irgendwelche erkennbaren Konturen auszumachen, doch Shinya rieb sich tapfer seine Augen, bis sich das verschwommene Bild endlich geklärt hatte.

Noch in der nächsten Sekunde bereute er es zutiefst.

Er lag inmitten des steinernen Hofes, der sich vor der großen schwarzen Silhouette des Herrenhauses zum Wald hin erstreckte. Der Nachthimmel war grau - allerdings nicht etwa von Regenwolken, die zurückgekehrt waren, um das Land erneut mit ihrer kalten klaren Fracht zu reinigen. Vielmehr war die Nacht durchtränkt von Rauch, welcher von einem gigantischen Scheiterhaufen aufstieg, der inmitten des ovalrunden Platzes aufgetürmt war. Hinter den flackernd roten Wällen des tobenden Flammenringes waren die Kinder und Betreuer des Heims wie Holzscheite zum Anfachen eines Lagerfeuers aufgestapelt worden. Hier und dort türmten sich zwischen ihren brennenden Leibern einige verkohlte Spielsachen, augenlose Puppen und Teddybären und das graue Skelett des alten Holzschlittens.

Der Gestank von verkohltem Fleisch mischte sich in den beißenden Qualm des Feuers und ließ den Katzenjungen hustend und würgend einige Meter weit zurücktaumeln, bis er die erschreckend kalte Mauer des Kinderheimes in seinem Rücken spürte. Doch obwohl die haushohen Flammen so heiß loderten, dass alles, was ihnen zu nahe kommen würde, wie eine Motte im flackernden Schein einer Kerzenflamme verglühen musste, waren die Menschen in der Mitte des Ringes zwar ganz offensichtlich tot, aber nicht etwa verbrannt. Ihre Gesichter waren auch durch den Rauch hindurch noch deutlich erkennbar, die Augen weit und starr aufgerissen.

Es mussten erst einige grauenvolle Schockminuten vorüberziehen, bis Shinya begriff, dass ihre scheinbar ausdruckslosen Blicke keinem anderen als ihm höchstpersönlich galten, und nun erkannte er auch den stummen, dafür aber umso gewaltigeren und kaum mehr zu ertragenden Vorwurf, den sie unmittelbar in seine Richtung sandten. Der Halbdämon wusste nicht, was in dieser Nacht geschehen war, aber dafür war er sich umso mehr darüber im Klaren, dass er es hätte verhindern können. In seine vollkommene innere Verwirrung mischte sich die lähmende Gewissheit, dass der Tod all jener Menschen, die quasi sein ganzes Leben lang an seiner Seite gewesen waren, einzig und allein seine Schuld war.

"Shinya... du bist also hier..."

In all der sengenden Hitze war es dem Katzenjungen, als ob ein eiskalter Blitz mitten in seinen Körper einschlagen würde, noch Sekundenbruchteile bevor er die leisen Worte der Stimme vernahm, die so plötzlich und so unvermutet an sein Ohr drangen - und anhand seiner gegenwärtigen Situation auch unglaublich fehl am Platze wirkten. Seine Augen wanderten gehetzt über das Bildnis der bloßen, sinnlosen Zerstörung, das sich flackernd und brennend vor ihm auftürmte, aber er sah niemanden, der zu ihm hätte sprechen können.

Zumindest niemanden, der noch am Leben gewesen wäre, und alles andere wollte er sich in diesem Augenblick lieber gar nicht vorstellen.

"Wer... wer bist du?", schrie er und bekam unweigerlich einen weiteren Hustenanfall, als der dichte, harte Rauch in seine Lungen eindrang. Er schnappte keuchend nach Luft und hielt sich eine Hand vor den Mund, bevor er mit rauer Stimme weitersprach. "Was zum Henker ist hier eigentlich passiert? Wer hat das getan?!"

"Hab keine Angst." Die Stimme klang unwahrscheinlich ruhig und sanft, und obwohl sie tatsächlich vollkommen leise sprach, übertönte sie dennoch mühelos das Brüllen der Flammen. Der Katzenjunge war sich sicher, dass der Besitzer ebendieser Stimme lächeln musste, und dieser Gedanke machte ihn wütend. "Shinya, sag... hast du dich nie gefragt, wer du eigentlich bist? Woher du kommst? Wieso du so anders bist als all die Anderen?"

Trotz der ganz und gar nicht komischen Szenerie konnte Shinya sich ein hysterisches Lachen nicht mehr verkneifen, das ihm unangenehm heiser und schrill in den Ohren tönte. Es war absurd - sein ganzes Leben lang hatte er sich Tag für Tag und so manche Nacht über genau diese Fragen den Kopf zerbrochen. Wie konnte sich ein Kind, das aus unerfindlichen Gründen eben einfach anders aussah als seine normalen Mitmenschen, das bei jedem Blick in den Spiegel unwillkürlich daran erinnert wurde, vollkommen allein auf der ganzen weiten Welt zu sein, auch nicht über derartige Dinge den Kopf zerbrechen, auf die ihm doch niemals jemand eine Antwort geben konnte? Shinya war noch jung, aber seit er denken konnte, hätte er ohne zu zögern dafür getötet, auch nur ein einziges Wesen seiner Art zu finden, oder vielleicht sogar etwas, das die Menschen stets mit jenem großartigen Wort namens Heimat betitelten.

Aber warum fragte ihn diese höchst seltsame... Stimme das ausgerechnet jetzt? In dieser durch und durch sinnlosen und grausamen Nacht, angesichts des widerwärtig stinkenden Scheiterhaufens, auf dem zur Sekunde sämtliche Menschen verbrannten, die er doch zumindest ein ganz kleines Stück weit in sein Herz geschlossen hatte? Und warum klang ihr Tonfall dabei so ruhig, so zart und so freundlich, als würde sie einem Kind eine Gutenachtgeschichte erzählen, in der solche Worte wie Tod und Vernichtung überhaupt nicht existierten?

"Verdammt, ich kapier das alles nicht!" Wieder musste Shinya schreien, um gegen das Brüllen und Tosen der Flammen anzukommen. "Alle... alle hier sind tot, ja? Und dann kommst du her und redest über mich? Was soll das eigentlich? Sag mir, was mit ihnen geschehn ist! Warst du das?!"

Der Katzenjunge fühlte eine Woge hilfloser Verzweiflung in sich aufsteigen, die ihm Tränen in die Augen trieb. Er ballte seine zitternden Hände zu Fäusten und sah sich mit lauernden Bewegungen nach dem unsichtbaren Feind um, auf den er sich stürzen konnte, um ihn für jeden einzelnen Toten auf dem überdimensionalen Scheiterhaufen in tausend Stücke zu zerreißen.

"Ich wusste es. Du bist noch nicht bereit, deiner Bestimmung nachzukommen... aber die Zeit drängt... ich habe keine Wahl."

Shinya spürte, wie ihm eine einzelne Träne über die Wange hinabrollte und er wischte sich hastig mit seinem mittlerweile reichlich verrußten Handrücken über das Gesicht. Schön, er hatte das Heim nicht immer gemocht und seine Bewohner so manches Mal verflucht, aber trotz allem war und blieb es der Ort, an dem er aufgewachsen war. Jetzt hatte sich das zwar etwas düstere, aber doch immer verträumt und märchenhaft warme alte Haus in ein grauenhaftes Horror-Szenario verwandelt und alles Leben war von den gierigen Flammen ausgelöscht und verbrannt worden. Und dann kam irgendeine... seltsame Stimme daher und redete wirres Zeug von seiner Bestimmung! Der Katzenjunge spürte, wie die verzweifelte Wut in seinem Inneren zu einer Welle eiskalten Hasses wurde, die mit vernichtender Gewalt über seinen Körper hereinbrach und jedes andere Gefühl schlichtweg hinwegspülte. Er deutete auf den Scheiterhaufen und schrie, so laut er nur konnte:

"Was auch immer das hier soll, sie können nichts dafür, ja? Es ist meine Schuld, dass sie tot sind, das hab ich auch kapiert! Aber jetzt sag mir wenigstens, was ich tun soll, anstatt hier irgendwelche Rätsel von dir zu geben, okay?"

Der Katzenjunge meinte, ein leises, bitteres Lachen zu vernehmen, bevor die Stimme schließlich in unverändert sanftem, nun allerdings leicht traurigem Tonfall antwortete:

"Ziehe los, noch in dieser Nacht. Ich wünschte, ich müsste es dir jetzt noch nicht sagen, Shinya, aber Equinox naht und bald schon wird es zu spät sein. Du trägst das Schicksal dieses Planeten auf deinen Schultern, mein junger Halbdämon, und ich wünschte, ich könnte dir auch nur ein kleines bisschen von dieser Last abnehmen. Du bist der einzige, der Youma jetzt noch retten kann, also verlasse diesen Ort und suche die übrigen Estrella. Noch könnt ihr die Apokalypse verhindern, aber die Zeit eilt euch davon, mit jeder Sekunde, in der wir uns hier unterhalten..."

Shinya runzelte die Stirn und wackelte mit seinen Katzenohren. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich nach dieser Erklärung nur noch ungleich verwirrter als zuvor.

"Wer - wir? Ich sehe hier niemanden außer mir! Ich meine... was soll das denn überhaupt sein, diese Es... Es-na-was-weiß-ich-eben, und dann, was ist Equinox? Und wieso Weltuntergang? Ich meine, das macht doch alles irgendwie überhaupt keinen Sinn, und vor allem... " Er holte noch einmal tief Luft, bevor er den Satz zu Ende brachte. "Und was um alles in der Welt hat das bitteschön mit mir zu tun?!"

Es verstrichen einige Sekunden, bis eine leise, nachdenkliche Antwort auf die Worte des Katzenjungen folgte.

"Du weißt anscheinend wirklich gar nichts... also hör zu: Die Legende der Estrella erzählt von den magischen Kriegern, die seit jeher diesen Planeten im Gleichgewicht halten. Jeder von ihnen trägt die Macht eines Elementes in sich... und deines ist die Dunkelheit. Aber für sich allein sind diese Kräfte bedeutungslos. Nur wenn alle zehn Sterne gemeinsam erstrahlen, wird das uralte Sternbild wieder erwachen und den Nachthimmel in sein erlösendes Licht tauchen. Verstehst du? Du musst die anderen Estrella finden, dann findest du auch dich und deine Heimat, Shinya."

"Grandios!", schnaubte der Katzenjunge und warf sich sein braunes Haar über die Schulter. "Kannst du mir dann eventuell auch mal verraten, wo ich diese... diese Anderen suchen soll? Ich versteh ja nicht mal die Hälfte von dem, was du da erzählst! Oder meinst du etwa, ich hab nach jetzt auch nur den Hauch einer Ahnung, was ich eigentlich tun soll?!"

"Du wirst es beizeiten verstehen, Shinya. Suche die Weltenwaage Equilibra und bringe sie wieder in das ewige Gleichgewicht von Hell und Dunkel, das die Menschen durch ihre blinde Jagd nach allem, was ihnen fremdartig, vielleicht auch böse erscheint, zerstört haben. Nur wenn Tag und Nacht in völligem Einklang miteinander stehen, dann liegt es in der Macht der Estrella, die Ungleichheit der Waagschalen Equilibras zu beseitigen. Doch diese Chance ist nun schon viel zu oft verstrichen. Die Menschen haben Equinox, die Tag- und Nachtgleiche, längst vergessen. Sie wissen nicht, dass am dreiundzwanzigsten Tag des Sturmmonats die Sonne das letzte Mal am Horizont versinken wird."

Mit jedem Wort der körperlosen Stimme breitete sich ein feuchter Nebel der Verwirrung tiefer und tiefer in Shinyas Gedanken aus. Er musste sich zunehmend anstrengen, den leisen, aber immer eindringlicher gesprochenen Sätzen überhaupt noch folgen zu können. Nun, da sein erster blinder Hass einer merkwürdig kalten Leere gewichen war, dauerte es umso länger, bis der Katzenjunge die richtigen Worte fand, um seinem inneren Chaos Ausdruck zu verleihen.

"Aber... wenn diese anderen Estrella so wahnsinnig mächtig sind, warum... warum stellen die denn dann nicht einfach das Gleichgewicht wieder her? Ich trage kein... Element und schon gar keine Macht in mir, ja? Ich glaube nicht mehr an solche Legenden, und selbst wenn... wenn dieser Planet untergeht, dann bin ich ganz bestimmt der Letzte, der das verhindern kann! Was willst du eigentlich von mir?"

Eine weitere Pause folgte, länger und auf seltsame Weise bedrückender als zuvor.

"Es ist alles nicht so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst. Aber wie kann ich von dir verlangen, dass du es jetzt verstehen sollst? Du bist verwirrt. Ich weiß, meine Worte werden dir nicht helfen, aber höre mir gut zu: Shinya, du bist der Auserwählte, von dem all die alten Legenden - an die du freilich nicht glaubst - berichten, jener, der Licht und Schatten in sich vereint. Es ist deine Aufgabe, die Estrella zusammenzuführen und das Sternbild zu erwecken. Die Entscheidung liegt ganz allein bei dir, ob du den Pfad, der dir vorherbestimmt ist, beschreiten willst. Aber du weißt nun, wohin er dich führen wird. Und es war doch immer dein größter Wunsch gewesen, deine Heimat zu finden, nicht wahr, Shinya? Hast du das etwa wirklich schon vergessen?"

"Ich..."

Der Katzenjunge war immer noch vollkommen durcheinander, doch obwohl es ihm nicht gelingen wollte, den einen Faden zu finden, der ihn durch das Labyrinth seiner verworrenen Gedanken führen konnte, begriff er doch eines mit nahezu beängstigender Klarheit: So lächerlich die Geschichte von dem Schicksal und dem Untergang des Planeten und von ihm, Shinya, als allmächtigem Messias auch klingen mochte - dies war möglicherweise auch eine Chance, seine einzige und letzte Chance, hinter das Geheimnis seiner Herkunft zu blicken und vielleicht endlich Antwort auf all die Fragen zu finden, die er beinahe schon als sinn- und aussichtslos akzeptiert hatte.

Er bemühte sich um einen gefestigten Tonfall, als er endlich doch die Kraft zum Weitersprechen fand:

"Ich habe überhaupt nichts vergessen. Aber... ja, ich verstehe das nicht, und ja, ich bin verwirrt und überhaupt... wer... wer bist du eigentlich? Und wieso..."

"Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit unwichtigen Fragen!", unterbrach ihn die Stimme. "Sie ist kostbarer, als du dir vorstellen kannst, aber das wirst du schon sehr bald selber merken. Geh nun. Ich fürchte... nein, ich weiß, dass du noch nicht bereit dazu bist, diesem schweren Pfad zu folgen. Ich wünschte wirklich, uns bliebe mehr Zeit. Aber ich kann dir jetzt nicht mehr helfen. Von nun an liegt es an dir, die Entscheidungen zu treffen, ich kann dir lediglich einen letzten Rat geben. Ich hoffe, du wirst ihn eines Tages verstehen. Nur wer an sich selbst glaubt, kann auch die Hoffnungen anderer erfüllen, ist es nicht so? Du musst aufbrechen, Shinya, so schnell und so bald wie möglich. Dein Weg ist lang..."

Shinya hielt seinen Blick starr auf den stinkenden Teppich aus verglühenden Funken und klumpiger Menschenasche gerichtet, der den steinernen Boden zu seinen Füßen bedeckte. Wie in Trance hatte er den letzten Worten der körperlosen Stimme gelauscht, und es vergingen einige Augenblicke - vielleicht Sekunden, vielleicht Minuten oder gar Stunden - bis der Halbdämon begriff, dass der sanft plätschernde Wortfluss versiegt war. Irritiert blickte er auf und sah sich nach allen Seiten suchend nach seinem unsichtbaren Gesprächspartner um. Es war seltsam - obwohl Shinya sein Gegenüber niemals mit den Augen hatte wahrnehmen können, so hatte er doch stets die Gegenwart eines anderen Lebewesens gefühlt.

Nun jedoch war er allein

"Hey, jetzt... jetzt warte doch mal!" Die mühsam erkämpfte Selbstsicherheit in der Stimme des Katzenjungens entglitt ihm angesichts der plötzlichen und unerwarteten Einsamkeit augenblicklich wieder. Ein kaltes Zittern lief durch seinen Körper. "Geh... geh nicht weg! Bitte, ich... ich weiß doch gar nicht, was ich jetzt tun soll!"

Obwohl Shinya im Grunde genommen längst begriffen hatte, dass er vergeblich auf eine Antwort wartete, wich die letzte, hartnäckig verzweifelte Hoffnung doch nur äußerst langsam aus seiner Brust. Erst jetzt bemerkte er, wie stickig die Luft vom Qualm der brennenden Körper geworden war. Die Hitze der immer höher gen Nachthimmel lechzenden Flammen brannte in seinen Augen und drückte bei jedem seiner Atemzüge schwer wie ein Stein auf seine Lungen. Er keuchte. Die starren Blicke der Toten fixierten ihn noch immer mit unerbittlicher Grausamkeit. Selbst als Shinya die schmerzenden Augen schloss, folgte ihm der stumme Vorwurf auf ihren bleichen Gesichtern wie ein höhnisches Abziehbild der Wirklichkeit bis in die tränende Dunkelheit. Der Halbdämon wandte sich ruckartig von dem grauenhaften Todesbild ab.

Und erkannte erst eine Sekunde später, dass er dies wohl lieber nicht hätte tun sollen. Die plötzliche Bewegung verwandelte das Schwarz vor Shinyas Augen in ein zerschmelzendes Flimmern, und im gleichen Moment verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken und überschlug sich dann, nur um sich letztlich ganz in Nichts aufzulösen. Vergeblich suchten die Finger des Halbdämons nach einem Halt in den rötlich schwarzen Rauchschwaden des brennenden Massengrabes. Ein leiser, keuchender Schrei kam über seine Lippen, während er ein letztes Mal versuchte, sich mit seinen kraftlosen Händen abzufangen - und dann auf dem glühend heißen Boden aufschlug.

"Verdammt noch mal, was soll das?", stieß Shinya, begleitet von einem leisen Schmerzenslaut, hervor. "Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen! Du hast mir noch nicht geantwortet, ja? Du..." Der Katzenjunge wollte sich aufrichten, doch seine Arme knickten ihm augenblicklich wieder ein, als ob jegliches Gefühl aus ihnen gewichen wäre. "Komm zurück!" Die heiße Luft brannte in Shinyas Hals, als ob der dicke Qualm von tausend glühenden Metallsplittern durchtränkt wäre. Sein verzweifeltes Rufen ging in einem erstickten Husten unter, das ihm beinahe den Atem raubte, dennoch verstummte er nicht, bis ihm schließlich schwarz vor den Augen wurde. "Komm zurück, verdammt noch mal! Hörst du nicht? Komm sofort zurück!!!"
 

Mit einem Schrei fuhr Shinya hoch. Um ihn herum war milchige Dunkelheit, angenehme, wenn auch etwas schwere Wärme - und Stille. Das einzige Geräusch, dass er nach einigen Sekunden erstarrten Schreckens wahrnehmen konnte, waren ruhige, gleichmäßige Atemzüge, die wie ein zarter Nebel die klare nächtliche Luft durchsetzten. Doch erst, als Shinya langsam und immer noch reichlich verstört den Kopf hob und sich umzusehen wagte, da begriff er, dass er aufrecht und keuchend in seinem eigenen Bett saß, die Decke fest an seinen Körper gepresst.

Er hatte geträumt. All die verwirrenden Schrecken nach seinem vermeintlichen ersten Erwachen waren nicht mehr als ein grausiger Alptraum gewesen, wenn auch einer von der ganz besonders realistischen Sorte. Der Korridor der lebendigen Schatten, der gigantische Scheiterhaufen und nicht zuletzt die mehr als rätselhaften Worte jener körperlosen Stimme - all das war nicht mehr gewesen als ein äußerst erschreckender Auswuchs seiner eindeutig übersteigerten Phantasie, die sich wahrscheinlich nur für die durch und durch selbstverschuldeten Ärgernisse des Tages hatte rächen wollen.

Shinya schüttelte noch einmal heftig den Kopf und rieb sich dann die unangenehm brennenden Augen, um die unheimlichen Traumbilder endgültig aus seinen Gedanken zu vertreiben. Obwohl er sich immer noch so erschöpft fühlte, als ob er während seines Schlummers fröhlich weiter durch den verregneten Wald gelaufen wäre, zweifelte der Katzenjunge ernsthaft daran, dass er in dieser Nacht noch einmal Schlaf finden würde.

Seine Kleidung und auch der raue Stoff der Decke waren vollkommen durchnässt von kaltem Schweiß und zu allem Überfluss schien er dem tobenden Feuer doch etwas zu nahe gekommen zu sein, denn es hatte etliche kleine Brandwunden auf seiner Haut hinterlassen, die sich mit schmerzender Boshaftigkeit zu den ohnehin schon zahlreichen Verletzungen gesellten, die er sich bei seinem peinlichen Unfall im Wald zugezogen hatte, und die...

Brandwunden? Mit einem Mal war es Shinya, als ob die bläulich silberne Umgebung des Zimmerchens vor seinen Augen verschwimmen und ihn in einen schwarzen, eiskalten Abgrund hinabreißen würde. Hastig suchte er Halt an der kühlen Wand neben sich und merkte noch im selben Moment, als seine Finger den Stein berührten, dass seine Hände wieder zu zittern begonnen hatten.

Wie um alles in der Welt hatte er sich bei einem Sturz auf matschigen Waldboden Brandwunden zugezogen? Das war doch schlicht und einfach nicht möglich! Shinya schloss die Augen und zählte langsam bis zehn, bevor er erneut den Blick auf seine Haut richtete. Doch auch jetzt bestand kein Zweifel - die kleinen roten Stellen waren nicht etwa Kratzer oder Schürfwunden, sondern winzige Verbrennungen, wie sie eben nur jemand trug, der sich in eine allzu ungesunde Nähe zu dem glühenden Funkenregen eines sehr großen Feuers gewagt hatte.

Der Herzschlag des Katzenjungen schien wie der finstere, immer lauter werdende Puls einer riesenhaften Pauke durch das schlafende Zimmer zu dröhnen. Ein eiserner Ring hatte sich um seinen Hals gelegt und nahm ihm beinahe die Kraft zum Atmen, während sich die Gedanken in seinem Kopf ein ums andere Mal überschlugen.

Er musste immer noch in seinem grausamen Alptraum gefangen sein, eine andere Möglichkeit gab es überhaupt nicht! Wiederum hatte der Schlaf ihn mit einem vermeintlichen Aufwachen genarrt, doch nun, da er um diese tückische List wusste, fiel ihm endlich auch die einfachste, aber dennoch unfehlbare Methode ein, dies seinem schlafumnebelten Verstand auch endgültig zu beweisen. Denn so real dieser überaus hartnäckige Traum auch wirken mochte, es war eben doch nur ein Traum - und im Traum verspürte man trotz allem keinen Schmerz. Mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen hob Shinya einen seiner Finger an und rammte ihn sich dann mit voller Wucht in eine der größeren Brandwunden.

Im nächsten Moment hätte er beinahe laut aufgeschrien. Was ihn davon abhielt war allerdings weniger seine Selbstbeherrschung als vielmehr jene erste lähmende Druckwelle, die von der glühenden Explosion im Inneren seines Armes aus durch den gesamten Rest seines Körpers gejagt wurde. Von wegen kein Schmerz! Ihm war, als ob sich eine glühende, stumpfe Klinge langsam in sein Fleisch gebohrt hätte, um dort nun Walzer tanzen zu üben und eine Drehung nach der anderen zu vollführen. Der Katzenjunge fluchte leise und biss sich dann rasch auf die Lippe, um das gequälte Wimmern zu unterdrücken, das ihm auf der Zunge brannte. Eines konnte er spätestens jetzt mit vollkommener Sicherheit sagen: Er war wach.

Etliche beruhigende Atemzüge später kroch Shinya vorsichtig und immer noch mit heftig klopfendem Herzen aus seinem Bett. Auch wenn er es nicht gerne tat - er musste nachsehen, ob sich auch die übrigen Teile seines Alptraumes einen Weg in die Wirklichkeit gegraben hatten. So weit der Schmerz in seinem Knie das eben zuließ, schlich er auf Zehenspitzen zu den beiden Stockbetten hin, die im weichen Halbdunkel der Nacht wie unförmige Käfige aussahen.

Trotz der gleichmäßigen Atemgeräusche, die ihn schon zuvor aus seinem unruhigen Schlaf geleitet hatten, fiel Shinya doch wahrlich ein ganzes Gebirge vom Herzen, als er seine Zimmerkameraden ganz offensichtlich wohlbehalten und arglos träumend in ihren Betten liegen sah. Schon etwas ruhiger, aber ebenso leise wie zuvor schlich der Katzenjunge zum Fenster zurück und blickte hinab auf den Hof des Heimes. Das steinerne Oval schlummerte friedlich wie eh und je als graue Insel zwischen dem weiten schwarzgrünen Meer der Wälder. Der Nachthimmel war klar. Kein dichter schwarzer Rauch vernebelte die Sicht auf den silbernen Kreis des Mondes, keine brüllenden Flammen störten die Stille der schlafenden Natur. Shinya atmete auf.

Eigentlich schien alles vollkommen normal, so ruhig, so einsam und so schön wie eigentlich jede Nacht am Fuße der Sinya-Höhen. Und trotzdem blieb ein unbefriedigendes Gefühl in dem jungen Halbdämon zurück, das auch der ebenso gewohnte wie geliebte Anblick nicht vollständig vertreiben konnte. Es war die quälende Gewissheit, dass irgendetwas anders und falsch war, und doch konnte er diese sichere Veränderung beim besten Willen nicht benennen oder einordnen.

Irgendwann gab Shinya die erfolglose Suche in der nächtlichen Landschaft wieder auf, und beinahe augenblicklich drängten sich die Worte der mysteriösen Stimme aus seinem Traum in das wirre Netz seiner Gedanken zurück. All diese Geschichten von legendären Kriegern, von dem drohenden Weltuntergang und von allerlei seltsamen, fremdartigen Worten hatten auch jetzt, da er aus seinem Traum erwacht war, eine tiefe Verwirrung in dem Katzenjungen hinterlassen. Aber noch weniger als die ungewisse Bedeutung jener Prophezeiung konnte Shinya begreifen, warum er sie trotz aller Absurdität nicht einfach wieder vergessen oder wenigstens darüber lachen konnte. Das Schicksal der Welt - in seinen Händen? Das war doch unmöglich!

"Ziehe los, noch in dieser Nacht..."

Shinya wusste später nicht mehr, wie lange er noch regungslos am Fenster gestanden und in die Nacht hinausgestarrt hatte. Doch je länger er über die erschreckenden Traumbilder, aber vor allem auch über die ebenso sanfte wie eindringliche Aufforderung der körperlosen Stimme nachdachte, desto mehr begann eine leise, zunächst noch sehr zaghafte Idee in seinem Kopf heranzuwachsen und dann nach und nach in den Mittelpunkt seiner Gedanken zu rücken.

Was, wenn die Legende aus seinem Traum wahr sein sollte? Wenn der nahende Herbst den Tod des Planeten mit sich bringen würde, und nur er, Shinya, dieses Unglück noch verhindern konnte? Er, der geborene Außenseiter, auserwählt zur Rettung Youmas! Irgendetwas an dieser Vorstellung gefiel ihm sogar außerordentlich gut. Und überhaupt - was hatte er denn schon zu verlieren? Er war alt genug, den Ort seiner Kindheit hinter sich lassen zu können. Er brauchte ganz gewiss keine Betreuer und Aufpasser mehr, die ihm den lieben langen Tag erzählen wollten, was er zu tun und zu lassen hatte. Und einmal abgesehen davon, dass ihn ja ohnehin niemand wirklich vermissen würde, erschien insbesondere der Gedanke, den guten, alten Phil in seinem ganzen Leben niemals wieder sehen zu müssen, als durchaus verlockend.

Vor allem aber erinnerte er sich an das Gefühl, das ihn während des Gesprächs mit seinem unsichtbaren Gegenüber ergriffen hatte. Er konnte es auch jetzt noch nicht wirklich verstehen, aber inmitten von all dem Chaos und der Unordnung, die momentan sein Inneres beherrschten, schlummerte doch immer noch jene selbstverständliche Gewissheit, dass die Stimme ihn nicht belogen hatte und dass ihn der lange und steinige Pfad, der angeblich noch vor ihm liegen sollte, tatsächlich in Richtung Heimat führen würde. Und diese Aussicht allein rechtfertigte schon jede noch so absurde, noch so riskante Entscheidung.

Hastig, aber dennoch leise genug, um seine Zimmergenossen auf gar keinen Fall aus ihrem Schlaf zu reißen, schlüpfte Shinya in die nächstbeste Kleidung, die er in der bläulichen Dunkelheit finden konnte und suchte dann rasch all jene Dinge zusammen, die er auf keinen Fall zurücklassen konnte und wollte. Er band sich einen leise klimpernden Lederbeutel an den Gürtel, in dem er im Laufe seiner Lebensjahre ein paar bescheidene Ersparnisse angesammelt hatte, dann zog er seine Glückskugel unter dem Kopfkissen hervor und ließ sie mit einer vorsichtigen, nahezu liebevollen Bewegung in seiner Hosentasche verschwinden.

Langsam schlich der Katzenjunge auf die niedrige, schwarze Zimmertüre zu, legte eine Hand an die Klinke und holte dann ein letztes Mal tief Luft. Auch wenn er es nicht gerne zugab, so konnte er doch ein letztes Angstgefühl beim Gedanken an den schwarzen Gang nicht vollkommen unterdrücken. Aber als er sich dann schließlich doch dazu durchrang, die Türe zu öffnen und einen Blick hinter ihren hölzernen Rahmen zu werfen, da erstreckte sich vor ihm lediglich der altbekannte Flur mit seinen viereckigen Löchern in der blass gemusterten Tapete, dessen bleiches Halbdunkel wirklich alles andere als lebendig wirkte. Der Halbdämon stieß einen lautlosen erleichterten Seufzer aus und trat auf den verlassenen Korridor hinaus. Vorsichtig ließ er die hölzerne Türe wieder hinter sich ins Schloss gleiten und ging dann mit schnellen Schritten auf die Treppe zu.

Die alten, dunklen Holzstufen gaben bei jeder noch so achtsamen Berührung unweigerlich ein leises, aber äußerst enervierendes Quietschen von sich, und so hatte Shinya es ganz besonders eilig, hinab in den finsteren Gemeinschaftsraum des Heimes zu steigen. In das Untergeschoss des alten Herrenhauses drang deutlich weniger Licht als in die Schlafräume darüber und der schräge Einfall der silbrigen Mondstrahlen verzerrte jeden Schatten in unförmige Längen.

Das überall verstreute alte Spielzeug verschwamm mit dem dunkelroten Teppichboden zu einer gefährlichen Einheit, die den Katzenjungen zu einem unfreiwillig komisch wirkenden Slalomlauf über Fingerpuppen und Teddybären zwang. Obwohl der Halbdämon auch im Dunkeln noch recht gut sehen konnte, war er doch unheimlich erleichtert, als er endlich den formlosen Fleck der hässlichen Eingangstüre erreicht hatte, ohne irgendein Holzpferdchen quer durch den Raum getreten oder das Gleichgewicht verloren zu haben, nur um geräuschvoll in ein wundervoll weiches Bett aus Bauklötzen und Spielzeugschwertern zu stürzen.

Shinya atmete auf und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass ihm auch wirklich niemand gefolgt war, doch bis auf etliche verfilzte Kuscheltiere und Spielzeugkutschen mit gebrochenen Rädern war der große, düstere Raum mehr oder weniger leer. In einer Ecke lag eine kleine Holzpuppe und starrte den Katzenjungen aus leeren runden Augen vorwurfsvoll an. Er schüttelte hastig den Kopf, dann stieß er die schwarze Türe auf, schlüpfte in sein Paar Stiefel, das im glitschigen Flur auf ihn wartete, und lief dann hinaus ins Freie.

Der regnerisch graue Tag war einer schönen, warmen Spätsommernacht gewichen. Die zahllosen funkelnden Lichtpunkte am sternenklaren Himmel leuchteten sanft mit dem zunehmenden Mond um die Wette. Ein leichter, angenehm kühler Wind strich durch die schwarzen Wipfel der Bäume und trug ihr sanftes, wisperndes Lied in die blaue Dunkelheit hinaus. Der ruhige, fast schon unwirklich schöne Anblick zauberte ein Lächeln auf Shinyas Gesicht und erinnerte ihn einmal mehr daran, warum er die Nacht so sehr liebte. Wie im Traum schlenderte er über die harten, regelmäßigen Steinplatten des einsamen Platzes hinweg, begleitet vom Takt seiner eigenen Schritte, die sich zu einer lebhaften Melodie fügten. Je näher die schwarze Mauer des Waldrandes jedoch rückte, desto langsamer und unregelmäßiger wurde dieses Liedchen, bis es dann schließlich ganz verstummte.

Zum ersten Mal, seit jenes euphorische Gefühl von ihm Besitz ergriffen hatte, das eben nur eine vollkommen widersinnige, aber gerade deswegen umso reizvollere Idee mit sich bringen konnte, schien die Fähigkeit des klaren, logischen Denkens wieder Einzug in Shinyas verwirrtes Bewusstsein zu halten. Was tat er da eigentlich? Er stahl sich mitten in der Nacht aus seinem warmen, gemütlichen Bett davon, packte sein armseliges Hab und Gut zusammen und brach dann auf, um die Welt zu retten, wie es ihm eine mysteriöse Stimme in einem Traum prophezeit hatte.

Wie zum Henker hatte er auch nur eine einzige Sekunde lang ernsthaft daran glauben können, dass irgendetwas von all dem, was er gehört und gesehen hatte, auch tatsächlich wahr sein sollte? Die Antwort war denkbar einfach - entweder, er hatte die letzten Minuten noch im Halbschlaf verbracht und war deshalb nur vermindert zurechnungsfähig gewesen, oder er war gerade drauf und dran, den Verstand zu verlieren.

Er, der ja nicht einmal dazu imstande war, einen einfach Wettlauf unter Heimkindern zu gewinnen, als Held irgendeiner großartigen Legende von magischen Kriegern, von erlösenden Sternbildern und irgendeinem vergessenen Tag, der den Weltuntergang einleiten sollte? All das war nicht nur absurd, sondern auch schlicht und ergreifend lächerlich. Er hatte ja kaum Geld bei sich, geschweige denn eine Waffe, mit der er sich hätte verteidigen können - und schon gar keine uralte Magie, um irgendein sagenumwobenes Gleichgewicht wiederherzustellen! Das Beste war wohl, wenn er schleunigst wieder umkehren und bei jedem Schritt zu allen dreizehn Göttern beten würde, dass ihn niemand bei dieser merkwürdigen Aktion beobachtete hatte!

Shinya verzog seinen Mund zu einem bitteren Lächeln. Anscheinend war er sogar noch viel dümmer und naiver, als Phil und seine Freunde es ja immer schon geahnt hatten.

Der Katzenjunge drehte sich mit einem verstohlenen Blick in Richtung der Schlafraumfenster um und trottete dann langsam wieder zu dem großen alten Gebäude zurück, aus dem er noch vor wenigen Minuten so blind vor Abenteuerlust und Größenwahn aufgebrochen war. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Tür, die ihn endgültig in sein normales Leben zurückbringen sollte. Auch wenn er im Augenblick alles andere als müde war, so wollte er sich doch einfach nur noch hinlegen, möglichst bald wieder einschlafen und am nächsten Morgen einfach alles wieder vergessen haben, was in dieser seltsamen Nacht passiert war - oder eben auch nicht.

Und trotzdem wurde Shinya das dumpfe Gefühl nicht los, irgendetwas unglaublich Wichtiges vergessen zu haben. Er zögerte und verharrte mit geschlossenen Augen, die Finger fest um das kalte Metall des Türgriffes geschlossen. Dann jedoch schüttelte er energisch seinen Kopf. Das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, war eine weitere seiner grandiosen Eingebungen, die ihn vielleicht endgültig zum Gespött des ganzen Heimes machen würde - vorausgesetzt, sein Kuss mit dem Waldboden hätte dazu noch nicht voll und ganz ausgereicht.

Shinya hatte den Türknauf gerade bis zum Anschlag herumgedreht, als ihn die Erkenntnis wie ein Blitz durchzuckte. Schlagartig fiel ihm wieder ein, wonach er die ganze Zeit über so verzweifelt in Gedanken gesucht hatte, ausgerechnet in dem Moment, als er die Suche gerade aufgegeben hatte. Und obwohl es ihn schmerzte, seine sichere und verlockend einfache Entscheidung noch ein weiteres Mal umstürzen und zerschlagen zu müssen, so begriff er doch im gleichen Augenblick, als er bemerkte, das fehlende Puzzleteil die ganze Zeit über in der Hand gehalten zu haben, dass er es nicht einfach wieder von sich werfen und vergessen konnte. Zum ersten Mal meinte er zu verstehen, was ihm sein unsichtbarer Ratgeber mit auf den Weg hatte geben wollen, und dieses Verstehen war gleichsam auch der erste Schritt auf einen Pfad, den er nun nicht mehr verlassen konnte.

"Nur wer an sich selbst glaubt, kann auch die Hoffnungen anderer erfüllen..."

Wer an sich selbst glaubt... Shinya nahm einen tiefen Atemzug von der angenehm kühlen Nachtluft und wandte seinen Blick dem großen, altmodischen Gebäude zu, in dem er trotz allem die wohl schönsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er hatte beinahe schon vergessen, wie still und friedlich das Herrenhaus im silbernen Licht des Mondes schlummern und von längst vergangenen Tagen träumen konnte, sosehr hatte er sich im Laufe der Zeit an den unwirklich schönen Anblick und die melancholische Atmosphäre des alten Gemäuers gewöhnt. Er seufzte tief und hob langsam seine Hand, um dem schlafenden Heim noch ein letztes Mal zuzuwinken.

Dann drehte er sich um und rannte den Weg hinab, der in den schwarzen Wald hineinführte.
 

Ende des ersten Kapitels

Kapitel II - Abendstern

So, nach langer Zeit wieder was zum Hochladen! Was nicht etwa heißen soll, dass ich wieder Zeit zum Schreiben hätte, nein... dieses Kapitel ist schon ewig fertig, ich bin nur irgendwie nie dazu gekommen, es zu veröffentlichen. Wie man schon am Umfang sehen dürfte - ich hab diesmal noch weit mehr daran arbeiten müssen als bei Kapitel 1. Irgendeine Passage ist, soweit ich weiß, ganz weggefallen, eine andere fast vollkommen neu dazugekommen, aber jetzt mag ich das Kapitel sehr gerne, weil es mich an eigene, wunderschöne Erlebnisse erinnert. So und nicht anders soll die Atmosphäre dieses Kapitels sein und ich bin schon ein bisschen stolz auf sie. Mal sehen, ob der eine oder andere hier auch etwas wieder erkennen wird...

Übrigens: Einige haben mich darauf angesprochen, dass Shinya jetzt ja deutlich älter ist als in der ursprünglichen Equinox-Version (na ja... drei Jahre eben). Dazu sei noch einmal Folgendes gesagt: Erstens habe ich wirklich lange gebraucht, um diesen Charakter wirklich verstehen zu lernen. Klingt dumm, ist aber so. Ich finde, 18 (und 19) ist ein merkwürdiges Alter, dieses mittendrin zwischen Kindheit und Erwachsensein... so wie Shinya ist und in Anbetracht dessen, was ich mit dieser Geschichte gerne ausdrücken und welche Gefühle und Atmosphären ich mit Equinox gerne wecken möchte, wäre ein 15-Jähriger einfach nicht geeignet.

Zweitens - und das ist wohl der weniger schwer in Worte zu fassende Grund - bin auch ich älter geworden. Es ist seltsam für mich, in Hohlbein-Büchern über die Heldentaten von 13-jährigen Kindern zu lesen, und selbst wenn ich mich auf den Kopf stellen würde, ich könnte einfach nie mehr eine Geschichte mit einem 15 Jahre alten Helden zustande bringen und dafür zahllose Liter meines Herzblutes opfern. So ist das nun einmal und es lässt sich nicht mehr ändern.

Ich hoffe, dass trotz aller Änderungen auch dieses Kapitel Gefallen finden wird. Ich habe extra für animexx ein paar mehr Absätze reingemacht... ^_^ wünsche allen viel, viel Spaß beim Lesen! DAISUKI!!!!
 

Es war noch in den ersten, frühen Morgenstunden gewesen, als Shinya aus den Schatten des Waldes auf einen breiten, staubigen Weg hinausgetreten war, der sich bis weit in das sanfte Auf und Ab der Hügellandschaft hineingewunden hatte. Der Himmel war wie so oft zu solch früher Stunde noch ein wahrhaftiges Kunstwerk gewesen, ein Fluss aus Rot und Blau und zartem Violett, in dessen Mitte irgendwo ein schwächlich dumpfes Glühen an die wolkenverhangene Präsenz der Sonne erinnerte.

Dann hatte sich zunächst das Rot hinfort gestohlen, hatte schon bald auch das Violett mit sich genommen und schließlich nichts mehr anderes übrig gelassen als eine grenzenlose Fläche intensiven Hellblaus, frei von jedem Nebel, jedem Wolkenschleier, dafür aber erfüllt und durchflutet von den Strahlen der Sonne, die im Laufe der Stunden immer heißer, immer erbarmungsloser auf die Stirn des Katzenjungen hinuntergebrannt hatte. Ein klebrig warmer Film von Schweiß zog sich mittlerweile über seine gesamte Haut und schien sich insbesondere in den zahllosen Höhlen und Einbuchtungen der Brand- und Schürfwunden ganz außerordentlich wohl zu fühlen, was sein Vorankommen nicht unbedingt erleichterte.

Selbst wenn man vom Pochen und Stechen in seinem Knie, ebenso wie von den quälenden Durstschreien seiner Kehle einmal ganz dezent abgesehen hätte.

Shinya stieß einen tiefen, missmutigen Seufzer hervor. Den Planeten zu retten war anscheinend doch noch weitaus unangenehmer, als er es sich jemals hatte vorstellen können. Aber woher hätte er es denn auch besser wissen sollen? In keiner der großen Legenden, von denen er bereits zahlreiche gelesen hatte, war auch nur mit einer einzigen Silbe erwähnt worden, wie unvorstellbar unangenehm, ja beinahe ekelhaft das mächtige, stolze Rund der Sonne doch werden konnte, wenn es einem Stunde für Stunde die ewig gleiche Stelle auf der Haut erhitzte. Oder wie sehr einem die Füße schmerzen konnten. Oder auch wie gefährlich nahe einen selbst die kleinste Abschürfung der obersten Hautschicht an den Rande eines überaus tiefgründigen Wahnsinns treiben konnte, wenn sie unter einem ätzenden Film von Schweißtropfen schonungslos den Reibungskräften des Kleidungsstoffes ausgesetzt war.

All das wurde in den alten Sagen stets zugunsten von grausigen Drachen und anderen blutrünstigen Bestien beiseite gelassen, und doch waren es nicht zuletzt diese wenig heldenhaften, aber dennoch leider Gottes nicht zu ignorierenden ersten Hindernisse auf seinem wirklich endlos scheinenden Pfad, die jener boshaften Stimme namens Zweifel ganz heimlich, still und leise ein Hintertürchen zurück in Shinyas Bewusstsein öffneten.

Was war denn eigentlich, wenn er diese ganze unmenschliche Prozedur schlicht und einfach völlig umsonst über sich ergehen ließ? Wenn er doch tatsächlich nur ein kleines bisschen lebhafter geträumt hatte, als er das eben sonst von sich gewohnt war, und er jetzt geradewegs in sein Unglück lief? Ein Unglück, das nicht etwa den Untergang des ganzen Planeten bedeutete, wohl aber ein zumindest weithin unbekanntes Land, in dem er sich wohl kaum auf eigene Faust zurechtfinden würde. Auch seine kläglichen Finanzen würden ihm gewiss nicht sonderlich lange zu Diensten stehen können, und dann...

Spätestens an dieser Stelle folgte auf seine vagen Pläne und Zukunftsvorstellungen bestenfalls noch Dunkelheit, im Grunde genommen aber noch nicht einmal das, sondern ganz einfach überhaupt nichts mehr. Das Einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass er gar nichts wusste. Nicht, wohin er gehen sollte. Nicht, was er an diesem Ort, wo auch immer er sein mochte, dann tun sollte. Er war mit offenen Augen in eine Sackgasse gelaufen... oder vielmehr in eine Falle, denn nun war ihm der Weg in beide Richtungen verwehrt. Vor ihm erstreckte sich nichts als blinde Leere, aber umzukehren kam sogar noch viel weniger in Frage, und dieser Gedanken barg etwas unvorstellbar Frustrierendes in sich. Aber was hätte er denn auch sagen sollen, um den Betreuern und den anderen Kindern im Heim sein kurzzeitiges Fehlen plausibel zu machen?

Dass er aufgebrochen war, um Youma zu retten, so wie es ihm eine rätselhafte Stimme im Traum vorhergesagt hatte? Dies war natürlich eine ganz besonders sensible, gelungene Strategie - vorausgesetzt er legte es darauf an, sich für den Rest seines Lebens dem Fluch der vollkommenen Lächerlichkeit preiszugeben. Was er jedoch im Übrigen nicht tat. Und außerdem... so sehr er auch zweifelte, sosehr er sich fast schon zur Vernunft zwingen wollte... da blieb doch immer auch der Zweifel in die entgegengesetzte Richtung, jene merkwürdige Überzeugung, dass diese Stimme ihm vielleicht doch die Wahrheit gesagt hatte.

Es mochte naiv und vor allem auch ganz unwahrscheinlich kitschig klingen, aber tief in seinem Inneren meinte Shinya zu spüren, dass er das Richtige tat.

"Nich aufgeben, einfach nich aufgeben...", murmelte er vor sich hin und zwang sich zu einem Lächeln, das seine eigenen Worte und Gedanken stumm bekräftigen sollte. "Du hast zwar keine Ahnung, wo du grad bist, aber das hier is ja immerhin nich die Wüste und hier gibt es Dörfer und irgendwann wirst selbst du eins finden!"

"Und ob du das wirst, Kleiner!", stimmte ihm eine warme, tiefe Stimme zu, die von hinten an seine Ohren drang. "Allerdings wirst du dafür wohl noch die eine oder andere Meile laufen müssen!"

Shinya fuhr erschrocken herum und vergaß einen Augenblick lang sogar den empörten Protest in seinem Knie, der sich mit einem kochend heißen Rumoren reichlich unhöflich wieder zu Wort meldete. Eine Pferdekutsche hatte sich ihm bis auf wenige Meter genähert, unbemerkt und lautlos, obwohl der Boden ja an und für sich sogar überaus hart und trocken war - eine Tatsache, die vor allem seine Füße mit Nachdruck bestätigen konnten. Nun jedoch, da er sich erst einmal umgedreht und das kleine, pechschwarze Gefährt erblickt hatte, da hörte er nur umso deutlicher das Klappern der Räder auf dem steinigen Grund und das Schnauben der beiden prächtigen Rappen, die vor die Kutsche gespannt waren.

Auf dem Bock des Zweispänners saß ein junger Mann mit pechschwarzer Kleidung. Auch sein Haar war schwarz und fiel ihm in langen glänzenden Strähnen über die Schulter hinab, lediglich zusammengehalten von einem recht lose sitzenden schwarzen Band. Seine Haut wirkte angesichts dieser überwältigenden Menge an Schwarz, Schwarz und nochmals Schwarz sogar noch weitaus blasser, als sie wohl tatsächlich sowieso schon war, aber gerade die Härte dieses Kontrastes verlieh seinem fein geschnittenen Gesicht einen gewissen, wenn auch reichlich finsteren Reiz. Über seinen hohen Wangenknochen lagen zwei leicht schräg stehende, dunkelgraue Augen, die jedoch bei aller Dunkelheit von einem steten Blitzen erfüllt waren.

Diese unverhohlene Fröhlichkeit änderte jedoch leider auch nicht mehr sonderlich viel daran, dass über dem ganzen Gespann eine Aura düsterer Morbidität lag, die Shinya an eine ganze Unzahl von Märchen und Legenden erinnerte, die er vor allem in den Jahren seiner Kindheit mit Begeisterung verschlungen hatte. Erzählungen von Kutschen, die geradewegs dem Totenreich entstiegen waren, um jeden mit sich ins Verderben zu reißen, der nur dumm genug war, sich von ihnen auf eine letzte, niemals mehr endende Reise einladen zu lassen. Oder auch an die eine oder andere Sage von bösen Königen und ihren noch viel böseren Söhnen, wobei der Katzenjunge sich Letztere immer ein bisschen so vorgestellt hatte wie jenen in Schwarz gewandeten Fremden, der nun von seinem Platz auf dem Kutschbock aus mit grauen Augen auf ihn hinabblickte.

Andererseits... wenn Shinya sich dann wieder in Erinnerung rief, was ihm allein an dem vergangenen Tag und vor allem in der vergangenen Nacht schon alles zugestoßen war, dann wollte ihm nun wirklich kein plausibler Grund mehr einfallen, sich von einer simplen schwarzen Kutsche das Fürchten lehren zu lassen! Wer hätte es dem jungen Mann denn auch verübeln können, dass Schwarz nun einmal seine Lieblingsfarbe zu sein schien? Und außerdem wirkte das Lächeln auf seinen Lippen und nicht zuletzt auch der Tonfall in seinen Worten so unglaublich warm, so ehrlich und freundlich, dass Shinya sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, einen wirklich bösen Menschen vor sich zu haben.

"Aber weißt du was?", fuhr er auch prompt in unverändert gut gelaunter Stimmlage fort. "Der Weg wäre zwar nicht unbedingt kürzer, aber doch zumindest ein ganzes Stückchen weniger anstrengend, wenn du einfach aufspringen und mit mir mitfahren würdest. Wäre auch übrigens gar kein Problem. Meine Pferde merken nicht, ob sie nun einen oder zwei Menschen hinter sich herziehen, du allerdings siehst ganz schön erschöpft aus!"

"Hm... ja... danke...", murmelte Shinya mit erstickter Stimme. Sein Hals brannte bei jedem Wort, das er in einer wahrhaft unglaublichen Ignoranz seiner körperlichen Grenzen jetzt noch auszusprechen wagte, und er hatte große Mühe damit, sich trotzdem noch ein Lächeln auf das Gesicht zu zwingen. Ob es ihm nun tatsächlich gelang oder nicht, das konnte der Katzenjunge auch gar nicht so genau sagen, in jedem Fall aber ergriff er nur zu gerne die Hand, die der schwarzhaarige Fremde ihm darbot.

Eine Aktion, die an und für sich eigentlich jeder charakterlichen Neigung Shinyas aufs Tiefste, aufs Heftigste widersprach, denn wenn er im Laufe seines Lebens auch nur eine einzige Sache gelernt hatte, dann die, dass so etwas wie Misstrauen jederzeit und gegenüber gleich welcher fremden Person bedingungslos angebracht war. Aus irgendeinem Grund erschien diese goldene Regel jedoch in einem vollkommen anderen Licht, wenn man zuvor einen stundenlangen Marsch über Staub und Stein hinter sich gebracht hatte - ein sehr spezielles Vergnügen, das sich im Falle des Einhaltens besagter Regel sogar noch einmal in exakt demselben, ja wenn nicht sogar in einem noch größerem Ausmaße wiederholen würde. Und somit auch ein Grund, zumindest einmal im Leben ohne ein schlechtes Gewissen selbst die ureigensten Prinzipien verraten zu können.

"Man tut, was man kann!", grinste der Fremde und hievte den Halbdämon mit einem einzigen kraftvollen Ruck auf das dunkle Leder des Kutschbocks hinauf. "Ich weiß zwar nicht, wo genau du nun eigentlich hinwillst, aber ich für meinen Teil bin auf dem Weg nach Tranquila. Nicht unbedingt eine Weltstadt, sicher, aber auf jeden Fall doch ein ganz entzückendes Fleckchen Erde!"

"Hm... also mir ist das eigentlich relativ egal", murmelte Shinya, und ganz unweigerlich stahl sich ein trockenes Husten über seine ausgedörrte Kehle. Er räusperte sich und schenkte dem jungen Mann ein verlegenes Lächeln.

"Durstig, was?", lachte der und angelte mit einer einzigen fließenden Bewegung unter seinen Sitz, wo er ein kleines Fach öffnete und einen - wie hätte es auch anders sein können? - pechschwarzen Lederschlauch hervorzauberte. "Nicht verzagen, mich fragen", nickte er bekräftigend und streckte Shinya mit einem kurzen, verschwörerischen Zwinkern den Wasserbehälter entgegen.

Ein Geschenk, das der Katzenjunge nur allzu gerne annahm. Er hatte es mehr als nur eilig, den Verschluss des Schlauches zu öffnen und ihn an seine Lippen zu setzten, und als dann die ersten Tropfen des Getränkes seine trockene Kehle benetzten, da war es um seine Selbstbeherrschung endgültig geschehen. Mit gierigen Schlucken trank er von dem Wasser, das von der Fahrt durch die pralle Sonne zwar recht lauwarm geworden war und zudem auch einen leicht abgestandenen Nachgeschmack mit sich führte, doch beides interessierte Shinya herzlich wenig. Zumindest in diesen kurzen Augenblicken herrlichster Erfrischung war jene schale Brühe der wohl köstlichste Trunk, von dem er jemals in seinem ganzen Leben gekostet hatte.

Er saugte auch noch das letzte bisschen Flüssigkeit aus dem ledernen Behältnis heraus, dann setzte er es mit einem zufriedenen Seufzen ab und schnappte erst einmal wieder nach Luft. Nun endlich fand er auch tatsächlich die Kraft, seinem Retter in der Not ein aufrichtig dankbares Lächeln zu schenken, das auch prompt erwidert wurde.

"Na, das schien ja wohl höchste Zeit gewesen zu sein!" stellte der Schwarzhaarige lachend fest, hielt dann jedoch kurz inne und blinzelte den Halbdämon einige Momente lang mit fragenden Augen an. "Sag mal... kann es sein, dass ich mich noch überhaupt nicht vorgestellt habe? Oh je... wo hab ich nur wieder mein Gedächtnis gelassen? Aber egal, was nicht ist, kann ja noch werden, oder anders ausgedrückt: Ich heiße Will. Will Inoryan, aber das brauchst du dir nicht zu merken. Will reicht."

Er streckte dem Katzenjungen seine rechte Hand entgegen, die in einem schweren, dunklen Lederhandschuh steckte.

"Ähm... und ich bin Shinya", antwortete dieser, während er den überaus kräftigen Händedruck des Schwarzhaarigen auf angemessene Weise zu erwidern versuchte. "Und... noch mal Danke fürs Mitnehmen und das Wasser und so...."

"Hey - gern geschehen!", entgegnete Will und strahlte über das ganze Gesicht. "Ach, und apropos Wasser: Weißt du, was ich witzig finde? Wenn ich genau dieses Wasser vergiftet hätte, dann... ja, dann wärst du jetzt wahrscheinlich schon tot!"

"Bitte... was?!"

Obwohl Shinya den letzten Schluck von dem lauwarmen Getränk schon vor gut vier oder fünf Minuten genommen hatte, gelang es ihm doch auf wundersame Weise, sich trotzdem noch daran zu verschlucken. Er keuchte, rang um Atem und fixierte mit großen, entsetzten Augen das lächelnde Gesicht des Schwarzhaarigen - ein Blick, der diesen ganz offensichtlich in einen Zustand sogar noch größerer Heiterkeit zu versetzen schien, denn er brach spontan in ein schallendes Lachen aus.

"Nur ein Witz, nur ein kleiner Witz!", verkündete er fröhlich, dann ließ er einen Ruck durch die Zügel der Kutsche laufen und riss so die beiden ruhenden Rappen aus ihrer erschöpften Lethargie. Das Gefährt setzte sich in Bewegung, langsam zunächst, dann jedoch immer schneller, bis sie schließlich in vollem Galopp die staubige Straße in Richtung Tranquila hinabflogen.
 

Die Zeit verging wie im Fluge - was zu einem nicht ganz unerheblichen Teil aber auch einfach nur daran lag, dass Shinya von seiner Umgebung nicht unbedingt viel mitbekam, geschweige denn von dem Verstreichen der Minuten oder sonstigen unbedeutsamen Nebensächlichkeiten. Die Pferde rasten in einer derart halsbrecherischen Geschwindigkeit dahin, dass von der Schönheit der Natur nicht viel mehr als ein wirrer, grünblauer Farbenrausch übrig blieb, und Shinya hatte mehr als genug damit zu tun, sich überhaupt noch irgendwie an dem Kutschbock festklammern zu können.

Diese Art des Reisens war gewiss alles, nur nicht entspannend oder erholsam, und schon nach kurzer Zeit schmerzten Shinyas Finger und seine Arme, vor allem aber der rabiate Schlag seines Herzens, der seinen Brustkorb von innen heraus wie ein glühender Schmiedehammer zu bearbeiten schien. Zumindest aber sollten seine Mühen belohnt werden - die beiden Reisenden erreichten Tranquila tatsächlich noch vor der Abenddämmerung, und kaum dass die ersten Häuser in Sichtweite gekommen waren, verlangsamten die Rappen zunehmend ihr Tempo, bis sie schließlich in fast schon höhnisch gemächlichem Schritt durch die schmalen Straßen des Dorfes schlenderten. Auf dem beschaulich kleinen Rund des Marktplatzes kamen sie dann vollends zum Stehen und Will sprang mit einem fröhlichen Pfeifen vom Kutschbock hinab und klopfte den Tieren ihre kräftigen Hälse.

Dann wandte er sich um und vollführte eine auffordernde Kopfbewegung in Richtung des Katzenjungen. Dieser ließ sich nicht lange bitten - sein Schmerz über das Verlassen der Kutsche hielt sich nämlich überaus stark in Grenzen, doch selbst als er das nachtfarbene Gefährt endlich hinter sich gelassen hatte, schien das Pflaster unter seinen Füßen immer noch leicht zu schwanken und zu vibrieren. Er schüttelte den Kopf und trat dann unschlüssig auf den lächelnden Schwarzhaarigen zu. Will führte seine Rappen erst einmal zu einer langen steinernen Viehtränke hin, an der sich bereits etliche andere Pferde eine wohl verdiente Ruhepause gönnten, und ließ die beiden Tiere trinken, ohne sie dabei anzubinden.

"Sag mal, was hast du jetzt eigentlich vor?", erkundigte er sich dann, während er sich mit seinem linken Arm auf einen der breiten, kräftigen Pferderücken stützte.

"Öhm... mal schaun...", entgegnete Shinya und zuckte mit den Schultern. "Ich werd mir wohl erst mal ne Unterkunft oder so was suchen müssen, und dann... ja... dann seh ich halt weiter."

"Eine Unterkunft?" Will hob auf reichlich kritische, aber keinesfalls verletzende oder herablassende Art seine Augenbrauen und neigte den Kopf zur Seite. "Und du bist dir ganz sicher, dass du dafür genügend Geld bei dir hast?"

"Ja, klar, das passt schon...", grinste Shinya und bekräftigte seine Worte mit einem etwas zu euphorischen Nicken. "Hey, keine Angst - ich komm ganz gut alleine klar!"

"So, tust du das?", erwiderte der Schwarzhaarige und schenkte dem Halbdämon ein leicht spöttisches Grinsen. "Das werde ich mir merken. Für den Fall, dass ich dich irgendwann mal wieder halbtot durchs Niemandsland irren sehe!"

"Halbtot?" Der Katzenjunge runzelte die Stirn. "Man kann's auch übertreiben..."

"Ich weiß. Wenn man es nicht könnte, würde ich es ja auch nicht tun." Will schüttelte seinen Kopf und lachte. "Hey, du verstehst schon, wie's gemeint ist, oder? Du musst nämlich wissen, ich für meinen Teil gehöre nun einmal zu dieser Sorte Menschen, die man einfach nicht allzu ernst nehmen darf, mache ich selber ja auch nicht. Ist übrigens eine gute Lebenseinstellung, aber ich möchte dich weder belehren noch dir weiter deine kostbare Zeit stehlen, die du ganz bestimmt auch sinnvoller nutzen kannst!"

"Verlass dich drauf!", grinste Shinya und warf sich seinen wieder einmal reichlich in Unordnung geratenen Zopf mit einer schwungvollen Bewegung über die Schulter. "Aber so ein bisschen durch die Gegend kutschieren darfst du mich trotzdem gern mal wieder, so isses nich..."

"Es wäre mir ein Vergnügen!" Der Schwarzhaarige deutete eine Verneigung an. "Aber jetzt mal im Ernst - ich wünsch dir alles Gute, Kleiner, und was immer du vorhast, lass dich nicht unterkriegen. Wer weiß, vielleicht sieht man sich bei Gelegenheit ja wirklich mal wieder?"

"Vielleicht?", entgegnete der Katzenjunge, während er seine Schritte langsam aber sicher auf eine der kleineren Seitengassen zulenkte, an denen es dem Marktplatz alles andere als mangelte. "Ich glaub zwar, ich hab's schon mal gesagt, aber... Danke für die Fahrt, ja? Und... also... bis dann!"

"Bis dann, Kleiner!"

Die beiden tauschten zum Abschied ein kurzes Winken aus, dann schenkte Will dem Katzenjungen noch ein letztes Augenzwinkern, bevor er seine ungeteilte Aufmerksamkeit wieder den beiden erschöpften Rappen widmete, die sich zufrieden schnaubend an dem kalten, klaren Nass der Viehtränke gütlich taten. Shinya zuckte mit den Schultern und wandte sich dann seinerseits von dem jungen Krieger ab und dem schmalen Gässchen zu, das zu erkunden er mehr zufällig als aus irgendeinem Plan oder irgendeiner inneren Eingebung heraus beschlossen hatte. Er war noch niemals zuvor in Tranquila gewesen, und da er sowieso nicht recht wusste, was er denn eigentlich sonst hätte tun sollen, beschloss er kurzerhand, jenes ganz entzückende Fleckchen Erde erst einmal ein klein wenig näher kennen zu lernen.

Tatsächlich war Tranquila in erster Linie eines: ruhig. Ein Dörflein, wie man es in keinem Bilderbuch schöner hätte finden können, in keiner Weise prachtvoll, dafür aber ganz unwahrscheinlich niedlich. Die Häuser standen eng und oftmals ohne rechte Ordnung beieinander. Ihre weißen Fassaden waren mit Fachwerk geschmückt, das jedoch niemals wirklich exakt und planmäßig konstruiert war, sondern immer eine heimelige Schräge an den Tag legte, sodass jedes der Gebäude ein kleines bisschen schief wirkte. Viele der Gässchen waren von einer wahrhaft absurden Schmalheit, andere mündeten in winzige Treppchen und Hinterhöfe, in denen sich zwischen efeuumrankten Mauern kleine Brunnen oder Tische und Bankreihen verbargen.

Auch etliche andere Dinge gab es auf den mit Kopfstein gepflasterten Wegen zu entdecken: Kleine Läden und Handwerksbetriebe verschiedenster Art, Schneider und Krämer, winzige Spielzeuggeschäfte und Bäckereien, in deren Schaufenster sich allerlei Köstlichkeiten stapelten; außerdem Kellergewölbe, hinter deren schweren Toren und steinernen Stufen sich gemütliche Gaststuben verbargen. Einmal konnte Shinya sogar einen kurzen Blick in das Atelier eines Künstlers erhaschen, der sich inmitten von Farbpaletten, Kohlestiften und Bergen zerknüllten Papiers über eine hölzerne Staffelei beugte und mit raschen, sicheren Pinselstrichen ein Bild auf die Leinwand zauberte, das Shinya aber leider nicht näher erkennen konnte. Ansonsten war das Dörfchen allerdings weitestgehend unbelebt, denn die meisten Menschen nutzten die Gunst des spätsommerlichen Wetters und gingen ihrer Arbeit auf den Feldern nach.

Der Gedanke an Arbeit rief Shinya auf überaus schmerzliche Weise ins Bewusstsein zurück, wie wenig Geld er doch eigentlich bei sich trug. Die wenigen Silberstücke, die er sich im Laufe der Jahre zusammengespart hatte, würden ihm wohl bestenfalls einige warme Abendessen bescheren, vielleicht auch gerade noch ein bis zwei Nächte in einer minderwertigen Unterkunft - mehr aber auch nicht. Und was dann?

Er hatte niemals in seinem Leben wirklich gearbeitet, hatte nichts gelernt und ja auch eigentlich nicht damit gerechnet, so plötzlich und unvermutet auf eigenen Beinen stehen zu müssen. Doch eben diese Tatsache türmte sich nun, da er den ersten Schock über die wohl unvernünftigste und kopfloseste Entscheidung seines ganzen Lebens erst einmal mehr oder weniger verdaut hatte, als umso größeres Problem vor ihm auf.

Der Katzenjunge seufzte leise und vergrub seine Hände tief in den Hosentaschen. Die wenigen Menschen, die ab und an seinen Weg kreuzten, musterten ihn mit unverhohlener Neugierde, teils aber auch mit weitaus negativeren, ablehnenderen Ausdrücken auf ihren Gesichtern. Und wenn schon! Er war es doch nicht anders gewohnt. Shinya wusste, dass die Bewohner solch kleiner Dörfer nicht unbedingt viel in der Weltgeschichte herumkamen und deshalb ganz gewiss nicht an den Anblick von Halbdämonen gewöhnt waren. Trotzdem hob er ganz unweigerlich seine Schultern und ließ den Blick auf das unregelmäßige Auf und Ab des Kopfsteinpflasters sinken.

Shinya blickte erst wieder auf, als sich die Reihen der Fachwerkhäuser lichteten und er unvermittelt in eine Flut von Licht hinaustrat. Um ihn herum war erst einmal nichts als Weite, die sich irgendwo am Horizont im Sonnenuntergang verlor. Inmitten dieser ruhigen Abendstimmung wuselten zahlreiche Menschen wie geschäftige Ameisen durcheinander, und der Katzenjunge musste nicht zweimal hinsehen, um zu erkennen, welch harte Arbeit an diesem idyllischen Ort verrichtet wurde. Hier und dort rackerten sich auch etliche Kinder ab, wohl um wenigstens noch ein kleines bisschen Geld für ihre Familien dazuverdienen zu können.

Eine Tatsache, die Shinya auf recht egoistische Weise sogar sehr zugute kam, denn wenn ihm überhaupt irgendwo jemand sagen konnte, wo er für wenig Geld eine Kleinigkeit zu Essen bekommen würde, dann ja wohl an diesem Ort des sicherlich äußerst schlecht entlohnten Schaffens. Die Augen des Katzenjungen tasteten über die goldenen Felder und suchten nach einer erschöpften Seele, die sich inmitten des regen Treibens wenigstens einen Moment der Ruhe gönnte.

Da plötzlich fühlte er, wie ihm von hinten ein Finger auf die Schulter tippte.

"Brauchst du vielleicht Hilfe?"

Der Halbdämon fuhr herum - und blickte geradewegs in das Gesicht eines Mädchens, das scheinbar vollkommen lautlos hinter ihn getreten war. Im ersten Moment flackerte Wut in der Brust des Katzenjungen auf, weniger auf die junge Unbekannte selbst als vielmehr auf die gesamte Menschheit, die es sich an diesem warmen Spätsommertag ganz offensichtlich zum kollektiven Ziel gemacht hatte, ihn durch unvermutetes Anpirschen und -sprechen aus dem Hinterhalt langsam aber sicher einem frühzeitigen Herzinfarkt entgegenzutreiben.

Dieser Anflug von Zorn verebbte jedoch noch weitaus schneller, als er gekommen war, und mit ihm verschwand auch der erste Schrecken, der wie eine eiskalte Dusche über Shinyas Körper hereingebrochen war. Stattdessen lief ein leiser, aber überaus wohliger Schauer über seinen Rücken, als er begriff, dass er jetzt und zur Sekunde in die wohl sanftesten Augen blickte, die er jemals bei einem Menschen gesehen hatte.

Besagte Augen trugen die Farbe von warmem, dunklem Braun, und im selben Ton schimmerte auch das lange, glatte Haar des Mädchens, allerdings mit einem Hauch von Gold darin, aber das konnte auch einfach nur am Licht der untergehenden Sonne liegen, deren Strahlen das Dunkel zum Glänzen brachten. Sie lächelte, und auch in diesem simplen, gar nicht einmal übertrieben fröhlichen Lächeln (eigentlich war es eher ein klein wenig schüchtern), lag so unglaublich viel Wärme, dass es den Katzenjungen erzittern ließ, nur ganz kurz, bevor es ihn mit einem Gefühl von tiefer, harmonischer Ruhe erfüllte.

Er fügte sich endgültig in die bedingungslose Kapitulation jeglicher Empörung über seinen neuerlichen Schrecken und antwortete stattdessen ebenfalls mit einem Lächeln.

"Ähm... Hilfe?", entgegnete er, nicht ohne eine Spur von Verlegenheit in seiner Stimme. "Wenn du's so direkt wissen willst, also... ja. Ich bin nämlich heut zum ersten Mal hier und kenn mich echt absolut nicht aus, und deshalb... weißt du zufällig, wo ich hier was zu Essen kriegen könnte?" Er legte eine kurze Pause ein und verzog seinen Mund zu einem Grinsen. "Es is nur leider so, ich bin momentan ein kleines bisschen knapp bei Kasse, also..."

"Ich verstehe schon", lächelte das Mädchen, und noch während sie sprach, bemerkte er erstmals, dass sie zwei nicht unbedingt sonderlich leicht anmutende Wassereimer in ihren zierlichen Händen trug.

"Wart mal kurz", entgegnete er hastig und streckte der Dunkelhaarigen auffordernd eine Hand entgegen. "Bevor du mir hilfst sollt ich vielleicht erst mal dir helfen, kann das sein? Die Dinger sehn irgendwie... schwer aus."

"Schwer?" Sie hob ihre Schultern, doch allein die krampfhaft überspielte Mühseligkeit in dieser kurzen Bewegung war eigentlich schon Antwort genug. "Nein... das geht schon. Man sieht mir das vielleicht nicht unbedingt gleich an, aber ich habe doch Übung in dieser Art von Arbeit. Du musst mir nicht helfen, du siehst nämlich eigentlich viel erschöpfter aus, als ich mich fühle."

"Ach was, das geht schon!" Er bekräftigte sein Angebot mit einem entschlossenen Nicken und nahm dem Mädchen kurzerhand einen der Eimer aus ihrer Hand.

Es vergingen wohl tatsächlich nur wenige Sekunden, bis Shinya eine Woge tiefster Reue über diese großmütige Anwandlung in sich aufsteigen fühlte, doch ihm selbst kam diese letzte Gnadenfrist sogar noch weitaus kürzer vor. Sein rechter Arm, seine Hand sowie sämtliche Finger wurden durchzuckt von einem rabiaten Schmerzensschrei der Empörung, und er hätte das schwergewichtige Blechgebilde um ein Haar postwendend wieder fallen lassen. Der Katzenjunge presste seine Lippen fest aufeinander und zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck, was schon mit sehr großem Abstand das Positivste war, das er jetzt noch zustande bringen konnte.

Das Mädchen lächelte. Ihre tiefbraunen Augen schlossen sich nur ein ganz klein wenig, genug aber, dass ihre langen Wimpern feine Schatten in das Spiel von der Dunkelheit ihrer Iriden und der glitzernden Reflexion des Sonnenlichtes werfen konnten. Sie senkte ihren Kopf ein Stück weit und erlaubte so einigen ihrer dunklen Haarsträhnen, von ihrem Platz hinter den Ohren geradewegs vor ihr Gesicht zu fallen.

Alles in allem war dieser Anblick schon mehr als genug, um Shinya für all seine Leiden angemessen zu entschädigen, selbst wenn das Gewicht des Eimers in seinen Händen dadurch keineswegs erleichtert und der ziehende Schmerz in seinem Arm auch ebenso wenig gelindert wurde. Er nickte tapfer und schenkte der Dunkelhaarigen einen Blick, von dem er eigentlich selbst nicht so genau sagen konnte, was er denn nun zu bedeuten hatte.

"Siehst du?", verkündete er in dem am wenigsten gequälten Tonfall, zu dem er sich eben noch irgendwie zwingen konnte. "Geht doch gleich viel einfacher so!"

"Na ja, für mich schon!", lachte das Mädchen. "Ach, ich... ich weiß jetzt gar nicht so recht, wie ich mich bedanken soll! Oder... doch, eigentlich weiß ich es schon. Du hast mich doch vorhin gefragt, wo du etwas essen könntest, richtig?"

"Absolut!", nickte der Katzenjunge und folgte den Schritten der Dunkelhaarigen, als sie sich mitsamt ihrer immer noch reichlich schweren Fracht langsam in Bewegung setzte.

"Weißt du was? Du kannst heute eigentlich auch bei mir essen. Sonderlich viel wird es dort zwar nicht geben, aber immerhin besser als gar nichts, denke ich. Ich lebe nämlich bei der Dorfältesten, und sie ist wirklich eine unheimlich gute Köchin!" Die Dunkelhaarige nickte bekräftigend, dann jedoch stockte sie und hielt inne. "Oh je, da fällt mir doch gerade eben auf, dass ich mich ja überhaupt noch gar nicht vorgestellt habe! Wie unhöflich von mir... entschuldige. Ich heiße Hoshi Amano."

"Und ich bin Shinya... Shinya Trival!"

Der Halbdämon grinste, und das nicht etwa nur, um seine Worte der Bekanntmachung mit einer gewissen höflichen Fröhlichkeit zu unterstreichen. Irgendetwas an der Erkenntnis, dass er sich nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag hatte vorstellen müssen, amüsierte ihn sogar ganz ehrlich und aufrichtig. Nach so vielen Jahren, in denen ihn stets ein Gefühl von Einsamkeit begleitet hatte, lernte er nun binnen weniger Stunden gleich zwei sympathische Menschen kennen, die ihm wie selbstverständlich ihre Hilfe anbaten. Shinya war überwältigt. So unüberlegt sein Aufbruch gewesen sein mochte, so unsicher die Zukunft war, die noch vor ihm lag, so sehr beflügelte ihn auch die Erkenntnis, dass er am Reisen sogar noch weit mehr Gefallen fand, als er es sich jemals hatte erdenken und erträumen können.

Während seines kurzen Gespräches mit jenem Mädchen namens Hoshi war die Sonne dem Horizont bereits ein gutes Stück näher gekommen und tauchte die belebten Felder in ein bronzefarbenes Licht. Trotz des geschäftigen, ruhelosen Treibens lag über der gesamten Szenerie eine unglaubliche Idylle, wie Shinya sie bislang nur von Bildern kannte, die er in Büchern über die Freuden und Leiden des bäuerlichen Lebens eigentlich niemals wirklich beachtet oder gewürdigt hatte. Auf seine Lippen stahl sich ein Lächeln, während er an Hoshis Seite in das golden schimmernde Netz der schmalen Gässchen eintauchte.
 

Der erste Abend in Shinyas neuem Leben war sogar noch weitaus schöner gewesen, als er es zu irgendeinem vorhergegangenen Zeitpunkt zu hoffen gewagt hatte. Hoshi hatte ihn über etliche verwinkelte Kopfsteinpflasterwege hinweg geführt, bis sie schließlich vor zwei nicht sonderlich hohen und noch viel weniger breiten Fachwerkhäusern zum Stehen gekommen war. Der Katzenjunge hatte sich bereits gefragt, in welche der beiden Bauten sie denn nun eigentlich treten würde, als das Mädchen stattdessen auf eine ganz unwahrscheinlich schmale Gasse zugeschritten war, die sich zwischen den weiß verputzten Mauern dem goldenen Himmel entgegenstreckte.

Wobei die Bezeichnung Gasse als solches beinahe schon vermessen, ja regelrecht größenwahnsinnig erschien im Angesicht dieses feuchten Spaltes, der kaum mehr als einen halben Meter breit war. Umsichtig darum bemüht, so wenig wie möglich von dem Wasser aus seinem Eimer zu verschütten, schob und quälte sich Shinya durch den bedrückend engen Durchgang und war heilfroh, als sich die Wände dann wieder zu einem kleinen Kanal verbreiterten. Ein schmales Bächlein plätscherte munter über etliche Steine und Pflanzen hinweg, die sich unter einem schmalen steinernen Brückchen zu einer ganz eigenen Landschaft inmitten der von Menschenhand geschaffenen Idylle des Dorfes vereinten.

Die Brücke selbst war aus hellgrauem Stein gehauen und gute zwei Meter lang. An ihrem anderen Ende mündete sie erneut in ein Gässchen, das sich auf nicht weniger einengende Art und Weise zwischen zwei Hauswänden hindurchzog. Außerdem zweigte eine hölzerne Treppe von dem grauen Pfad ab und zog sich an der Mauer eines Fachwerkhäuschens bis zu einer niedrigen Türe hinauf. Diesen Weg wählte Hoshi. Sie stieg trotz ihrer schweren Last mit einer wahrhaft traumwandlerischen Sicherheit die schwarzbraunen Stufen hinauf und klopfte dann dreimal laut an das dunkle Holz der geduckten Eingangspforte.

Entgegen seiner ersten Befürchtungen hatte die Dorfälteste den Katzenjungen sogar überaus gerne in ihren heimeligen vier Wänden empfangen und ihn mit noch größerer Begeisterung bewirtet und umsorgt. Die Einrichtung der Wohnung (oder zumindest des Teiles davon, den Shinya zu Gesicht bekam), war verhältnismäßig einfach, meilenweit entfernt von dem schwermütig altmodischen Prunk des Herrenhauses, in dem er aufgewachsen war, trotzdem stand es diesem an einladender Gemütlichkeit in Nichts nach.

Eine der Wände wurde voll und ganz von einem Herd aus weißem Stein und dunklem, schwerem Eisen ausgefüllt, über dem sich eine Leiste aus weiß gestrichenem Holz über die gesamte Breite der Mauer hinwegzog. Zahllose verbeulte Schöpfkellen, hölzerne Kochlöffel und gehäkelte Topflappen hingen daran hinab und verliehen der Kochecke einen überaus chaotischen Charme. Doch auch die Ablagefläche darüber war weise genutzt worden: Neben etlichen, zum größten Teil wohl selbst erstellten Kochbüchern reihten sich viereckige weiße Keramikbehältnisse, auf denen verschnörkelte blaue Buchstaben die Namen zahlreicher Gewürze verkündeten. Sogar zwei kleine Blumentöpfe mit frischen Kräutern fügten sich auf äußerst passende Weise in diese wundervoll Appetit anregende Reihe.

Auch sonst schien der Raum in erster Linie zum behaglichen Miteinander bei gutem Essen gedacht zu sein, denn der größte Teil des verhältnismäßig kleinen Zimmers wurde von einer Sitzecke eingenommen, bestehend aus einem hellen, viereckigen Holztisch und einer Eckbank, auf der eine Reihe dunkel gemusterter Kissen zum gemütlichen Verweilen einluden. Darüber hinaus gab es noch zwei weitere Stühle, in deren Rückenlehnen große, fünfzackige Sterne eingeschnitzt waren. Unmittelbar hinter dem Esstisch durchbrach ein großes Fenster die weiß verputzte Wand und gewährte einen Blick auf die hell erleuchtete Fassade des nahe liegenden Nachbarhauses.

Im Laufe des Essens - die Dorfälteste hatte den beiden erschöpften Jugendlichen, die sich auf der Eckbank niedergelassen hatten, einen tatsächlich überaus köstlichen Eintopf aufgetischt - war Shinya sich mehr und mehr der Tatsache bewusst geworden, dass seine großzügige Gastgeberin ihn wohl keineswegs nur aus bloßer Nächstenliebe zu sich eingeladen hatte, sondern vor allem auch aus Neugierde. Dabei blieb sie jedoch stets diskret genug, um zu merken, wann der Katzenjunge einer Frage bewusst auswich (zum Beispiel der Erklärung dafür, warum er denn nun eigentlich mutterseelenallein und ohne viel Geld in der Tasche so vollkommen planlos durch die Lande zog), und beließ es dann auch dabei, um sich behände dem nächsten Thema zuzuwenden.

Vielleicht mochte es an irgendeinem besonderen Gewürz in der herrlich duftenden Mahlzeit gelegen haben, vielleicht auch an dem beruhigend weichen, gelblich matten Lichtschein, der von der kleinen Blechlampe ausging, die über dem Tisch baumelte, aber irgendetwas verbreitete in der beschaulichen Runde eine gewisse Form von Redseligkeit, wie Shinya sie sonst überhaupt nicht von sich gewohnt war. Hinter dem schwarzen Eisengitter des Herdes brannte immer noch ein wohlig warmes Feuerchen und erfüllte den Raum mit einem leisen Knistern. Der Widerschein der Flammen und die sanfte Helligkeit des alten Lämpchens tauchten die weißen, mit blauem Garn bestickten Vorhänge in ein heimelig flackerndes Licht- und Schattenspiel.

Shinya genoss jede einzelne Minute ihrer angeregten Unterhaltung, und obwohl ihre Themen sicherlich nicht immer fröhlich und unbeschwert waren, so fühlte er sich doch so ruhig und entspannt wie schon lange nicht mehr. Hoshi und die Dorfälteste konnten gleichermaßen gar nicht genug kriegen von den zahllosen kleinen Anekdoten und Erinnerungen, die er aus seiner Zeit im Heim zwischen den Wäldern zu erzählen hatte, doch auch ihnen mangelte es keineswegs an amüsanten und interessanten Erlebnissen, die es wert waren, weitergetragen zu werden. So erfuhr Shinya, dass Hoshi ebenfalls ein Waisenkind war, dass sie sich jedoch im Gegensatz zu ihm niemals hatte alleine durchschlagen müssen, sondern bereits als Säugling von der Dorfältesten aufgenommen und dann auch großgezogen worden war.

Irgendwann - es war spät und draußen längst schon dunkel geworden - hatte dann aber doch die Müdigkeit Einzug in die gemütliche kleine Stube gehalten und insbesondere von der alten Frau mehr und mehr Besitz ergriffen. Auch an Hoshi waren die Anstrengungen des zurückliegenden Arbeitstages keineswegs spurlos vorüber gegangen, und als die Konversation schließlich mehr und mehr in ein wechselseitiges Gähnen abgeglitten war, da hatte man einstimmig beschlossen, dem gemütlichen Beisammensein vorerst einmal ein Ende zu setzen. Zum Abschied hatte die Dorfälteste Shinya sogar noch versprochen, in einem ihrer (offensichtlich überaus zahlreichen) Bücher nachzuschlagen, ob sie nicht doch irgendwo etwas über einen Stamm von Katzendämonen finden könnte, dann hatte man sich gleichermaßen satt und zufrieden getrennt.

Über die hölzerne Treppe, das kleine Brücklein und die schmale Gasse war Shinya in die behagliche Einsamkeit des Dorfes zurückgekehrt. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den idyllischen Flecken Erde noch einmal im blauen Licht der Nacht zu erkunden, war an Wirtsstuben vorbeigekommen, aus denen laute Musik und rötlicher Fackelschein auf das verlassene Kopfsteinpflaster hinausgedrungen waren, und hatte seine Schritte dann endlich wieder den freien Feldern zugewandt, aus denen mittlerweile jegliche Geschäftigkeit verschwunden war.

In sanften Hügeln erstreckten sich die Ebenen bis hin zum tiefblauen Vorhang des Nachthimmels. Nicht überall wogten noch lange Grashalme und erhabene Reihen von Mais, oft genug waren nach dem beschwerlichen Schaffen der Bauern nur mehr kurze Stoppeln auf der dunklen Erde zurückgeblieben, auf denen im Licht des Mondes ein Hauch von Silber lag. Das ebene Bild der Landschaft wurde durchbrochen von mächtigen Türmen hoch aufgestapelter Heuballen, die langgezogene Schatten in die Weite des Landes warfen.

Für Shinya waren ebendiese aufgetürmten Ballen eine wortlose Einladung, der er nur zu gerne und ohne langes Überlegen folgte. Die Nacht war warm, wunderbar und angenehm warm, und trotzdem war der Himmel sternenklar. Es bereitete dem Katzenjungen keine große Mühe, einen der Heubauten zu erklimmen, und auf den breiten Rollen fand er genügend Platz zum Liegen, ohne einen nächtlichen Sturz befürchten zu müssen. Unter ihm erstreckte sich der sanfte Widerschein von Tranquilas Straßenlaternen und den letzten erleuchteten Fenstern, die das Netz aus verwinkelten Gassen und dunklen Schieferdächern in ein warmes, wenn auch nicht sonderlich helles Licht hüllten.

Diese künstlich geschaffene Helligkeit war aber eigentlich sowieso vollkommen überflüssig, denn immerhin stand der Mond riesengroß und von keinem noch so winzigen Wolkenfetzen getrübt am schwarzblauen Nachthimmel, und auch die zahllosen Sterne funkelten hell und silbrig miteinander um die Wette. Aus irgendeinem Grund, den er nicht kannte, der ihn aber eigentlich auch gar nicht weiter interessierte, war Shinya so glücklich wie nur selten zuvor. Na gut - ein ganz klein wenig vermisste er die vertraute Sicherheit seines Zimmers und vor allem die kuschelige Weichheit seines Bettes ja schon, aber selbst diese leise Wehmut konnte seine Zufriedenheit bestenfalls oberflächlich und in keinem Fall sonderlich nachhaltig trüben.

Die Finger des Halbdämons glitten in seine Hosentasche und zogen seine Glückskugel daraus hervor. Obwohl sie nur recht klein war, mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern, rief schon allein das bloße Gefühl ihres Gewichtes in seiner Hand doch ganz unweigerlich eine tiefe Ruhe in dem Katzenjungen wach. Shinyas grüne Augen blickten versunken auf das glasklare Rund, in dessen Mitte eine winzige, tiefviolette Flamme unaufhörlich umhertanzte. Der Halbdämon wusste nicht, woher er diese Kugel eigentlich bekommen hatte, denn er besaß sie schon, seit er denken konnte, und wann immer er sie ansah, fühlte er sich... zuhause.

Was eigentlich eine ganz absurde Beschreibung des Gefühls war, das diese wundersame kleine Glückskugel in ihm wachrief, denn im Grunde genommen hatte Shinya sich ja noch niemals in seinem ganzen Leben wirklich irgendwo zuhause fühlen können, ganz einfach deshalb, weil er überhaupt kein Zuhause besaß. Trotzdem bedeutete der Anblick dieser Kugel für ihn... Sicherheit. Vertrautheit. Ruhe. Und eine merkwürdige Wärme, die er sonst überhaupt nicht kannte und deshalb weder mit irgendetwas anderem vergleichen noch angemessen beschreiben konnte.

Ein herzhaftes Gähnen stahl sich über Shinyas Lippen und zwang ihn einige Momente lang dazu, seine Augen zu schließen. Die mühevollen, wenn auch zum Teil unvergleichlich schönen Stunden des Tages lasteten nun wie Blei auf seinen Gliedern und ließen auch seine Lider ganz unvorstellbar schwer werden, zu schwer, als dass er ihrem Gewicht noch länger hätte standhalten können. Jede einzelne seiner Wimpern schien Tonnen zu wiegen, und es gelang dem Katzenjungen gerade noch, seine Glückskugel wieder an ihrem alten Platz in seiner Hosentasche zu verstauen und sich auf der Seite zusammenzurollen, als er im nächsten Augenblick auch schon eingeschlafen war.
 

Sein Erwachen war ebenso sanft, dafür aber weitaus langwieriger als sein Entschlummern in der Nacht zuvor. Die warmen Strahlen der Morgensonne kitzelten Shinyas Gesicht, und etliche Minuten lang ließ er diese wohligen Weckrufe einfach nur regungslos über sich ergehen und genoss das sichere Wissen, nicht einmal einen einzigen Grund zu haben, um früh aufstehen zu müssen. Irgendwann rang sich der Katzenjunge dann aber doch ein träges Blinzeln ab, bevor er langsam seine grünen Augen aufschlug.

Zunächst einmal sah er nichts als Blau. Endlos weites, ungetrübt strahlendes Blau, das ihn mit einem belebenden Gefühl von grenzenloser Freiheit erfüllte. Shinyas Lippen verzogen sich zu einem durch und durch zufriedenen Lächeln. Was für ein Leben! Er richtete sich gemächlich auf, gähnte und streckte sich erst einmal ausgiebig und musterte dann mit verschlafenen Blicken seine Umgebung. Obwohl es doch noch verhältnismäßig früh sein musste, hatte die Arbeit auf weiten Teilen des Feldes bereits wieder eingesetzt. Shinya sah sich um, ob er nicht irgendwo Hoshis Gestalt erblicken konnte, und tatsächlich schien ihm das Glück auch in dieser Beziehung einmal mehr hold zu sein.

Allerdings nur knapp zwei, drei Sekunden lang, bevor es ihn auf eine überaus hinterlistige Art und Weise wieder fallen ließ. Der Katzenjunge erstarrte. Statt der Wärme seines Blutes schien nun vielmehr eisiges Wasser durch seine Adern zu rinnen, und er musste sich etliche Male die Augen reiben, bevor er sich tatsächlich eingestehen konnte, dass jenes über alle Maßen grauenhafte Bild, das sich ihm da zur Sekunde bot, nicht einfach nur ein boshaftes Spielchen seiner müden Sinne, sondern tatsächlich real war.

Hatte er sich am Abend zuvor sogar noch ein paar Mal Gedanken darüber gemacht, ob der Abstieg von seinem Turm aus Heuballen sich nicht möglicherweise doch als weitaus weniger einfach gestalten würde, als es der wahrhaft mühelose Aufstieg getan hatte, so wurde nun jegliche Sorge augenblicklich von der eiskalten Sturmflut in seinem Inneren hinfort gespült. Mit zwei großen Sätzen war Shinya sogar überaus rasch wieder auf dem festen Erdboden angelangt, verschränkte vorsorglich schon einmal die Arme vor der Brust und stapfte dann mit weiten, festen Schritten auf Hoshis zierliche Gestalt zu.

Besser gesagt: Auf Hoshis zierliche Gestalt und auf eine ganz unvorstellbar grauenhafte Alptraumkreatur, die sich dem Mädchen bis auf knapp einen Meter genähert hatte. Das Monstrum stand der Dunkelhaarigen unmittelbar gegenüber und starrte ihr geradewegs ins Gesicht, die Lippen zu einem furchtbaren Grinsen verzogen, bereit, die Ahnungslose jeden Augenblick zu verschlingen, mit sich in das tiefste aller bodenlosen Höllenlöcher hinabzuzerren, um dort ihren Körper in Milliarden winzig kleine Fetzen zu zerreißen.

Oder... vielleicht war es auch einfach nur gerade beschäftigt damit, eine lebhafte Konversation mit dem Mädchen zu führen.

"Phil!"

Shinyas Stimme bebte vor Wut und er fixierte das Gesicht des Blondschopfes mit dem finstersten, kältesten Blick, den er nur irgendwie noch zustandebrachte, ohne seinem Gegenüber gleich den Kopf von den Schultern zu reißen. Und noch während er so vor sich hinstarrte und -stapfte und knurrte und sich einfach nur alle Mühe gab, möglichst bösartig und furchteinflößend zu wirken, da ging mit einem Mal ein Wandel in dem Katzenjungen vor.

Vielleicht war es auch gar kein wirklicher Wandel, sondern vielmehr eine... Verschiebung. Eine Verschiebung seiner Wut, um genau zu sein. Hatte sich Selbige nämlich bis eben noch auf jene durch und durch fürchterliche Gestalt des wohl schrecklichsten Menschen gerichtet, den er überhaupt jemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hatte, so wurde nun mehr und mehr er selbst zum Zentrum dieses kochend heißen Zornes - und das mit Recht.

Natürlich gab es eine ganze Reihe von Entschuldigungen, die er zur Beruhigung seines eigenen Amok laufenden Gewissens hätte vorbringen können (seine Müdigkeit zum Beispiel, oder die vollkommene Neuartigkeit seiner Situation, in der er sich erst noch zurechtfinden musste), aber keine von ihnen erschien ihm wirklich überzeugend.

Er hatte sich verraten. War ohne auch nur eine einzige Sekunde lang nachzudenken geradewegs in sein Unglück gelaufen und hatte sich zu allem Überfluss auch noch vollkommen berechtigt, ja beinahe sogar dazu verpflichtet gefühlt, genau dies und nichts anderes zu tun! Was hatte Phil wohl in solch einem kleinen Dorf wie diesem hier verloren, fernab seines heimatlichen Herrenhauses und zufälligerweise genau dort, wohin es auch ihn, Shinya, erst vor wenigen Stunden verschlagen hatte? Die Antwort war so einfach, dass sie wahrlich schon wieder schmerzte.

Natürlich hatte man den Blondschopf losgeschickt, um nach ihm zu suchen. Was auch sonst? Es war mittlerweile immerhin ein ganzer Tag vergangen, an dem man sein Fehlen ganz einfach bemerkt haben musste, und angesichts seines doch nicht unbedingt unauffälligen Erscheinungsbildes war es wohl offensichtlich ein Leichtes gewesen, seiner Spur bis hierhin zu folgen. Dabei verwunderte es Shinya keineswegs, dass sich ausgerechnet Phil zur Teilnahme an diesem Einmannsuchtrupp bereit erklärt hatte - gab es eine bessere Gelegenheit, sich postwendend und langfristig über ihn lustig machen zu können?

Er war alles so grauenhaft durchschaubar, dass es Shinya beinahe schwindlig wurde, insbesondere auch deshalb, weil er wieder einmal zielsicher das wohl Falscheste getan hatte, was man in dieser Situation überhaupt nur irgendwie hätte tun können. Immerhin hatte er noch wenige Momente zuvor in vollkommener Sicherheit gute zweieinhalb Meter über den Dingen geschwebt, selig schlummernd auf einem Turm von Heuballen, auf dem man ihn von den Feldern aus überhaupt nicht sehen oder doch zumindest nicht wirklich erkennen konnte. Und nun?

Nun war er Phil geradewegs in die Arme gelaufen, und natürlich hatte dieser ihn längst schon bemerkt, hatte ihm seine hellblauen Augen zugewandt und blinzelte ihm derart erstaunt entgegen, dass es ganz einfach nur noch gespielt sein konnte.

"Shinya? Was.... was um alles in der Welt machst du hier? Das ist doch nicht... bist du weggelaufen oder was?"

Shinya ließ einen prüfenden Blick über das Gesicht des Blondschopfes streifen, und spürte dann seinerseits ein Gefühl tiefer Verwirrung in seiner Brust aufsteigen. Er kannte Phil nun schon lange genug, um zu wissen, dass dieser ein sogar überaus begabter Lügner war, doch er hatte im Laufe der Jahre auch gelernt, hinter die Fassade des Jungen blicken oder sie doch zumindest als solche zu entlarven. Nun jedoch sah er nichts. Kein verräterisches Blitzen in den Augen oder Zucken in den Mundwinkeln, alles in allem keinerlei Anzeichen von Falschheit, und das war weit mehr, als der Katzenjunge in diesem Augenblick begreifen konnte.

"Das... Gleiche könnt ich dich fragen", wich Shinya der Frage des Blondschopfes aus und versagte zugleich kläglich in dem Bemühen, seine Worte ruhig und selbstsicher klingen zu lassen. Ein Missgeschick, in dem Phil ihm jedoch augenblicklich nachzueifern schien:

"Ähm... ich... ich bin auf der Suche nach jemandem, wenn du's unbedingt wissen willst. Im Gegensatz zu dir hab ich nämlich nichts zu verbergen..."

Irgendetwas an dem Tonfall in Phils Worten ließ den Katzenjungen sogar ganz gewaltig an der Richtigkeit ihres Inhalts zweifeln, und so enthielt er sich erst einmal jeglicher Antwort und begnügte sich stattdessen damit, langsam und kritisch beide Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. Es war wirklich kaum zu glauben: Ausgerechnet Phil, der ja sonst wahrlich nie um eine Ausrede verlegen war, geriet nun im Angesicht einer derart simplen Frage ins Stocken? Irgendetwas daran war sogar ganz unwahrscheinlich faul, und dieses etwas - was auch immer es nun sein mochte - weckte Shinyas Neugier, gleichermaßen aber auch eine gewisse Art von Beunruhigung.

"Was denn?", fuhr ihm der Blondschopf reichlich entnervt in seine ewig kreisenden Gedanken hinein. "Habe ich vielleicht irgendetwas in meinem Gesicht oder warum starrst du mich so an?"

"Ja sicher, ich starr dich an!", grummelte Shinya und verdrehte seine Augen. "Sonst noch Wünsche? Ich frag mich nur grad irgendwie, was du ausgerechnet... hier zu suchen hast. Läufst du mir jetzt schon nach oder was?"

"Ich? Dir?" Phil verzog seine Lippen zu dem gemeinsten und spöttischsten Grinsen, das er in seinem überaus breiten Repertoire an gemeinen und spöttischen Grinsen nur irgendwie vorrätig hatte, und strich sich mit einer Hand durch sein verstrubbeltes blondes Haar. Shinya schluckte. Er kannte diesen Gesichtsausdruck und er wusste, dass er ganz gewiss nichts Gutes verhieß. "Aber weißt du was? So, wie du fragst, musst du ja fast schon irgendwie erwartet haben, dass ich hier aufkreuzen würde. Und wo wir schon einmal beim Thema wären, da würde mich doch wirklich sehr interessieren, was dich denn eigentlich in dieses schöne kleine Dörfchen hier geführt hat... und warum du dich aufführst wie ein Schwerverbrecher auf der Flucht vor den Gardisten!"

"Ich..." Shinya wollte zu irgendeiner Antwort ansetzen, die so bestimmt und nachdrücklich unverschämt war, dass sie jeden Zweifel und jede weitere Frage von Seiten des Blondschopfes schon einmal vorsorglich im Keim ersticken würde, doch in seinem Kopf herrschte plötzlich vollkommene Leere. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte, wie er sich noch hätte rechtfertigen können, und er las überdeutlich das zunehmende Misstrauen, das gerade seine viel zu lange Pause in dem Blondschopf wecken musste.

"Du... was?", hakte Phil in einem Tonfall nach, der nur allzu deutlich machte, dass er, was auch immer Shinya zu seiner Verteidigung nun vorbrachte, ja sowieso nicht mehr glauben würde.

"Ich... also... na ja..." Shinya ertrug es nicht mehr länger, den zweifelnden Blicken des Blondschopfes standhalten zu müssen, und so wandte er seine Augen rasch dem Boden zu. Die Lage schien aussichtslos - wie bitte sollte er denn auch solch einem ewigen Besserwisser wie Phil glaubwürdig nahe bringen, was in den vergangenen beiden Tagen vor sich gegangen war, wenn er es doch selbst am allerwenigsten verstand?! Nein, das war absurd, das war ganz und gar unmöglich, ja fast schon anmaßend...

Und vielleicht gerade deshalb auch eine Chance, mit der Shinya überhaupt nicht mehr wirklich gerechnet hatte.

Wer sagte denn eigentlich, dass Phil ihm auch tatsächlich glauben musste? Der Blondschopf hatte Shinya doch immerhin schon sein ganzes Leben lang für mehr oder minder verrückt gehalten, und warum sollte an diesem einen merkwürdigen Morgen mit all seinen Schrecken und Überraschungen nicht endlich der Augenblick gekommen sein, selbst das Ruder in die Hand zu nehmen und genüsslich noch ein bisschen mehr Öl ins Feuer zu gießen? Er war an einem Punkt angekommen, an dem selbst die fantasievollste Lüge kaum mehr fantastischer und unglaubhafter erscheinen konnte als die ungeschönte Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Was hatte er denn schon zu verlieren außer dem letzten bisschen Ansehen und Respekt, das er in Phils Augen ja wahrscheinlich sowieso niemals wirklich besessen hatte? Wenn der Blondschopf ihn auslachen, sich noch ein, zwei Minuten lang über ihn lustig machen und dann in der Gewissheit über Shinyas endgültigen mentalen Zusammenbruch das Weite suchen würde, dann konnte das dem Katzenjungen doch eigentlich nur mehr als Recht sein!

Er zauberte ein betont aufgesetztes Lächeln auf seine Lippen und trat dem blonden Jungen nun wirklich äußerst gelassen entgegen.

"Also... pass gut auf, Phil, ich habe nämlich wirklich keinerlei Lust, mich später noch mal zu wiederholen, ja?" Er strich sich mit einer provokant gelangweilten Geste einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und reckte sein Kinn noch ein, zwei Zentimeter weiter in die Höhe. "Ich hatte da so einen Traum, und in dem Traum wurde mir gesagt, dass ich ein Auserwählter bin... nein, nicht irgendein Auserwählter, sondern der Auserwählte, der die zehn... also ohne mich sind's noch neun... Estrella suchen muss, um an... ähm... genau, um an Equinox den Planeten zu retten. So unvorstellbar klug, wie du nun einmal bist, sagt dir das alles ganz bestimmt etwas, also Estrella, von wegen legendäre Magier und so. Klingt doch nicht übel, was? Aber jetzt stell dir mal vor: Es wird noch besser! Wie ich ja bereits erwähnt habe, ich bin auch einer von diesen... Estrella. Und weißt du, was passiert, wenn ich das nich schaffe, die alle zu finden? Dann geht nämlich der Planet unter. Na, wie hört sich das an?"

Wonach auch immer es sich anhören mochte - was darauf folgte, war in jedem Fall erst einmal Stille. Kein Lachen, nicht einmal ein Grinsen, auch keine Empörung und schon gar keine beleidigte Fahnenflucht angesichts einer derart haarsträubenden Lüge, kurzum: Nichts, aber auch gar nichts von dem, was Shinya zu Phils möglichem Reaktionsspektrum auserkoren hatte. Stattdessen hatte sich ein merkwürdig atemloses Schweigen über die Runde gelegt, und im Zentrum dieses Schweigens stand der Blondschopf, der ihn mit seinen hellblauen Augen entgeistert anstarrte.

"Du...?", war schließlich alles, was er noch als Antwort vorzubringen hatte, und in diesem einen Wort lag eine derart ernsthafte, schwerwiegende Gewichtung, dass es dem Katzenjungen kalt den Rücken hinablief. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was Phils Reaktion zu bedeuten hatte, aber aus irgendeinem Grund erschreckte sie ihn, mehr noch als jedes Schreien, jedes höhnische Lachen es wohl jemals hätte tun können.

Vielleicht, schoss es ihm durch den Kopf, war es ja gar nicht er, der in diesen seltsamen frühen Morgenstunden den Verstand verloren hatte.

"Ähm... ja, ich?", antwortete er schließlich in reichlich verunsichertem Tonfall. Phil blickte ihn noch etliche Momente lang an, nachdenklich und schweigend, bevor er schließlich mit ruhiger, eindringlicher Stimme antwortete:

"Dann... dann müssen wir uns treffen, heute Nacht. Am besten genau hier auf dieser Wiese, aber erst, wenn die Sonne untergegangen ist, hast du das verstanden?"

"Ja, Mann, ich habe es verstanden!" Der Katzenjunge schüttelte den Kopf und schenkte dem Blondschopf einen zweifelnden Blick. "Ganz so blöd bin ich nun auch wieder nicht. Ich frag mich allerdings, was mit dir grad..."

Er brach ab, als Phil ihm mit einer einzigen herrischen Handbewegung das Wort abschnitt. Der blonde Junge schüttelte seinen Kopf, langsam und dabei so unwahrscheinlich bedeutungsschwer, dass es eigentlich jede weitere Erklärung überflüssig machte, die aber auch sowieso nicht mehr folgte. Ein letzter, eindringlicher Blick aus den hellen blauen Augen - dann wandte Phil sich von ihm ab und folgte dem schmalen, unregelmäßig gepflasterten Weg, zurück in das Dorf hinein.

Shinya sah ihm schweigend nach, bis seine Gestalt zwischen den kleinen Häusern verschwunden war.
 

Jede einzelne Stunde des Tages war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, ganz unnatürlich lang und vor allem auch furchtbar langweilig. Dabei gehörte es an und für sich überhaupt nicht zu Shinyas Charakterzügen, dass er zur Langeweile neigte - im Gegenteil. Er wusste sich manchmal sogar allzu gut zu beschäftigen und so mancher Tag war vorübergegangen, bevor ihm wirklich bewusst geworden war, dass er überhaupt erst begonnen hatte. Doch mehr noch als die generelle Zeitnot quälte den Katzenjungen das Gefühl des Wartens, und genau diese lästige Emotion durchzog jede einzelne Sekunde dieses Tages wie ein hässlicher roter Faden, den zu zerschneiden ihm einfach nicht gelingen wollte.

Zum Dank für das reichhaltige Abendessen (und nicht zuletzt auch deshalb, weil er ihre Gesellschaft schon in der kurzen Zeit, in der sie sich nun kannten, durchaus zu schätzen gelernt hatte), war er Hoshi ein wenig auf den Feldern zur Hand gegangen. Mehr schlecht als recht, freilich, und auch nur mit mäßiger Ausdauer, denn bereits nach kurzer Zeit waren die Schmerzen in seinem Knie aufs Neue erwacht und hatten ihn immer öfter zu Pausen gezwungen. Irgendwann hatte die Dunkelhaarige dann mit Nachdruck darauf bestanden, dass er nun wirklich Ruhe gebrauchen könnte, und so hatte er sich erneut auf einen der Heuballentürme zurückgezogen, in das endlose Blau des Himmels hinaufgeblickt und seinen Körper von den Strahlen der Sonne wie von einer unendlich warmen und dabei doch vollkommen leichten Decke einhüllen lassen.

Er hatte diesen Posten, der ihm mittlerweile durchaus ans Herz gewachsen war, nur ein einziges Mal wieder verlassen, um die kärgliche Mahlzeit herunterzuschlingen, die ihm als Belohnung für seine Hilfe dargeboten wurde. Ansonsten hatte er nur zu gerne auf seinem Platz zwischen Himmel und Erde verweilt, erschien er ihm doch wie kein zweiter dazu bestimmt, seine Gedanken in einigermaßen ruhige Bahnen zu lenken und über alles nachzudenken, was ihn seit den vergangenen Stunden und Tagen beschäftigte.

Zuallererst einmal war da das Rätsel, was Phil überhaupt von ihm wollte... warum er hier war, ausgerechnet hier in Tranquila, wenn er ihn doch angeblich überhaupt nicht gesucht hatte. Oder war doch alles nur eine Lüge gewesen? So sehr er auch darüber nachdachte, ihm wollte und wollte einfach kein Grund einfallen, aus dem der Blondschopf das Heim hätte verlassen sollen. Im Gegensatz zu ihm hatte er dort Freunde, eine ganze Menge Freunde sogar, und schließlich war doch möglichst viel Gesellschaft das, was Phil wohl von allen Dingen am Meisten schätzte.

Es sah dem Jungen überhaupt nicht ähnlich, sich so ganz allein aus dem Ort zwischen den Wäldern davonzustehlen, auch wenn er sich ab und an dort gelangweilt hatte. Und warum hatte er sich dann ausgerechnet mit Hoshi unterhalten wollen? Sicher, die Dunkelhaarige war hübsch, auf ihre Weise sogar sehr hübsch, aber gewiss keines der makellos niedlichen Mädchen, von denen Phil ansonsten so sehr zu schwärmen pflegte. War sie etwa diejenige, die Phil angeblich suchte, die ihn in das idyllische Dörfchen gelockt hatte? Aber warum war er dann einfach wieder wortlos davongegangen, als Shinya zu ihnen getreten war?

Vor allem anderen aber verwirrte den Halbdämon die Reaktion des Blondschopfes auf seine eigenen Worte, die so vollkommen anders ausgefallen war, als er sich das jemals hatte vorstellen können. Wenn er jetzt zurückdachte, dann wollte ihm nicht einmal eine einzige Begebenheit einfallen, in der er bei Phil ein ähnliches Verhalten beobachtet hatte - schon gar nicht, wenn es bei dieser Begebenheit um ihn, Shinya, ging! Diese ernste Miene, dieses Schweigen... und dann der Ausdruck in seinen Augen...

Shinya schüttelte seinen Kopf und rollte sich auf Seite. Es waren so viele Rätsel, zuviele Rätsel, die ihm momentan in seinem Kopf herumgeisterten und deren Lösungen er nicht einmal erahnen konnte. Er suchte und suchte und fand doch keinen Funken Kraft mehr in seinem Leib, den er noch zur Beantwortung all seiner Fragen hätte aufbringen können, und so stellte er sie kurzerhand zur Seite und blickte stattdessen starr zur silberhellen Scheibe des Mondes hinauf. Er war erschöpft, geistig wie auch körperlich, denn die ungewohnte Belastung der Feldarbeit hatte ihm doch weit mehr zugesetzt, als er es erwartet hatte. Im Licht des Mondes lag etwas so unendlich Vertrautes, Beruhigendes... und die Nacht war dennoch vollkommen dunkel, lichtlos, aber vielleicht lag das ja auch einfach nur daran, dass ihm die Augen zugefallen waren.

Und seine Gedanken schwiegen.

Alles, was den Katzenjungen jetzt noch umfing, war eine wundervolle Wärme, das herrlichste Schwarz, das man sich überhaupt nur denken konnte, und auch das Heu schien so unendlich weich, obwohl er es eigentlich überhaupt nicht mehr richtig spürte. Dann, ganz plötzlich, fühlte er ein Kratzen in seinem Hals, eine merkwürdige Trockenheit, und irgendetwas drang an sein Ohr...

Waren es Worte?

"Shinya! Hey, Shinya!"

Diese Stimme... er kannte sie... die Art, wie sie seinen Namen betonte... wie sie nach ihm rief... all das erschien ihm so bekannt und war doch gleichzeitig vollkommen anders als jemals zuvor. Sein Hals fühlte sich ein wenig steif an, verspannt, und erst jetzt bemerkte der Katzenjunge, wie unglaublich unbequem seine Haltung, in der er lag, doch eigentlich war. Er blinzelte und rappelte sich auf. Was war geschehen? War er etwa eingeschlafen? In jedem Fall konnte sein Schlaf nicht allzu lange gedauert haben, denn es war immer noch Nacht und der Mond stand unverändert groß und rund am Himmel.

"Shinya, was machst du da oben? Pennst du? Oder versteckst du dich vor mir?"

Der Halbdämon wandte seinen Blick nach unten und sah - zu seiner größten Freude, versteht sich - eine ihm nur allzu bekannte Gestalt, größer als er selbst, aber dennoch nicht sonderlich groß, und das kurze blonde Haar wie immer in unordentlichen Strähnen nach allen Seiten vom Kopf abstehend. Phil Maxim Amarillo, dessen gewohnt selbstgefälliges Grinsen er doch an und für sich niemals mehr hatte wiedersehen wollen und das ihm nun gefolgt war, um ihn noch in dieser herrlichen Nacht erbarmungslos heimzusuchen.

Manchmal, nur manchmal, konnte das Leben aber auch wirklich ganz verflucht unfair sein!

Shinya verdrehte die Augen, streckte sich kurz, und sprang dann mit einer eleganten Bewegung von dem Heuballenturm herab. Er landete unmittelbar neben dem blonden Jungen in den kurzen Halmen des Grases, fand auch tatsächlich sofort sein Gleichgewicht und verschränkte beide Arme vor der Brust, während sich ein herausfordernder Zug um seine Lippen legte. Was auch immer ihn nun erwarten würde, er sah in jedem Fall keinerlei Grund mehr dazu, sich noch in irgendeiner Art und Weise zurückzunehmen oder zu beherrschen, immerhin war dies nicht mehr sein Heim, in dem er sich mit irgendjemandem arrangieren und dauerhaft auskommen musste. Er war nun frei und er konnte tun und lassen, was er wollte, er und niemand anderes.

"Ich verstecke mich vor niemandem", antwortete er kurz und ohne jede Spur von heuchlerischer Freundlichkeit. "Und ich hab auch ehrlich gesagt keine große Lust dazu, lange mit dir zu reden, also sag mir, was du willst und dann lass mich in Ruhe!"

"Was bist du denn so kurz angebunden heute?" Phil musterte ihn mit einem Ausdruck gespielter Überraschung, dann schüttelte er seinen Kopf und lächelte. "Zu schade. Ich hätte die Gelegenheit doch gerne noch für eine kleine Unterhaltung genutzt, weißt du, letzte Gelegenheiten sollte man nicht einfach so verstreichen lassen."

"Letzte Gelegenheiten?", echote Shinya misstrauisch und zog eine seiner Augenbrauen hoch. "Wenn du mir damit sagen willst, dass du dich danach verziehst und nich mehr wiederkommst, dann lass ich die Gelegenheit so dermaßen gern verstreichen, dass kann ich dir gar nich sagen!"

"...dass ich mich verziehe und nicht mehr wiederkomme?" Der Blondschopf lachte und klang dabei so unwahrscheinlich boshaft, dass es den Katzenjungen ganz unweigerlich einen kleinen, unauffälligen Schritt zurückweichen ließ. "Du bist ja richtig naiv heute, Shinya, oder tust du nur so? Aber Naivität scheint ja gerade so etwas wie dein Lebensmotto zu sein, vorausgesetzt, du glaubst wirklich an all das, was du mir heute Vormittag erzählt hast. Was ich beinahe nicht hoffen möchte, trotz allem. Dass du von den Estrella weißt, hat mich ja schon reichlich erstaunt, und dann der Rest... ich fürchte, du musst da etwas falsch verstanden haben."

"Was habe ich falsch verstanden?" Shinya senkte seinen Kopf ein Stück weit und bedachte den Blondschopf mit einem lauernden Blick. "Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich überhaupt verstanden habe... oder verstehen sollte... und... warum bist du plötzlich hier und... warum weißt du das... das von wegen Estrella und so, ich... ich dachte..."

"Wahrscheinlich dachtest du überhaupt nichts", fiel ihm der Blondschopf in reichlich unfreundlicher Weise ins Wort. "Was du erzählst, kann nämlich gar nicht der Wahrheit entsprechen, hörst du? Ich meine, du... du willst der... Auserwählte sein? Entschuldige bitte, aber das ist lächerlich. Man muss dich belogen haben... oder du belügst mich. Ich habe diesen Auftrag bekommen... Youma den Frieden zu bringen. Ewigen Frieden. Man hat mir schon davon erzählt, dass da noch jemand ist, der mich... stören würde. Aber dass ausgerechnet du das sein würdest... ich muss zugeben, das hätte ich nicht gedacht."

"Mann, Phil, was redest du da eigentlich?" Shinya schüttelte den Kopf, und mit einem Mal konnte er überhaupt nicht mehr anders, als dem Blondschopf einen fast schon flehenden Blick zuzuwerfen. Er hatte mit allem, mit wirklich allem gerechnet - dass Phil mit der versammelten Mannschaft an Betreuern aufkreuzen und ihn in die trauten vier Wände seines Heimes zurückschleppen würde, dass er zumindest seine Freunde mit sich bringen und sie gemeinsam einige Späße auf seine Kosten zum Besten geben und sich über seine Verwirrung vom Vormittag lustig machen würden... nur nicht mit dem, was zur Sekunde vor seinen Augen vonstatten ging und dabei doch so unendlich weit entfernt, so... unwirklich schien.

Er kannte Phil nicht erst seit gestern, und auch wenn sie nicht immer in trauter Einigkeit miteinander gelebt hatten, so war doch niemals zuvor etwas derart Gewichtiges zwischen ihnen gestanden wie in dieser einen Nacht.

"Das sollte ich wohl eher dich fragen", fuhr der blonde Junge in ungerührtem Tonfall fort. "Du scheinst dich ja auch recht gerne blenden zu lassen, habe ich Recht? Glaubst du tatsächlich noch an dieses... dieses Gleichgewicht, von dem all die Priester aus ihren heiligen Büchern vorlesen, von... von dem die alten Legenden immer in so einer unheimlich tiefen Ehrfurcht berichten... schön blöd. Was hat man von diesem Gleichgewicht, außer, dass es sich in irgendwelchen Heldensagen und Tempelreden eben ganz besonders toll anhört? Was ist so toll daran, wenn es für alles Gute immer gleich genauso viel Schlechtes geben muss?"

"Du sprichst wie ein Verrückter, Phil, merkst du das eigentlich nicht?", entfuhr es dem Katzenjungen, doch der Blondschopf quittierte seinen ungläubigen Blick lediglich mit einem weiteren spöttischen Lachen. "Hey, was hast du vor? Willst du... willst du jetzt den ganzen Planeten hier auf den Kopf stellen oder wie? Das is doch irre!"

"Wenn ich irre bin, dann bist du einfach nur dumm, Shinya! Womit haben sie dich gelockt? Was haben sie dir versprochen?" Er wurde wieder ernst und durchbohrte den Katzenjungen förmlich mit dem eindringlichen Blick seiner vernichtend hellblauen Augen. "Du stehst auf der falschen Seite, hörst du mich? Du sollst Leid über die Welt bringen und alles zerstören, aber wahrscheinlich weißt du das noch nicht einmal. Ich möchte ehrlich sein, Shinya: Ich habe dich nie gemocht. Du hast das immer so raushängen lassen, wie unheimlich... anders du doch bist. Hast dich als großer Außenseiter gefühlt und dabei hast du's doch eigentlich provoziert... das war manchmal echt verflucht arrogant von dir, weißt du?"

"Du nennst mich arrogant, Phil?" Shinya keuchte. "Sag mal, geht's noch? Ihr seid euch doch immer so wahnsinnig viel besser vorgekommen als ich, ja?!"

"Als ob du dich nicht wie etwas Besseres gefühlt hättest..." Phil schüttelte den Kopf und auf sein Gesicht trat ein Ausdruck, der... ja, der beinahe schon traurig wirkte, ganz ungewohnt traurig, dabei aber auch von einer wahrhaft erschreckenden Endgültigkeit. "Aber das ist ja jetzt auch irgendwie alles egal. Es ist, wie es ist, und ich... mir wär's echt lieber gewesen, wenn's anders gekommen wäre. Leider ist es dafür jetzt wohl ein klein wenig zu spät..."

Er wandte sich um und vollführte eine kurze Handbewegung in Richtung einer der Gassen, die in die weiße Front der Fachwerkhäuser hineinführte und sich dort in einem dichten Netz aus Schatten verlor. Obwohl Shinya an und für sich im Dunkeln sehr gut sehen konnte, so machte es das vollkommene Fehlen von Licht, selbst von Mondlicht, in besagter Gasse doch nahezu unmöglich, überhaupt irgendetwas zu erkennen. So bemerkte der Katzenjunge die finstere Gestalt, die dort höchstwahrscheinlich schon während ihrer gesamten Unterhaltung gewartet hatte, auch erst in dem Augenblick, da sie langsam aus dem vollkommenen Schwarz hinaustrat.

"Um ehrlich zu sein", fuhr Phil fort, und seine Stimme klang dabei ganz erschreckend kühl, "du stehst mir im Weg. Du bist eine Gefahr, und zwar nicht nur für mich, sondern für uns alle! Es tut mir wirklich leid, aber Gefahren müssen nun einmal beseitigt werden."

"Bitte was?!" Der Katzenjunge keuchte, und fast gegen seinen Willen verzogen sich seine Lippen zu einem überaus fassungslosen Lächeln. "Phil... du meinst das jetzt nicht ernst, oder? Das ist krank. Das ist absolut krank, was du da von dir gibst, und entweder, du meinst es nicht ernst, oder du hast echt den Verstand verloren..."

"Weißt du, Shinya, im Gegensatz zu dir habe ich nämlich schon einen Estrella gefunden", entgegnete Phil unbeeindruckt, während er die düstere Gestalt mit einem kurzen Fingerzeig in seine Richtung dirigierte.

"Was... was hast du vor, Phil?"

"Ich werde das tun, was getan werden muss, nicht mehr und nicht weniger, also mach nicht so ein unnötiges Drama daraus. Früher oder später müsste dieses Opfer sowieso gebracht werden..." Der Blondschopf wandte sich von Shinya ab und blickte nun dem Schatten entgegen. "Ich habe dir ja gesagt, was zu tun ist. Lass deine Magie vorerst einmal beiseite, solche Spielereien wären hier wieder notwendig noch angebracht. Außerdem weiß ich ja, dass dein Schwert mindestens ebenso mächtig ist..."

"Phil..."

Der Blondschopf lächelte, als er sich Shinya aufs Neue zuwandte, und wieder lag in diesem Lächeln eine Spur von Bedauern, die sich jedoch überaus rasch wieder im Nichts verlor.

"Es ist besser, wenn wir es jetzt gleich hinter uns bringen", sagte er ruhig und wich einen Schritt zurück. "Leb wohl, Shinya..."

Dann wandte er sich um und tauchte nun seinerseits in die Finsternis der Gasse ein. Beinahe im gleichen Augenblick trat die zweite Gestalt, die sich eben noch dort verborgen gehalten hatte, endgültig in das Silber des Mondlichts hinaus - und blieb dann umgehend wieder stehen. Den entgeisterten Blick des Katzenjungen erwiderte sie mit einer durchaus ebenbürtigen Überraschung und ließ noch im selben Moment das mächtige Zweihandschwert sinken, das in ihrer Hand geruht hatte.

Shinya wich langsam zurück, bis er die warmen, feinen Halme der Heuballen in seinem Rücken spüren konnte.

"Will...?", stieß er gerade so laut, so fassungslos hervor, wie er es in seinem reichlich paralysierten Zustand eben noch zustande bringen konnte.

"Kleiner?" Will verzog seine Lippen zu einem traurigen Lächeln. "Scheint, als hättest du Recht gehabt. Wobei ich dich eigentlich lieber unter anderen Umständen wiedergesehen hätte..."

"Du... dann soll das heißen, du... du bist..."

"Ein Estrella, ganz genau. Und du offensichtlich auch. Wenn ich das geahnt hätte..." Er senkte seinen Kopf und stieß einen tiefen Seufzer hervor. "Was für ein merkwürdiger Zufall..."

"Was sind denn das noch für lange Reden?!", rief Phil aus seiner Gasse heraus dem jungen Krieger entgegen. "Habe ich es dir etwa nicht lange genug begreiflich gemacht? Das ist unser Feind! Töte ihn! Töte ihn endlich!"

Will drehte sich nicht sofort zu dem Blondschopf um. Stattdessen verharrte er noch einige Sekunden lang unschlüssig in seiner Position zwischen den letzten Häusern des Dorfes und den ersten Heuballen der Felder, bevor er schließlich den Kopf schüttelte und sich mit einer entschlossenen Bewegung von Shinya abwandte.

"Was soll denn das eigentlich, Phil? Sieh ihn dir an! Er hat doch nicht einmal eine Waffe, mit der er sich verteidigen könnte..."

"Ja! Noch nicht!", schnaubte der Blondschopf wütend, aber gleichzeitig schwang ein beinahe ängstlich anmutender Hauch von Nervosität in seiner Stimme mit. "Begreifst du denn eigentlich gar nicht, worum es hier geht? Was bist du nur für ein Krieger?! Muss man denn wirklich alles selber machen?" Er trat langsam wieder aus der Gasse heraus. "Weißt du, ich denke nämlich, dass meine Magie im Gegensatz zu deiner hier sogar überaus angebracht ist... aber ich hätte ihn doch viel lieber kurz und schmerzlos sterben sehen..."

Er zuckte mit den Schultern und wies Will dann mit einer einzigen Handbewegung an, sich wieder in die Schatten des nächtlichen Dorfes zurückzuziehen. Der Schwarzhaarige bedachte Shinya noch mit einem letzten traurigen Blick, und sein Mund formte zwei nahezu tonlose Worte, die der Katzenjunge jedoch beim besten Willen nicht verstehen oder deuten konnte. Dann presste er die Lippen fest aufeinander, senkte wiederum seinen Blick und trottete mit hängenden Schultern in das schlafende Tranquila zurück, wo er schon sehr bald eins wurde mit dem Schwarz der schmalen Gassen.

Währenddessen hatte Phil seine Arme vor der Brust verschränkt und baute sich dann mit steinerner Miene vor dem Halbdämon auf, ohne wirklich von diesem wahrgenommen zu werden. Shinya fühlte sich wie gelähmt... innerlich und äußerlich gleichermaßen, und so sah er sich diesem körperlichen Zustand wie auch seinem offensichtlichen Schicksal vollkommen wehrlos gegenüber. Dabei wusste er ja im Grunde genommen nur zu gut, was er eigentlich hätte tun sollen - um Hilfe schreien, zuschlagen und -treten und im äußersten Notfall eben ganz einfach davonlaufen -, doch dieses Wissen war vollkommen bedeutungslos angesichts jener unfassbaren Grausamkeit, die dieser durch und durch absurden Situation innewohnte.

Es hatte begonnen wie ein Spiel. Wie ein überaus gewagtes Spiel, ganz unzweifelhaft, aber eben doch nicht viel mehr als eine abenteuerliche Geschichte, die niemand Geringeren als ihn höchstpersönlich zur mehr oder weniger ahnungslosen Hauptfigur haben sollte. So weit hatte der Gedanke ihn zwar beunruhigt, aber trotz allem noch auf seine Weise erfreut, berauscht, beflügelt, und ihn zu Entscheidungen von nie gekannter Risikofreudigkeit getrieben. Natürlich hatte er viel zurückgelassen, als er vom nächtlichen Hof des Heimes in das Dunkel des Waldes gelaufen war, doch erst jetzt, in diesem grauenvollen Augenblick, erschien ihm alles, was hinter ihm lag, unwiederbringlich verloren.

Da war Phil und er wollte ihn töten. Jener unerträglich gut gelaunte, vor Selbstbewusstsein nur so strotzende Junge mit den strubbeligen blonden Haaren und den blitzenden blauen Augen, der sich nur zu gerne im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit sah und dafür auch vor schlechten Witzen durchaus nicht zurückschreckte. Den er ab und an wirklich und aufrichtig gehasst und geradewegs ans andere Ende des Planeten gewünscht hatte, und der doch trotzdem stets nur zwei Türen von seinem eigenen Zimmer entfernt Nacht für Nacht mit ihm unter einem Dach geschlafen hatte.

Und der jetzt vor ihm stand und ihn ohne jeglichen Skrupel umbringen wollte.

"Phil, bitte...", murmelte er leise, während er sich dazu zwang, einen Schritt in Richtung des Blondschopfes zu machen und ihm direkt in die hellblauen Augen zu sehen. "Ich weiß nicht, was du vorhast, aber hör auf damit. Jetzt denk doch mal nach..."

"Nachdenken soll ich?", lächelte Phil und strich sich durch sein kurzes Haar. "Du wirst es kaum glauben, aber das habe ich in den letzten Tagen schon mehr als genug gemacht..."

Dann, blitzschnell und mit einem einzigen kraftvollen Ruck, riss er beide Arme nach vorne, und noch bevor Shinya auch nur begreifen konnte, was eigentlich mit ihm geschah, wurde er von einem hellen Licht geblendet, das sich schmerzhaft grell in seine Augen bohrte. Dabei blieb es allerdings nicht - schon im nächsten Moment schlug irgendetwas hart gegen seinen Körper, erbarmungslos wie die Druckwelle einer gewaltigen Explosion, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn durch die Luft. Der Katzenjunge prallte mit dem Rücken gegen die Heuballen, die während der kurzen Zeit seines Fluges zur steinernen Mauer erstarrt zu sein schienen, und diese unsanfte Kollision trieb schlagartig jegliche Luft aus seinen Lungen.

Shinya kippte vornüber und fiel zu Boden, doch diesen Aufprall nahm er im Gegensatz zum Vorangegangenen kaum mehr wahr. Über seine Sinne hatte sich ein trüber Schleier gelegt und sein ganzer Körper schien sich in ein einziges dumpfes Pochen verwandelt zu haben, ein Vakuum von Schmerzen und Betäubung und von Schwärze, die ihm einige Sekunden lang vollständig den Blick verhüllte. Er keuchte. Rang nach Atem. Sah dann wie durch eine poröse Leinwand hindurch eine schemenhafte Gestalt auf sich zukommen und handelte, ohne sich des Ernstes seiner Lage wirklich bewusst zu sein.

Die Finger des Katzenjungen krallten sich in die trockenen Halme der Heuballen und zogen sich daran wie kleine mechanische Wesen in eine überaus unsichere Höhe, bis Shinya schließlich wankend und mit zitternden Knien zum Stehen kam.

"Phi... Phil... bitte..."

Das Sprechen bereitete dem Halbdämon immer noch größte Mühe, aber wenigstens war er mittlerweile wieder imstande dazu, Phils Gestalt zumindest einigermaßen klar zu erkennen. Was er sah, trug allerdings nicht unbedingt zu seiner Beruhigung bei - im Gegenteil. Der blonde Junge schien auf eine merkwürdige, finstere Art verändert, obwohl er eigentlich momentan alles andere als dunkel war.

Shinya wusste nicht, ob er es nur den letzten Überbleibseln des Flackerns zu verdanken hatte, das seinen Blick immer noch leicht verzerrte, oder ob sein überreizter Verstand ihm langsam aber sicher Streiche zu spielen begann, aber er war sich doch beinahe sicher, um den Körper des Blondschopfes herum eine Art... Licht wahrzunehmen. Oder mehr ein Leuchten, ein klares, ja fast schon aggressives Leuchten von intensiv gelber Farbe.

Phil machte sich nicht einmal mehr die Mühe, auf das kraftlose Stammeln des Katzenjungen noch eine Antwort zu geben. Er hob mit einer vollkommen ruhigen Bewegung seinen Arm, und schon in der nächsten Sekunde wurde Shinya erneut von jener gleißenden Helligkeit erfasst und zurückgestoßen. Wieder fing der Heuballenturm seinen Flug auf, doch diesmal schien das Glück den Halbdämon endgültig verlassen zu haben, denn er prallte ungünstig ab, vollführte eine ungelenkte Rolle vorwärts und schlug dann hart mit dem Kopf auf dem Boden auf. Ein stechender Schmerz raste durch seinen Nacken und raubte ihm einige Augenblicke lang vollkommen den Atem.

Der Katzenjunge öffnete seine Lippen, doch ein grausamer Druck in seinen Lungen schien jedes kleinste bisschen der klaren Nachtluft sofort wieder aus seinem Mund zu treiben, noch bevor es überhaupt wirklich bis dorthin vordringen konnte. Shinyas grüne Augen waren starr und in Panik geweitet, ohne jedoch wirklich ein Bild erfassen zu können, und etliche grausame Momente lang war er durch und durch erfüllt von der fürchterlichen Gewissheit, hier und auf der Stelle ersticken zu müssen. Eine dumpfe Schwärze breitete sich in seinem Kopf aus, zerfloss und verklebte in jeder einzelnen Ecke seines trüben Bewusstseins.

War dies sein Ende? Shinya wusste, dass Phil ihn töten würde, er wusste es auf eine ganz und gar unaufgeregte Art und Weise, doch er fand nicht mehr die nötige Kraft dazu, um noch weiter gegen diese Tatsache anzukämpfen. Sein Körper war voll und ganz seiner Kontrolle entglitten, und das Einzige, was ihm jetzt noch zu tun blieb, war, seinen Geist vor dem Abdriften in die Bewusstlosigkeit zu bewahren, denn dies würde ohne Zweifel den letzten Schritt in seinen sicheren Tod bedeuten. Er mühte sich um ein träges Kopfschütteln, das ihn allerdings auch nicht so recht beleben wollte, und zwang sich dazu, seine Augen offen zu halten.

Eine Anstrengung, die auch Phil nicht zu entgehen schien. Der blonde Junge stand nun unmittelbar über Shinya und blickte auf ihn herab. Als er sah, dass immer noch ein Zucken durch die Lider des Katzenjungen lief, vollführte er erneut eine rasche, unauffällige Handbewegung, und sofort raste ein stechender Schmerz durch Shinyas Brustkorb. Er wollte schreien, doch über seine Lippen drang kaum mehr als ein ersticktes Röcheln. Mühsam und zittrig presste er seine Hand auf die schmerzende Brust, und als er seine Finger schließlich wieder anhob, waren sie von tiefem Rot überzogen.

Shinya hustete und ließ seinen Arm kraftlos wieder zur Seite sinken. Vor seinen Augen tobte ein rötliches Flackern ohne jeden Sinn, ohne jede Ordnung, das ihm schwindlig werden ließ. Jeder Atemzug fiel ihm ein klein wenig schwerer als der Vorherige, und irgendwann begriff der Halbdämon, dass er verloren hatte. Noch ein letztes Mal hob er seinen Blick, dann ließ er in einer Woge vollkommener Erschöpfung die Augenlider sinken und wartete reglos auf den finalen Schlag, der seinem schwindenden Leben ein gnädiges Ende setzten würde.

Und wartete, und wartete, und erlangte doch nichts als die überaus unangenehme wie auch unspektakuläre Erkenntnis, dass der Boden unter seinem Körper ganz unwahrscheinlich hart war, hart und steinig, und dass er auch immer härter und steiniger zu werden schien, je länger der Katzenjunge in seiner erschöpften Reglosigkeit verharrte. Von irgendwoher, aus unendlich weiter Ferne, schien eine Stimme an sein Ohr zu dringen... dann sickerte die Ahnung eines Leuchtens durch Shinyas geschlossene Augenlider. Es war ein sanftes, ruhiges Licht, nicht etwa jene blendende Helligkeit, die Phil umgeben hatte, und es war auch nicht gelb oder golden, sondern vielmehr von einer silbrig weißen Farbe, ähnlich dem Mond und den Sternen.

Dieses Leuchten, so unspektakulär es auch an und für sich sein mochte, rief mit leisen Worten eine letzte, flüchtige Hoffnung in dem Halbdämon wach, und zwang ihn gleichermaßen dazu, noch einmal seinen Kopf zu heben und in das Dunkel der Nacht zu blinzeln. Das mittlerweile freilich nicht mehr dunkel war, sondern vielmehr durchflutet von einem weichen Lichtschein, der aus Richtung der winzigen Gassen Tranquilas auf die Weite der Felder hinausdrang.

Inmitten des leuchtenden Weißes stand eine Gestalt, die zierliche Gestalt eines Mädchens, deren langes dunkles Haar sanft vom Nachtwind bewegt wurde. Sie hatte beide Arme vor den Körper gestreckt, und dort, wo Shinya ihre Finger vermutete (wirklich erkennen konnte er diese nämlich nicht mehr), wuchs eine Kugel desselben wunderschönen Leuchtens, löste sich dann aus ihren Händen und flog derart schnell auf Phils Körper zu, dass die Augen des Katzenjungen ihr kaum mehr folgen konnten.

Auch Phil schien von der Geschwindigkeit des schneefarbenen Geschosses buchstäblich überwältigt zu sein. Er konnte nicht mehr ausweichen, wurde frontal von dem Zauber getroffen und taumelte dann inmitten eines blitzenden Funkenregens nach hinten. Shinya nahm das Verschwinden des Blondschopfes aus seinem getrübten Blickfeld zwar noch wahr, aber es berührte ihn bestenfalls noch oberflächlich und ohne gleich welchen Eindruck zu hinterlassen.

Das Atmen schmerzte.

Das Licht verblasste. Stattdessen setzte sich das Mädchen am Ende der Wiese nun in Bewegung, lief, lief auf ihn zu, und ihre Lippen bewegten sich, ohne dass Shinya auch nur einen einzigen Laut vernommen hätte. Dann verschwommen ihre Konturen, und noch während dem Katzenjungen die Augen zufielen, glitt sein Bewusstsein in einen tiefen See dickflüssiger Schwärze hinab.
 

Shinya erwachte inmitten von Wärme, die seinen Körper wie eine unendlich weiche Decke umfing und einhüllte. In seinem Kopf herrschte ein Zustand vollkommener Leere, und zunächst einmal nahm er nichts wahr außer Licht, gedämpftes, leicht staubiges Licht, das von irgendwoher auf ihn hinabsickerte. Er blinzelte und realisierte nun auch zum ersten Mal, dass es tatsächlich der Stoff einer Decke war, der ihn wärmte, und dass das Licht von einem kleinen Fensterchen her stammte, das über einer einsamen Türe den Raum erhellte.

Ein Gefühl der Verwirrung breitete sich in dem Katzenjungen aus. Wo war er? Er konnte mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass er das Zimmerchen noch niemals zuvor gesehen hatte. Es war recht klein, recht kahl und in gar keinem Fall wohnlich oder gar gemütlich. An zweien der Wände drängten sich hölzerne Regale dicht aneinander, über und über mit einer Vielzahl von Kräutern, Büchern, Schriftrollen, losen Dokumenten, getrockneten Pflanzen und einigen Fläschchen und Döschen von undefinierbarem Inhalt angefüllt. Darüber hinaus gab es noch einen nicht minder unordentlich Schreibtisch mit einem niedrigen hölzernen Hocker und natürlich das Bett, in dem er bis vor wenigen Augenblicken noch selig geschlummert hatte.

Aber wie nur war er dorthin gekommen? Shinya suchte vergeblich nach den passenden Erinnerungen und fand zunächst einmal überhaupt nichts mehr. Dann ein paar Bruchstücke, bestenfalls noch als größere Splitter zu bezeichnen, und erst nach einigen Minuten hilflosen Nachdenkens und An-die-Decke-Starrens fügten sich die wirren Bildfetzen wieder zu einem sinnvollen, wenn auch ganz und gar nicht ansehnlichen Ganzen zusammen.

Er hatte Phil getroffen. Hatte ihm von den Estrella erzählt... von seiner Bestimmung... einer Bestimmung, die er selbst wohl am allerwenigsten begreifen konnte. Dann hatten sie sich nachts auf dem Feld verabredet und Phil hatte ihn töten wollen. Und es beinahe auch geschafft, wäre da nicht... ja, was eigentlich? Mit einem Mal war da dieses Leuchten gewesen... und ein Mädchen... Hoshi? Er hatte nicht gewusst, dass sie Magie beherrschte, doch im Grunde genommen war die Vorstellung gar nicht einmal so abwegig, wenn sie doch immerhin schon von einer Dorfältesten aufgezogen worden war. Außerdem schienen ja urplötzlich ausnahmslos alle Menschen in seiner näheren Umgebung über irgendwelche magische Kräfte zu verfügen...

Alle - außer ihm. Und genau an diesem Punkt begann die Geschichte sogar ganz verflucht unfair zu werden. Während Phil in altgewohnter unbekümmerter Leichtigkeit durch das Leben spazierte und ganz nebenbei auch noch von einem Tag auf den nächsten anscheinend ein ganzes Repertoire an alles vernichtenden Todeszaubern sein eigen nennen durfte, lag er nun in irgendeinem Raum, den er nicht kannte, in einem Bett, das er nicht kannte, und musste sich mit nichts anderem als einem grausam pochenden Kopf und einem nicht minder schmerzenden Rücken durchs Leben schlagen. Gekrönt wurde dieses boshaft sadistische Stelldichein lediglich noch von der Wunde in seiner Brust, durch die bei jedem einzelnen Herzschlag eine glühende Stichflamme zu zucken schien.

Der Katzenjunge verzog das Gesicht. Er wusste, dass er sich wohl eigentlich hätte freuen sollen, denn im Grunde genommen grenzte es ja wirklich und wahrhaftig an ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. Seine Verletzungen waren ganz gewiss nicht von harmloser Natur, und irgendetwas an dem nebligen Gefühl in seinem Kopf und der bleiernen Trägheit in seinen Gliedern verriet ihm ganz unmissverständlich, dass er lange, sehr lange geschlafen haben musste.

Und trotzdem... wenn er in diesen seltsamen Minuten zwischen dem Chaos der überfüllten Wandregale und dem staubigen Tanz des einfallenden Lichtes eines nicht war, dann glücklich und genauso wenig erleichtert. Er wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt das Recht dazu hatte, so zu fühlen! Sicher, Phil hatte ihm schon mehr als nur einmal ( weit mehr als nur einmal!) ohne mit der Wimper zu zucken mitten ins Gesicht gelogen, doch jetzt...

Obwohl der Katzenjunge nicht einmal die Hälfte aller Sätze wirklich begriffen hatte, die ihm Phil im Laufe ihres Gespräches teils wütend, teils ungerührt lächelnd entgegengeschleudert hatte, so konnte er sie doch nicht mehr vergessen oder verdrängen. Was er zu Anfang schlichtweg als Wahnsinn hatte abtun wollen, geisterte nun fortwährend in seinem dröhnenden Schädel umher und rief ihm auf eine ungemein schmerzliche Weise ins Gedächtnis zurück, wie wenig er doch eigentlich wusste - sofern man in seinem Fall überhaupt noch von wenig sprechen konnte.

Im Grunde genommen besaß er überhaupt nichts, nichts außer einigen Worten, die besonders alt und besonders legendär und gerade deshalb so unwahrscheinlich wichtig geklungen hatten, die aber für ihn höchstpersönlich eben doch nicht viel mehr waren als Worte, deren Sinn er immer noch nicht so recht erfassen konnte. Er hatte ein Ziel, gewiss, aber dieses Ziel bestand doch eigentlich auch nur aus einem einzigen naiv heroischen Satz, einem "Ich breche auf zur Errettung des Planeten!", wie es jedes Kind wohl schon mehr als nur einmal im Spiel beschlossen und in selbigem sicherlich auch meist erfolgreich in die Tat umgesetzt hatte. Er kannte keine Richtung, keinen Weg, nicht einmal die Andeutung eines leisesten Verdachtes darauf, was er denn eigentlich konkret zur Errettung des Planeten würde tun müssen.

Sofern dieses scheinbare Ziel überhaupt den Tatsachen entsprach.

Denn was konnte so falsch, so verwerflich, ja sogar derart gefährlich sein an solch einem edelmütigen Vorhaben, dass es selbst seinen eigenen Tod rechtfertigte? Wieso hatte Phil ihn beschuldigt, auf der falschen Seite zu stehen? Auf der falschen Seite von was denn überhaupt? Der Katzenjunge hatte ja nicht einmal geahnt, dass es bei... was auch immer er gerade im Begriff war zu tun, überhaupt so etwas wie unterschiedliche Seiten gab, geschweige denn, dass eine dieser Seiten falsch oder gar eine Bedrohung für den ganzen Planeten sein könnte, den er doch eigentlich nur hatte retten wollen!

Es war absurd, es war alles so durch und durch absurd, dass es vor Shinyas Augen zu flimmern begann und er einen Moment lang fürchtete zu fallen, obwohl er doch eigentlich sowieso schon lag. Wenn er wirklich der Auserwählte war, wie es ihm die Stimme in seinem Traum prophezeit hatte, welche Rolle spielte dann Phil in dieser ganzen verwirrenden Geschichte? Warum suchte auch er die Estrella? Und warum schien er all jene Antworten, nach denen die Gedanken des Katzenjungen fortwährend suchten, bereits so genau zu kennen und zu durchschauen?

Womit haben sie dich gelockt? Was haben sie dir versprochen?

Die Worte des Blondschopfes hatten sich wie Gift in seinen Adern ausgebreitet und schmerzten beinahe noch mehr als der unaufhörlich brennende Schnitt in seiner Brust. Woher wusste Phil von dem Gespräch, das in jener schicksalhaften Nacht zwischen Shinya und der körperlosen Stimme stattgefunden hatte? Wen meinte er denn überhaupt mit... sie? Und vor allem: Womit nahm der Blondschopf sich eigentlich das Recht heraus, auf so abwertend über die Versprechungen des unsichtbaren Fremden zu urteilen, sie als bloße Köder auf den Pfad des Schlechten abzustempeln, ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, was sie für Shinya bedeuteten?

Allein die vage Aussicht darauf, seine Heimat doch noch finden zu können, ja bereits das Wissen darum, dass so etwas wie seine Heimat überhaupt existierte, war sicherlich nicht unbedingt viel; trotzdem war es mehr, als der Katzenjunge jemals zuvor besessen hatte. Was war denn schon das Heim? Nicht mehr als eine bloße Zweckunterkunft, die ihn vielleicht bestenfalls noch als Kind hatte begeistern können - wenn überhaupt! Und jetzt? Da hatte er gerade mal den ersten Schritt in ein neues Leben gewagt, und schon begann der Boden unter seinen Füßen gefährlich zu beben.

Er sah sich einer Aufgabe gegenüber, der er schlicht und einfach nicht gewachsen war. Seine Reise hatte gerade erst begonnen, und schon war er beinahe ums Leben gekommen, getötet von einem Menschen, den er eigentlich zu kennen geglaubt hatte. Was natürlich ein Irrtum gewesen war, genauso wie alles andere, an das er glaubte, auch nur ein Irrtum zu sein schien. Möglicherweise lief er geradewegs in sein eigenes Verderben, war drauf und dran, etwas unglaublich Böses und Falsches zu tun, ließ sich, naiv und geblendet von einer schönen Lüge, von einer finsteren Macht ( "sie" ) als Marionette missbrauchen, ohne es auch nur zu bemerken.

Vielleicht sollte es deshalb so sein, dass Phil ihn ohne Weiteres hätte töten können. Dass man ihm keinerlei magische Kräfte zur Verfügung gestellt, dass man ihm zum Schutz des Planeten den eigenen Schutz verwehrte, ja, und vielleicht war es auch besser so. Es war so unglaublich viel passiert, und mindestens die Hälfte davon konnte und wollte der Katzenjunge eigentlich gar nicht glauben. Er wollte aufwachen und in seinem Bett liegen, weit, weit weg von sämtlichen Wagen und magischen Kriegern und anderen Dingen, die er nicht begriff. Sogar das wohl kaum zu umgehende Übel, im schlimmsten Fall noch bis zum Ende seiner Tage mit Phil unter einem Dach leben zu müssen, erschien ihm als ein relativ geringer Preis für eine schmerzfreie Rast in den vertraut duftenden Laken seiner ureigenen Schlafstätte.

Leider wollten die fortwährenden Grübeleien nur äußerst bedingt zur Linderung seiner Kopfschmerzen beitragen, und so stieß Shinya noch einen letzten resignierten Seufzer aus, bevor er sich zusammenrollte und die Decke über den Kopf zog. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, wollte am allerliebsten auch jeglichen Gedanken aus dem schweren Halbdunkel seiner kleinen Höhle unter dem weißen Stofflaken ausschließen, doch einmal mehr schien das Glück, das Schicksal oder was auch immer es nun eigentlich sein mochte, mit diesen Plänen ganz und gar nicht einverstanden zu sein und durchkreuzte sie deshalb auch prompt.

"Shinya? Shinya, du... du bist ja wach! Endlich!"

Der Katzenjunge hörte vorsichtige, leicht nervöse Schritte auf dem hellen Holz des Bodens, dann einen tiefen, erleichterten Atemzug und schließlich erst einmal gar nichts mehr, als Stille den kleinen Raum einkehrte.

"Shinya, wie geht es dir?" Die Stimme des Mädchens klang ein wenig ängstlich, und mit einem Mal hatte er es sogar ganz unerwartet eilig, seinen Kopf wieder unter dem schützenden Weiß der Decke hervorzustrecken und ein mehr oder weniger überzeugendes falsches Lächeln auf seine Lippen zu zaubern.

"Ach... könnte schlimmer sein... glaub ich."

"Ja, da hast du wohl Recht." Hoshi holte ein weiteres Mal tief Luft, bevor sie in leiserem Tonfall weitersprach, den Blick gesenkt, die Finger fest ineinander verschränkt. "Es war schlimmer, viel schlimmer, und zwar fast drei Tage lang."

"Drei... drei Tage?!" Der Katzenjunge machte große Augen. "Nich ernsthaft, oder?"

"Ich glaube nicht, dass ich darüber Witze machen würde. Wir haben uns wirklich große Sorgen um dich gemacht. Ich... ich hatte Angst, du würdest sterben!"

"Ich glaube, da hätt auch nich mehr wirklich viel gefehlt...", murmelte Shinya und schloss seine Finger um den rauen Stoff seiner Decke. "Wenn du nicht... ich meine, du... du hast doch..."

"Ob ich dich gerettet habe?", beendete das Mädchen den Satz an seiner Stelle und deutete eine Kopfbewegung an, die Shinya als ein zaghaftes Nicken auslegte. "Du hattest Glück, dass ich noch einmal aufgestanden bin. Wie er an diesem Morgen mit dir geredet hat... irgendetwas konnte doch da nicht stimmen. Wahrscheinlich hätte ich schon viel eher kommen sollen..."

"Ähm... hey, danke, ja?", entgegnete der Katzenjunge hastig, als er sah, dass sich ein Anflug von Betrübtheit auf Hoshis Gesicht zu legen begann. "Ich weiß jetzt auch irgendwie gar nicht, was ich sagen soll... kommt ja schließlich nicht jeden Tag vor, dass einem eben mal so von jemandem das Leben gerettet wird."

"Nun, das hoffe ich!" Auf Hoshis Gesicht kehrte ein unwahrscheinlich sanftes Lächeln zurück. Sie strich sich eine ihrer dunklen Haarsträhnen hinter das Ohr, dann ließ sie sich vorsichtig auf der Kante von Shinyas Bett nieder, die dem Fußende zugewandt war. "Du siehst müde aus. Schlaf noch ein bisschen, oder ruh dich zumindest aus. Du hast viel vor dir und du solltest rasch wieder auf die Beine kommen."

"Was... was meinst du damit?", erkundigte sich der Halbdämon fast schon ein bisschen zu hastig, als er angesichts der plötzlichen Nähe des Mädchens eine ungewohnte Wärme in seinen Wangen aufsteigen fühlte. "Warum... warum sagst du so etwas? Woher... ich meine... wie kommst darauf, dass ich es eilig haben könnte?"

"Ich glaube, du weißt schon, wovon ich spreche." Hoshi sah dem Katzenjungen direkt in die Augen, und etwas sehr Ernstes lag in ihrem Blick. "Ich warte schon ziemlich lange darauf, dass das irgendwann einmal passieren würde, und als ich dich gesehen habe, da hab ich gleich so etwas gespürt..."

"Moment mal!" Shinya hob seine Hand und richtete sich gerade so weit auf, wie seine körperlichen Kräfte das eben zuließen, ohne an ihre äußersten Grenzen zu stoßen. "Hör auf. Hör bitte einfach auf, so etwas zu sagen! Du kannst das nicht wissen. Phil... ja gut, vielleicht. Aber warum du? Wir kennen uns doch jetzt grad mal etwas mehr als einen Abend lang und ich... ich habe das mit keinem einzigen Wort erwähnt! Das ist nicht möglich! Das ist einfach nicht möglich!"

"Warum sollte es nicht möglich sein?" Das Mädchen wickelte einer ihrer langen dunklen Haarsträhnen ein ums andere Mal um ihren Finger, und es war nicht zuletzt diese Geste, die ihrem ganzen Verhalten eine gewisse Unruhe und Nervosität verlieh, die noch vor wenigen Sekunden nicht dort gewesen war. "Ich habe schon so viele Bücher über diese Legende gelesen, dass ich es gar nicht mehr zählen kann! Und außerdem hat mir Keiko... das ist die Dorfälteste, sie stellt sich nie mit ihrem wirklichen Namen vor, du wirst ihn nicht kennen... sie hat mir so viel davon erzählt. Natürlich hat sie das! Es ist ja schließlich auch meine Geschichte..."

"Soll... soll das heißen..."

"Ja, ich bin ein Estrella. Darum hat dieser Junge auch mit mir gesprochen. Ich weiß nicht, woher er das gewusst hat, aber er wollte mich eigentlich später noch einmal treffen und sich mit mir über seine Pläne unterhalten... aber das dürfte sich jetzt wohl erledigt haben." Sie presste ihre Lippen kurz aufeinander und ein zorniger Ausdruck glitt über ihr Gesicht, konnte sich dort aber nicht allzu lange behaupten und verschwand, ohne jegliche Spuren hinterlassen zu haben. "Als ich dann eure Unterhaltung gehört habe... was du zu ihm gesagt hast, seine Reaktion... da musste ich nur noch Eins und Eins zusammenzählen... eigentlich nicht mal mehr das."

"Was... was soll denn das jetzt wieder heißen?" Shinya ließ sich mit einem reichlich verzweifelten Seufzer wieder auf die Matratze zurücksinken und streckte kurz seine Arme, die schon nach den wenigen Momenten der Belastung müde geworden waren, zu müde, um ihn noch länger tragen zu können. "Warum werd ich eigentlich das dumme Gefühl nicht los, dass hier alle Welt irgendwie mehr zu wissen scheint als ich?"

"Weil das deine Bestimmung ist!"

"Weil das... bitte was?!"

"Weil das deine Bestimmung ist", wiederholte Hoshi ruhig und bekräftigte ihre Worte mit einem langsamen, bedeutungsvollen Nicken. "Vom Schicksal berufen auf einen unbekannten Pfad wird er den Weg ins Licht beschreiten... oder so ähnlich..."

"Aha. Den... den Weg ins Licht, ja? Und zwar vom Schicksal berufen?" Der Katzenjunge runzelte die Stirn. "Das is ne ganze Menge Unsinn, Hoshi, nich mehr. Lass mich raten: Das hast du bestimmt auch in irgendeinem dieser... tollen, uralten Bücher gelesen..."

"Genau das habe ich, und zwar nicht nur einmal!"

"Ja, aber das sind nur Bücher!" Shinya schlug sich beide Hände vor das Gesicht und schüttelte den Kopf. "Das sind nur ein paar Worte, die irgendwer vor einer halben Ewigkeit mal auf Papier geschrieben hat und jetzt stehen sie da immer noch und die Leute glauben dran. Aber... ich komme nicht aus irgendeinem Buch und ich beschreite keinen... keinen Weg ins Licht oder so einen Müll, sondern ich lieg hier in einem Bett und ich fühl mich so was von zum Kotzen, dass ich's überhaupt nicht mehr sagen kann!"

"Du wirst dich wieder erholen, Shinya", entgegnete das Mädchen, ohne sich von der steigenden Aufregung des Katzenjungen anstecken zu lassen. "Dann wirst du losziehen und du wirst das Gleichgewicht des Planeten wiederherstellen, genau so, wie es in den Büchern geschrieben steht. Vielleicht sind die Legenden alt, vielleicht... sind es nur Worte, aber ich glaube daran und Keiko tut es auch. Und wenn du nicht wenigstens auch ein kleines bisschen an diese Legenden glauben würdest, dann wärst du doch überhaupt nicht hier!"

Shinya schwieg. Sein Blick war starr auf die Wellenlandschaft seiner Bettdecke gerichtet. Er hörte Hoshis rasche Atemzüge an seiner Seite, sonst jedoch nichts, und als die Dunkelhaarige auch nach etlichen Augenblicken nicht antworte, ergriff er stattdessen leise, ja beinahe flüsternd wieder das Wort.

"Ich weiß ja selber nicht, warum ich hier bin..."

"Ich aber." In der Stimme des Mädchens lag eine derartige Sicherheit, dass Shinya eigentlich kaum mehr an Widerspruch zu denken wagte. "Weißt du, was ich nämlich auch gelesen habe? Wenn der Planet am Abgrund steht, dann wird ein Auserwählter kommen, der Licht und Schatten in sich vereint, und der sterbenden Welt zu Hilfe eilen. Und ich glaube... ich glaube, dieser Auserwählte, der bist du, Shinya."

"Ich?" Der Katzenjunge schloss die Augen und schüttelte langsam seinen Kopf. "Warum sagen mir alle so was? Erst... bin ich ein magischer Krieger und dann gleich ein... ein Auserwählter, der irgendetwas... in sich trägt! Wo denn? Wenn ich wirklich dieser... dieser Auserwählte bin, ein... ein Estrella, wo bitteschön ist dann diese tolle Magie, von der hier ständig alle Welt redet?! Ich hab jedenfalls noch nix davon gemerkt und du hast ja auch gesehn, was für ein unheimlich mächtiger Auserwählter ich doch bin!"

"Hör auf, so zu reden", erwiderte Hoshi sanft. "Du kannst doch gar nicht wissen, ob du diese Magie in dir trägst oder nicht. Zaubern ist nämlich gar nicht so einfach, wie viele Leute immer gerne glauben möchten! Alle sehen sie nur das schöne Endergebnis und kümmern sich gar nicht darum, wie viele... endlose Stunden voll langweiliger Magietheorie und natürlich wie viele Übungen dahinter stecken. Ich habe wirklich Jahre gebraucht, um diese ganze Sache zu lernen, die richtige Konzentration und so weiter, und deshalb..."

"...und deshalb kommt Phil auch nach einem Tag mit so nem ganzen Sortiment an Todeszaubern an, oh ja, das ist doch mal ein echt mühsames und langwieriges Üben!"

"Nach einem Tag?" Hoshi blinzelte den Katzenjungen überrascht an, dann legte sie einen Finger an ihre Lippen und zog die Stirn in Falten. "Aber das... das kann nicht sein!"

"Ist aber so", entgegnete Shinya und deutete mit einem Finger auf seine immer noch heftig schmerzende Brust. "Soll ich's dir zeigen?"

"Nein... nein, dass er die Zauber beherrscht, das habe ich schon auch bemerkt. Aber... bist du dir sicher, dass er nicht vorher schon geübt hat? Das war doch kein Zauber, den man mal eben so über Nacht erlernt, ganz bestimmt nicht!"

"Und wie ich mir da sicher bin!", nickte der Katzenjunge. "Ich kenn doch Phil... leider. Der konnte zwar viel, aber bestimmt nicht Zaubern!"

"Hm... dann fällt mir eigentlich nur noch eine mögliche Erklärung ein..."

"Und die wäre?"

"Jemand muss nachgeholfen haben", antwortete das Mädchen und sah den Katzenjungen halb nachdenklich, halb beunruhigt an. "Und zwar jemand sehr Begabtes und sehr, sehr Mächtiges!"

"Wie... nachgeholfen?"

"Na, man lernt Zaubern ja schließlich nicht auf eigene Faust, sondern mit einem Lehrmeister. Klar, es gehört auch Talent dazu, und Ehrgeiz, aber trotzdem schaffen es die wenigsten allein. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass diesem... diesem Phil jemand solche Zauber praktisch über Nacht beigebracht hat... ganz ehrlich, den möchte ich lieber gar nicht kennen lernen!"

"Ich aber", grummelte Shinya und verzog das Gesicht. "Dann könnt der mir auch mal in so zwei, drei Stunden ein bisschen Mördermagie beibringen..."

"Du bist aber der Auserwählte, Shinya", erwiderte Hoshi, und mit einem Mal lächelte sie wieder, wenn auch ein bisschen verlegen. "Und es ist nicht deine Aufgabe, einen wahnsinnigen Lehrmeister zu finden, sondern... andere Estrella."

Der Katzenjunge blickte das Gesicht des Mädchens einige Momente lang schweigend von unten an, dann stahl sich ein breites, wenn auch leicht schiefes Grinsen auf seine Lippen.

"Hab ich doch schon", sagte er und ließ die Dunkelhaarige dabei keine Sekunde lang aus den Augen. "Einen zumindest."

"Eine", verbesserte Hoshi. In ihre dunklen Augen trat ein Blitzen, das selbst im staubigen Halbdunkel des kleinen Raumes nicht zu übersehen war. "Und außerdem weißt du noch gar nicht, ob die auch wirklich mitkommen will."

"Doch... eigentlich schon." Der Katzenjunge lächelte, ganz einfach deshalb, weil ihm zu einem wirklichen Lachen die Kraft fehlte. "Zumindest sieht sie nich wirklich so aus, als ob sie groß was dagegen hätte..."

"Und du siehst fast so aus, als ob du stolz darauf wärst. Dabei ist es doch eigentlich nur so, dass ich endlich einmal etwas anderes kennen lernen möchte als dieses Dorf... und es ist meine Pflicht als Estrella, mit dir zu kommen. Sonst nichts." Sie zwinkerte Shinya zu und stemmte sich dann rasch und mühelos wieder auf die Beine. "Außerdem musst du, wie ich eigentlich schon vor einer halben Ewigkeit erwähnt habe, dich jetzt ausruhen..."

"Ich bin aber nicht müde!", protestierte der Halbdämon auf wenig überzeugende Weise und vollführte mit seiner rechten Hand ein schwaches, kränkliches Fuchteln, das seine Worte leider Gottes auf eine vollkommen andere Art bestätigte, als es eigentlich seine Absicht gewesen war. "Und... wo... wo bin ich hier überhaupt?"

"Du bist im Untergeschoss unseres Hauses. Dort, wo wir alle Kranken oder Verletzten hinbringen, um die Keiko sich kümmert. Ich bin also direkt über dir und ich merke es gleich, wenn du versuchst, wegzulaufen!"

"Genau das habe ich vor", murmelte Shinya und gähnte. "Merkt man das nicht?"

"Hm... nein." Die Dunkelhaarige lachte und schlenderte dann auf die Türe zu, die Augen halb geschlossen und die Hände hinterm Rücken gefaltet. "Es wirkt eher ein bisschen so, als ob du vorhättest, zu schlafen."

"Weil ich auch eine Wahl habe..."

Der Katzenjunge zog sich seine Decke bis zum Kinn hinauf und verzog das Gesicht in einem neuerlichen Gähnen. Doch trotz seiner nicht zu leugnenden Müdigkeit zwang er sich dazu, die Augen weiterhin offen zu halten und Hoshis Bewegungen zu verfolgen, wie sie die niedrige Türe öffnete, wie sie inne hielt und ihm noch einmal kurz zuwinkte, lächelnd, bevor sie dann endgültig das Zimmer verließ. Erst als das hölzerne Eingangsportal wieder hinter ihr verschlossen war und ihn lediglich noch der kleine blaue Himmelsfleck hinter dem staubigen Fenster beobachten konnte, drehte Shinya sich auf die Seite und rollte sich zusammen.

Vielleicht, dachte er, lag es ja nur daran, dass er so unwahrscheinlich müde und erschöpft war, aber aus irgendeinem Grund hatte seine gesamte Situation sogar eine ganze Menge von ihrem Schrecken verloren. Eine durch und durch wunderbare Schläfrigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, und er war tatsächlich vollkommen ruhig, als ihm dann endlich doch die Augen zufielen. Dabei wusste er ja eigentlich auch nicht viel mehr als zuvor, wusste nicht, welchen Weg er zu gehen hatte und wohin dieser ihn überhaupt führen sollte. Auch seine Zweifel waren keineswegs aus der Welt geschafft worden - er hatte immer noch nicht die leiseste Ahnung davon, ob er denn nun auf der richtigen Seite stand oder nicht, aber all das erschien ihm plötzlich nur noch halb so schlimm, denn wenigstens war er nicht mehr allein.

Auf den Lippen des Katzenjungen lag ein schwaches Lächeln, als er einmal mehr in das Reich der Träume hinüberglitt. Es dauerte nicht mehr lange, bis auch die Sonne müde wurde und sich langsam hinter die sanften Hügel der Midlands zurückzog. Die Felder waren nicht mehr grün, sondern rot und golden zugleich, schimmernd, und inmitten dieses abendlichen Farbenspiels zogen zwei Gestalten der Küste entgegen. Vor dem metallenen Horizont wirkten ihre Körper merkwürdig scharf konturiert, schwarz wie Scherenschnitte, doch davon ahnte Shinya natürlich nichts, denn er schlief tief und fest, während draußen vor seiner Türe die Nacht hereinbrach.
 

Ende des zweiten Kapitels

Kapitel III - Folge deinem Herzen!

Und wieder ein Equinox-Kapitel fertig, trotz des Abiturs und dem Abitur zum Trotz! ^_^ Es ist wieder mal viel, viel, viel hinzugekommen (man beachte den Wachstumsprozess... früher war dat Ding mal fünf Seiten lang...) und ich muss sagen, dass ich mit dem Ergebnis streckenweise sehr zufrieden bin. Streckenweise auch nicht, aber alles andere wäre auch unnormal... ^^; Ja, was soll ich sagen? Ich wäre über ein paar Commis sehr glücklich und ich könnte ein bisschen Motivation gerade gut gebrachen. In erster Linie hoff ich aber, dass das hier überhaupt irgendjemand liest. Und wünsche demjenigen viel Spaß dabei. Danke! ^^
 

Es war ein Tag, wie ihn selbst der herrlichste Hochsommer nicht schöner hätte hervorbringen können. Der Himmel trug ein leuchtend azurblaues Kleid, nur hier und dort verziert von luftigem Wolkenschleier, später jedoch nicht einmal mehr das. Doch obwohl die Sonne nach Leibeskräften auf die grüne Erde hinabstrahlte, war es keineswegs zu heiß, was vor allem an einem steten, angenehm erfrischenden Lüftchen lag, das ausgelassen über die Ebenen tobte.

Und trotzdem war Shinya nicht uneingeschränkt glücklich, zumindest nicht so sehr, wie er es angesichts der ausnehmend guten Laune von Mutter Natur eigentlich hätte sein können. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen lag das nicht an körperlichen Gebrechen gleich welcher Art, sondern vielmehr an der Stille, die ihn auf seinem sonnigen Weg begleitete. Eine Stille, die unter jeden anderen Umständen wohl einfach nur beruhigend, harmonisch und entspannend auf sein tendenziell eher nervöses Gemüt eingewirkt hätte und die ja auch keineswegs vollkommen war. Über seinem Kopf kreisten Schwärme von Vögeln umher und erfüllten die warme Luft mit ihrem heiteren Gesang. In den Feldern, durch die sich ihr schmaler, windungsreicher Sandweg zog, arbeiteten zahlreiche Bauern, was natürlich auch nicht unbedingt leise vonstatten ging. Und selbst wenn diese einmal nicht zur Stelle waren und eine Wiese tatsächlich vollkommen verlassen in der Mittagssonne schlummerte, dann blieb doch immer noch das Rauschen des Windes, der die langen, schlanken Grashalme kitzelte.

Nur Hoshi schwieg.

Sie schwieg schon, seit die beiden jungen Estrella das Heimatdorf des Mädchens in den frühen Morgenstunden hinter sich gelassen hatten. Hoshi hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht, als sie sogar noch ein kleines bisschen schneller als Shinya über die seichten Hügel vor den südlichen Toren Tranquilas geschritten war, die Lippen fest aufeinandergepresst, die Lider gesenkt, ebenso den Kopf. Am höchsten Punkt der grünen Erhebungen (insofern man bei ihrer doch eher bescheidenen Größe überhaupt von irgendeinem wirklich hohen Punkt sprechen konnte), hatte sie dann doch noch einmal kurz zurückgeblickt, scheinbar, um nach Shinya zu sehen, doch der Katzenjunge bemerkte rasch, dass ihre Augen nicht wirklich seine Gestalt fixierten.

Seitdem lag im Mienenspiel und in jeder einzelnen Bewegung der Lichtmagierin eine gewisse wehmütige Bedrücktheit, die nicht einmal der Wind hinfort tragen konnte, der sanft und übermütig mit den langen Strähnen ihres dunkelbraunen Haares spielte. Alles in allem war dies ein Gemütszustand, den Shinya bei dem Mädchen zuvor noch nicht einmal ansatzweise kennen gelernt hatte und auf den er nun umso weniger zu reagieren wusste. Er war so oder so nicht geübt darin, einen Menschen aufzuheitern oder gar zu trösten, und so beschloss er notgedrungen, sich erst einmal Hoshis Schweigen anzuschließen und auf dessen baldiges Ende zu hoffen.

Eine Woche war seit seinem nächtlichen Aufeinandertreffen mit Phil bereits ins Land gezogen, und dank der rührenden Pflege der jungen Lichtmagierin und natürlich der Dorfältesten waren Shinyas Wunden doch weitaus schneller verheilt, als er das zunächst angenommen hatte. Er hatte auf Keikos strikte Anweisung hin sogar noch einen ganzen Tag länger das Bett gehütet, als er das aus seinem eigenen Ermessen heraus für nötig befunden hatte, und wenn er jetzt an das Gesicht der alten Frau dachte, als sie ihm und Hoshi endlich doch die Zustimmung zu ihrem gemeinsamen Aufbruch gegeben hatte, da war er sich sogar beinahe sicher, dass sie ihm diese zusätzliche Ruhezeit aus vollkommen anderen Gründen als der Sorge um seine Gesundheit verordnet hatte.

Im Gegensatz zu der sich immer weiter trübenden Laune der Dorfältesten hatte Hoshi jedoch zu Anfang vielmehr in einer Art nervösen Hochgefühls geschwebt, hatte Frage um Frage gestellt (von denen Shinya nicht einmal annähernd die Hälfte wirklich hatte beantworten können) und den an und für sich fast schon lächerlich kleinen Lederbeutel, in dem sie ihre sieben Sachen verwahrte, ungefähr fünfzehnmal ein- und wieder ausgepackt. Sie war in einer scheinbaren Endlosschleife von einer Ecke des Raumes in die andere und wieder zurück gelaufen, hatte ungefähr alle zehn bis fünfzehn Minuten versichert, dass sie in der kommenden Nacht garantiert kein Auge zumachen würde, und hatte sich auch beim Abendessen mit deutlich gemindertem Appetit über Keikos wieder einmal ungemein köstliche Suppe hergemacht.

Entgegen Shinyas Erwartungen hatte sich dieser elektrisierende Gefühlstaumel aus Euphorie, Vorfreude, ein bisschen Angst und ganz viel Abenteuerlust jedoch bereits am nächsten Morgen beinahe vollständig im Sande verlaufen und war dann spätestens seit ihrem Aufbruch aus Tranquila vollends versiegt. Was nun übrig geblieben war, das war nicht viel mehr als eine ausgedörrte Steppe von gedankenverlorener Niedergeschlagenheit, die sich Hoshi zwar nicht explizit anmerken ließ, die aber doch ganz unweigerlich auch auf Shinyas eigenes Gefühlsleben übergriff und die bis dahin vorherrschende heitere Reiselust auf unschöne Weise trübte.

Der Katzenjunge stieß einen tonlosen Seufzer hervor und ließ seinen Blick über das spätsommerlich freundliche Panorama der weiten, sanfthügeligen Landschaft schweifen. Er war erschöpft, aber er scheute sich, nach einer weiteren Pause zu fragen, schon allein deshalb, weil ihn der Gedanke an den mühevollen Einstieg in eine noch so belanglose Konversation merklich mit Unbehagen erfüllte. Zu gerne hätte er irgendetwas unheimlich Intelligentes, Mitfühlendes uns behutsam Erheiterndes von sich gegeben, mit dem er dem Mädchen helfen und es endlich auf andere Gedanken bringen konnte, aber ihm wollte und wollte einfach nichts einfallen. Wie denn auch? Er konnte doch überhaupt nicht wissen, wie sie sich gerade eben fühlen musste.

Wie ein Mensch sich fühlte, der seine Heimat verließ.

Shinya ballte seine Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen. Er wusste, dass sein Körper immer noch geschwächt war, dass sich das unvermeidliche Innehalten und Ausruhen nicht mehr allzu lange würde hinauszögern lassen, aber er war froh um jede Sekunde, in der er diesem notwendigen Übel doch noch einmal entgehen konnte. Er hatte nämlich wirklich allen Grund, zu fürchten, nichts als die falschesten aller falschen Worte zu finden und somit alles nur noch schlimmer zu machen, als es ja ohnehin schon war. Mehr und mehr begriff der Katzenjunge, dass es nicht nur Besorgnis, Mitgefühl und Hilflosigkeit waren, die trotz aller Sonne, Federwolken und lauen Lüftchen auf sein Gemüt drückten.

Vielmehr war es so, dass er Hoshi trotz aller Wehmut, allem Schmerz und allem Kummer, die momentan ganz unzweifelhaft in der Brust des Mädchens herrschen mussten, uneingeschränkt und aus tiefstem Herzen beneidete.
 

Trotz der gelungen hochsommerlichen Verkleidung des Tages hatte der verhältnismäßig frühe Einbruch der Dämmerung doch ganz unzweifelhaft darauf hingewiesen, welche Jahreszeit tatsächlich vor der Türe stand und mit wachsender Ungeduld um Einlass bat. Die noch junge Nacht war allerdings mindestens genauso schön wie der zurückliegende Tag, nahezu sternenklar, lediglich bevölkert von einigen durchaus kleidsamen Wolkenfetzen, die in bizarren, lockeren Kolonien über den tiefblauen Himmel zogen.

Doch wieder einmal sollte es Shinya nicht vergönnt sein, die ruhige, verschlafene Schönheit der Natur uneingeschränkt zu genießen, denn sein Körper erinnerte ihn auf äußerst rabiate Weise daran, dass er ja eigentlich gerade erst von mehr als nur einer schweren Verletzung genesen und somit doch noch nicht unbedingt reisefertig war. In seinem Kopf hatte es sich ein mal dumpf pochender, dann wieder aggressiv stechender Schmerz wohnlich eingerichtet, und seine Brust nutzte die Gunst jedes einzelnen Atemzuges, um ihm wieder und wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, dass die obere Front seines Körpers seit neuestem von einer langgezogenen Narbe geziert wurde.

Es kostete ihn zunehmend mehr Überwindung, nicht doch noch einmal um eine Ruhepause zu bitten, aber Shinya wusste, dass dieser Wunsch sich bei aller augenscheinlichen Bescheidenheit doch als so gut wie unerfüllbar gestaltete. Die betörende Heiterkeit des Wetters täuschte nur allzu leicht darüber hinweg, dass es zur momentanen Jahreszeit doch immer wieder auch zu plötzlichen Gewittern kommen konnte, und solch eine unliebsame nächtliche Überraschung wollte er weder Hoshi noch sich selbst zumuten. So setzte er tapfer einen Fuß vor den anderen, kämpfte sich Meter um Meter vorwärts, den Blick starr auf den nachtblauen Horizont gerichtet.

Als er dann endlich einen hell erleuchteten Kreis inmitten des Flickenteppichs von Feldern, Wiesen und Weiden ausmachen konnte, da fiel dem Katzenjungen ein Felsmassiv von der Größe der weit im Norden gelegenen Silberberge vom Herzen (mindestens!). Es gelang ihm sogar, seinen Schritt noch ein klein wenig mehr zu beschleunigen, denn schon allein der Gedanke an ein warmes, wundervoll weiches und nach frischen Laken duftendes Bett spendete ihm neue Kraft - eine Kraft, die ihn so sehr beflügelte, dass er seinen Kopf in Richtung Hoshi zu drehen wagte, ihr ein Lächeln schenkte und dann mit erstaunlich ungezwungener Stimme das lange verloren geglaubte Wort ergriff.

"Kennst du das Dorf?"

Die Dunkelhaarige antwortete mit einem schwachen Nicken.

"Das ist Avârta", sagte sie leise, während ihre dunklen Augen starr auf den immer näher kommenden Reihen der kleinen Häuser mit den hell erleuchteten Fensterchen ruhten. "Dort gibt es einmal im Jahr einen großen Viehmarkt und manchmal bin ich bei einem der Bauern mitgefahren, weil ich mir immer so gerne die Tiere angesehen habe. Das Gasthaus am Marktplatz ist wirklich schön und überhaut nicht teuer... selbst für unsere Verhältnisse!"

"Willst du mir damit etwa unterstellen, dass ich irgendwie arm bin oder so?", knurrte Shinya und bleckte seine spitzen Eckzähne, was tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein schwaches Lächeln auf Hoshis Gesicht zauberte.

"Ach was", entgegnete sie mit einem etwas müde wirkenden Augenzwinkern, "du doch nicht. Du bist nur viel zu bescheiden, um hier in meiner Gegenwart mit deinem unermesslichen Reichtum zu protzen oder gar auf eine Übernachtung in einer dieser vollkommen überteuerten Luxusherbergen zu bestehen, habe ich Recht?"

"Absolut!" Der Katzenjunge reckte sein Kinn so weit es ging in die Höhe und blickte auf betont herablassend arrogante Weise auf das dunkelhaarige Mädchen hinab. "Ich kann die Leute dort nich haben, mit ihrem ganzen Getue und wie sie sich dann immer sooo abartig toll vorkommen... das is echt widerlich."

"Ja, total!", stimmte Hoshi in exakt demselben Tonfall zu, der jeder noch so verzogenen Prinzessin ohne weiteres Konkurrenz gemacht hätte. "Meine Güte, wir nehmen uns doch auch nicht so unheimlich wichtig, nur weil wir reich und gebildet und mächtig sind!"

"Kein Stück", lachte Shinya, und spätestens als Hoshi in dieses Lachen einstimmte, war es keineswegs mehr eine unechte, aufgesetzte Geste, zu der er sich aus bloßer Zweckmäßigkeit hätte zwingen müssen. Er war erleichtert - und dankbar, dankbar, dass die Lichtmagier doch wenigstens ein kleines Stück ihrer guten Laune wiedergefunden hatte. Zudem kamen die Häuser Avârtas unentwegt näher, was allein ja schon mehr als nur Grund zur Freude war, verhieß es doch eine baldige Chance auf Ruhe, Erholung und insbesondere auf Schlaf.

Tatsächlich kostete es die beiden erschöpften Estrella kaum mehr eine Viertelstunde, bis sie endlich die ersten Häuser des Dorfes erreicht hatten und in eine der schmaleren Gassen eintauchen konnten. Und obwohl Shinya doch an und für sich viel zu müde war, um seiner Umgebung noch wirklich Aufmerksamkeit zu schenken, so reichte der nächtliche Marsch zwischen Häuserwänden und Tavernentüren doch zumindest noch aus, um einen ersten, wenn auch noch reichlich oberflächlichen Eindruck von Avârta zu gewinnen.

Insgesamt war hier alles ein bisschen weniger niedlich als in Tranquila - die Straßen breiter, das Kopfsteinpflaster gleichmäßiger, die Häuser exakter und größer gebaut. Die Gaststuben und Geschäfte (von denen Letztere freilich schon längst geschlossen hatten) waren deutlich geräumiger, sicherlich auch besser sortiert, teilweise sogar richtiggehend edel und stilvoll, dafür fehlte ihnen jener heimelige Charme, der im deutlich kleineren Nachbardorf allgegenwärtig gewesen war. Ein Dorf, wie man sich ein Dorf eben vorstellte, ganz ohne jeden Zweifel hübsch und idyllisch, aber dabei doch einfach... realer, ja, gewöhnlicher als das fast schon unwirklich märchenhafte Bilderbuchörtchen namens Tranquila.

Durch den flackernden Lichtkreis einer Straßenlaterne hindurch traten Shinya und Hoshi auf das große Oval des Marktplatzes hinaus. Eine hohe Front von besonders kunstvoll ausgearbeiteten Fachwerkhäusern lag ihnen unmittelbar gegenüber, von denen Shinya das schönste und prächtigste mit relativ geringer Geistesanstrengung als Rathaus ausmachte. Rechts neben der Tür zierte eine vielfarbige Wandmalerei das weiße Mauerwerk. Sie zeigte einen Herren und eine Dame, beide in edle, kostbare Gewänder gehüllt, die sich vor einem dämmrigen Saal von erstaunlicher Tiefenwirkung die Hände reichten.

Zwei Erker ragten aus der von schwarzen Holzbalken gezierten Fassade empor und rahmten ein großes Uhrwerk ein, das im Licht der Sonne wohl golden geschimmert hätte, nun jedoch vergleichsweise stumpf und einförmig im bläulichen Schwarz des Mondschattens schlummerte. Die von langen Spitzen gezierten Türmchen des ländlichen Prunkhauses zeichneten sich dafür nur umso schärfer konturiert vor dem samtenen Tuch des Nachthimmels ab, pechfarben und ohne jegliche Tiefe, schwarzes Tonpapier auf edel fließendem Stoff.

Nur zwei Häuser weiter ragte aus dem träumerischen Schweigen des nächtlichen Dorfes ein Refugium von Licht und Geräuschen hervor, ein Fachwerkhaus mit rötlicher Balkenzierde, aus dessen hell erleuchteten Fenstern warmes Gelb in die Dunkelheit hinausflackerte. Mit der Helligkeit kam auch ein lebendiger Teppich von Musik, Gelächter, Stimmengewirr und Gläserklirren, der auf Shinya merkwürdigerweise nicht einmal abstoßend, sondern vielmehr einladend heimelig wirkte. Er war nun wirklich kein Freund großer Festlichkeiten und Menschenansammlungen, allein die Vorstellung von hemmungslosen Trinkgelagen und grölenden Bauersleuten ließ ihm eine ganze Armada von kalten Schauern über den Rücken laufen, aber die Präsenz einer Gaststube verhieß neben solch unangenehmen Ausuferungen menschlicher Fröhlichkeit doch in erster Linie auch Wärme, Sitz- und Schlafgelegenheiten.

Allesamt Dinge, nach denen sich Shinya nun schon seit mehreren Stunden sehnte, und auch der Gedanke an menschliche Gesellschaft erschien ihm nach der unbestreitbar wundervollen Weite, Einsamkeit und Freiheit der silvanischen Ebenen doch als eine durchaus akzeptable Abwechslung. Der Katzenjunge öffnete vorsichtig die schwere, dunkle Holztüre, über der ein helleres Schild ihre zukünftige Raststätte als Gasthaus "Zum Winterfalken" auswies, und spähte vorsichtig in das Innere des herrschaftlichen Fachwerkbaus.

Die Wirtsstube war nicht einmal sonderlich groß, dafür aber umso voller und lauter. Zwischen den großen, dunkelbraunen Bauernmöbeln herrschte auch um die sicherlich schon recht fortgeschrittene Stunde noch ein überaus reges Treiben. Im flackernden Kerzenlicht prallten große, randvolle Maßkrüge aneinander und die Luft war getrübt vom Rauch der Pfeifen und vom Dampf der Suppen und Braten. Die niedrige Decke wurde gestützt von breiten, viereckigen Holzpfeilern und -balken, zwischen denen sich eine überraschend bunte Vielzahl von Menschen tummelte.

Eine Gruppe von Reisenden, die offenbar zusammengehörten, scharte sich um eine besonders große Holztafel und plauderte lautstark in irgendeiner Sprache, die Shinya nicht kannte und die in seinen Ohren auch reichlich unmelodisch klang. In einer Ecke weiter hinten saßen durchaus finster anmutende Gestalten, die Kleider, Haare und Bärte verfilzt, am Tisch nebenan vier gedrungene Bauern mittleren Alters, wobei es sich auf dem Schoß des gedrungensten und (zumindest nach Meinung des Katzenjungens) auch schmierigsten Exemplars eine junge, blond gelockte Frau bequem gemacht hatte, die Träger ihres ohnehin schon reichlich tief dekolletierten Kleides über die Schultern hinabgerutscht, die Frisur halb gelöst.

Am letzten Tisch hatten es sich vier Männer und zwei Frauen bequem gemacht, deren äußerliches Gesamtbild ganz unzweifelhaft auf eine bessere Herkunft hinwiesen, angefangen beim Stoff ihrer Kleidung und dem Glanz ihres Haares bis hin zu ihrer gesamten Mimik und Gestik. Alles an ihnen hob sich so überdeutlich von der ausgelassenen bis ordinären Feierlust ihrer außerdem anwesenden Mitmenschen ab, dass es Shinya beinahe schon wieder unwirklich erschien und er sich im Nachhinein auch mehr als nur einmal noch fragen sollte, ob die Anwesenheit dieser Ladys und Edelmänner nicht vielleicht doch bereits der wirren Welt seiner Träume entsprungen war.

So oder so waren sämtliche Plätze im Raum bereits besetzt, lediglich an der Theke selbst waren noch genau drei der langbeinigen, lehnenlosen Holzstühle frei, auf die sich Hoshi nun zielstrebig zubewegte. Die Dunkelhaarige nahm zur Rechten einer jungen Frau Platz, die sich von den Unterhaltungen der übrigens Gäste bislang noch fernhielt und mit einem versunkenen Lächeln auf den Lippen an einem Glas Rotwein nippte. Im warmen Dämmerlicht der Wirtsstube nahm Shinya zunächst einmal an, dass ihr langes Haar von brauner oder schwarzer Farbe sein musste, doch bei näherem Hinsehen erkannte er ganz eindeutig einen eigentümlichen Schimmer von Violett, der auf den glatten, von einem schwarzen Band zusammengehaltenen Strähnen lag.

Die Fremde lächelte, als sie ihrer neuen Sitznachbarn gewahr wurde, und musterte die beiden jungen Estrella neugierig mit ihren grün funkelnden Katzenaugen. Sie trug ein weißes, bauchfreies Oberteil, das nicht zuletzt aufgrund seiner langen, weiten Ärmel an die traditionellen Kimonos der silvanischen Priesterinnen erinnerte, dazu eine hellbraune Hose aus grobem Stoff, die mindestens eine Nummer zu groß geraten schien und nur von einem breiten violetten Band auf Höhe ihrer Hüften gehalten wurde. Diese Hose steckte zudem in schweren, erdfarbenen Lederstiefeln und ihre Hände in schwarzen, fingerlosen Handschuhen, was insgesamt einen reichlich verwegenen Kontrast innerhalb ihrer Kleidung kreierte, ihr aber auch ganz unbestreitbar gut zu Gesicht stand. Ihr Körper war recht schlank, für eine Frau aber ungewöhnlich kräftig, durchtrainiert, ohne dabei auch nur im Geringsten massig und plump, sondern im Gegenteil einfach nur kampferprobt zu wirken.

"Hallo, ihr beiden!", grüßte sie mit einem einladenden Nicken und hob kurz ihre Hand. "So spät noch unterwegs? Und das ganz allein, an einem Ort wie diesem?"

"Warum denn nicht?", entgegnete Shinya schulterzuckend, ohne recht zu wissen, was er auch sonst hätte antworten sollen. Er war alles andere als ein guter Lügner, die besten, schlagfertigsten und passendsten Antworten auf überraschende bis unangenehme Fragen oder auch auf plumpe Beleidigungen fielen ihm meist genau zwanzig Minuten später ein (natürlich erst dann, wenn die Konversation längst beendet und die Schlacht erfolglos geschlagen worden war) und sein momentaner Zustand verbat ihm ohnehin jegliche Form von Kreativität. So warf der Katzenjunge stattdessen einen hilfesuchenden Blick in Richtung Hoshi, dich sich auch prompt dieses ihr einzigartige Lächeln auf die Lippen zauberte und dann ihrerseits zum rettenden Erklärungsversuch ansetzte:

"Ach, wir haben uns wohl ein bisschen mit der Zeit verschätzt, es war heute so schön auf den Feldern und da kann man schon mal ins Trödeln kommen..."

"Ja, das kenne ich!", lachte die violetthaarige Frau und schenkte dem Mädchen ein verschwörerisches Blinzeln. "Aber wisst ihr, was ich mich ganz besonders frage? Was führt euch denn überhaupt so mutterseelenallein in ein Dorf wie dieses? Ich meine... Avârta hat ja doch so einen gewissen Ruf, wie man sagt..."

"Was für einen Ruf?", entgegnete Shinya und brachte mit viel Mühe noch die unvorstellbare Kraftanstrengung fertig, seine Stirn in Falten zu legen. Hoshi wich seinen Blicken aus und winkte eilig ab, während sie mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen verkündete:

"Also nein, es... es ist so, wir sind nämlich auf der Suche nach einem... einem Bekannten von uns!"

Shinya zog seine Augenbrauen noch ein kleines bisschen weiter nach oben und stieß einen tiefen, lautlosen Seufzer aus. Zumindest war er jetzt um eine einzige Erkenntnis reicher geworden: Seine Freundin schien die hohe Kunst des Lügens doch nicht unbedingt besser zu beherrschen, als er es tat, und der Halbdämon war sich nicht ganz sicher, ob ihn diese Erkenntnis nun freuen oder verzweifeln lassen sollte. Die katzenäugige Fremde schien diesen ja auch leider recht offenkundigen Mangel an Begabung nämlich ebenso rasch bemerkt zu haben wie er selbst, denn in die Wärme ihres Blickes legte sich ein leiser, zweifelnder Spott.

"Donnerwetter, ihr seid ja richtig geheimnisvoll!", lachte sie und strich sich mit den Fingern durch ihren schnurgerade abgeschnittenen Pony. "Da kann ich bei meiner eigenen Person leider gar nicht mithalten. Und um gleich mal mit meiner höchstpersönlichen Entzauberung zu beginnen: Ich heiße Tierra Anciano, und ich persönlich bin sehr wohl aufgrund dieser... wie soll ich sagen... doch ein klein wenig zwielichtig scheinenden Gerüchte hierher gekommen, die man sich eben so über diese Stadt erzählt. Ich suche nämlich eigentlich Menschen... oder von mir aus auch Elben, die es im Kampf mit mir aufnehmen können, aber ich finde leider keinen rechten Gegner. Dabei habe ich schon eine wirklich lange Reise hinter mir, ich stamme aus den Silberbergen und... ach, das wird euch alles überhaupt nicht interessieren! Entschuldigt..."

"Nein, natürlich interessiert es uns", protestierte Hoshi mit einem sanften Lächeln auf ihren Lippen und einem Blitzen in ihren dunklen Augen, das Shinya unmissverständlich klar machte, wie ernst es ihr mit diesen Worten tatsächlich war. Auch er hatte ja schon an ihrem ersten und ganz nebenbei auch noch wunderschönen gemeinsamen Abend am eigenen Leib erfahren dürfen, wie begierig das Mädchen nach jeglicher Art von Erzählungen war, ganz gleich ob nun aufregend-exotisch, amüsant oder einfach nur vollkommen alltäglich, und wäre er nicht so unendlich müde gewesen, er hätte noch Stunden in dieser Runde verbringen können - weniger, um die Geschichten selbst zu hören, sondern einfach nur, weil er sich an der Begeisterung auf Hoshis Gesicht einfach nicht satt sehen konnte.

"Na, dann bin ich ja beruhigt!" Tierra lachte und warf sich mit einer schwungvollen Bewegung ihren dunklen Pferdeschwanz über die Schulter auf den Rücken. "Aber sagt, kennt ihr vielleicht zufällig jemanden, mit dem es sich zu kämpfen lohnt? Es ist nicht einfach, seine eigenen Fähigkeiten zu verbessern, wenn man niemanden hat, der einem darin überlegen ist!"

"Ach, mir würde da schon jemand einfallen...", antwortete Shinya und verzog seine Lippen, wobei er sich nicht so ganz sicher war, ob es nun ein Grinsen oder ein Zähneblecken sein sollte. "Vorausgesetzt, dass du's mit ein klein wenig Todesmagie aufnehmen kannst..."

"So, Todesmagie also?" Durch die grünen Augen der jungen Frau lief ein Funkeln, während sie mit der freien Hand eine betont abfällige Bewegung vollführte. "So etwas glaube ich erst, wenn ich es sehe. Ich habe schon viele Magier und mindestens ebenso viele Krieger getroffen, und beide haben ein eigentlich grundverschiedenes, aber gerade deshalb schon wieder so ähnliches Problem: Die mit der schönsten, richtig interessanten Magie, die packen es kaum, ein Schwert auch nur anzuheben. Und diejenigen, die eine stählerne Klinge noch im Tiefschlaf herumwirbeln können, die bringen es dafür nicht fertig, mehr als einen mickrigen Feuerball zu erschaffen... meistens nicht einmal das. Auf die eine oder die andere Weise bin ich also immer unterfordert und das... das frustriert. Also sagt schon, von wem sprecht ihr?"

"Er heißt Phil... Phil Maxim Amarillo, und der Name sagt ja eigentlich schon alles." Shinya verzog sein Gesicht, so abfällig und angewidert, wie er es eben noch irgendwie zustande bringen konnte. "Aber hey, wenn du ihn triffst - was ich dir bei allen Göttern nicht wünschen möchte! - erzähl im bloß nicht, von wem du den kleinen Tipp hier hast, ja?"

"Sieh an, sieh an, ihr werdet ja immer geheimnisvoller..."

"Schon möglich", murmelte Shinya, doch kaum hatte er ausgesprochen, da verzog sich sein Gesicht auch schon in einem vehementen Gähnanfall, der zusammen mit einer neuerlichen Flutwelle von Müdigkeit und Erschöpfung über seinen Körper hereinbrach. Mit einem Mal war es dem Katzenjungen, als ob er jede einzelne beschwerliche Minute und Sekunde des zurückliegenden Tages tonnenschwer auf seinen Schultern lasten fühlte, und er sah sich außer Stande, diesem erdrückenden Gewicht noch länger Kontra zu bieten.

"Na, müde?", erkundigte sich Tierra auch prompt, und der Katzenjunge hob seine Schultern und grummelte leise.

"Ich glaub, ich werd mich dann... langsam mal hinlegen..."

"Hinlegen? Ja, wo denn?" Hoshi schüttelte den Kopf und sah Shinya mit großen Augen an. "Also ich könnte jetzt noch nicht schlafen... wir müssen uns doch noch etwas zu Essen kaufen, und ein Zimmer haben wir auch noch nicht reserviert!"

"Dann mach doch mal...", nuschelte Shinya in seine Arme hinein, die er auf dem Tresen verschränkt und zur leidlich bequemen Stütze für seinen unerträglich schwer gewordenen Kopf umfunktioniert hatte. "Ich ess dann halt morgen früh was."

"Na schön... ist deine Entscheidung."

Sie stand auf und ging zu dem Wirt hin, anstatt ihn einfach zu sich zu rufen. Shinya sah, wie sich die Lippen der beiden abwechselnd bewegten (wenn auch ein wenig verschwommen, wie durch das von einem leicht trüben Film überzogene Glas eines alten Fensters hindurch), aber er konnte keinerlei Worte mehr verstehen... oder besser gesagt, es waren viel zuviele Worte, die da von allen Seiten auf seine trägen Ohren einprasselten, Worte verschiedenster Stimmlagen und Sprachen und Lautstärke, ein Brei von unstimmigen Geräuschen, aus dem sich unmöglich noch einzelne Zutaten herauspicken ließen, und irgendwann gab er es einfach auf und senkte seine Lider.

Leider war es ihm nicht vergönnt, allzu lange in dieser wundervoll nebligen Finsternis zu verharren, eingebettet in tausend verschiedene Klänge, die sich in der Trübheit seiner Gedanken zu einem plötzlich gar nicht einmal mehr so abstoßenden Gesamten vermischten und ihn wie ein planlos gewobener Tonvorhang von der hektischen Außenwelt abschirmten. Schon nach wenigen Minuten (höchstens fünf) fühlte er einen unsanften Ellbogenstoß in seiner Seite und zwang sich mit einiger Mühe dazu, langsam und lethargisch seinen Kopf anzuheben.

"Hm?", machte er und blinzelte fragend in Hoshis Gesicht, das merkwürdig unscharf in seinem allgemein nicht unbedingt durch klare Konturen geprägten Blickfeld erschienen war.

"Ich hab zwei Betten im Gemeinschaftsraum genommen, war das Billigste so", verkündete sie und wedelte mit einem kleinen, schmucklosen Silberschlüsselchen nur wenige Zentimeter vor Shinyas Nase umher. "Wenn du unbedingt willst, dann können wir uns jetzt hinlegen!"

"Wieso wir?", stieß Shinya begleitet von einem neuerlichen Gähnen hervor und griff mit leicht zittrigen Fingern nach dem fantasielos gestalteten Stück Metall. "Wenn du nicht müde bist, dann bleib halt noch da und lass dir ein paar Geschichten erzählen. Ich werd schon nich auf halbem Weg zusammenbrechen, und wenn doch, was soll's? Schlaf ist Schlaf und zur Not tut's auch ein Herbergsflur!"

"Ach, du Idiot!" Hoshi schüttelte lächelnd den Kopf, während der Katzenjunge sich auf überaus umständliche Weise von seinem leicht wackligen Sitzplatz herunter- und wieder auf die Beine quälte. "Nun mach schon, dass du ins Bett kommst, bevor du wirklich noch im Stehen einschläfst! Und träum was Schönes, ja?"

"Ich tu mein Bestes!" Shinya hob noch ein letztes Mal kraftlos die Hand, um Hoshi und Tierra so etwas Ähnliches wie ein Winken zu schenken, dann drehte er sich bedächtig herum und schlurfte die Treppe zu ihren Schlafräumen hinauf. Er konnte sich selber nicht so recht erklären, warum er mittlerweile gar so müde war, aber es fiel ihm mit jeder Sekunde schwerer und schwerer, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten. Er war heilfroh, die Türe ihres gemeinschaftlichen Schlafraumes unverschlossen vorzufinden (immerhin war die korrekte Verwendung eines Schlüssels doch ein sehr bedeutsamer Akt, der höchste Konzentration und Fingerfertigkeit erforderte!), und so zögerte er nicht mehr lange, diese aufzustoßen und einzutreten.

Noch während er dies tat, fiel ihm siedend heiß wieder ein, dass er sich doch vielleicht auch um so etwas wie eine vorsichtige, geräuscharme Art der Fortbewegung bemühen sollte, immerhin war dies ja ein Gruppenzimmer und er wusste nicht, wie viele Menschen dort möglicherweise schon schlafen würden. Sicherlich waren nicht alle Reisenden so freundlich, aufgeschlossen und redegewandt wie diese junge Frau namens Tierra, und aus irgendeinem Grund zog es der Katzenjunge doch bei all seiner Müdigkeit immer noch vor, aus eigenen Kräften in ein möglicherweise nicht ganz so bequemes Gaststättenbett zu wanken, statt von der pfannengroßen Faust eines unsanft aus dem Schlaf gerissenen Fußsoldaten auf eine eher unfreiwillige Reise ins Reich der Träume beziehungsweise in die nächstgelegene Ecke geschickt zu werden.

Tatsächlich brannte aber noch Licht in dem gar nicht einmal so großen Zimmer, das zu Shinyas Überraschung dank seiner Dachschräge, dem Kerzenschein und den einladend geräumigen Betten sogar ganz unwahrscheinlich gemütlich aussah. Es schien bislang nur ein einziger Schlafplatz besetzt zu sein, das Bett in der linken hinteren Ecke des Raumes. Ein junger Mann saß mit verschränkten Beinen auf dem voluminösen Weiß der Bettdecke, und obwohl Shinyas Augen immer noch in einem Zustand bleierner Müdigkeit verharrten, ließen sie es sich doch nicht nehmen, die unbekannte Gestalt einer näheren Musterung zu unterziehen.

Kaum war dieser Plan erst einmal gefasst und in die Tat umgesetzt worden, hatte der Katzenjunge auch schon seine liebe Mühe, den Fremden nicht einfach noch weitere fünf bis zehn Minuten lang anzustarren. Er wollte es nicht tun und er erschrak beinahe schon ein klein wenig über sich selbst, denn er kannte dieses schamlose Glotzen nur zu gut, weit besser als ihm lieb war. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn sich Blicke in spitze Pfeile und klebrige Wurfgeschosse verwandelten und er verabscheute es aus tiefstem Herzen.

Doch nun fiel selbst ihm die Beherrschung schwer, denn dieser Fremde war nun einmal alles andere als eine unauffällige Gestalt, und wenn selbst Shinya zu diesem Schluss kam, ja, dann wollte es schon was heißen! Er musste noch sehr jung sein, kaum älter als der Katzenjunge selbst, doch sein Haar war so weiß wie Schnee. Es fiel ihm in langen Strähnen vor das Gesicht und war im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. Faszinierenderweise passte sich diese ohnehin schon reichlich ungewöhnlich Farbe (oder besser gesagt, Nicht-Farbe) auch noch bis auf wenige feine Nuancen an die bleiche Haut des Fremden an, die zwar eben wie gesagt sehr hell, dabei aber keinesfalls zu blass oder kränklich wirkte.

Wie um diesen Gegensatz gekonnt noch weiter zu betonen und in Szene zu setzen beschränkte sich die Kleidung des Weißhaarigen auf ein Spektrum zwischen Dunkelgrau und Schwarz. Selbst die Stiefel, die neben dem Bett standen, glänzten in der Farbe der Nacht. Er hielt seinen Kopf leicht gesenkt, doch trotzdem konnte Shinya unzweifelhaft erkennen, was für ein auffallend schönes Gesicht sich hinter den vereinzelten weißen Haarsträhnen verbergen musste, sehr ernst und irgendwie... kühl, aber eben doch ganz unbestreitbar schön und außergewöhnlich ebenmäßig. In seinen Händen hielt er ein langes, verhältnismäßig zierliches Zweihandschwert und war dabei derart in die sorgfältige Politur von dessen leicht gebogener Klinge vertieft, dass er Shinyas Eintreten scheinbar noch gar nicht bemerkt hatte.

"Ähm... hi!", murmelte der Halbdämon in reichlich müdem, aber doch noch unüberhörbar freundlichem Tonfall, während er sich auf der erstaunlich weichen Matratze des Bettes niederließ, das unmittelbar neben dem des weißhaarigen Fremden stand. Dieser reagierte zunächst einmal überhaupt nicht auf den zugegebenermaßen nicht sonderlich poetischen, aber doch immerhin aufrichtig bemühten Kontaktversuch des Katzenjungens, dann hob er kurz seinen Kopf und bedachte Shinya mit einem finsteren Blick aus zwei eisig kalten Augen von der Farbe dunklen Violetts.

Der Halbdämon spürte, wie ihm ein frostiger Schauer den Rücken hinablief, und er hatte es sogar noch ein kleines bisschen eiliger, seine Stiefel abzustreifen und dann genüsslich seufzend unter das himmlisch warme und weiche Weiß seiner Bettdecke zu verkriechen. Was kümmerte es ihn denn eigentlich, dass nun einmal nicht alle Gestalten, die seinen bislang doch noch verhältnismäßig kurzen Weg kreuzten, so nett und freundlich und zuvorkommend sein konnten wie die bisherigen? Die Matratze war gemütlich, ganz unendlich gemütlich, außerdem duftete sie leicht und angenehm nach frisch gewaschener Wäsche, und noch ehe er jeglichen weiteren Gedanken in gleich welche Richtung verschwenden konnte, fielen ihm auch schon die Augen zu und er selbst in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
 

Als Shinya endlich wieder erwachte, da fiel sein Blick zunächst einmal auf gelblich weiße Bahnen weicher Helligkeit, ganz offensichtlich Sonnenlicht, und zudem noch das Licht einer Sonne, die schon recht hoch am Himmel stand und deren Strahlen sich in all ihrer Kraft und Heiterkeit ohne größere Mühe an dem zarten Stoff der Vorhänge vorbeistahlen. Der Katzenjunge ahnte, dass er lange, sogar überaus lange geschlafen haben musste, aber er fühlte sich so wunderbar ausgeruht und erholt, dass ihn diese vermeintliche Zeitverschwendung nicht auch nur im Geringsten erschüttern konnte. Er wusste nicht, wie viele tausend um tausend Schritte noch vor ihm lagen, aber er fühlte sich nun endlich wieder gestärkt für seinen Marsch ins Ungewisse, und diese neu gewonnene Kraft rechtfertigte jede (obendrein sowieso recht belanglose) Verzögerung ihres nahenden Aufbruchs.

Ein kurzer, bedächtiger Rundumblick verriet ihm, dass die übrigen Betten mittlerweile leer und verlassen im möglicherweise bereits mittäglichen Sonnenschein lagen. Offensichtlich war Hoshi nicht nur nach ihm ins Bett gegangen, sondern auch vor ihm wieder aufgestanden, und hätte seine Bettdecke nicht so unendlich weich und kuschelig auf seinem Körper gelastet, wäre diese Erkenntnis wohl tatsächlich der erste Schritt zu solch unangenehmen Gefühlen wie Verlegenheit oder gar Scham gewesen. So aber kümmerte ihn auch die Aussicht, in den Augen des Mädchens nun auf immer und ewig als Langschläfer abgestempelt worden zu sein (was ja im Übrigen auch der Wahrheit entsprach), sogar ganz herzlich wenig. Warum denn auch? Er fühlte sich großartig dabei!

Getreu dieser neu entdeckten Gemächlichkeit hatte es Shinya auch noch nicht einmal ein winzig kleines bisschen eilig, als er sich schließlich doch aus den himmlisch luftigen Federn bequemte, in seine Stiefel schlüpfte und dann eifrig gähnend hinab in die Gaststube trottete. Dort war im krassen Gegensatz zum Vorabend nicht mehr sonderlich viel los und auch das Licht war dämmrig verschlafen, denn die Fenster waren nur klein und lagen verhältnismäßig tief in der Wand. Der Katzenjunge störte sich jedoch nicht im Mindesten daran, sondern genoss im Gegenteil die etwas finstere Atmosphäre, die das schwarze Holz der Stützbalken und Möbel in dem geduckten Raum verbreitete, erschien es ihm doch als das perfekte Umfeld zu einer gnädigen Verlängerung seines halbwachen Zustandes.

Er genehmigte sich ein ausgiebiges Frühstück, das glücklicherweise im Übernachtungspreis mit inbegriffen war, verzieh dem gut gelaunten Wirt sogar wortlos die mehr als nur angedeutete Trockenheit von Brot und Brötchen und selbst die Tatsache, dass der Orangensaft wohl doch ein ganz klein wenig mit Wasser gestreckt worden war, ach, eigentlich war das alles auch überhaupt kein bisschen schlimm und es schmeckte trotzdem wunderbar. Als er dann aus dem Gasthof hinaus auf den Marktplatz trat, da war nicht nur der Himmel vollkommen und ungetrübt blau, im hellen Licht der Sonne gelang es ihm sogar binnen weniger Augenblicke und ohne größere Mühe, Hoshis Gestalt im regen Treiben der Händler und Reisenden auszumachen.

"Hey, Hoshi!", rief er über das Stimmengewirr und Viehblöken hinweg, während er sich seinen Weg zu der Dunkelhaarigen hin bahnte, die neben der violetthaarigen Frau vom Vorabend auf dem Rand des Marktbrunnens saß und ihm lachend entgegenwinkte.

"Na, gut geschlafen?", begrüßte sie ihn und tauschte ein verschwörerisches Grinsen mit Tierra aus, das Shinya jedoch kurzerhand zu übersehen beschloss.

"Aber sicher doch!", entgegnete er und warf sich seinen Zopf über die Schulter. "Geschlafen und gegessen, alles fertig und zu jeder neuen Schandtat bereit."

"Was?!", keuchte das Mädchen und machte große Augen. "Schon? Meine Güte, da bist du aber früh dran!"

"Ja, nicht?" Shinya zauberte eine perfekt naiv-unbekümmerte Miene auf sein Gesicht. "Ich bin ja auch total stolz auf mich, genauso wie ihr auf euch, nehm ich zumindest an, weil ihr doch heute so wie's aussieht auch schon mindestens genauso viel und genauso knochenhart gearbeitet habt wie ich, hab ich recht?"

"Ich würd mir am liebsten selbst einen Orden verleihen!" Hoshi kicherte. "Ach Shinya, weißt du eigentlich, wie bescheuert du manchmal sein kannst? Ich finde das toll! Aber jetzt mal ganz im Ernst, was sollen wir machen? Weiterziehen, hier bleiben, und wenn hier bleiben, was dann?"

"Hm... gute Frage..."

"Finde ich auch!" Die Dunkelhaarige seufzte leise und schüttelte den Kopf. "Ach Gott, ich habe mir so viele Gedanken über das gemacht, was uns irgendwann mal bevorstehen wird, dass ich ganz vergessen habe, zu überlegen, wo wir eigentlich anfangen sollen..."

"Ja, so geht's mir irgendwie auch...", grinste Shinya, ganz und gar unfähig, sich tatsächlich einer schwermütig nachdenklichen Stimmung hinzugeben. Am liebsten hätte er die Arme weit ausgebreitet, sich etliche Male im Kreis gedreht und dabei laut gesungen, aber da ihm das aus irgendeinem Grund für die ruhmreiche Erfüllung ihrer ungemein bedeutsamen Aufgabe nicht unbedingt essentiell wichtig zu sein schien, beließ er es stattdessen bei einem zufriedenen Seufzen und stemmte sich die Arme in die Seiten. "Jetzt müsst man sich halt hier mal irgendwie auskennen, nich?"

"Hm... auskennen ist gut!" Hoshi runzelte die Stirn. "Viel mehr als den Weg hin zum Markt, vorbei an günstigem Essen und annehmbaren Schlafplätzen kenn ich leider auch nicht... und selbst wenn, es ist schon wieder einige Jahre her, dass ich das letzte Mal hier war."

"Was sucht ihr denn?", mischte sich Tierra mit einem höflich fragenden Blick in das Gespräch der beiden jungen Estrella ein. "Ich möchte zwar nicht unbedingt behaupten, dass ich mich hier als Stadtführerin verdient machen könnte, aber immerhin bin ich nun schon seit drei Tagen hier in Tranquila, habe einiges gesehen und zuvor sogar noch ungleich mehr gehört, also wenn ihr einen einfach zu erfüllenden Wunsch hegt, nur zu, nur zu, fragt mich danach!"

"Also..." Hoshi legte einen Finger an die Lippen und wandte nachdenklich ihren Blick gen Himmel, der ihr unveränderterweise in stahlblauer Perfektion entgegenstrahlte. "Wenn wir hier irgendwo etwas über alte Legenden und Sagen erfahren könnten, dann wäre das vielleicht gar nicht so verkehrt."

"Über Legenden und Sagen? Hm... nicht weit von hier soll anscheinend eine alte Frau leben, die vor allem über Göttersagen und diesen ganzen Kram ziemlich gut bescheid wissen soll..." Tierra grinste, dann jedoch stahl sich ein reichlich verlegener Ausdruck auf ihr Gesicht, bei dem sich Shinya aber doch nicht vollkommen sicher sein konnte, ob er denn nun tatsächlich ernst gemeint war oder nicht. "Huch... klang das jetzt etwa blasphemisch?"

Hoshi lächelte und sah dabei wieder einmal ganz unbeschreiblich bezaubernd aus. Das Sonnenlicht verlieh ihrem dunklen Haar einen schweren goldenen Schimmer und ließ ihre Augen sogar noch ein klein wenig mehr strahlen, als sie das von sich aus ohnehin schon taten.

"Eigentlich sind Göttersagen ja nicht ganz das, wonach wir suchen", sagte sie, was - zumindest Shinyas Meinung nach - momentan aber sowieso vollkommen unbedeutsam war. "Oder vielleicht doch... ich weiß nicht... es ist so ein bisschen ein spezielles Thema, das uns interessiert. Ich weiß nicht, ob die Frau uns da weiterhelfen kann... das Problem ist wohl, dass ich auch nicht genau weiß, welche Fragen ich nun stellen müsste..."

"Ihr sucht also mehr so eine Art allumfassende Wissensquelle auf dem Gebiet mythologischen Stoffes, richtig?"

Shinya nickte, ohne wirklich zugehört zu haben.

"Na dann... wie wäre es denn, wenn ihr euch einfach noch ein bisschen an mich dranhängt und mit mir in die große Bibliothek kommt? Ich meine... ich war noch nie dort, zumindest nicht höchstpersönlich, aber ich suche schon lange nach einem gewissen Buch, in dem eine fast vergessene Kampftechnik beschrieben wird, und man sagte mir, wenn ich es überhaupt irgendwo finden könne, dann hier! Klingt doch schon mal gar nicht so übel, oder?"

"Hm... nö...", antwortete Shinya auf wenig geistreich - nur um im nächsten Augenblick buchstäblich zu erstarren, als er auf brutalst möglichem Wege aus der träumerisch-glücklichen Leichtigkeit des Seins gerissen wurde. Das Grinsen auf seinen Lippen gefror, seine Augen weiteten sich, und einen Moment lang war er sich nicht mehr so ganz sicher, ob sein Herz nun stehen bleiben oder doch lieber rasend schnell pulsieren wollte.

Dabei war ja eigentlich zunächst einmal gar nichts weiter geschehen, als dass seine Hand, die er immer noch in die Seite gestützt hatte, um gute zehn Zentimeter nach unten verrutscht war, sodass sie sich nun knapp unterhalb seiner Hüfte befand. Genauer gesagt - exakt über jener Hosentasche, in der er seit Jahr und Tag seine Glückskugel aufzubewahren pflegte.

Normalerweise jedenfalls. Momentan allerdings war besagte Tasche nicht viel mehr als ein leeres, schlaffes Stück Stoff, deren einziger Inhalt vielleicht bestenfalls noch etliche Staub- oder Sandkörnchen sein konnten, vielleicht auch ein klein wenig Erde oder der eine oder andere Fussel, aber gewiss kein nahezu faustgroßer Gegenstand von gläserner Schwere.

Binnen weniger Sekundenbruchteile rasten tausend Bilder und Gedanken durch Shinyas Kopf. Er sah sich an Hoshis Seite durch die weite Hügellandschaft ziehen, einen strahlenden Sommerhimmel über und den hellen Sand des schmalen Wegleins unter sich, eingerahmt von wogenden Gräsern und golden leuchtenden Ähren. Er sah sich ebenso müde wie beeindruckt durch die Straßen Avârtas trotten, die Füße bei jedem einzelnen Schritt empört aufschreiend, aber die Augen weit geöffnet und wie gebannt auf dem dörflichen Prunk seiner Umgebung ruhend. Dann sah er sich im überfüllten Chaos der Gaststube, zahllose Fremde um sich herum, manche mehr, etliche weniger Vertrauen erweckend. Und schließlich sah er sich in einem Zustand vollendeter Erschöpfung in die verheißungsvoll weichen Federn seiner Decke fallen, unfähig, noch an irgendetwas Anderes zu denken als an Schlaf, Schlaf und nochmals Schlaf, süßen, alles vergessen machenden Schlaf...

Was er dummerweise nicht sah, war auch nur eine einzige Szene, in der er seine Glückskugel mit Sicherheit noch besessen hatte. Dafür aber mindestens hundert verschiedene Augenblicke, in denen er sie ohne weiteres hätte verlieren können, oder in denen sie ihm - schlimmer noch! - ganz einfach in einem unbeobachteten Moment aus der Tasche hätte stibitzt werden können. Und selbst, wenn dem nicht so war - auch eine zufällig zu Boden gestürzte Kugel konnte sogar mit recht großer Wahrscheinlichkeit gefunden und dann von irgendeinem Fremden aufgelesen werden, und sollte Shinya sie gar auf dem endlosen Weg zwischen Tranquila und Avârta verloren haben, dann würde sich ein Wiederfinden wahrlich als Ding der Unmöglichkeit gestalten.

Natürlich gab es da trotz jener altbekannten Macht mit Namen Pech, die sich in Shinyas Nähe seit jeher sogar ausgesprochen wohl zu fühlen schien, immer noch den einen möglichen Fall, dass ihm seine Glückskugel ganz einfach nur in der vergangenen Nacht oder auch erst am späten Morgen, der doch eigentlich viel eher schon ein Mittag gewesen war, auf denkbar unspektakuläre Weise auf ihrem Zimmer aus der Tasche gerollt war. Aber selbst dann war immer noch höchste Eile geboten, denn immerhin hatte da ja auch noch dieser ganz unbestreitbar faszinierende, dabei aber auch beängstigend kühle und finstere Fremde auf besagtem Zimmer Quartier bezogen, und wer sagte Shinya denn, dass er bei dem Anblick von Shinyas größtem Schatz auch tatsächlich seine Finger bei sich behalten konnte?

"Shinya, was ist denn los?", erkundigte sich Hoshi mit halb besorgter, halb zweifelnder Miene, da ihr Shinyas entgeisterte Erstarrung selbstverständlich wieder einmal nicht entgangen war. Eigentlich war sich der Katzenjunge sowieso nicht mehr so ganz sicher, ob Hoshis wachen Augen überhaupt irgendetwas wirklich entgehen konnte, aber dennoch bemühte er sich um ein aufgesetztes, entschuldigendes Lächeln und winkte eilig ab.

"Ähm - nix Besonderes, Hoshi, keine Sorge, ich... ich hab nur was auf unsrem Zimmer vergessen. Geht einfach schon mal vor, ja? Ich komm dann nach, sobald ich's wiedergefunden habe!"

"Ja, aber... was denn? Shinya?!"

"Das siehst du ja dann!", rief der Katzenjunge, während er auf dem Absatz kehrt machte und auf den dunklen Eingang des großen, im strahlenden Sonnenlicht sogar noch ein klein wenig stolzer und prachtvoller aussehenden Fachwerkhauses zueilte. "Wartet nich auf mich, fangt einfach schon mal an zu lesen!"

Shinya konnte und wollte keine Antwort mehr abwarten - dazu hatte er es schließlich auch viel zu eilig, und so registrierte er die Worte, die Hoshi (oder war es am Ende doch Tierra gewesen?) ihm nachrief, auch bestenfalls noch am Rande, ohne sich jedoch in irgendeiner Weise um gleich welchen Sinn und Zweck dieser merkwürdig aufgeregt klingenden Tonfolge zu kümmern.

"Warte, Shinya", hallte es hinter ihm über den Platz, "du weißt doch überhaupt nicht, wie man zur Bibliothek kommt!"

Aber zu dem Zeitpunkt, als diese Worte ausgesprochen worden waren, da hatte Shinya bereits die Türe zur Gaststube aufgestoßen und war mit großen Schritten und keuchendem Atem ins Innere des "Zum Winterfalken" gestürzt.
 

Shinya war auf die Knie gefallen. Buchstäblich im Staub gekrochen. Hatte im Vierfüßlergang jeden kleinsten Winkel der Gaststube akribisch untersucht und auskundschaftet. Unter jede Eckbank, jeden Tisch, jeden Stuhl hatte er sich gezwängt, hatte sich sogar schweren Herzens dazu durchgerungen, den Wirt und eine Bedienung auf die verlorene Kugel anzusprechen, doch im Endeffekt hatten ihm all diese Mühen nicht mehr eingebracht als die teils amüsierten, teils überaus irritierten und höhnischen Blicke der übrig gebliebenen Gäste.

Im Grunde genommen war dies ein Ergebnis, das Shinya auch gar nicht weiter verwunderte. Er war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass, wenn er seine Kugel tatsächlich gerade an diesem Ort und noch dazu am vergangenen Abend verloren haben sollte, die Wahrscheinlichkeit, dass niemand den durchaus wertvoll anmutenden kleinen Gegenstand hatte mitgehen lassen, wahrlich gegen Null strebte. Trotzdem hatte er es mit einem Mal gar nicht mehr so eilig, die Stufen zu seinem Zimmer emporzusteigen, weil er schlicht und einfach viel zu sehr fürchtete, was er dort möglicherweise vorfinden - oder besser gesagt, nicht vorfinden könnte.

Ein furchtbares Gefühl vollkommener Hilflosigkeit brach über ihn herein. Was sollte er denn nur tun, wenn sich ihm das Gruppenzimmer tatsächlich vollkommen leer und blank, ohne jede Spur seiner geliebten kleinen Kugel präsentieren würde? Weitersuchen? Aber wo? Er wusste nicht, wo er beginnen und welcher Spur er noch folgen konnte, denn das Land war weit und auch Avârta selber schon groß genug, um sein Unterfangen zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen werden zu lassen. Das zweite Problem bestand darin, Hoshi sein Anliegen begreiflich machen zu können - ein Anliegen, das jedem anderen außer ihm selbst verständlicherweise als vollkommen absurd erscheinen musste.

Da hatte man ihm, ausgerechnet ihm, den wahrlich sagenhaften Auftrag erteilt, loszuziehen und den Planeten zu retten. Auf seinen Schultern ruhte das Leben jedes einzelnen Menschen, jedes Tieres, jeder nur erdenklichen Kreatur, die sich auf Youmas weiter, bunter Oberfläche tummelte. Und was machte er? Setzte kurzerhand als Unterfangen höchster Priorität die Suche nach seiner Glückskugel fest, war bereit, Dorf und Felder auf den Kopf zu stellen, wertvolle Zeit und Energie für eine an und für sich ja vollkommen aussichtslose Suche zu verschwenden.

Im besten Fall würde Hoshi ihn für dumm und abergläubisch, höchstwahrscheinlich aber für vollkommen wahnsinnig und verrückt erklären - von Tierra ganz zu schweigen! - und was Shinya beinahe schon am meisten schmerzte, war, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, wie er dem Mädchen die Schwere dieses Verlustes hätte begreiflich machen können. Es ging doch hier nicht einfach nur um den materiellen oder auch den ideellen Wert eines ganz besonders hübschen Gegenstandes, nicht einmal um die besondere, zarte Nostalgie, die mit dem all den Kindheitserinnerungen einher ging, welche jener Kugel in höchstem Maße, ja in einem wahrhaft einzigartigen Überfluss anhafteten.

All diese Dinge waren schmerzlich, aber sie waren und blieben eben doch nur in seinem Kopf, entsprungen aus Sentimentalität und ein bisschen Melancholie. Viel schlimmer noch als dieses emotionale Leiden war allerdings sein körperliches Empfinden, das er nicht einfach so vergessen oder verdrängen konnte. Shinya fühlte sich, als ob man ihm einen Teil des Körpers auf brutalste Weise herausgerissen hatte, als ob da irgendetwas fehlte, etwas unglaublich Wichtiges, und diese unendlich grausame Verstümmelung raubte ihm fast den Atem.

Er wusste, dass er diese Kugel nicht einfach nur vermissen würde, sondern dass er sie brauchte, so sehr wie Essen, Trinken und die Luft zum Atmen, aber natürlich waren dies Empfindungen, die keiner außer ihm würde verstehen können.

Ohne anzuklopfen riss Shinya endlich die Türe zu ihrem Zimmer auf, stürzte auf sein Bett zu - und fühlte noch im nächsten Augenblick einen Hitzerausch durch seinen ganzen Körper wallen. Er schluckte schwer, und selbst diese so simple Tätigkeit erschien ihm störend und unnatürlich laut, ebenso wie der rasche Takt seiner Atemzüge und der dröhnende Puls seines Herzens. Der Katzenjunge hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, sich auf tagelange Suchmärsche durch Staub und sengende Hitze eingestellt, immer Hoshis vorwurfsvollen, verständnislosen Blick wie ein Messer im Rücken stecken, und nun...

Nun stand er da zwischen Tür und Angel, zwischen den staubig dumpfen Schatten des Korridors und dem hellen, luftigen Weiß des Zimmers und ihm schien sämtliches Blut in die Wangen zu schießen, als er seine heißgeliebte, zutiefst vermisste Kugel gut sichtbar und unschuldig funkelnd mitten auf den präsentiertellerweißen Laken seiner Schlafstätte schlummern sah. Er schnappte nach Luft - und wäre am allerliebsten augenblicklich in dem warmen Braun des Holzbodens versunken, als er bemerkte, dass er nicht alleine war.

Als ob die demütigende Scham, die er sich selbst gegenüber empfand, an sich nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kam nun auch noch ein überaus unangenehmes Gefühl des Ertapptseins hinzu, was alles in allem seinem überstürzten Auftritt zu einem Grad der Peinlichkeit verhalf, den er unter anderen Umständen niemals hätte erreichen können. Aus irgendeinem Grund hielt sich Shinyas Stolz und Begeisterung über diese Meisterleistung aber doch stark in Grenzen, und so kostete es ihn unvorstellbar große Überwindung, einen kurzen, prüfenden Blick in Richtung jenes jungen Weißhaarigen zu werfen, dem er bereits am Vorabend an gleicher Stelle begegnet war.

Ein Blick, der trotz seiner Flüchtigkeit allerdings voll und ganz dazu ausreichte, um jegliche Hitze, ja sogar jeden noch so kleinen Funken Wärme aus Shinyas Körper zu vertreiben und seine Gesichtsfarbe von einem intensiven Rot in ein blässliches Weiß zu verwandeln. Dabei ging der merkwürdige Fremde ja eigentlich gar keiner sonderlich spektakulären und auch in keinem Fall irgendwie außergewöhnlichen Beschäftigung nach. Genau genommen machte er eigentlich überhaupt nichts anderes, als auf seinem Bett zu liegen und in einem schweren, offensichtlich schon überaus alten Buch zu lesen.

Wahrscheinlich wäre ihm der Anblick überhaupt nicht im Gedächtnis hängen geblieben, hätten seine Augen nicht auch zufällig den in schwarzbraunes Leder gehüllten, von einem Netz feiner, heller Risse überzogenen Einband des Buches gestreift. Während Shinyas Körper schlagartig erstarrte, wurde das Rasen seines Herzens wie auf einer Hetzjagd zu immer halsbrecherischeren Geschwindigkeiten angetrieben, als er die kunstvoll verschnörkelten Buchstaben sah, die in mattem Silber auf die Buchvorderseite geprägt worden waren:

"Die Legende der Estrella"

Shinya schluckte. Er wusste natürlich, dass es sich hierbei eigentlich nur um einen unfassbar glücklichen Zufall handeln konnte, aber wenn er länger darüber nachdachte, dann schienen doch plötzlich alle Ereignisse dieses seltsamen Morgens auf eine ganz und gar abstruse Art und Weise Sinn zu ergeben. Einen Sinn, der ihm unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen zauberte, denn obwohl er es kaum glauben konnte und auch kaum zu hoffen wagte, so schien es ihm doch fast ein winzig kleines bisschen so, als ob er zur Sekunde das willige Opfer einer Verkettung überaus glücklicher Umstände geworden zu sein schien.

Noch niemals zuvor war ihm seine Glückskugel einfach so aus der Tasche gefallen, und das, obwohl er ja nun wirklich nicht von sich behaupten konnte, Vorsicht und Ordnung mit Löffeln gefressen zu haben! Irgendetwas hatte ihn... gerufen, ihn wie an einem hauchdünnen Silberfaden genau in diesem Augenblick in dieses Zimmer geleitet, und jetzt saß da dieser Fremde mit genau diesem Buch und, ja, wenn Shinya es nicht eigentlich viel, viel besser gewusst hätte, so hätte er schwören können, dass dies alles hier Schicksal sein musste.

"Ähm... ja... hallo", begrüßte der Katzenjunge den Fremden so lässig und dabei doch einnehmend freundlich, wie er das nur irgendwie zustande brachte. "Ich glaub, wir... haben uns gestern schon mal gesehen, gestern Abend... Nacht, und..."

Shinya stockte, als ihn ein kurzer, dafür aber ganz außerordentlich entnervter Blick aus zwei kalten violetten Augen traf - kaum mehr als zwei oder drei Sekunden lang, was aber offenbar schon mehr als genügend Zeit bot, um dem Halbdämon einen Dolch oder auch einen Eiszapfen mitten in das Gesicht zu rammen. Er schluckte. Holte tief Luft. Scharrte nervös mit der Spitze seines Stiefels über den hölzernen Boden. Und nahm dann all seinen Mut zusammen, um ein weiteres Mal die Stimme zu erheben. So leicht würde er sich nicht geschlagen geben!

"Es... ist nämlich so, dass ich mich grad zufällig... total für diese Estrella interessiere und... ähm, da du ja so einen dicken Wälzer über die liest, na ja, wär ja möglich, dass du dich irgendwie mit dem Thema auskennst... oder so..."

Obwohl sich Shinya für die Unbeholfenheit seiner Worte am liebsten pausenlos selbst geohrfeigt hätte, zwang er sich doch ein Lächeln auf die Lippen und wischte möglichst unauffällig seine feuchten Handinnenflächen an dem rauen Stoff seiner Hose ab. Er wusste selbst, dass er im Umgang mit Fremden nicht unbedingt geübt war, und es fiel ihm alles andere als leicht, von sich aus eine Konversation mit einem Menschen zu beginnen, den er erst genau zweimal in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte.

Aber... da war noch etwas anderes, etwas, das viel tiefer ging und sich deshalb auch umso schwerer auf Shinyas Brust legte, das seine Mimik fürchterlich steif wirken ließ und seine Zunge nachhaltig lähmte. Und dies war die simple, in seiner Situation aber nicht unbedingt sonderlich tröstliche Tatsache, dass ihm sein Gegenüber sogar ganz verflucht unheimlich war. Nicht einfach nur suspekt und von Natur aus Misstrauen erregend, wie eigentlich so gut wie jeder Mensch, dem Shinya zum ersten Mal begegnete, sondern wirklich und wahrhaftig beängstigend, und aus irgendeinem Grund schien dem Katzenjungen die Sache mit dem Dolch in seinem Gesicht ja eigentlich gar nicht mal so weit hergeholt worden zu sein.

"Ja", entgegnete der Weißhaarige in einem Tonfall, der ohne weiteres mit der überragenden Wärme seines Blickes mithalten konnte, "möglich wäre es. Es gibt enorm viele Dinge, die möglich wären. Dass du dich verziehst, mich in Ruhe lässt und wieder mit deiner kleinen Freundin spielen gehst, beispielsweise."

"Mit meiner... bitte was war das gerade?", entfuhr es Shinya. Es war wirklich unglaublich - war er gerade eben noch von einer überwältigenden wie Ehrfurcht gebannt gewesen, fast so, als ob seinen sterblichen und somit für alles Übernatürliche von Natur aus halbblinden Augen nur ein kurzer, aber überaus elektrisierender Blick auf die Geheimnisse des Universums gewährt worden wäre (oder zumindest so etwas Ähnliches), hatten ihn die ebenso kühl wie beiläufig dahingesagten Worte des Weißhaarigen nun mit umso ernüchternderer Gewalt wieder auf den freudlosen Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Ein altbekanntes Gefühl von Wut schlich sich ganz heimlich, still und leise in die Adern des Katzenjungen zurück, wo es überaus gefährlich zu rumoren begann. Shinya presste seine Lippen fest aufeinander und versuchte, den aufflammenden Ärger krampfhaft wieder herunterzuschlucken, aber es wollte ihm nicht gelingen. Alles, was er gerade noch tun konnte, war, wenigstens so weit an sich zu halten, um dem Fremden nicht postwendend eine tödliche Salve unflätigster und obszönster Beleidigungen in sein schönes Gesicht zu feuern!

"Das", erklärte der Weißhaarige in ungerührtem Tonfall, obwohl irgendetwas in seinen kalten violetten Augen Shinya auf ganz unmissverständliche Weise mitteilte, dass er von seiner mühsam unterdrückten Aufregung sehr wohl hatte Notiz genommen, "war eine vergleichsweise höflich formulierte Aufforderung, mich in Ruhe zu lassen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du weißt, was das bedeutet, aber ich bin beschäftigt, und ich verspüre offen gesagt nur äußerst bedingte Lust dazu, hier groß über ein Thema zu referieren, von dem du ja sowieso nichts verstehen wirst. Um ehrlich zu sein, überrascht es mich ohnehin, dass du imstande dazu bist, den Titel dieses Buches zu lesen... oder, besser gesagt, überhaupt zu lesen."

Shinya riss seine grünen Augen weit auf und schnappte nach Luft.

Was um alles in der Welt glaubte dieser arrogante Widerling denn eigentlich, wer er war? Der Weißhaarige konnte kaum sehr viel älter sein als er selbst, und die bloße Tatsache, dass er einen auf altehrwürdig getrimmten Wälzer auf den Knien trug und vielleicht auch ein klein wenig finsterer drein blicken konnte als herkömmliche Menschen (Shinya eingeschlossen), berechtigte ihn noch lange nicht dazu, den Katzenjungen wie ein zurückgebliebenes Kleinkind zu behandeln! Ganz abgesehen davon, dass Shinya gewiss kein Kind mehr war, hatte er ja wohl jetzt schon mehr Einblick in die Materie der Estrella gewinnen können als die überwältigende Mehrheit sämtlicher großartiger Geschichtsschreiber - zusammengenommen, versteht sich.

"Jetzt hör mal gut zu", knurrte der Halbdämon und durchbohrte sein ganz ungemein unsympathisches Gegenüber mit einem glühenden Blick. "Du hast bestimmt keine Ahnung davon, dass du nich einfach nur irgendeine Legende liest, ja? Rein zufällig bin ich ein Estrella, also tu doch nich so, als ob ich zu blöd wär, um so ein dummes Buch zu lesen!"

"Du bist also... ein Estrella?" Der Weißhaarige blickte erneut auf und musterte Shinya langsam und ausgiebig vom etwas unordentlichen Scheitel bis hin zu den schwarzbraunen Stiefelspitzen. Dann stahl sich ein einziger Laut über seine Lippen, der wohl so etwas Ähnliches wie ein falsches, abgehacktes Lachen darstellen sollte, und der Mund des Fremden verzog sich zu einem unvorstellbar abfälligen Lächeln, bei dessen Anblick selbst Phil vor Neid erblasst wäre. "Aber gewiss doch. Verzeih, dass ich nicht eher darauf gekommen bin."

"Woher willst du wissen, dass es nicht so ist?!"

Der junge Fremde konterte mit einem Blick, der eigentlich jedes weitere Wort überflüssig gemacht hätte und in Shinya, obgleich er sich eindeutig im Recht fühlte, doch den unangenehmen Zweifel weckte, ob er nicht vielleicht doch gerade eben die dümmste Frage aller Zeiten gestellt hatte. Leider beließ es der Weißhaarige aber nicht bei diesem stummen Vorwurf, sondern fügte in unveränderter Kälte hinzu:

"Ich weiß nicht, wie du auf solch eine ganz und gar absurde Idee gekommen bist, aber ich revidiere meine Aussage von gerade eben: Offensichtlich kannst du lesen, sehr gut sogar und leider ein bisschen zuviel. Falls du aber nur eine einzige Legende über die Estrella vom Anfang bis zum Ende durchgelesen hast, dann müsstest du rein theoretisch wissen, dass es hier nicht darum geht, den Helden zu spielen und irgendeine Prinzessin aus den Fängen eines blutrünstigen Drachens zu befreien! Oder, um es einmal ein kleines bisschen polemischer auszudrücken: Wir Estrella sind Krieger und keine... aufgeplusterten Schmusekätzchen, verstehst du das?"

"Mo-moment mal! Was soll das heißen - wir?"

"Wir ist der Plural von ich", entgegnete der Weißhaarige mit Grabesmiene, aber Shinya schenkte seinen Worten eigentlich schon gar keine wirkliche Beachtung mehr. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, gleichzeitig entsetzt dreinzublicken und seine Fäuste im Zaum zu halten, da sich seine inneren Turbulenzen nicht so recht zwischen Zorn und Entgeisterung entscheiden konnten.

"Du bist ein Estrella?", keuchte Shinya, und ein hilflos erschüttertes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Nee, oder?! Also... du... danke, aber dich kann Phil haben!"

Der Katzenjunge hätte am liebsten laut geschrien, und der einzige Grund, warum er genau das nicht tat, war wohl weniger ein gesundes Schamgefühl als vielmehr eine gewisse resignierte Müdigkeit, die von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Ja, verdammt, er hatte mittlerweile auch schon mitbekommen, dass das liebe Schicksal ihn aus irgendeinem Grund nicht sonderlich gut leiden konnte, aber musste es ihm diese Tatsache deshalb wirklich in jeder freien Minute so genüsslich unter die Nase reiben? Selbst inmitten all seiner zornigen Aufgewühltheit begriff Shinya doch immer noch, dass es wirklich ein unverschämt glücklicher Zufall war, dass von allen Menschen Silvanias ausgerechnet ein Estrella in seinem vorübergehenden Zimmer nächtigte, aber...

Aber warum musste ebendieser Estrella ausgerechnet solch ein überheblicher, durch und durch unsympathischer Vollidiot sein, der aus irgendeinem Grund ganz unverschämt gut in Phils kleines Horrorkabinett gepasst hätte? Warum konnte da auf der Matratze vor ihm nicht einfach Will sitzen, während sich der Blondschopf und der Weißhaarige an einem gemütlich prasselnden Lagerfeuer gegenübersaßen und sich an verächtlichem Lächeln zu übertrumpfen versuchten? Es war doch einfach alles nicht fair!

"Bist du jetzt endlich fertig mit deinen heldenhaften Wahnvorstellungen?", fragte der Fremde kühl und unterstrich seine Worte mit einem ungemein entnervten Augenrollen. "Falls du nämlich Wurzeln geschlagen haben solltest, musst du mir das einfach nur sagen - wofür hat man denn ein Schwert dabei...?"

"Ist ja gut, ich hab schon verstanden!", schnaubte Shinya und warf sich seinen langen Zopf über die Schulter. "Weißt du was? Geh doch allein den Planeten retten, für jemanden wie dich wär sich wahrscheinlich selbst Phil noch zu schade! Ich hab jedenfalls Besseres zu tun..."

Ohne den Weißhaarigen noch eines einzigen weiteren Blickes zu würdigen, wandte sich Shinya betont gelassen der Türe zu, um dann hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer zu stapfen.
 

Es war frustrierend.

Eben noch hatte die Sonne gut gelaunt von einem wolkenlosen Himmel auf ihn herabgestrahlt und ihn mit einer selten gekannten Energie erfüllt, und jetzt... jetzt war der Himmel an sich zwar immer noch strahlend blau, ein durchweg perfekter Sommerhimmel, aber unmittelbar über Shinyas Kopf war leider ein blitzendes und donnerndes Miniaturgewitter aufgezogen.

Er hasste es, wenn man ihn nicht ernst nahm. Auf ihn herabblickte. Oh ja, er hatte dieses Gefühl schon etwas zu oft ertragen müssen, um ihm jetzt noch nüchtern distanziert gegenüberstehen zu können, und außerdem... war da noch etwas. Etwas, das auf seine Weise sogar noch viel, viel schlimmer war, da es sich nicht gegen irgendeinen wandelnden Eisberg richtete, sondern... nach innen. Tief nach innen. Überaus tief.

Shinya war wütend, und das zu recht. Er wusste, dass er sich nicht alles gefallen lassen konnte und musste. Er wusste, dass der Weißhaarige ein derart unsympathischer Zeitgenosse war, dass schon der bloße Gedanke an ihn die Zähne des Katzenjungen auf überaus nachhaltige Weise zum Knirschen brachte. Er wusste, dass er sich mit einem derartigen Gefährten lediglich eine gewaltige Menge Ärger eingefangen hätte, dauerhafte Zwietracht, die ihm wahrscheinlich auch keinen großen Vorteil gegenüber Phil eingebracht hätte, eher im Gegenteil.

Und er wusste, dass er soeben die Chance, seine Aufgabe zu erfüllen und einen Estrella auf seine Seite zu ziehen, nur auf Grund seines kindischen Stolzes zu Boden geworfen und mit Füßen getreten hatte.

Das Bewusstsein dieses Versagens rann wie Gift durch seinen Körper und erlaubte ihm nicht einmal mehr, sich uneingeschränkt aufzuregen. Er wusste, dass er im Grunde genommen umdrehen und wenigstens einmal in seinem Leben so etwas wie Hartnäckigkeit beweisen musste, aber leider Gottes war das weitaus leichter gesagt als getan. Shinya blickte zwei Alternativen ins Auge, von denen eine schlimmer war als die andere, und dieser bösartige Konflikt nahm ihn etliche Momente lang derart gefangen, dass der Katzenjunge zunächst einmal gar keine Notiz von der Gestalt nahm, die über den Platz und geradewegs auf ihn zugerannt kam.

Erst, als er am Arm gepackt und auf wenig sanfte Weise an selbigem Körperteil geschüttelt wurde, fiel der Bann von ihm ab und Shinya hob alarmiert und verwirrt seinen Blick. Vor ihm stand Hoshi, keuchend, ungewohnt bleich und mit einem an Panik grenzenden Ausdruck in den großen dunklen Augen, der ihm ganz und gar nicht gefallen wollte.

"Shinya... Shinya sag mal, schläfst du?!", japste sie, sichtlich und hörbar außer Atem. "Du musst kommen, verdammt noch mal, schnell! Phil, er... er ist hier!"

Es war wirklich unglaublich - obwohl Shinya in den vergangenen Minuten weit mehr als nur einen Gedanken in Richtung seines unliebsamen Ex-Zimmernachbarn verschwendet hatte, schafften es Hoshis Worte dennoch, ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen hinwegzuziehen. Im ersten Moment war er schlichtweg froh, eine Hauswand im Rücken zu haben, an der er sich sicherheitshalber erst einmal abstützen konnte, und obwohl er nicht wirklich sagen konnte, warum genau das so war, so begann er doch von einer Sekunde auf die nächste zu frieren, als ob binnen eines einzigen Wimpernschlages der Winter über das Land gekommen wäre.

"Phil?!", keuchte er, ohne auch nur noch einen einzigen Gedanken an die unliebsame Begegnung auf seinem Zimmer zu verschwenden. "Bei den Göttern, hat er... ich meine... er hat dich doch nicht gesehn, oder? Der... der wird mich... uns umbringen!"

Hoshi sah zu Boden.

"Nein, hat er nicht", entgegnete die Dunkelhaarige, und trotz ihrer fortwährenden Atemlosigkeit konnte Shinya deutlich einen gewissen Unterton von Ungeduld in ihrer Stimme lesen. "Aber das ist leider nicht unser einziges Problem. Tierra..."

"Was ist mit Tierra?!", hakte Shinya augenblicklich nach, als er sah, dass Hoshi sich in einer entsetzten Sprachlosigkeit zu verlieren drohte.

"Sie kämpft mit ihm."

"Nein!" Die Finger des Katzenjungen pressten sich fest gegen die raue Oberfläche der steinernen Hauswand. Hatte ihn noch wenige Momente zuvor die unschöne Erkenntnis gequält, einen großen Fehler gemacht zu haben, so war selbige nun von der noch viel unschöneren Erkenntnis abgelöst worden, einen verflucht großen Fehler gemacht zu haben.

Einen Fehler, der Tierra möglicherweise das Leben kosten würde.

"Ach verdammt, was weiß ich denn, dass diese Idiotin sich gleich bei der nächstbesten Gelegenheit auf den stürzen muss?!", rief er mehr seinem eigenen Gewissen als seiner bisherigen Gesprächspartnerin entgegen, wobei er die erstaunten bis kritischen Blicke der vorbeischlendernden Passanten gekonnt ignorierte. "Sie hat doch gar keine Chance gegen ihn! Ich mein ja nur, er ist ein Estrella und er... er... er hat Todeskräfte!!"

Spontan blickten besagte Passanten noch ein kleines bisschen verwirrter drein, manche lachten, aber Shinya hatte im Moment weiß Gott andere Sorgen, als ob ihm irgendwelche wildfremden Personen nun so etwas wie einen intakten Verstand zubilligten oder eben nicht. Ohne langes Zögern ergriff er Hoshis Handgelenk und nahm schon einmal vorsorglich eine startbereit angespannte Körperhaltung ein.

"Sie braucht unsre Hilfe, Hoshi!", rief er in weitaus lauterem Tonfall, als es angesichts der nicht gerade großen Distanz zu seiner Freundin eigentlich von Nöten gewesen wäre. "Schnell, sag, wo sind sie?!"

Irgendetwas in Hoshis Augen verriet Shinya, dass sie sehr wohl begriffen hatte, dass er eigentlich nicht von unsrer, sondern vielmehr von deiner Hilfe gesprochen hatte, aber ihre ungetrübte Einfühlsamkeit schien ihr jegliche Bemerkung in diese Richtung zu verbieten. Was angesichts ihrer momentanen Situation allerdings so oder so reichlich überflüssig gewesen wäre, selbst für einen Menschen, der nicht über Hoshis Feinfühligkeit verfügte.

"Draußen, auf der Wiese vor der Stadt... wir sollten uns lieber beeilen, Shinya, bevor... bevor es wirklich noch zu spät ist."

Shinya nickte nur, und dann rannte er los, ohne noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren. Trotz ihrer sicherlich noch längst nicht überwundenen Erschöpfung mühte sich Hoshi, doch zumindest so weit an Tempo vorzulegen, dass sie ihn durch das Labyrinth von Gässchen und staubig trüben bis spiegelblank glänzenden Schaufensterscheiben führen konnte, vorbei an den zahllosen Läden, Gaststuben und Menschen, die wohl in jeder anderen Situation die Szenerie mit einem packenden Hauch von Leben und ländlicher Pracht erfüllt hätten.

Für derartige Banalitäten hatte Shinya jedoch momentan weiß Gott keine Augen mehr. Im Grunde genommen achtete er überhaupt nicht mehr auf den Weg und fühlte sich irgendwann wie ein lebloses Fähnlein im Winde, das sich von Hoshi blind und gehorsam durch die Straßen und Gassen Avârtas ziehen ließ. Er wusste selber nicht genau, was er sich von dieser - zugegebenermaßen nicht unbedingt strategisch ausgefeilten - Rettungsaktion versprach, dafür aber leider nur umso genauer, wieso er sich so bereitwillig in eine Gefahr zu stürzen wagte, an der er ganz persönlich und ohne Hoshis Hilfe ja sowieso nichts würde ändern können.

Es war nicht wirklich Tierra, für die er kämpfen und die er im besten Fall auch retten wollte. Es war niemand anderes als sein ureigenes Gewissen.
 

Shinya war froh, als Hoshi ihn endlich auf das offene Feld hinauszog und das durch keinerlei Schatten mehr getrübte Sonnenlicht die unangenehmen Gedanken aus seinem Kopf verscheuchte. Einen Moment lang war er geblendet, doch erst als das Flackern und Flimmern, das Blitzen und Glühen zumindest weitestgehend aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, da hatte er erstmals auch die Chance zu begreifen, dass es nicht der ungerührt strahlende Himmelskörper war, der ihm mit seiner gleißenden Helligkeit die Tränen in die Augen getrieben hatte.

"Bei den Göttern..."

Hoshis atemlos dahingeflüsterte Worte beschrieben Shinyas spontane emotionale Reaktion auf den Anblick, der sich ihm vor einer Kulisse von endlosem Blau und dem warmen Farbenspiel der Felder und Hügel bot, derart genau und treffend, dass es ihm schlagartig jeden weiteren Laut von den Lippen wischte. Es war schlicht und einfach alles gesagt worden, was man in dieser Situation hätte sagen können, und darüber hinaus war Shinya sowieso vollkommen sprachlos.

Knapp zwanzig Meter vor seinen Augen tobte ein Kampf, wie er ihn sich selbst mit all seiner Fantasie und angesichts der lebendigsten Schilderungen (von denen die meisten der alten Legenden ja eigentlich nur so strotzten, sodass sie stets gekonnt auf dem überaus schmalen Grat zwischen Hochspannung und Pathetik wandelten) niemals in solch einer Form hatte erdenken können. Da waren nicht mehr einfach nur zwei Menschen, die sich gegenüber standen und mittels mehr oder minder starker bis heimtückischer Attacken versuchten, den jeweiligen Gegner möglichst rasch und effektvoll in die Knie zu zwingen.

Was Shinya sah, war eine Schlacht, wie sie Heere von Tausenden und Abertausenden Soldaten nicht erbitterter und... ja, spektakulärer hätten ausfechten können. Inmitten von Weizen, Gras und Mittagssonne tobte ein Chaos aus Licht und Funken und Schwindel erregender Schnelligkeit, Bewegung in einer Form, wie Shinya sie noch niemals zuvor wahrgenommen hatte. Manchmal bereitete es ihm größte Schwierigkeiten, überhaupt noch bestimmen zu können, wer von den beiden Kontrahenten nun Freund (Tierra) oder Feind (Phil) war, allerdings machte das nun auch keinen wirklichen Unterschied mehr. Ein Eingreifen gleich welcher Form war nämlich schlicht und ergreifend unmöglich - oder, anders ausgedrückt, ein Himmelfahrtskommando der halsbrecherischsten Sorte.

Hatte Shinya sich bis jetzt doch tatsächlich bereits das Privileg herausgenommen, Phils neu gewonnener Magie das Prädikat besonders tödlich zu verleihen, so musste er nun erkennen, dass er bis zu diesem Augenblick nichts, aber auch gar nichts über das wahre Ausmaß von dessen Fähigkeiten auch nur im Entferntesten geahnt hatte. Jene überaus schmerzliche Begegnung auf den nächtlichen Feldern hätte ihn ohne jeden Zweifel um ein Haar das Leben gekostet, war aber doch nur ein überaus schaler Vorgeschmack auf das gewesen, was er jetzt sah.

Wie aus dem Nichts erschuf der blonde Junge gleißende Kugeln von wahrhaft gigantischen Ausmaßen, neben deren blendender Helligkeit selbst das wolkenlose Blau des Himmels verblasste. Phil war schon immer ein überaus sportlicher Mensch gewesen, doch nun bewegte er sich derart schnell, dass Shinya ihm kaum mehr mit den Blicken folgen konnte. Mal war er hier, mal dort, aber doch stets umgeben von einem Tanz aus Funken und Sonnen, deren reines, unendlich warmes (oder, wie sich Shinya in Gedanken verbesserte, wohl eher unendlich heißes) Gelb selbst den vollkommensten Hochsommertag zu einem ganz verflucht schlechten Witz hinabdegradiert hätte, und diese geballte Macht von Licht und Hitze schleuderte er unentwegt und ohne jedes Zögern seiner Kontrahentin entgegen.

Wobei ihm ebendiese Kontrahentin nun wahrlich in Nichts nachstand und sich auch keineswegs nur mit dem Mut der Verzweiflung gegen einen übermächtigen Angriff zu verteidigen versuchte. Sie bewegte sich mit der Eleganz und Geschmeidigkeit einer Katze und wirkte gar nicht so recht, als ob sie tatsächlich kämpfen würde, sondern schien vielmehr fantastisch bunte, prächtig leuchtende Bilder auf die makellose Leinwand des Spätsommerhimmels zu malen.

Mit fließenden Bewegungen brachte sie scharfkantige Felsteile hervor, nur um sie dann mit unbarmherziger Wucht auf ihr äußerst wehrhaftes Gegenüber zu jagen. Beinahe noch im selben Augenblick beschwor sie schimmernde Kugeln violetten Lichtes, in deren Mitte gleißende Blitze zuckten, die mit den feurigen Sonnenscheiben zusammenprallten und als prachtvollen Feuerwerke zu Boden schwebten.

Shinya spürte, wie Hoshi vorsichtig seine Hand ergriff.

"Meine Güte, ist das schön...", murmelte sie in einem derart ergriffenen, feierlichen Tonfall, dass er den Katzenjungen selbst in seinem lähmenden Zustand überwältigender Faszination immer noch entzückte. "So kämpft doch kein normaler Magier!"

"Was... meinst du damit?", fragte Shinya, obwohl ihn der Anblick des atemberaubenden Kampfes nach wie vor gefangen nahm und jedes einzelne Wort wie bleiern auf seiner Zunge zu lasten schien.

"Der Blitz soll mich treffen, wenn sie kein Estrella ist!"

"Sag das mal lieber nicht zu laut...", entgegnete der Halbdämon mit einem misstrauischen Seitenblick auf die zuckenden und flackernden Geschosse, die Tierra ihrem Gegner pausenlos entgegenjagte.

"Schau sie dir doch an... Phil hätte Tierra schon längst fertig gemacht, glaub mir. Sie muss ein Estrella sein!"

"Hm... möglich", nickte Shinya und hob gleichzeitig die Schultern, als er begriff, dass ihm ganz eindeutig das Fachwissen fehlte, um sich auf eine derartige Diskussion mit Hoshi einzulassen. Und noch während er resigniert den Kopf sinken ließ, wurde der bisherige Kampflärm von einem Schrei zerfetzt und die Ebenen von einem heftigen Beben geschüttelt.

Als der Katzenjunge hastig wieder aufblickte, um den Grund der beunruhigend starken Erschütterung in Erfahrung zu bringen, da lief ihm ein eisig kalter Schauer den Rücken herab, der sich durchaus mit dem Zittern des Erdbodens messen konnte. Inmitten eines Wirbels von sterbendem Licht, von gelben, weißen, violetten und tiefschwarzen Funken, war die Erdmagierin zu Boden gestürzt. Ihr schlanker Körper war in einer seltsam verdrehten, unnatürlichen Haltung zum Liegen gekommen, und auch die große Distanz, die er zu der Gestalt des Blondschopfes einnahm, gaben allzu deutliche, aber nicht unbedingt beruhigende Hinweise darauf, dass sie wohl eine ganz beachtliche Strecke im Flug zurückgelegt hatte.

"Tierra!"

Hoshis entsetzter Aufschrei zerriss die drückende Stille, die sich nach dem abrupten Ende des Sturmes über das Feld gelegt hatte. Shinya machte einen Satz nach vorne und streckte seinen Arm, so schnell und so weit er nur konnte, doch seine Reaktion kam aller Geistesgegenwart zum Trotze knapp, aber dennoch zu spät. Vielleicht war ihr Schicksal aber auch schon in der Sekunde des nicht unbedingt unauffällig dezenten Ausrufes der Dunkelhaarigen besiegelt gewesen, und ihr Lauf in Richtung der reglosen Erdmagierin diente bestenfalls noch dazu, den rostigen Dolch weitere ein, zwei Zentimeter tiefer in ihr geschundenes Fleisch zu rammen. Phil hatte nämlich ruckartig seinen Blick von Tierra abgewandt - und sah nun geradewegs in ihre Richtung.

"Hoshi!", rief Shinya dem Mädchen überflüssigerweise hinterher und nahm dann schicksalsergeben die Verfolgung auf. Die Dunkelhaarige hatte sich währenddessen bereits in den intensiv grünen, wenn auch hier und dort ein klein wenig angekohlten Halmen der Wiese niedergelassen und kniete nun an Tierras Seite.

"Na, das nenne ich aber eine Überraschung...", keuchte Phil, wobei seine Worte derart von Anstrengung verzerrt und durchtränkt waren, dass der unvermeidliche Spott darin kaum mehr wirklich ins Gewicht fallen konnte. Dennoch ließ das triumphierende Lächeln auf seinen Lippen spontan eine Welle von Abscheu über Shinyas Körper hereinbrechen, die von den darauf folgenden Worten nicht unbedingt abgeschwächt wurde: "Das Kätzchen und die Kleine aus dem Dorf... so schnell sieht man sich wieder."

"Ich habe einen Namen!" Die Lichtmagierin schenkte dem blonden Jungen ein derart böses Funkeln, dass selbst Shinya einen Augenblick lang davor erschreckte. Bevor es ihn mit einem eigentlich vollkommen situationsfremden Gefühl höhnischer Schadenfreude erfüllte. "Mich wundert ja gar nicht, dass du dir den nicht merken konntest, aber du hast Shinya verletzt, du hast Tierra verletzt und das wirst du noch bereuen!"

"Nein... nein, es ist... schon gut..." Tierras Stimme klang leise und auch ein wenig brüchig, als sie in den aufkommenden Streit einfiel, zu dessen treibender Kraft sich absurderweise ausgerechnet Hoshi auserkoren hatte. "Ich bin... in Ordnung. Ich... ich habe nur einen Moment lang nicht aufgepasst und... und dann..."

Sie atmete tief durch und kämpfte sich unter Hoshis besorgten Blicken kopfschüttelnd wieder in eine aufrechte Haltung. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, während sie das Gesicht in den Händen vergrub, sich mit den Fingern durch das tiefviolette Haar strich und ihren Kopf in den Nacken sinken ließ, sodass ihr Gesicht nun dem immer noch ungetrübt stahlblauen Tuch des Himmels zugewandt war.

Und dann, von einer Sekunde zur nächsten, brach sie in ein lautes, übermütiges Lachen aus.

Shinya war im ersten Moment derart perplex, dass er es nicht einmal mehr fertig bringen konnte, Hoshis entgeisterten Blick zu erwidern - der wiederum Tierras Aufmerksamkeit nicht entgangen zu sein schien, denn die junge Frau wechselte schlagartig von ihrem schallenden Lachen zu einem amüsiertes Kichern.

"Nun kuckt doch nicht so!", winkte sie mit ihrer rechten Hand in Shinyas und Hoshis Richtung ab, während sie sich mit der linken zwei glitzernde Lachtränen aus ihren Katzenaugen wischte. "Es ist alles bestens, glaubt mir, besser als bestens sogar. Meine Güte, ich hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr so viel Spaß auf einmal! Das... das war ein großartiger Kampf!"

"Das Kompliment kann ich nur zurückgeben", grinste Phil, der mittlerweile zu der kleinen Gruppe herangetreten war und der etwas mitgenommen aussehenden Kriegerin seine Hand entgegenstreckte, um ihr auf die Beine zu helfen. Zu Shinyas größtem Entsetzen war sich Tierra für diese - zumindest in seinen Augen - ganz unvorstellbar erniedrigende Hilfeleistung nicht einmal mehr zu schade, sondern ließ sich von dem Blondschopf bereitwillig in die Höhe ziehen, wo sie sich erst einmal streckte, dehnte und dann schwungvoll ihren langen Pferdeschwanz über die Schulter warf.

"Junge, ich muss dir danken, wirklich!", strahlte sie Shinya entgegen, ganz offensichtlich vollkommen unbeeindruckt von sämtlichen Kratzern, Schrammen und Abschürfungen, die ihr katzenhaft schmales Gesicht verunstalteten. "Mit einem Estrella zu kämpfen, war wirklich das Beste, was ich seit einer sehr, sehr langen Zeit ausprobiert habe!"

"Glaubst du mir jetzt, Tierra?", meldete sich Phil aufs Neue zu Wort und zauberte sich ein Lächeln auf seine Lippen, das Shinya aus irgendeinem Grund an jene meist recht skurrilen Gestalten erinnerte, die mit einem Bauchladen bewaffnet durch Städte und Dörfer von Tür zu Tür zogen, um harmlosen Bauern, Handwerkern und Hausfrauen den wertlosesten Plunder und Krimskrams als unverzichtbare Lebensnotwendigkeiten anzupreisen, die in jeden noch so kargen Haushalt einen Hauch von Luxus und Adel zauberten. "Ich habe dir doch gesagt, du bist eine von uns. Ein Estrella. Und ich sag dir auch, das hier grad eben war noch gar nichts im Vergleich zu dem Spaß, den du erst noch haben wirst, wenn du mit mir kommst!"

"Mit dir kommen?" Tierra zog zweifelnd ihre Augenbrauen nach oben. "Aber du kennst mich doch überhaupt nicht!"

"Na, das lässt sich ändern! Je größer die Gruppe, desto lustiger das Reisen, richtig? Also, wenn du dich traust und mitkommst, kann ich dir gleich noch Will vorstellen. Der ist zwar etwas seltsam, aber im Großen und Ganzen doch ein recht amüsanter Zeitgenosse, also..."

"Moment mal!" Shinya schnitt dem Blondschopf mit einer herrischen Geste und einem noch viel herrischeren Tonfall das Wort ab und trat mit verschränkten Armen und blitzenden Augen zwischen ihn und Tierra. "Was soll das hier eigentlich werden, häh? Wir sind immerhin auch Estrella und wir haben sie zuerst gesehen!"

Auf Tierras Gesicht stahl sich wiederum ein Hauch von Verwirrung. Sie blickte etliche Male von Shinya und Hoshi zu Phil und dann wieder zurück, bevor sie endlich zu einer Antwort ansetzte.

"Jetzt noch mal ganz langsam, bitte", sagte sie in einem Tonfall, der mehr als deutlich zeigte, wie sehr sie ihre gegenwärtige Situation wohl auch in einem weniger erschöpften Zustand noch überfordert hätte. "Nur um sicher zu gehen, ob ich alles richtig verstanden habe... ich bin also ein Estrella. So wie überhaupt alle hier momentan Anwesenden. Gut. Sehr gut soweit. Und gehe ich auch recht in der Annahme, dass ihr so untereinander nicht unbedingt eine verschworene Gemeinschaft bildet?"

Shinya nickte demonstrativ und warf einen finsteren Seitenblick in Richtung Phil, der zu seinem größten Missfallen just im selben Augenblick dieselbe Kopfbewegung vollführte.

"Das is jetzt vielleicht alles n bisschen seltsam", meinte der Katzenjunge, der die Ratlosigkeit der jungen Frau sogar noch weit besser nachvollziehen konnte, als ihm eigentlich lieb war, "aber es is nun mal so, wir sind Estrella. Der Begriff an sich scheint dir ja was zu sagen, also red ich nich lang drum herum. Es is nur so, wenn du willst, dann kannst du auch genauso gut mit uns kommen!"

"Ähm... entschuldigt die dumme Frage, aber... wo ist der Unterschied?"

"Da ist sogar ein ziemlich großer Unterschied", sagte Hoshi in diesem unnachahmlichen Tonfall, den sie anscheinend immer an den Tag legte, wenn das Gespräch auf ein Thema kam, mit dem sie sich wirklich verflucht gut auskannte. Was übrigens gar nicht einmal so selten war. "Shinya und ich, wir wollen das Gleichgewicht des Planeten bewahren, so wie ist. So steht es in den Legenden und so muss es auch geschehen, sonst ist Youma dem Untergang geweiht!"

"Gut gesagt, Mädchen", grinste Phil auf eine Weise, für dem Shinya ihm spontan einen kräftigen Schlag in die Magengegend hätte verpassen wollen. Oder ins Gesicht. Oder in eine andere Körpergegend, dorthin, wo es richtig wehgetan hätte. Aber natürlich tat er nichts von alldem, sondern verdrehte nur schon einmal vorsorglich die Augen, um dann Phils folgender Ausführung mit einem möglichst verächtlichen Gesichtsausdruck beizuwohnen. "Aber dieses dümmliche Nachplappern irgendwelcher pathetischen Sagen und Legenden bringt niemanden weiter. Wir werden dafür sorgen, dass es keine Schmerzen und kein Leid mehr auf diesem Planeten geben wird, und jetzt sag mir bitte, was ist falsch daran?"

"Dass es ist nicht möglich ist", entgegnete die Dunkelhaarige ruhig. "Jedes Leben beruht auf dem Prinzip von Gegensätzen und ihrem Gleichgewicht. Es gibt keinen Schatten ohne Licht und kein Licht Schatten, so ist das nun mal"

"So ist das nun mal, so ist das nun mal!" Phil stieß einen Laut irgendwo zwischen Lachen und Schnauben hervor. "Nett auswendig gelernt, wirklich, und wenn ich so zwischen siebzig und neunzig wäre, würd ich vermutlich Beifall klatschen und dran glauben. Bin ich aber nicht. Ich denke, die Zeit ist reif für eine kleine Revolution in der Weltordnung, nicht?"

"Und ich denke, du hast ein Rad ab, Phil", knurrte Shinya und entgegnete den triumphierenden Blick des Blondschopfes mit einem finsteren Funkeln in den grünen Augen.

"Soviel also zum Thema verschworene Gemeinschaft", seufzte Tierra und ließ ihren Blick nachdenklich zum Horizont schweifen. Hinter den Hügeln und Feldern kündete ein leiser Hauch von Rot, dass sich der Tag zumindest ganz, ganz langsam seinem Ende entgegenneigte. "Ich... weiß nicht, was ich jetzt sagen soll. Plötzlich heißt es da, ich sein ein... ein Estrella, und das klingt soweit ja auch gar nicht übel, aber... aber der Rest..."

"Ja", murmelte Shinya und konnte sich ein Seufzen doch nicht mehr ganz verkneifen, "ich glaub, ich weiß, was du meinst. Das is nich unbedingt so ne ganz alltägliche Nachricht, dass man mal eben den ganzen Planeten zu retten hat..."

"Wenn es denn nur das wäre!" Tierra senkte den Blick. "Es klingt vielleicht dumm... oder größenwahnsinnig, aber für mich ist das eigentlich sogar eine ziemlich gute Nachricht. Ich hab lang genug nach einer richtigen Herausforderung gesucht, und, bitte, die hab ich ja jetzt wohl auch gefunden. Die Frage ist also weniger, ob ich mit euch gehen soll, sondern... mit wem von euch ich gehen soll. Wie gesagt - ich kenne euch alle kaum, aber ihr scheint mir doch auf jeden Fall recht nett zu sein und ich könnte mir wahrlich schönere Dinge vorstellen, als einen von euch zum Feind zu haben."

"Wird sich nur leider nich vermeiden lassen..." Der Katzenjunge sandte zum etwa hundertsten Mal an diesem Nachmittag einen bitterbösen Blick in Richtung seines alten Bekannten, der ihm gleichzeitig so unangenehm vertraut und dann doch wieder vollkommen fremd erschien.

"Ich weiß... ich weiß... aber mir geht das momentan doch alles ein klein wenig zu schnell. Um ehrlich zu sein, ich habe keinerlei Ahnung, was ich jetzt tun soll."

"Es sagt doch auch niemand, dass du dich sofort entscheiden musst", lächelte Hoshi und trat näher zu Tierra heran, um dann in deutlich leiserem Tonfall fortzufahren. "Ich weiß nicht, ob dir das jetzt wirklich weiterhelfen kann, aber... ich habe da mal einen Rat von jemandem bekommen, an den ich oft denken muss, wenn ich nicht mehr weiß, was ich tun soll: Folge einfach deinem Herzen! Das Wichtigste ist doch immer noch, dass man selbst mit seiner Wahl zufrieden ist. Alles andere würde man früher oder später sowieso nur bereuen!"

Tierra sah das dunkelhaarige Mädchen lange an, und auch Shinya fiel beim besten Willen nichts mehr ein, was er den Worten seiner Freundin noch hätte hinzufügen können. Die selbstverständliche Leichtigkeit, mit der sie ihren Ratschlag erteilt hatte, verblüffte ihn beinahe ebenso sehr wie dessen eigentlicher Inhalt, und er konnte nichts mehr anderes tun als sich einzugestehen, dass keine glühende Lobesrede auf die eigene Ideologie einen tieferen Eindruck hätte hinterlassen können als diese an und für sich so simple Lebensweisheit, die doch eigentlich nur aus Keikos Mund stammen konnte. Und trotzdem hatte er gleichzeitig auch das Gefühl, als ob jene Worte nicht allein für die Erdmagierin bestimmt worden waren.

Die Erinnerung an eine noch gar nicht einmal so sonderlich weit zurückliegende Nacht blitzte kurz in seinen Gedanken auf, und einmal mehr an diesem Tag konnte Shinya das merkwürdige Gefühl nicht loswerden, dass das, was gerade eben geschehen war, nicht nur rein zufällig so geschehen war, sondern... dass ihn da irgendjemand auf etwas hinweisen wollte, das ihm in aller Eile entgangen war und das er auch jetzt, nachdem sich die erste Aufregung über den plötzlichen Bruch mit seinem alten Leben zumindest ansatzweise gelegt hatte, immer noch hartnäckig übersah oder missdeutete. Wie hatte Hoshi doch gleich gesagt? Folge deinem Herzen...

Nur wer an sich selbst glaubt, kann auch die Hoffnungen anderer erfüllen...

Liefen nicht im Endeffekt beide Ratschläge auf exakt dasselbe hinaus? Shinya war sich beinahe sicher, irgendeinen tieferen Sinn hinter den so einfach scheinenden Worten zu erkennen, aber es gelang ihm nicht, ihn zu fassen. In seiner Brust erwachte das unwahrscheinlich frustrierende Gefühl, keine der Botschaften wirklich verstanden zu haben, und er hätte sich die Haare raufen könne, wäre das in seiner momentanen Situation - und vor allem vor dem anwesenden Publikum! - nicht einfach viel zu peinlich gewesen.

Als Tierra endlich nickte, musste sich der Katzenjunge zu allem Überfluss auch noch eingestehen, dass die Erdmagierin weit weniger ratlos zu sein schien, als er es war.

"Gut...", antworte sie mit einem verschwörerischen Augenzwinkern in Richtung des dunkelhaarigen Mädchens. "Ich nehm mir ein bisschen Zeit und ich werde keine einzige Sekunde lang über mein Problem nachdenken, sondern einfach mal ein bisschen lauschen, was mein Herz mir so alles zu sagen hat..."

Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das ihrem Gespräch ein stummes, aber unübersehbares Ende setzte, und als Tierra sich schließlich umwandte und in Richtung des Dorfes zurückschlenderte, da hörte Shinya, wie sie leise vor sich hinsummte.
 

Die Nacht war merkwürdigerweise hell und dunkel zugleich. Der Mond und ein Meer von Sternen leuchteten silbrig hell von einem pechschwarzen Himmel hinab, in dem nicht einmal mehr der leiseste Hauch von Blau zu erkennen war. Es war noch angenehm warm, aber dennoch war der Marktplatz von Avârta menschenleer - zumindest beinahe. Als Shinya nämlich an Hoshis Seite aus dem flackernden Kerzenschein der lärmenden Gaststube hinaus in die angenehme Stille der Nacht trat, da konnte er am anderen Ende des steinernen Rundes bereits drei Gestalten erkennen, die auf die beiden jungen Estrella warteten.

Fast noch in den Schatten der gegenüberliegenden Häuserfront verborgen standen Will, dessen gesamte Erscheinung wieder einmal vortrefflich mit der vollkommenen Farblosigkeit der Nacht harmonierte, und ein gewisser, ewig unfrisiert aussehender Blondschopf, dessen Namen Shinya nicht einmal mehr denken wollte. Tierra stand etwas abseits von ihnen, mehr der Mitte des Platzes und somit auch Shinya und Hoshi zugewandt. Der Katzenjunge trat jedoch ganz bewusst nicht näher an sie heran, als Phil und Will es getan hatten. Er sparte sich auch jegliche Begrüßung, sondern verschränkte schlichtweg die Arme vor der Brust - und wartete.

Tierra hielt das gespannte Schweigen etliche Momente lang aufrecht, ohne einen der Anwesenden direkt anzublicken. Das ruhige Lächeln auf ihrem Gesicht sprach Bände davon, dass ihre Entscheidung tatsächlich gefallen war, und Shinya war sich nicht so ganz sicher, ob ihr es einfach nur schwer fiel, diese Entscheidung auch wirklich auszusprechen und so den ersten Schritt auf einen Weg zu machen, von dem aus keine Umkehr mehr möglich war, oder ob es ihr einfach nur Spaß bereitete, die Spannung noch ein kleines bisschen weiter auf die Spitze zu treiben.

"Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe", sagte sie schließlich, und das geheimnisvolle Lächeln auf ihren Lippen sprach doch ziemlich eindeutig für letztere Theorie, "obwohl mir das alles nun wirklich nicht leicht gefallen ist. Aber entschuldigt, ich sollte euch nicht länger auf die Folter spannen."

Die junge Frau wandte den Kopf und schickte ein unglaublich warmes Lächeln in Richtung des Katzenjungen. Shinya fühlte, wie sein Herz ganz unweigerlich einen kleinen, freudigen Satz machte, und so erkannte er nicht sofort, dass dieser Ausdruck tiefer Sympathie eigentlich überhaupt nicht ihm, sondern der Lichtmagierin an seiner Seite gegolten hatte.

"Was du gesagt hast, hat mir wirklich sehr geholfen. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht, auf welche Weise ich es wem recht machen und wen ich enttäuschen beziehungsweise mir zum Feind machen könnte. Blieb somit also nur noch die Frage, was ich denn eigentlich wirklich möchte, wonach ich gesucht habe, und das..." Sie atmete tief durch, und als sie nun aufs Neue zu sprechen begann, schien es deutlich schwerer zu fallen, die richtigen Worte zu finden. "...das ist ein Rivale, der mir ebenbürtig ist. Es tut mir leid, Hoshi... und Shinya... es wär sicher lustig geworden mit euch, aber irgendetwas sagt mir, dass dies die richtige Entscheidung ist. Macht's gut, ihr beiden..."

Ein trauriger Ausdruck glitt durch ihre grünen Katzenaugen, als sie sich abwandte, um dem blonden Jungen und dem schwarzhaarigen Krieger entgegenzugehen. Shinya senkte den Blick, bevor er ihre Gestalten in den dunklen Gassen verschwinden sehen konnte. Ganz wie von selbst ballten sich seine Hände zu Fäusten, und im ersten Moment war er viel zu schockiert, um überhaupt enttäuscht oder gar wütend zu sein.

"Das... das is doch nich möglich...", murmelte er und erschrak beinahe selbst darüber, wie fassungslos seine Stimme klang. "Ich meine, nach dem... nach dem, was du zu ihr gesagt hast... und überhaupt... ich war mir so sicher, dass sie..."

Er beschrieb mit beiden Armen eine vollkommen nichtssagende Geste und blickte hilfesuchend in Richtung seiner Freundin. Der Halbdämon wusste nicht genau, welche Reaktion er sich von dem Mädchen erhoffte, aber als er in ihren Augen eine wehmütige Traurigkeit las, die er selber noch überhaupt nicht empfinden konnte, da fühlte er sich nur noch ungleich verlorener als zuvor. Insbesondere, da das sonstige Verhalten des Mädchens so gar nicht zu dem Ausdruck in ihrem Blick passen wollte. Ihre Finger waren nicht etwa fest aufeinandergepresst, sondern vielmehr in ein nervöses Spiel vertieft, und ihr Kopf war auch nicht gesenkt, sondern befand sich in einem Zustand steter Bewegung.

"Irgendetwas stimmt hier nicht", flüsterte sie, ohne auch nur im Geringsten auf Shinyas Worte einzugehen.

"Was meinst du?", fragte der Katzenjunge und fühlte nun seinerseits eine diffuse Nervosität in sich aufsteigen. Seine Augen streiften über die ruhige, schlafende Umgebung des Marktplatzes, jedoch ohne etwas Sehenswertes oder gar Alarmierendes zu entdecken.

"Ich weiß nicht... ich hab schon die ganze Zeit das Gefühl, als ob uns jemand... nun ja, beobachten würde."

Shinya wollte gerade die Schultern heben und zu einer Antwort ansetzen, als auf einen Schlag und ohne jede Vorwarnung mitten auf dem Platz die Hölle losbrach.

Zunächst war es nur eine einzige, gar nicht einmal so riesenhafte Feuerkugel, die exakt an der Stelle des Marktbrunnens einschlug, an der die beiden jungen Estrella noch in den Mittagsstunden gemeinsam mit Tierra verweilt hatten. Der brennende Ball explodierte jedoch unter der Wucht seines eigenen Aufpralls, wurde in tausend Funken und flammende Fetzen zerrissen, die gleißend und brüllend durch die Nacht stoben und eine atemberaubende Hitzewelle mit sich brachten, die Shinya ins Taumeln brachte.

Ein zweiter Flammenstrahl traf das Dach ihrer Herberge mit derart zerstörerischer Gewalt, dass die Dachschindeln in tausend Stücke zerbarsten und als glühende Geschosse auf dem Stein des Marktplatzes und den Fassaden der umliegenden Hauser zerbarsten. Binnen weniger Sekunden hatte sich die nächtliche Idylle in ein flammendes Inferno verwandelt, das Shinya zumindest im ersten Augenblick jede Orientierung raubte.

"Was ist das?", hörte er Hoshis ängstlich bebende Stimme über das Tosen des Feuers hinwegrufen, ohne wirklich einordnen zu können, aus welcher Richtung sie denn nun an sein Ohr drang.

"Ich weiß es nicht, verdammt!" Auch Shinya musste schreien, um überhaupt seine eigenen Worte zu verstehen. "Aber wir sollten schleunigst schaun, dass wir hier wegkommen!"

Verzweifelt versuchte er, mit seinen tränenden Augen zumindest irgendeinen menschlich wirkenden Schatten inmitten des rasenden Flackerns von Gelb und Weiß und grellem Rot auszumachen, aber noch bevor er auch nur den Hauch einer Chance bekam, seinen Blick an die allgegenwärtige Reizüberflutung aus grellstem Licht und beißendem Rauch zu gewöhnen, da stürzte auch schon ein weiterer Feuerball aus dem bleigrauen Himmel zu ihm herab.

Oder genauer gesagt, auf ihn herab.

Der Katzenjunge konnte sich im letzten Moment mit einem Sprung zur Seite wenigstens noch davor retten, sofort von der gierigen Glut erschlagen zu werden, doch zu seinem Entsetzen begann der steinerne Boden um ihn herum augenblicklich zu brennen, ganz so, als ob er doch eigentlich viel eher aus Holz oder Stroh bestehen würde.

"Shinya! Shinya, wo bist du?!"

In Hoshis Stimme lag eine Panik, die sich zunehmend auch in seinem eigenen Körper ausbreitete, die sein Blut vergiftete und ihm das Herz bis zum Halse schlagen ließ. Überall um ihn herum waren Flammen, grässliche, geifernde Flammen, die ihm jede Möglichkeit zur Flucht verwehrten und ihn schon mit ihrem sengenden Atem fast um den Verstand brachten. Funken brannten sich in seine Haut, brannten nicht minder schmerzhaft als die Luft in seinen Lungen, und als Shinya erneut zu Schreien begann, da versagte ihm beinahe augenblicklich die Stimme.

"Hoshi?! Hoshi, Hilfe! Hilfe!!"

Allmählich, schoss es ihm mit einer erschreckenden Klarheit durch den Kopf, während all seine anderen Sinne vom Qualm und von der Hitze auf äußerst qualvolle Weise gedämpft und erstickt wurden, schien es ja zu einem Hobby von ihm zu werden, sich selbst in lebensgefährliche Situationen zu bringen. Nur leider waren diese mordlüsternen Flammen sogar noch ein klein wenig heimtückischer und gefährlicher, wenn auch nicht annähernd so unsympathisch wie sein guter, alter Freund Phil, der ihn vor den Toren des nächtlichen Tranquilas unauffällig aus Weg hatte räumen wollen.

Shinyas Körper wurde von einem schmerzhaften Husten geschüttelt, und einige Sekunden lang wurde mit dem Atem, der keinen Platz mehr in seinen Lungen zu finden schien, auch jeder Gedanke aus seinem Kopf getrieben. Das Zucken und Flackern der Flammen verschwamm zu einem blendend hellen Farbenrausch, und im nächsten Moment fand sich der Katzenjunge auf dem unangenehm heiß gewordenen Boden wieder. Er stemmte sich mit beiden Händen gegen die rötlich glimmenden Pflastersteine, doch seine Arme und Beine fanden keinerlei Kraft mehr, sein Körpergewicht noch länger tragen zu können. Er wusste nicht mehr, ob die Flammenwand sich ihm tatsächlich (und noch dazu mit einer beunruhigend hohen Geschwindigkeit) näherte, denn vor seinen Augen wütete nur mehr ein undurchsichtiges Chaos aus Helligkeit, in dem sich keinerlei Distanzen mehr abschätzen ließen.

Wenigstens bis zu jenem Augenblick, in das Feuer ihn endlich erreicht hatte.

Das Unglück brach derart schnell und vehement über ihn herein, dass ihm eigentlich überhaupt keine Zeit mehr blieb, es zu begreifen, bevor die mit ihm einhergehenden Schmerzen ihm ohnehin den Verstand raubten. Die Flammen leckten nach seinem Fuß, und binnen weniger Sekunden brannte sein ganzer Körper lichterloh. Seine gesamte Kleidung wurde blitzschnell von einem flackernd heißen Teppich überzogen, der jeden Millimeter seiner Haut auf grausamste Weise zu versengen schien.

Shinya wälzte sich schreiend auf dem Boden herum, doch das glühende Pflaster schien das Feuer auf seinem Körper nur noch weiter zu nähren, anstatt die unerträgliche Hitze in irgendeiner Form zu lindern. Das lange Haar des Halbdämons und sein hilflos umherpeitschender Katzenschwanz brannten wie Zunder und mit jedem Schrei konnte nur noch mehr und mehr Rauch in seine Lungen vordringen, um ihm ein widerlich schmerzhaftes Husten über die verglühenden Lippen zu treiben.

"Shinya?! Shinya, sag doch was!! Shinya?!"

Hoshis Schreie schienen aus einer unendlich weiten Ferne an sein Ohr zu dringen. Seine Bewegungen wurden zunehmend kraftloser, bis sie schließlich ganz erlahmten, doch sein Bewusstsein wollte und wollte einfach nicht schwinden. Jede Faser seines Körpers schrie nach Ruhe, nach Erlösung von den ewigen, tobenden Schmerzen, während sich die gleißenden Zähne des Feuers immer tiefer und tiefer in sein Fleisch schlugen.

"Hoshi..."

Der Katzenjunge fand keinerlei Kraft mehr dazu, nur noch einen einzigen weiteren Ruf hervorzubringen. Die Umgebung verblasste vor seinen Augen, verschwamm in einer allgegenwärtigen, blendend reinen Helligkeit, die selbst das hysterische Zucken der Flammen verschlang und ertränkte. Nun endlich begannen auch seine übrigen Sinne vollständig zu erlahmen und versetzten ihn ganz und gar in einen wundervollen Zustand betäubter Schwerelosigkeit.

Shinya zweifelte keinen Augenblick daran, dass das infernalische Brüllen der Flammen mit unveränderter Stimmgewalt durch die brandgeschwärzte Nacht tobte, aber seine Ohren waren unfähig, es noch länger bewusst wahrzunehmen. Eine gnädige, lindernde Taubheit ergoss sich über seinen Körper, wandelte die vernichtend heißen Schmerzen in eine angenehme Wärme, aber vielleicht, schoss es Shinya durch den Kopf, war ja auch einfach nur überhaupt keine Haut mehr da, die noch hätte schmerzen können. Der nahende Tod hatte ein Einsehen mit ihm, führte ihn sanft aus dem Leben in die Arme der Totengöttin hinüber und verschloss seine Sinne vor den letzten Peitschenhieben der grausamen Realität.

Ein müdes, dankbares Lächeln legte sich auf die Lippen des Katzenjungen. Währenddessen verblasste auch das grelle Leuchten um ihn herum, zerfiel in Hunderte, Tausende winziger Leuchtfunken, die in silbrig funkelnden Streifen zu Boden fielen, wo sie dann schließlich ganz verglühten. Auch das wundervoll taube Kribbeln war aus Shinyas Gliedmaßen gewichen und hatte jeden Hauch von Schmerz oder quälender Hitze mit sich genommen.

Aber erst, als der Katzenjunge den Kopf hob und Hoshis Gestalt nur einige Meter von sich entfernt auf dem nächtlichen Marktplatz stehen sah, da begriff er, dass weder die gnädige Betäubung seiner Wahrnehmung noch seine wundersame Heilung Einbildung oder gar die schmeichelnden Boten eines nahenden Todes gewesen waren. Shinya fühlte, wie sein eigener Atem seine Lippen streifte, wie die kleinen Pflastersteine unangenehm hart gegen seinen Rücken pressten und wie sein Herz ihm aufgeregt von innen gegen die Brust schlug, kurzum - er lebte, eindeutig und ohne jeden Zweifel.

Dann sah er, dass Hoshi nicht alleine war. Vor dem Mädchen stand eine Gestalt, deren Anblick selbst jetzt, in seinem durch und durch verwirrten Geisteszustand, noch ein leises Echo des Widerwillens in ihm wachrief. Besagte Gestalt war im silbergrauen Zwielicht der Nacht nur noch ungleich bleicher wie eh und je und ihr langes, schneeweißes Haar wurde sacht von irgendeinem Wind bewegt, den Shinya nicht fühlen konnte. Die Handflächen des Fremden, die von schwarzem Leder bedeckt waren, lagen auf denen des Mädchens und sie beide waren umhüllt von einem silbrig weißen Schein.

Shinya erkannte diesen Schein sofort wieder - es war das unendlich sanfte Leuchten, das Hoshis Körper bereits in jener Nacht umhüllt hatte, in der das Mädchen ihm zum ersten Mal das Leben gerettet hatte. Damals glücklicherweise noch allein und ohne die Hilfe jenes ebenso finsteren wie unfreundlichen Weißhaarigen, der ihm bereits wenige Stunden zuvor auf überaus kunstvolle Art und Weise den Tag verdorben hatte. Und dem er jetzt ganz ohne jeden Zweifel zu verdanken hatte, dass seine Lungen gierig nach der klaren Nachtluft schnappen und sein Herz wie wildgeworden rasen und pochen konnte.

Mit zittrigen Fingern wischte sich Shinya über das Gesicht - und hielt dann irritiert in seiner Bewegung inne. Der fingerlose Handschuh an seiner Rechten strahlte ihm unschuldig weiß und vollkommen unversehrt entgegen, und auch der tiefgrüne Stoff seines Ärmels war nicht mehr und nicht weniger dreckig, als man es nach einer hysterischen Wälzorgie auf dem staubigen Stein eines viel benutzten Marktplatzes von ihm erwarten konnte. Eine rasche Musterung seiner übrigen Kleidung verriet Shinya, dass auch diese nicht einmal die leiseste Spur von Ruß oder Asche aufwies, keinen noch so kleinen Brandfleck oder sonst irgendetwas, das auf einen allzu nahen Kontakt mit dem heißen Element hingewiesen hätte.

Wohl brannte seine Haut, fühlte sich hier und dort noch unangenehm gespannt an, doch ihre leichte Rötung wirkte mehr wie das letzte Überbleibsel eines ganz besonders fiesen, aber beinahe schon ausgeheilten Sonnenbrandes. Die Fassaden der umstehenden Häuser hatten das tödliche Flammeninferno sogar noch glücklicher überstanden als er selbst, waren ebenso strahlend und prachtvoll wie eh und je und besaßen keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den tristen, halb zerschmetterten, halb verkohlten und ausgebrannten Ruinen, die dem alptraumhaften Szenario der vergangenen Minuten einen grauenhaft morbiden Rahmen geboten hatten.

Langsam rappelte Shinya sich auf und ging unsicheren Schrittes seiner Freundin entgegen. Das dunkelhaarige Mädchen wandte den Kopf in seine Richtung, als sie seine Schritte auf dem trockenen Pflaster näher kommen hörte, und in ihren dunklen Augen konnte Shinya einen Ausdruck von Verwirrung lesen, den er nur allzu gut nachvollziehen konnte.

"Was... war das eben...?", flüsterte sie.

"Hm", entgegnete der Fremde an Shinyas Stelle, begleitet von einem ungerührten Schulterzucken. "Es sah aus wie eine Illusion. Es fühlte sich an wie eine Illusion. Es roch sogar wie eine Illusion. Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ja beinahe zu behaupten wagen: möglicherweise... eine Illusion?"

"Ach, eine Illusion also, ja?", grummelte Shinya und zog den unversehrten Stoff über der weniger unversehrten Haut seines Armes zurück. "War aber mal verdammt schmerzhaft für ne Illusion!"

"Es könnte natürlich auch einfach nur ein peinlich missglückter Weltuntergang gewesen sein, aber das wage ich zu bezweifeln."

"Apropos Weltuntergang..." Hoshi warf einen fragenden Blick in Richtung des Weißhaarigen. "Du... bist doch auch ein Estrella, oder? Ich hab das gespürt. Unsere Kräfte... sind sich nicht ganz unähnlich..."

"Stimmt... du hast so etwas an dir... ein Nachtlicht, Sterne, was auch immer. Keine Lichtmagie im ganz klassischen Sinne. Dass sie meiner Magie geähnelt hat, könnte unter Umständen daran liegen, dass ich der Estrella des Mondes bin. Und, um dieses obligatorische Vorstellungsspielchen komplett zu machen: Mein Name ist Noctan, Noctan Lunar."

"Ich weiß nich, ob's dich interessiert, aber ich heiße Shinya", stellte sich der Katzenjunge nicht ohne einen Anflug von Widerwillen vor. "Ich fürchte... das hier is dann wohl die Stelle, an der ich mich bedanken sollte, richtig?"

Noctan zuckte mit den Schultern.

"Tu, was du nicht lassen kannst. Ich bin allerdings primär gar nicht hierher gekommen, um mich als großen Helden feiern zu lassen, obwohl das natürlich eure Sache ist. Mir persönlich würde es hingegen schon vollkommen reichen, meine bescheidene Wenigkeit in eure erlauchte Gemeinschaft einreihen zu dürfen..."

"Jetzt mal im Ernst?" Shinya zog eine Augenbraue hoch und betrachtete den Weißhaarigen mit unverhohlenem Misstrauen. Irgendetwas an dessen plötzlichem Sinneswandel wollte ihm beim besten Willen nicht behagen oder gar zufrieden stimmen, aber gleichzeitig fehlte ihm der Mut, dem Angebot des Fremden mit allzu kritischer Ablehnung entgegenzutreten. Er wusste selbst, dass Phils Gefolgschaft seiner eigenen seit Neuestem zahlenmäßig überlegen war, und auch wenn dieser Vorteil sich nur auf einen einzigen Mann (beziehungsweise auf eine einzige Frau) beschränkte, so konnte er doch jeder Unterstützung eigentlich nur dankbar entgegenblicken.

Der Katzenjunge zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und hoffte inständig, dass ihm die schicksalsergebene Resignation nicht allzu deutlich auf der Stirn und in den Augen abzulesen war. Derart gewappnet wandte er sich wieder seinem potentiellen neuen Mitstreiter zu, dessen weißes Haar im Mondlicht silbern schimmerte, was ihn sogar noch ein klein wenig schöner aussehen ließ, als das ohnehin schon der Fall war. Was aber trotz allem nicht das ungute Gefühl betäubte, das der Anblick des Fremden nach wie vor in dem Halbdämon weckte.

Aus irgendeinem Grund war sich Shinya sogar ganz verflucht sicher, dass er die Entscheidung dieser nächtlichen Minuten noch in nicht allzu ferner Zukunft würde bereuen müssen.

"Also gut", grinste er trotz allem, und vollführte eine vielsagende Kopfbewegung in Richtung des wundersam intakten Gasthofes, in dessen Obergeschoss immer noch sein herrlich weiches, warmes, luftiges Bett auf ihn wartete. "Lass uns..."

Shinya stockte, als er mit einem Mal ein Gefühl überwältigenden Entsetzens in seiner Brust aufsteigen fühlte. Er riss seine grünen Augen weit auf und konnte gerade noch alle Kraft zusammen nehmen, um tief Luft zu holen und ein weiteres Mal zu schreien, so laut und so durchdringend er nur irgendwie konnte:

"Noctan, pass auf, hinter dir!"
 

Ende des dritten Kapitels

Kapitel IV - Von Licht und Schatten

... und schon wieder ein neues Equinox-Kapitel! Ja, ich war fleißig, weil ich das hier unbedingt bis zum Geburtstag meines FF-Autoren SonGokuDaimao fertig haben wollte. Fünkchen, that's for you! ^.^ Die Arbeit an diesem Kapitel fiel mir stellenweise erstaunlich leicht, zumindest im Vergleich zu manch vorherigem (und nachfolgendem ;_;) Kapitel. Lustigerweise hat die Ãœberschrift, Von Licht und Schatten, in der überarbeiteten Version noch mal eine ganz neue Bedeutung gewonnen und passt jetzt nur umso besser. Man könnte dieses Chapter gewissermaßen unter das Motto "Nobody's perfect" stellen, denn hier zeigt sich mal, dass jeder der Charaktere so seine Schwächen hat... ich bin sehr glücklich darüber, dass in dem "neuen" Equinox wirklich alle Charas viel, viel... menschlicher und, wie ich finde, auch glaubwürdiger sind. Ich hoffe, dass ich mit dieser Meinung nicht alleine dastehe und es dem einen oder anderen gefällt. ^_^ Über Kommentare jeglicher Art würde ich mich persönlich sehr freuen!
 

"Was zum..."

Ein Licht flackerte auf, so grell, dass Shinya die Augen schließen und sich schützend beide Arme vor das Gesicht reißen musste. Nichts an diesem Licht war schön oder sanft - auf eine kaum zu beschreibende Weise war es auch nicht einmal wirklich hell, sondern lediglich von einer blendenden Bedrohlichkeit erfüllt.

Nicht schon wieder, jagte es ihm ein ums andere Mal durch seine Gedanken, bitte nicht schon wieder, doch das Schicksal oder was auch immer sich nun für die anscheinend gar nicht enden wollenden Aufregungen dieser Nacht verantwortlich nennen durfte, schien wieder einmal kein Einsehen mit ihm zu haben. Eine widerwärtig klebrige Wärme umfing den Körper des Katzenjungen - nicht schmerzhaft, sondern einfach nur verflucht unangenehm - und als er es langsam wieder wagte, seine Arme sinken zu lassen und die Lider zu heben, da sah er zunächst einmal überhaupt nichts anderes mehr als Punkte und Kreise, die wie wildgeworden vor seinem Blickfeld umhertanzten.

Und er sah, dass das Licht sich verändert hatte.

Es war zunächst einmal mehr eine vage Ahnung, die dann aber rasch zur Gewissheit wurde, als sich der erste Eindruck auch mit besser werdenden Sichtverhältnissen nicht einfach wieder verflüchtigte. Jegliches blendende Gleißen hatte sich voll und ganz im Nichts verloren und war nun einem blässlich-warmen Leuchten gewichen, einem weichen Zwielicht aus trübem Sonnenschein und türkisblauen Nebelschwaden. Dies war allerdings bei Weitem nicht die einzige Veränderung, die seine Umgebung binnen weniger Sekunden durchlebt hatte.

Unter den Sohlen seiner Stiefel fühlte Shinya nicht mehr länger das harte, etwas staubige Pflaster des Marktplatzes von Avârta, sondern weichen, angenehm warmen Boden, wie er ihn bislang nur aus den Wäldern von Arvesta kannte. Die Luft war auch nicht mehr klar und erfrischend kühl, sondern schwer von dem Duft nach Moos und Tannennadeln. Und als die Augen des Katzenjungen endlich wieder voll und ganz dazu imstande waren, sich umzublicken, da fand Shinya sich tatsächlich auf einem schmalen, gewundenen Waldweg wieder, der von zarten, ungewöhnlich hohen Farnen gesäumt wurde. Hinter diesen filigranen Pflanzenkunstwerken erhob sich eine Mauer aus Bäumen - allerdings Bäume, wie der Halbdämon sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.

Die Rinde dieser Bäume trug die Farbe tiefen Schwarzes, ohne dabei jedoch krank oder auch nur unheimlich auszusehen, und ihre duftenden Nadeln und Blätter strahlten in einem intensiven Blaugrün. Die schlanken Äste der Laubbäume bildeten einen natürlichen Baldachin über dem märchenhaft verwunschenen Weglein, auf dem er stand, und versperrten so jeden Blick auf das weite Zelt des Himmels, sodass Shinya nicht einmal hätte sagen können, ob es nun immer noch Nacht oder tatsächlich bereits heller Morgen war.

Etliche Momente lang war der Katzenjunge von der unwirklichen Schönheit des Ortes allerdings sowieso derart gefangen, dass er sich noch nicht einmal ernstlich wundern konnte. Dann jedoch schaltete sich langsam aber sicher sein logischer Verstand wieder ein und brachte ganz unweigerlich einen Berg von wenig wildromantischen, dafür aber umso quälenderen Fragen mit sich. Zum Beispiel, wie er quasi von einem Augenblick zum nächsten von dem Marktplatz eines Dorfes in einen Wald - in was für einen Wald überhaupt?! - gekommen war. Oder wo sich Noctan und Hoshi wohl befinden mochten, da er keinen von beiden auf dem Weg oder auch im Schutz des umliegenden Dickichts ausmachen konnte.

Shinya schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken gewaltsam wieder auf vernünftige Bahnen zu lenken. Tatsächlich gab es nämlich gar nicht allzu viele Möglichkeiten, wie seine blitzschnelle Reise vonstatten gegangen sein konnte, und diese Möglichkeiten liefen im Endeffekt auch mehr oder weniger alle aufs gleiche Ergebnis heraus. Vielleicht war all die Aufregung der zurückliegenden Stunden ja einfach ein kleines bisschen zuviel für ihn gewesen und er infolgedessen ganz unheldenhaft in Ohnmacht gefallen, weshalb er nun auch in einem bemerkenswert realistischen und besonders schönen Traum verweilte. Oder er war lediglich das Opfer einer weiteren - wie hatte Noctan so schön gesagt? - Illusion geworden, die er in dieser Nacht ja anscheinend auch irgendwie magisch anzuziehen schien.

Und während er noch so grübelnd zwischen Farnen, Zwielicht und Nebelfetzen verweilte, da hörte er mit einem Mal ein glockenhelles Stimmchen hinter sich ertönen:

"Hallo, du! Hast du dich verlaufen?"

Erschrocken fuhr Shinya herum - und prallte beinahe auf ein kleines Mädchen, das kaum älter als sieben Jahre sein konnte. Ihr ganzes Erscheinungsbild fügte sich derart perfekt in ihre Umgebung, dass es beinahe schon wieder grotesk war. Die Kleine hatte nämlich leuchtend himmelblaues Haar, das sie zu zwei Zöpfen zusammengebunden trug, dazu eigentümlich blasse, fast schon bläulich durchschimmernde Haut und große dunkelblaue Augen, die dem Katzenjungen neugierig entgegenblitzten. An ihren tiefblau samtenen Haarbändern baumelten winzige Glöckchen, und ihr kurzes Oberteil bestand aus einem lebendig meeresfarben glänzenden Stoff.

Die dünnen Beine des Mädchens waren lediglich von einem kurzen schwarzen Röckchen verhüllt, über dem sie einen für ihre kindliche Größe eigentlich viel zu breiten Ledergürtel mit einer großen, etwas ausgebeulten Tasche trug. Zu ihren Füßen, die in schweren grauen, mit hellblauem Stoff verzierten Stiefeln steckten, saß ein braun-weiß geschecktes Tien-Tien. Shinya hatte noch nicht viele dieser scheuen Tiere gesehen, die ein bisschen so wie eine überaus niedliche Mischung aus einem Hasen und einer Katze aussahen. Er hatte irgendwann einmal davon gelesen, dass die Tien-Tiens auf Grund der großen, funkelnden Edelsteine, die sie auf ihrer Stirn trugen, lange Zeit von den Menschen gejagt und getötet worden waren, bis sie sich schließlich in den Wälder zurückgezogen hatten, um sich dort vor den Augen ihrer Jäger zu verstecken.

Das blauäugige kleine Exemplar, das er nun jedoch vor sich hatte, schien von dieser Grundangst vor allem menschlichen Leben allerdings noch nicht allzu viel gehört zu haben, denn es kuschelte sich eng und vertrauensvoll an die Füße der kleinen Blauhaarigen und betrachtete auch Shinya eher mit wohlwollendem Interesse als mit lauernder Furcht oder Ablehnung.

"Wer bist du?", fragte das Mädchen und machte einen forschen Schritt auf den Katzenjungen zu. "Misty hat dich hier noch nie gesehn. Du bist ja süß! Bist du eine Katze?"

Shinya blinzelte der Kleinen verwirrt entgegen, was diese jedoch lediglich zu einem übermütig entzückten Lachen verleitete.

"Ich... ich bin Shinya Trival", antwortete der Halbdämon ein wenig säuerlich (immerhin hatte er allen Grund, mit seiner momentanen Situation überfordert zu sein, und das fand er auch ganz und gar nicht komisch!) und hob seine Schultern. "Wie ich hier herkomme, wüsste ich allerdings auch gern. Was is das überhaupt für ein komischer Ort? Avârta wird's ja wohl nich sein, oder?"

"Nein, nicht Avârta", verbesserte ihn die Kleine mit einem seiner Meinung nach eindeutig viel zu altklugen Lächeln auf den leicht bläulichen Lippen, "sondern Arcana. Das hier ist der Wald Arcana und ich bin Misty Shape!"

Der Katzenjunge zwang sich mit leisem Widerwillen dazu, das begeisterte Strahlen der kleinen Blauhaarigen auf doch etwas gedämpfte Weise zu erwidern.

"Was machst du eigentlich hier, so ganz allein? Ich mein, du bist ja doch noch so ein ganz klein wenig zu jung dafür, um hier einsam im Wald zu leben, meinste nich?"

Das Mädchen machte große Augen.

"Aber Misty ist doch gar nicht allein! Misty hat soooo viele Freunde hier!"

Sie schob sich blitzschnell Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß einen hellen Pfiff aus, und noch im nächsten Moment begann sich die verträumt schlummernde Märchenlandschaft mit Leben zu füllen. Von überall her flatterten plötzlich zahllose Vögel herbei, große und kleine, in den fantastischsten Farben und mit prächtig leuchtenden Federkleidern. Kleine Tien-Tiens und Häschen hoppelten heran, und zur unvermeidbaren Krönung der traumhaften Szenerie sah Shinya dann auch noch ein zierliches Reh zwischen den Bäumen hervorstaksen.

Dem Katzenjungen fielen fast die Augen aus dem Kopf.

"Das sind alles Mistys Freunde! Siehst du? Misty ist gar nicht allein. Aber Shinya ist allein, wieso denn?"

Es kostete Shinya große Mühe, sich wieder von dem schlichtweg unglaublichen Anblick loszureißen, den er in jeder Erzählung wohl ganz einfach nur als krampfhaft idyllisch und kitschig abgetan hätte, und der ihn nun, da er ihn mit eigenen Augen bewundern durfte, doch ohne jeden Zweifel zutiefst beeindruckte. Zu allem Überfluss hatte die vertrauensselige Tierschar nun auch noch zur kollektiven Belagerung des Mädchens angesetzt - die Vögel ließen sich auf ihrem Kopf und ihren Schultern nieder, während die übrigen Tiere ihr sanft und zärtlich um die Beine strichen oder mit sichtlicher Hingabe ihre kleinen Fingerchen abschleckten.

"Also... es ist so", murmelte er, immer noch reichlich perplex, "ich war da eben noch auf dem Marktplatz von Avârta und allein war ich auch nich, aber die anderen sind plötzlich weg und ich... bin hier... oder so..."

Wieder einmal erfüllte das helle, klare Lachen der kleinen Blauhaarigen den Wald.

"Ich weiß schon, dann ist Shinya also durch das Licht hierher gekommen! Misty kennt das Licht, weil Mistys Großmutter nämlich ganz, ganz viel davon erzählt hat!" Sie unterstrich ihre Worte mit einem eifrigen Nicken. "Also muss Shinya ein ganz besonderer Mensch sein, wenn er durch das Licht nach Arcana gekommen ist. Misty ist nämlich auch als Baby durch das Licht nach Arcana gekommen!"

Shinya horchte auf.

"Das Licht, sagst du? Da war echt ein Licht, ja, aber was hat das zu bedeuten?"

Misty zuckte mit den Schultern.

"Na ja, so genau weiß Misty das auch nicht, aber das hat irgendwas mit Magiern zu tun. Misty kann nämlich zaubern und Misty wird einmal eine gaaaanz große Kriegerin, wenn sie erwachsen ist. Eine Sternenkriegerin!"

"Moment Mal - sagtest du eben Sternenkriegerin?"

Der Katzenjunge fühlte, wie ein leiser Schauer langsam über die gesamte Fläche seiner Haut kroch. Es war vor noch gar nicht allzu langer Zeit gewesen, da war er gemeinsam mit Hoshi und der alten Yantra wieder einmal gemütlich bei Eintopf und Kerzenlicht zusammengesessen und wie so oft war ihr heiteres Gespräch auf etlichen verschlungenen Pfaden schließlich doch wieder bei der Estrella-Legende angelangt. Und irgendwann hatte die grauhaarige Frau wie beiläufig in einem Satz erwähnt, dass das Wort Estrella tatsächlich Stern bedeutete, was Shinya zwar irgendwie erfreut hatte (schließlich liebte er die Nacht und alles, was damit zu tun hatte), aber letztendlich doch im strahlenden Lichte wichtigerer Fakten auf wenig rühmliche Weise verblasst war.

Wenn er nun jedoch daran zurückdachte - und sich gleichzeitig die fast schon lachhaft absurde Tatsache vor Augen führte, dass ihm innerhalb der letzten vierzehn Tage bereits sage und schreibe fünf Estrella über den Weg gelaufen waren, sich selbst noch nicht mal mit eingerechnet - da erschien ihm jene kindlich naive Wortschöpfung der Blauhaarigen eigentlich gar nicht mehr naiv und kindlich, sondern ganz ungemein... bedeutungsschwer. Aber war es denn wirklich möglich, dass ausgerechnet dieses unschuldig dreinblickende kleine Mädchen...?

"Ja genau! Und außerdem ist Misty auch eine ganz, ganz tolle Magierin, und wenn Shinya mag, dann kann sie ihn auch gleich wieder zu seinen Freunden zurückbringen! Misty ist nämlich schon groß und Misty kann genauso gut zaubern wie ihre Großmutter!"

"Wie ihre... deine Großmutter?" Das neu entflammte Interesse vertrieb erfolgreich jegliche Verwirrung aus Shinyas Stimme und machte es ihm auch deutlich leichter, einen freundlichen, einnehmenden, ja sogar ein kleines bisschen begeisterten Tonfall zu wahren. "Hast du von ihr das mit dieser Sternenkrieger-Sache? Sag mal, es kann aber nicht zufällig sein, dass deine Oma da irgendwie noch mehr über die Est... über die Sternenkrieger weiß?"

Das blauhaarige Mädchen nickte eifrig und schenkte Shinya ein stolzes Lächeln, woraufhin ganz wie von selbst ein freudiges Zucken durch Shinyas Katzenohren lief. Sollte es etwa tatsächlich möglich sein, dass sich das Schicksal nur ein einziges Mal auf seine Seite geschlagen hatte?

"Hey, kannst du mich dann vielleicht mal kurz zu ihr bringen? Das würd mir nämlich echt total weiterhelfen, weißt du?"

"Echt?", fragte Misty, und noch während sie sprach legte sich ein trauriger Ausdruck in das tiefe Blau ihrer großen Augen. Sie senkte ihren Blick ein wenig und schwieg einige Momente lang, bevor sie sich mit einem übereifrigen Kopfschütteln wieder zum Lächeln und Strahlen zwang. "Das ist aber dumm für Shinya, weil Großmutter ist nämlich eingeschlafen. Und sie träumt einen soooo schönen Traum, dass sie gar nicht wieder aufwachen möchte!"

"Oh", machte Shinya mangels einfühlsamerer, tröstenderer Worte, und ließ seinen Blick hastig zu dem bläulichen Grün der Farne schweifen, das auf einmal ganz ungemein an Faszination gewonnen hatte. Er spürte einen leisen Stich in seinem Herzen und er begriff nicht, wieso, da er das Mädchen erstens nicht kannte und zweitens auch kleine Kinder im Allgemeinen nicht sonderlich mochte. Aber trotzdem... Misty war wirklich noch sehr jung, und nach dem Tod ihrer Großmutter war sie gewiss der einzige Mensch, der jetzt noch diesen merkwürdig zauberhaften Wald bevölkerte, was doch allen herzigen Tieren zum Trotz ein ziemlich einsames Leben sein musste...

Oder zumindest stellte er es sich so vor.

"Aber jetzt soll Misty Shinya doch zu seinen Freunden bringen, oder?", fragte die Kleine hastig. Der Katzenjunge nickte und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. "Dann wart mal kurz, Shinya!"

Misty ging auf die Knie und streckte ihre Arme nach dem kleinen gescheckten Tien-Tien aus, das schon vor den übrigen Tieren bei ihr gewesen war. Das kleine Fellknäuel quiekte freudig und bewegte sich mit einem überraschend kraftvollen Satz auf die Schulter des Mädchens.

"Auf Wiedersehn, Chibi! Pass bitte auf die anderen auf, während Misty weg ist!"

Die Kleine und ihr Tien-Tien tauschten einen kurzen, amüsanterweise aber unvorstellbar innigen Blick aus, und noch im nächsten Moment hatten die Augen der Blauhaarigen ihr wahres Leuchten zurückgewonnen, vielleicht sogar noch ein kleines bisschen strahlender als zuvor.

"Meinst du wirklich? Oh Chibi, das ist eine tolle Idee!"

Sie schloss den kleinen Schecken fest in ihre Arme, dann setzte sie ihn vorsichtig wieder auf dem Waldboden ab und zog eine silbrig schimmernde Flöte aus ihrer Tasche hervor.

"Dann sehn wir uns ja bestimmt bald wieder, Chibi-chan!"

Misty kraulte noch ein letztes Mal hingebungsvoll das braun-weiße Fell des Tieres, dann sprang sie auf und hüpfte Shinya lachend entgegen.

"Soooo, jetzt können wir gehen!"

Shinya vollführte eine Kopfbewegung in Richtung des nun ganz eindeutig etwas geknickt dreinblickenden Tien-Tiens.

"Sag mal... wär das irgendwie möglich, dass ihr euch... also... unterhalten könnt? Ich mein du... und dein... dein Tier?"

"Natürlich kann Misty mit Chibi sprechen", entgegnete die kleine Blauhaarige in milde verzeihendem Tonfall und bemaß den Halbdämon gleichzeitig mit einem Blick, der tatsächlich in leuchtend roten Lettern die Worte hirnlos und Dummkopf in die bläulich schimmernde Luft zu schreiben schien. "Mistys Großmutter konnte das nämlich auch und hat es Misty beigebracht. Misty kennt Chibi schon, seit Chibi ein ganz kleines Baby ist, und Chibi kann auch zaubern!"

"Wie schön", murmelte Shinya wenig geistreich, was ihm spontan ein (seiner Meinung nach etwas zu) unverschämt breites Grinsen seitens des Mädchens einbrachte. "Sowas hab selbst ich noch nie gesehn!"

"Das findet Misty auch. Aber jetzt reden wir ja schon wieder, los jetzt!" Misty schwenkte in sichtlicher Ungeduld ihr kleines, silbern blitzendes Instrument in der Luft umher und wandte sich von dem Katzenjungen ab. Shinya sah schon, wie sich ihr zierlicher Körper spannte, bereit, jeden Augenblick loszuschnellen und den gewundenen Waldweg hinabzulaufen, dann jedoch hielt die Kleine noch einmal kurz inne und grinste betont frech über ihre Schulter zurück. "Und außerdem hat Misty auch noch nie einen Jungen mit Katzenohren gesehn!"

Lachend drehte sie sich um und sprang mit übermütigen Sätzen den verwunschenen Pfad hinab, tiefer hinein in den von blauem Licht und blauen Schatten erfüllten Märchenwald. Die Nebelfetzen sammelten sich mit zunehmender Dichte zwischen den nachtfarbenen Baumstämmen. Tautropfen schimmerten auf den Farnen und den Pilzen, die dicht neben den hohen, dunklen Stämmen der Baumriesen wuchsen. Die ganze Kulisse schien an sich schon einem unheimlich schönen, fantastischen Traum entsprungen zu sein, und nun erklang inmitten dieser unwirklichen Atmosphäre auch noch das silberhelle Flötenspiel des kleinen Mädchens.

Misty spielte eine gleichzeitig träumerisch ruhige und doch lebhaft bewegte Melodie, ein an und für sich recht schlichtes Liedchen, das Shinya dennoch eine überaus hartnäckige Gänsehaut über den Rücken jagte. Trotz ihres Spiels gelang es dem Mädchen, schneller und schneller voranzulaufen, bis der Halbdämon schließlich größte Probleme hatte, überhaupt noch mit ihr Schritt zu halten. Ihre Zöpfe flogen bei jedem Sprung hinter ihr her, schimmerten im blauen Licht des Waldes, in das die kleine Gestalt schließlich vollkommen eintauchte. Ihre Konturen verblassten mehr und mehr, während gleichzeitig wahre Massen von Nebel aufzogen und den Wald in einen schneeweißen Schleier hüllten.

Irgendwo inmitten dieses Nebelmeeres sprang und hüpfte ein kleines blaues Irrlicht, und Shinya begriff rasch, dass es sich bei diesem tanzenden Schein nur um Mistys an und für sich ja silberne Flöte handeln konnte, die milchig weich zu glühen begonnen hatte. Schließlich verblasste jedoch selbst dieser letzte Funken an Orientierung, als sich der dunstige Rausch seiner Umgebung in ein einziges schimmerndes Nichts auflöste, doch aus irgendeinem Grund blieb Shinya auch jetzt nicht stehen, sondern rannte einfach immer weiter geradeaus, blindlings ins Ungewisse hinein.

Erstaunlicherweise schien auch der Boden unter seinen Füßen merkwürdig... aufgeweicht... undefiniert, und so blieb dem Katzenjungen keinerlei Chance, seine tatsächliche Umgebung zu bestimmen. Befand er sich etwa immer noch inmitten des traumhaft schönen Waldes, in den er auf so mysteriösem Wege hinein- und jetzt angeblich auch schon halb wieder hinausgelangt war? Schwebte er gar am Ende irgendwo zwischen Raum und Zeit, in einem unbestimmten Nichts zwischen allen Dimensionen, aus dem es möglicherweise kein Entkommen mehr gab? Wer sagte ihm denn eigentlich, dass das - vielleicht nur auf den ersten Blick so niedliche - Mädchen ihn auch tatsächlich in Freiheit und Sicherheit führen wollte?

Shinya spürte, wie sich noch im Laufen die bislang noch wohlige, vom zarten Klang des Flötenspiels verzauberte Gänsehaut auf seinem Körper in eine unangenehme Salve eisig kalter Schauer verwandelte. Er keuchte, schnappte nach Luft, und noch im selben Moment verstummte Mistys Liedchen und er taumelte in einen grausigen Zustand vollkommener Orientierungslosigkeit hinein. Er fühlte sich so verloren wie selten zuvor, gefangen in einer Welt, in der es keinerlei Sinneseindrücke mehr gab, nur noch Weiß, glanzloses, dichtes, alles erstickendes Weiß, nicht mehr und nicht weniger.

Dann plötzlich hörte er seinen Namen und der Bann war gebrochen.
 

"Shinya? Shinya, oh bei den Göttern, da bist du ja endlich wieder!"

Der Katzenjunge blinzelte, nur ein einziges Mal, und schlagartig waren sämtliche Farben, Formen, Gerüche und Gefühle zurückgekehrt, die sich auf einem nächtlich verlassenen Dorfplatz eben so finden ließen. Da war die Front schlummernder Häuserfassaden und das blitzende Tuch des Nachthimmels. Da war der harte Pflasterstein unter seinen Fußsohlen und das hektische Klopfen, das seine eigenen Schritte darauf erzeugten. Da war das leise Lied des Nachtwinds und seine sanfte Berührung.

Und da war Hoshi, die mit angstvoll geweiteten Augen und wehendem Haar auf ihn zugelaufen kam.

Verwirrt blickte Shinya um sich, doch seine Umgebung war tatsächlich derart normal, dass es ihn erschaudern ließ. Das Licht der Nacht war blau, doch ihm fehlte der unwirkliche meeresfarbene Schimmer des seltsamen Waldes. Einmal abgesehen davon waren auf dem Marktplatz von Avârta aus naheliegenden Gründen auch keinerlei Farne, Baumriesen und Moosbüschel, ja nicht einmal mehr ein einziges kleines Pilzchen zu finden, und auch von Misty fehlte jede Spur - ebenso wie von Noctan, was den Katzenjungen aber nur sehr bedingt traurig stimmte.

"Shinya, wo warst du denn?", keuchte ihm da allerdings auch schon Hoshi in sein Ohr, bevor er noch tiefer in Gedanken versinken konnte. "Macht es dir heute irgendwie Spaß, mich halb zu Tode zu erschrecken?"

Der Halbdämon wandte träge seinen Kopf, fühlte sich allerdings viel zu benommen, um lange über eine einfühlsam erklärende Antwort nachzudenken. Es gab viele Wege, um zu ein und demselben Ziel zu gelangen, und obwohl Shinya sein genaues Ziel momentan gar nicht mehr wirklich erkennen konnte, entschied er sich doch ohne langes Nachdenken für die kürzeste und direkteste Route, da ihm zu jeglichem Umweg die Kräfte fehlten.

"Also... ich weiß zwar nicht, was und wo das ist, aber ich war in Arcana und ich habe einen Estrella getroffen. Wo auch immer sie nun sein mag. Hier ja scheinbar nicht. Und, nein, ich wollte dich nicht umbringen. Noch Fragen?"

"Noch Fragen?" Hoshi machte große Augen und durchbohrte den Halbdämon mit einem derart entgeisterten Blick, dass dieser unweigerlich die Schultern hob, um schützend den Kopf einzuziehen. "Da fragst du noch, ob ich noch Fragen habe? Hallo? Arcana? Einen Estrella getroffen? Muss ich das jetzt verstehen?"

"Ähm... keine Ahnung?"

"Na, du machst mir Spaß! Verschwindest plötzlich und stehst dann wieder vor mir und behauptest allen Ernstes, du wärst gerade eben in einen Märchenwald hineinspaziert und hättest uns auch gleich noch Verstärkung mitgebracht, die sich jetzt allerdings spontan mal wieder in Luft aufgelöst hat... aha."

"Was denn, aha?" Shinya spürte, wie Hoshis ganz offenkundig misstrauische und zweifelnde Verwirrung auf ihn überzugreifen begann, und diese Empfindung, gepaart mit einer wachsenden Erschöpfung und Müdigkeit, ließ einen starken Unwillen in ihm erwachen. "War ja klar, dass du irgendwie wieder weißt, wovon ich rede, aber dann weißt du's auch wieder doch nicht und ich soll jetzt am besten dumm lachen und sagen, dass ich's mir alles nur eingebildet hab, oder wie?"

"Shinya, was soll denn das jetzt plötzlich?" Das Mädchen zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, das allerdings nicht nur vollkommen unpassend, sondern auch reichlich erzwungen wirkte. "Ich meine... ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du warst einfach nicht mehr da und... ja, natürlich kenne ich Arcana, aber das kennt doch eigentlich jeder!"

"Entschuldige bitte - ich nicht!"

"Arcana ist ein Wald aus einer Geschichte... aus einem Märchen." Hoshi bemühte sich redlich um einen versöhnlichen Tonfall, was Shinya allerdings lediglich mit der überaus unangenehmen Erkenntnis erfüllte, dass sie ja eigentlich sowieso von Anfang im Recht und er wieder einmal furchtbar unfair gewesen war. Aber immerhin war er todmüde und aus irgendeinem Grund auch furchtbar frustriert... ernüchtert, und so verspürte er keinerlei Lust mehr auf das mühsame Streben nach taktvoller Diplomatie.

"Kenn ich nicht", brummelte er unverändert missgelaunt. Hoshi seufzte tonlos, und Shinya hätte sie dafür erwürgen können, so gerne er das Mädchen an und für sich auch mochte.

"Keiko hat sie mir oft erzählt, als ich noch ein Kind war. Es geht in dieser Geschichte um eine Frau, die mit den Tieren des Waldes sprechen kann und in Frieden und Freundschaft und Harmonie mit ihnen lebt. Ein typisches Kindermärchen eben. Ich glaube nicht, dass es dieses Arcana wirklich gibt."

"Kann ich was dafür, dass ich dort war?" Shinya schob trotzig die Unterlippe vor, dann jedoch lief vollkommen gegen seinen Willen ein erkennendes Leuchten durch seine grünen Augen. "Moment mal... ne Frau mit Tieren? Das kann aber jetzt echt mal sein, ich meine so ganz im Ernst und nicht nur als... Märchen oder so. Die Frau, das is Mistys Großmutter! Und wie die das ist!"

"Wer ist Misty?", fragte Hoshi und ließ zweifelnd eine ihrer Augenbrauen in die Höhe wandern. "Und wer ist Mistys Großmutter? Shinya... bist du sicher, dass es dir gut geht?"

Der Blick ihrer dunklen Augen wurde noch ein wenig eindringlicher und kritischer, und trotz eines leisen Schreckens war Shinya nur wenige Sekunden später heilfroh, dass er nicht mehr dazu kommen sollte, den bitterbösen Kommentar über seine Lippen zu bringen, der da so brennend heiß mitten auf der Zunge ruhte.

"Shinya-chan!", tönte es hell und begleitet von einem übermütigen Lachen über den dunklen Marktplatz. "Da bist du ja wieder, Shinya! Misty hat sich schon gaaaanz große Sorgen um Shinya gemacht! Misty hat gedacht, Shinya wäre verloren gegangen."

"Misty!" Shinya wandte sich erleichtert von dem braunhaarigen zu dem blauhaarigen Mädchen hin und hob seine Hand zu einem fast schon zu freudigen Winken. Aus den Augenwinkeln nahm er dennoch wahr, dass Hoshi ebenfalls in Richtung Misty blickte - und dass sich ihre Lippen ganz spontan zu einem erstaunt verzückten Lächeln verzogen.

"Hallo!", begrüßte sie den kleinen blauhaarigen Wirbelwind, der gleichsam nervös wie auch freudig erregt, in jedem Fall aber reichlich überdreht vor den beiden Estrella auf und ab und im Kreis herum hüpfte. "Du bist ja niedlich! Und wie heißt du?"

"Misty!", strahlte die Kleine und Hoshi strahlte zurück, obwohl sie die Antwort auf ihre Frage an und für sich ja längst schon hätte wissen müssen. "Und du?"

"Ich bin Hoshi."

"Hallo, Hoshi-chan!" Das Mädchen deutete einen komisch missglückten Knicks an, was Shinya unter anderen Umständen wohl durchaus hätte amüsieren können. Momentan war er allerdings viel zu beschäftigt damit, das merkwürdige, alles andere als schöne Gefühl in seinem Inneren niederzukämpfen, das die seltsame Begegnung mit Misty, seine kurze, aber wenig harmonische Unterhaltung mit Hoshi und nicht zuletzt die plötzlich erwachte Begeisterung in den dunklen Augen der Lichtmagierin dort hatte heranwachsen lassen.

"Hey, Hoshi", raunte er dem Mädchen so leise wie möglich zu, obwohl Misty ihre offenbar noch vollkommen unbekannte Umgebung sowieso weitaus interessanter zu finden schien als seine verschwörerisch dahingeflüsterten Worte. "Du hast aber schon verstanden, dass sie der Estrella is, von dem ich vorhin erzählt habe?"

"Ähm - sie?" Hoshi machte große Augen. "Aber... nicht im Ernst! Das ist doch noch ein Kind, und überhaupt..." Ein durchdringend prüfender Ausdruck trat in ihren Blick. "Wo kommt sie eigentlich so plötzlich her, Shinya?"

"Ich will nich wissen, was du jetzt wieder denkst!" Shinya verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn du mir allerdings vorhin zugehört hättest, wüsstest du, dass ich in Arcana war - wie auch immer ich nun dort hingekommen bin - und außerdem einen Estrella getroffen habe. Also sie. Aber du warst ja leider viel zu sehr damit beschäftigt, mich für verrückt zu erklären!"

"Was für jeden Menschen mit nur einem einzigen Funken logischen Verstandes auch durchaus nachvollziehbar sein dürfte!" Sie schob ihre Unterlippe trotzig nach vorne, konnte diesen offensichtlich gespielt beleidigten Gesichtsausdruck jedoch nur wenige Sekunden durchhalten, bis das Lächeln auf ihr Gesicht zurückkehrte. "Hey, es tut mir ja leid, Shinya, aber eigentlich ist das doch jetzt auch egal - jetzt ist sie da... und... und sie ist immerhin ein Estrella!"

Der Katzenjunge runzelte die Stirn.

"Hoshi, ich weiß, was du jetzt sagen möchtest. Die Antwort lautet: Nein."

"Shinya!"

"Schau mich nicht so an!" Auf das Gesicht des Katzenjungen legte sich ein ernster Ausdruck. "Du hast es doch selbst gesagt, sie ist ein Kind. Sie kann unmöglich mit uns kommen!"

"Eben deshalb." Hoshi atmete tief durch und wandte sich wieder Misty zu, doch das Strahlen auf ihrem Gesicht wirkte mittlerweile reichlich erzwungen. "Sag mal, Kleine, was willst du denn jetzt eigentlich machen?"

"Das ist doch ganz einfach!" Die Blauhaarige stieß ein begeistertes Lachen aus und warf ihre langen Zöpfe übermütig hin und her. "Misty findet Shinya und Hoshi nämlich ganz doll nett, und deshalb will Misty auch gar nicht mehr von ihnen weggehn!"

"Da hörst du's!" Hoshi bekräftigte die Worte des kleinen Mädchens mit einem Nicken, das sie sich (zumindest Shinyas Meinung nach) auch genauso gut hätte sparen können. "Erstens möchte sie mit uns kommen. Zweitens ist sie ein Estrella und wir können ihre Hilfe ganz bestimmt sehr gut gebrauchen. Und drittens..."

"Drittens hat sie keine Ahnung davon, was sie erwartet!" Shinya stieß einen unwilligen Seufzer hervor. "Ebenso wenig wie wir übrigens. Darf ich dich vielleicht mal ganz dezent daran erinnern, was hier eben so auf dem Marktplatz passiert is? Und ich glaub wirklich nich, dass das schon alles gewesen ist!"

"...und drittens erzählst du mir irgendwelche merkwürdigen Geschichten, dass du sie in Arcana getroffen hast und was nicht noch alles! Hat sie denn überhaupt Eltern?"

"Ich glaube nicht..." Der Katzenjunge warf einen kurzen, schuldbewussten Blick zu dem Mädchen hin. "Sie lebte bei einer Frau, zu der sie Großmutter sagte, auch wenn ich nicht denk, dass sie das wirklich war. Aber die... die ist jetzt wohl gestorben..."

"Dacht ich's mir doch! Und die Kleine hat niemanden mehr, der sich um sie kümmert." Hoshi stemmte sich die Hände in die Hüften und sah plötzlich beunruhigend wild entschlossen aus. "Shinya, du kannst doch wohl nicht ernsthaft von mir verlangen, dass wir sie ganz auf sich allein gestellt hier zurücklassen?!"

"Nein, aber..."

"Kein aber! Woher weißt du denn, dass sie auch wirklich wieder in ihren Wald zurückkehren kann? Sie ist hierher gekommen, um dich zu retten, und solange wir auf sie aufpassen wird es ja wohl weniger gefährlich für sie sein, als wenn sie mutterseelenallein in einer wildfremden Stadt herumirrt!"

"Avârta ist ein Dorf", murmelte Shinya, doch noch im nächsten Augenblick fiel schlagartig jede trotzige Sturheit von seinem müden Körper ab und er ließ resigniert den Blick sinken. "Mann, Hoshi... gegen dich werd ich irgendwie niemals ankommen, kann das sein? Ich meine... ja... ja, du hast doch auch Recht und alles... soll die Kleine halt mit uns kommen. Aber ich warn dich: Sobald es irgendwie Probleme gibt oder sie wirklich in Gefahr gerät, dann schicken wir sie zurück in ihren Wald, und das mein ich jetzt vollkommen ernst!"

"Ich weiß", zwinkerte Hoshi ihrem Freund lachend zu, und wieder einmal begriff der Katzenjunge, warum man der Dunkelhaarigen einfach nicht böse sein konnte. "Aber... ich hab da so das Gefühl, dass unsere Misty gar nicht so hilflos ist, wie sie vielleicht aussieht..."

Mit einem letzten geheimnisvollen Lächeln wandte sich die Dunkelhaarige von Shinya ab und beugte sich stattdessen zu Misty hinunter, um die - zumindest in ihren Augen - frohe Botschaft zu verkünden. Auf dem Gesicht des kleinen Mädchens breitete sich sofort ein strahlendes Lächeln aus, und im nächsten Augenblick hatte sie sich Hoshi auch schon übermütig jauchzend um den Hals geworfen.

Shinya betrachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Natürlich war alles ganz süß und bezaubernd und Hoshi strahlte so umwerfend und ansteckend wie eh und je, aber trotzdem... er selbst war bestimmt nicht begeistert von der Idee, von nun an ein kleines Mädchen mit sich herumschleppen zu müssen. Ob nun wehrhaft oder nicht, sie blieb eben doch trotz allem nur ein Kind, in ihrer ganzen Art, ihrer Weltsicht... in einfach allem. Und was erst Noctan von ihrer zudem nur mäßig gut durchdachten Idee halten würde, das wollte Shinya sich noch nicht einmal vorstellen.

"Sag mal, Hoshi, wo ist er eigentlich? Ich meine Noctan..."

"Noctan? Der müsste theoretisch irgendwo hier herumlaufen und dich suchen. Oder vielleicht ist er inzwischen auch schon wieder in die Herberge zurückgegangen, ich weiß es nicht. So wirklich schlau werde ich noch nicht aus ihm, aber gut, ich kenn ihn ja auch erst... sagen wir, eine Viertelsnacht. Vielleicht ist er... ähm... ganz nett, wenn man ihn erst mal näher kennt... oder auch nicht." Die Lichtmagierin zuckte mit den Schultern, und dann, ganz ohne jede Vorwarnung, verzogen sich ihre Lippen zu einem unverschämt breiten Grinsen, dessen unverblümte Boshaftigkeit der Katzenjunge nun wirklich jedem zugetraut hätte, nur ganz gewiss nicht ihr. "Aber sag mal, Shinya, warum siehst du nicht einfach gleich mal nach ihm? Noctan wird von unserer neuen Mitstreiterin doch bestimmt ganz begeistert sein, meinst du nicht?"
 

"Wie bitte?!" Durch die violetten Augen des Weißhaarigen zuckte ein entgeistertes Blitzen, während sich seine Lippen zu einem fassungs- und humorlosen Lächeln verzogen. "Das ist nicht euer Ernst. Sagt mir bitte, dass das nicht euer Ernst ist!"

Shinya seufzte tief und vergrub das Gesicht zwischen den Fingern. Der nächste Morgen war seit noch gar nicht einmal so langer Zeit angebrochen, er hatte in dem kümmerlichen Rest der Nacht zumindest seiner Meinung nach ganz entschieden zu wenig Schlaf abbekommen (Hoshi sah das anders) und überhaupt konnte der Katzenjunge sich weiß Gott angenehmere Dinge vorstellen, als für eine Sache zu argumentieren, hinter der er nicht einmal selbst stand. Mittlerweile bereute er seine eindeutig mehr von Faulheit als von Vernunft geborene Entscheidung des Vorabends, Noctan lieber erst am nächsten Morgen über ihre Pläne aufzuklären, zutiefst, was aber höchstwahrscheinlich daran lag, dass dieser Morgen inzwischen gekommen und die gnädige Schonfrist auf ganz ungnädige Weise verstrichen war.

Warum die undankbare Aufgabe, Noctan ihre (also Hoshis und Mistys) Entscheidung mitzuteilen, ausgerechnet ihm zugefallen war, ja, das wusste er selbst nicht so genau, jedenfalls saßen die beiden Mädchen nun gut gelaunt beim Frühstück in der Wirtsstube, während er selbst den Unglücksboten spielen durfte.

"Glaubst du ich bin begeistert davon, jetzt hier einen auf Kindermädchen zu machen?", grummelte er und warf seinem höhnisch gemütlich aussehenden Kissen einen bösen Blick zu.

"Nein," entgegnete Noctan mit versteinerter Miene, "aber, lass mich raten, Hoshi ist begeistert davon. Das ist es doch, oder? Hoshi befiehlt und lächelt und du gehorchst wie ein Hündchen, verzeih, wie ein Kätzchen..."

"Ja, sicher!" Das unwillige Murren des Katzenjungen steigerte sich schlagartig zu einem wütenden Knurren. "Schon mal dran gedacht, dass sie auch irgendwie ein Estrella ist und uns vielleicht ja helfen könnte? Mir hat man gesagt, dass es meine Aufgabe ist, die Estrella zu finden und zu versammeln oder was auch immer. Jetzt hab ich also einen Estrella gefunden, wo bitte ist das Problem?"

"Das Problem sitzt unten in der Gaststube und schlägt sich auf unsere Kosten den Bauch voll." Noctan rollte mit den Augen. "Aber was rede ich überhaupt? Jetzt wird es sich ja doch nicht mehr ändern lassen. Wenn du uns unbedingt einen Klotz ans Bein binden willst, bitte, ich werde dich schwerlich daran hindern können... oh welch ein Jubel!"

"Warum eigentlich ein Klotz am Bein?" Der Halbdämon trat vor Noctan hin und baute sich so gut er konnte vor ihm auf, um zumindest in etwa die Augenhöhe des Weißhaarigen zu erreichen. "Jetzt hör mal gut zu, die Kleine mag vielleicht nerven, aber dass sie irgendwie zaubern kann, das hab ich selbst auch schon gesehen. Ich kann mir auch nich so wirklich vorstellen, dass ich nur so rein zufällig in diesen Wald gekommen bin, oder? Immerhin ist sie ein Estrella, genau wie du, sie wird sich ja wohl noch wehren können!"

Noch während er sprach wurde Shinya bewusst, dass er beinahe exakt die gleiche Diskussion führte, wie er es in der vergangenen Nacht bereits mit Hoshi getan hatte - mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass er nun ganz plötzlich auf der anderen Seite stand und genau jene Argumente benutzte, die ihn selbst mehr oder weniger davon überzeugt hatten, Misty in seine kleine Gruppe aufzunehmen. Irgendetwas an dieser Erkenntnis machte ihn wütend. Wieso ließ er sich überhaupt von Noctan in eine Position drängen, in der er sich und seine Entscheidung verteidigen musste?

"Nicht jeder Estrella kann automatisch auch zaubern und sich wehren", erwiderte Noctan ungerührt und mit einem kalten Lächeln auf den Lippen. "Aber gut, ich sehe schon, dass meine unwürdigen Worte ohnehin kein Gehör finden und so hülle ich mich eben stattdessen in Schweigen. Wenn uns dieses... reizende kleine Engelchen entgegen aller Erwartungen doch irgendwie behilflich sein kann - und sei es nur, um der großen Hoshi eine kleine Freude zu bereiten - dann bitte... nimm sie mit. Nur tu mir den Gefallen und halt die Plage so weit wie möglich von mir entfernt, ja?"

Der Weißhaarige warf sich seinen langen Pferdeschwanz über die Schulter und stapfte dann aus dem Zimmer, ohne den Katzenjungen auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
 

Shinya stand buchstäblich am äußersten Rande der Stadt Haída, genauer gesagt an der unregelmäßig zerklüfteten Kante der Hafenmauer, so weit dem Meer zugewandt, dass seine Fußspitzen bereits in der Luft schwebten. Er blickte starr auf das glitzernd blaue Wasser hinab, das gegen die steinerne Mauer schlug und in tausend winzige Tropfen zerbarst. Obwohl er nicht ganz begreifen konnte, warum es so war, stieg doch ein leiser Hauch von Wehmut in dem Katzenjungen auf und ließ das Rauschen des Windes merkwürdig traurig klingen. Shinya hätte viel darum gegeben, wenigstens ein bisschen Zeit in der fantastischen Wunderwelt von Haídas Straßen verbringen und Klarheit in all die verschwommenen Bilder zu bringen, die ihm aus seiner Kindheit geblieben waren.

Immerhin war Haída die Stadt, in der er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Er dachte nicht gern und auch nicht oft daran zurück. In jenen längst vergangenen Tagen hatte sein Dasein mehr dem eines Tieres als dem eines Menschen geglichen und war einzig und allein von dem steten Kampf ums Überleben bestimmt worden. Es war an sich schon nicht leicht für ein Straßenkind, ganz auf sich allein gestellt in der großen, harten Welt aus düsteren Straßenschluchten und rastlosen Menschenmengen zu überleben, und für einen kleinen Halbdämon war es wahrlich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, Anschluss an irgendeine Gruppe zu finden.

Auch wenn ihm sonst nur wenige klare Erinnerungsfetzen geblieben waren, das allgegenwärtige Gefühl von Ablehnung hatte sich wie ein glühendes Eisen in sein Gedächtnis gebrannt. Nach all den Jahren stand es immer noch wie eine unsichtbare, aber doch unüberwindbare Mauer zwischen ihm und dem Rest der Welt, den Menschen, zu denen er nicht gehörte und wohl auch niemals wirklich gehören würde, auch wenn er sein ganzes Leben quasi an ihrer Seite verbracht hatte. Selbst jetzt, als er mit Hoshi und den beiden anderen durch die Lande reiste und ja nun eigentlich alles andere als einsam war, blieb doch stets ein hartnäckiges Überbleibsel dieses Gefühls wie eine Trennwand aus kalten Nebelfetzen zwischen ihnen bestehen.

Shinya strich sich die Haare aus der Stirn und versuchte die trüben Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln zu verscheuchen. Warum sollte er sich diesen wundervoll sonnigen Spätsommertag durch düstere Grübeleien verderben? Sollte er nicht viel lieber an jene Tage zurückdenken, die er auf den seltenen, deswegen aber nur umso schöneren Ausflügen mit Sylvie und den anderen Heimkindern in den Straßen Haídas verbracht hatte?

Wie groß und wie schön war ihm die Stadt damals erschienen! Ein faszinierendes, gigantisches Wunderland aus glitzernden Häuserfassaden, die nachts noch viel heller strahlen konnten als der klarste Sternenhimmel. Seine Erinnerungen waren ein wirbelndes Meer aus köstlichen Düften von zahllosen Restaurants und Buden, aus Jahrmarktattraktionen, Karussells und Riesenrädern, aus hell erleuchteten Straßen und Brücken, unter denen sich schwarzes Wasser hindurchwälzte, auf dessen Oberfläche sich das Licht der Laternen in glitzernden Bahnen wiederspiegelte.

Eine türkisfarbene Welle schlug übermütig gegen die weißgraue Hafenmauer und zersprang in einen blendend hellen Regen aus kalten Glitzerfunken. Shinya trat erschrocken einen Schritt zurück, als einige der Tropfen auf sein Gesicht prallten und kühl über seine Haut rannen. Er wischte sich über die Stirn und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die zurückliegenden Tage waren wie im Flug vergangen, doch jetzt spürte er die stete Hektik und Anstrengung der ereignisreichen Stunden nur umso schwerer auf seinen Gliedern lasten.

Die kleine Gruppe der Estrella hatte zunächst den Dorfältesten von Avârta aufgesucht, der ihnen dann wiederum von einem Adeligen mit außergewöhnlichen magischen Fähigkeiten erzählt hatte. Gerüchten zufolge sollte auch er ein Estrella sein, und so hatten Shinya und seine mehr oder minder loyale Gefolgschaft nicht lange gezögert und sich auf dem Weg gemacht, um ihn in seinem Heimatland aufzusuchen.

Was freilich leichter gesagt als getan war.

Natürlich musste auch Shinya sich eingestehen, dass er im Grunde genommen ja Glück im Unglück gehabt hatte und seinem tendenziell eher böswilligen Schicksal ausnahmsweise einmal gar nicht so wirklich böse sein konnte. Es blieb ihm nämlich wenigstens erspart, zu einem anderen Kontinent aufbrechen zu müssen, um besagten Adligen finden zu können, wozu er im Übrigen auch nicht einmal ansatzweise genügend Geld gehabt hätte. Wenn man dem überaus redseligen alten Mann tatsächlich Glauben schenken durfte, dann lag die Heimat des gesuchten Estrella im Schloss des Inselstaats Hoshiyama, der unweit der silvanischen Küste nun schon seit mehreren Jahrhunderten erfolgreich der Macht der Wellen und dem Einfluss des Kontinents die Stirn geboten hatte.

Leider war diese geographische Nähe auch schon der einzige Vorteil, den Shinya an der ganzen Sache erkennen konnte. Er hatte noch nie in seinem ganzen Leben ein Schloss auch nur aus weiter Ferne betrachten können (höchstens auf den prachtvollen Illustrationen des einen oder anderen Buches, aber das zählte nicht), geschweige denn einen Adligen getroffen oder gar näher kennen gelernt, aber auch er hatte da so... seine Vorstellungen. Was ja auch durchaus verständlich war, wenn man einmal ganz objektiv die äußeren Umstände betrachtete.

Da war einmal ein hinreißendes, sogar recht hübsches und ohne jeden Zweifel ziemlich intelligentes... Dorfmädchen. Dann ein unheimlich gutaussehender, nur leider auch grauenvoll unsympathischer und aus irgendeinem Grund prinzipiell sarkastisch daherredender Eisberg, den er eigentlich niemandem so richtig zumuten wollte, am allerwenigsten sich selbst. Außerdem ein kleines Mädchen, das wahlweise die Welt entdeckte oder anderen auf die Nerven ging. Und schließlich war da noch er selbst, der große Shinya Trival, ein heimatloser Halbdämon, der die ersten Jahre seines Lebens auf der Straße und die übrigen in einem Kinderheim verbracht hatte, um sich nun ohne jegliche magische oder kämpferische Vorkenntnisse gut gelaunt zum glorreichen Retter der Welt aufzuschwingen.

Kurzum: Die perfekte Gesellschaft für einen bis über die Grenzen des Landes hinaus als Herren des Feuers bekannten Übermagier von adligem Geblüt, der von seinem Glück zwar bislang noch keine Ahnung hatte, sich aber doch wahrlich perfekt in die kleine Gruppe fügen würde.

Mehr oder weniger.

"Shinya! Hey, Shinya, das Schiff ist da!"

Hoshis Ruf riss den Katzenjungen einmal mehr aus seinen Gedanken, was ihm allerdings auch alles andere als ungelegen kam. Es war ein schöner Tag, der Himmel zwar hier und dort von beinahe durchsichtigen Wolkenfetzen verhangen, aber immer noch mit äußerst angenehmen Temperaturen und vor allen Dingen ganz viel Sonnenschein. Das Strahlen auf Hoshis Gesicht fügte sich ganz perfekt in diese Wetterlage. Entweder ahnte das Mädchen tatsächlich noch nichts von den ihnen vorstehenden Problemen oder sie waren ihr momentan einfach reichlich gleichgültig, jedenfalls funkelten ihre dunklen Augen so hell und begeistert wie schon lange nicht mehr.

Fast gegen seinen Willen musste Shinya lächeln. Hoshi freute sich nun schon seit Tagen auf die bevorstehende Schiffsreise (genau genommen schon seit dem Moment, da sie von selbiger erfahren hatte), und diese Vorfreude schien jeden anderen Gedanken bedeutungslos zu machen. Er selber konnte diese Begeisterung leider nicht uneingeschränkt teilen. Vielleicht lag es daran, dass seine empfindlichen Katzenohren kein Wasser vertrugen und er dem nassen Element deshalb generell eher mit Misstrauen begegnete, jedenfalls behagte ihm der Gedanke ganz und gar nicht, bald von einem endlos weiten Ozean umgeben zu sein!

Und trotzdem stimmte es ihn ganz merkwürdig glücklich, das Lächeln auf den Lippen seiner Freundin zu sehen.

Ohne größere Gegenwehr ließ er sich von dem Mädchen am Arm packen und die belebte Hafenpromenade entlang ziehen. Die Menschen um ihn herum hatten sich von der guten Laune des Firmaments anstecken lassen und schienen als Bewohner einer größeren Hafenstadt zudem Kummer und Absurditäten gewohnt zu sein, jedenfalls schenkten sie Shinya außerordentlich wenig Beachtung und das stimmte den Katzenjungen merkwürdig ausgelassen. Nur zu gerne fiel er in Hoshis hohes Schritttempo ein und war gerade drauf und dran, ein übermütiges Lachen auszustoßen, als er mit einem Mal begriff, was das Ziel ihres kindlich vergnügten Laufes war.

Nämlich ein knapp einen Meter breiter, bösartig morsch aussehender Steg, der ihr sympathisches kleines Personenschiff mit dem herrlich sicheren Festland verband.

Shinya schluckte. Schlimm genug, dass er mehrere Tage einzig und allein von Wasser, Wasser und immer nur Wasser umgeben sein würde, aber das war entschieden zuviel! Am allerliebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre gleich doppelt so schnell weitergelaufen, aber bitteschön in die entgegengesetzte Richtung, doch Hoshi hielt sein Handgelenk unbarmherzig fest umschlossen und zog ihn mit sanfter Gewalt weiter vorwärts. Mit traumwandlerischer Sicherheit und ohne ihr Tempo nennenswert zu verringern, schritt sie über die beunruhigend wackligen Holzplanken, während Shinya im Geiste pflichtbewusst sein Testament unterzeichnete.

Dem Katzenjunge fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen, der bei einer eventuellen Kollision ihr hübsches, aber eben nicht sonderlich großes Holzschiff ohne weiteres hätte versenken können, als er endlich wieder... na ja, zumindest einigermaßen festen Boden unter seinen Füßen spürte. Er atmete auf und wandte sich hastig von der kleinen Misty ab, die mit zwei übermütigen Sätzen vollkommen unbekümmert den schwankenden Steg überquerte, nur um dann im nächsten Augenblick auch schon vergnügt jauchzend an der Reling herumzuturnen. Zufälligerweise fiel Shinyas Blick dabei ausgerechnet auf Noctan, der mit verschränkten Armen und kalten Augen vergleichsweise vorsichtig über die schmalen Holzbretter schritt.

Shinya stieß einen tonlosen Seufzer aus - weniger deshalb, weil er fürchtete, dass Noctan ihn möglicherweise würde hören können (das war ihm nämlich vollkommen gleichgültig), sondern einfach nur, um Hoshi nicht die gute Laune zu trüben - und zog es stattdessen vor, Blickkontakt mit dem Meer aufzunehmen, denn das glitzerte und sah fröhlich aus. Was erwartete er denn eigentlich? Es war Noctan! Er kannte den Weißhaarigen zwar noch nicht allzu lange, aber in dieser Zeit hatte er ihn noch nicht ein einziges Mal ohne seine patentierte Grabesmiene gesehen.

Ein ungeduldiges Knurren mischte sich in das ruhige Rauschen der Meereswellen. Shinya warf einen schuldbewussten Blick in Richtung seines Magens. Die hektische, rastlose Eile der vergangenen Stunden hatte ihnen noch keine Zeit dazu gelassen, ihren ohnehin auf ein äußerst klägliches Sümmchen geschrumpften Geldvorrat für etwas Essbares ausgeben und das dann gar noch verzehren zu können. Die Schifffahrt war trotz der kurzen Strecke doch leider recht teuer gewesen, und so war Shinya heilfroh, dass im Preis für die Überfahrt wenigstens auch ein paar warme Mahlzeiten enthalten waren.

"Also, Leute", verkündete er gerade so laut, dass auch die turnende Misty und der finster dreinblickende Noctan es hören konnten, "ich weiß ja nicht, wie's euch so geht, aber ich für meinen Teil werd mir jetzt erst mal ein bisschen den Bauch vollschlagen gehn!"

"Gute Idee!", seufzte Hoshi und ließ ihren Blick hinauf in den sommerblauen Himmel wandern. "Ich hab einen Bärenhunger! Aber... sagt mal, gibt es denn um die Uhrzeit überhaupt noch etwas zu essen?"

"Das können wir nur rausfinden, wenn wir's ausprobieren!", grinste Shinya und schlenderte ruhig auf die niedrige Holztüre zu, die unter Deck und somit wohl auch zu dem Speisesaal führte. Er warf noch einen letzten Blick auf die glitzernde Oberfläche des Meeres, auf die Möwen und die zarten Wölkchen am Himmel, und ganz unweigerlich stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.

Zum ersten Mal seit vielen, vielen Tagen hatten sie wieder alle Zeit der Welt.
 

In der Tat waren die Stunden auf dem Schiff sogar noch weit langsamer verstrichen, als Shinya es sich zunächst vorgestellt hatte. Er hatte die Zeit des Nichtstuns damit verbracht, jeden Winkel ihres hölzernen Gefährtes ganz genau zu erkunden, doch nachdem er alles mindestens zweimal gesehen und ertastet hatte und fast eine ganze weitere Stunde rastlos an Deck herumgewandert war, da war ihm schließlich auch nichts mehr anderes eingefallen, als einfach früh schlafen zu gehen. Es hatte auch gar nicht lange gedauert, bis die Erschöpfung der vergangenen Tage ihn endlich doch noch überwältigt und in einen tiefen, traumlosen Schlaf gezogen hatte.

Die Wellen hatten jedoch andere Dinge im Sinn, schaukelten das Schiff zwar nur verhältnismäßig sanft, aber eben leider unaufhörlich und unermüdlich von einer Seite auf die andere, und diese stete Bewegung riss Shinya schon weitaus früher wieder aus dem Schlaf, als ihm das lieb gewesen wäre. Nach einer knappen Dreiviertelstunde, in der er sich ein- ums andere Mal von der rechten auf die linke Körperseite und wieder zurückgewälzt hatte, gestand er sich schließlich resignierend ein, dass ihm an diesem Morgen wohl keine wohl verdiente Minute erholsamen Schlummers mehr geschenkt werden würde, und stand auf.

Während seine offensichtlich nicht minder erschöpften Gefährten noch ruhig und friedlich in ihren Betten schliefen, stahl sich Shinya also auf Zehenspitzen aus dem gemeinsamen Zimmer, durch den dunklen, hölzernen Korridor und an Deck hinaus. Ein kühler Windstoß begrüßte ihn und trieb ihm Tränen in die müden Augen, aber der Katzenjunge ließ sich von der steifen Morgenbrise nicht abschrecken. Er schlenderte mit schützend verschränkten Armen über die leicht feuchten Planken und lehnte sich dann mit einem wohligen Gähnen über die niedrige Reling. Knapp zwei Meter unter ihm kräuselten sich die sanfte Wellen am Bug des Schiffes, zunächst noch glanzlos und bleich, sogar von einer zarten Decke feinen Nebels verhangen. Doch bald schon stahlen sich die ersten Strahlen der Morgensonne über den Horizont, der Himmel erhellte sich in vielfarbigen Streifen und schließlich hüllte irgendwo hinter der morgendlichen Wolkendecke ein rotvioletter Ball die ruhige Meeresoberfläche in ein rötlich goldenes Glitzern.

Shinya seufzte zufrieden. Bei aller Abenteuerlust tat es ihm gut, nach so langer Zeit endlich wieder einen Augenblick der Ruhe zu genießen. Auch die Temperatur des Windes wurde zunehmend angenehmer, und der herrlich salzig schmeckenden Brise schien es offenbar größten Spaß zu bereiten mit dem langen Haar des Katzenjungen zu spielen. Shinya schloss seine Augen und streckte seine Arme ein bisschen weiter aus, um dem Wind möglichst viel Angriffsfläche zu bieten, konzentrierte sich voll und ganz auf das stete Rauschen der Wellen und...

"Woah! Komm! Komm, schnell, Mann, das... das is der Hammer! Der absolute Hammer! Das muss man gesehn haben, sonst hat man nix gesehn, echt jetzt!"

Ein Ruck lief durch Shinyas Körper, als ihn ein lauter, durchdringender Schrei brutal aus seinem selbstvergessenen Zustand vollkommener Entspannung riss. Am allerliebsten hätte er gleich ebenfalls mit einem Schrei geantwortet, und zwar mit einem furchtbar enttäuschten, beließ es dann aber doch bei einem missmutigen Verziehen von Stirn und Mundwinkeln. Wer auch immer die Unverschämtheit besitzen mochte, an einem Morgen wie diesem und überhaupt zu solch früher Stunde derartigen Lärm zu machen, hatte hoffentlich nicht vor, sich länger als irgendwie nötig in seiner unmittelbaren Nähe aufzuhalten, und dann sollte er ihm auch egal sein.

"Hey, gib dir den Sonnenaufgang! Wie geil! Und da... da! Ich glaub, da kann man schon Land sehn, echt jetzt!"

Ganz genau, dachte Shinya missmutig und wandte sich schweren Herzens von der violetten Morgendämmerung ab, und wenn ich das gleiche zum Frühstück getrunken hätte wie du, dann würde ich jetzt vermutlich auch schon Dinge sehen, die es nicht gibt.

Nun war es aber leider Gottes so, dass Shinya an diesem Morgen weder Alkohol noch sonst irgendwelche halluzinogenen Stoffe zu sich genommen hatte, und so waren seine Sinne viel klarer und aufnahmefähiger, als ihm das momentan lieb gewesen wäre. Missmutig suchten seine Augen das Gesicht jener unsensiblen Person, die ihm in dem unvergleichlich sinnlosen Bestreben, auch ja alle Welt an ihrer Begeisterung teilhaben zu lassen, nicht nur die zauberhaft einsamen Morgenstunden, sondern auch seine Laune gründlich verdorben hatte. Dabei fiel sein Blick auf einen Jungen in seinem Alter, der anscheinend nicht nur über ein äußerst leistungsfähiges Stimmorgans verfügte, sondern vor allem auch dank seiner feuerroten Haarpracht kaum zu übersehen war.

Als ob diese Farbe allein nicht schon auffällig genug gewesen wäre, zierte den Kopf des Jungen obendrein auch noch eine - zumindest Shinyas Meinung nach - äußerst merkwürdige Frisur. Eigentlich trug er sein Haar nämlich mehr oder weniger kurz geschnitten und in erster Linie ganz fürchterlich chaotisch zerwühlt, doch in die Stirn fielen ihm etliche längere Strähnen, ebenso in den Nacken, wo er sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Seine Kleidung war ausnahmslos in gedeckten Grüntönen gehalten und auch sonst von recht militärischen Schnitt, auch wenn sein ganzes Verhalten eher an ein überdrehtes Kind als an einen Soldaten erinnerte. Er zog einen schwarzhaarigen Jungen von höchstens zehn oder elf Jahren hinter sich her, der seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen auch nicht so recht zu wissen schien, was er nun von dieser überschwänglich präsentierten Schiffsführung zu halten hatte.

Obwohl der Katzenjunge nach seiner kleinen Romanze mit dem Morgenwind noch viel weniger müde war als zuvor - genau genommen war er sogar hellwach - zog er die verschlafene Ruhe bei seinen Gefährten unter Deck dem zwar wunderschön anzusehenden, aber leider akustisch gesehen reichlich verhunzten Sonnenaufgang immer noch dankend vor. Ruhige Atemzüge waren eine Sache, grenzdebile Freudenschreie eine ganz andere, und so wandte er sich leise grummelnd von der Reling ab, verschränkte die Arme vor der Brust und schlenderte betont langsam und widerwillig auf die niedrige Türe zu, die zurück ins Schiffsinnere führte.

Seine rechte Hand lag schon auf dem kühlen, leicht feuchten Holz, als ihn ein lauter, nicht unbedingt freundlich klingender Ruf innehalten ließ.

"Hey, du da! Ja, du mit den komischen Ohren! Wart ma eben!"

Shinya wusste nicht genau, warum er tat, wie ihm geheißen war. Er wusste auch nicht, womit sein herrlicher Start in den Tag solch ein unrühmliches Ende verdient hatte. Er wusste nur, dass er, was auch immer nun folgen mochte, sicherlich nur allzu bald bereuen würde, und trotzdem konnte er nicht anders. Der Katzenjunge drehte sich zwar nicht um - zumindest nicht sofort -, aber er ging eben auch nicht weiter, rettete sich nicht in den einladend offen stehenden Fluchtweg, an dessen Ende ein unermesslicher Schatz auf ihn gewartet hätte, ein Schatz in Form von Ruhe, Frieden und dem guten Gefühl, ganz locker und erhaben über den Dingen zu stehen.

Was Shinya zu seinem größten Bedauern aber leider nicht tat.

"Ey, sag mal, bist du dir irgendwie zu gut, um mit mir zu reden oder bist du gleich auf allen vier Ohren taub oder wie?"

"Vielleicht red ich ja einfach nur nicht mit jedem!" Shinya drehte sich provozierend langsam zu dem Rotschopf herum und reckte sein Kinn in die Höhe. "Vor allem nich bevor ich weiß, was du eigentlich von mir willst!"

"Von dir will ich gar nix, okay?", stieß der Fremde sichtlich entgeistert hervor.

"Warum kannst du mich dann nich einfach in Ruhe lassen? Sag mal, reicht's nich, dass du mir grad eben schon den Morgen versaut hast?"

"Geht's auch noch schlechter gelaunt, Mann?" Der Junge rollte theatralisch mit seinen hellgrünen Augen. "Hey, sorry, wenn ich deine heilige Ruhe störe, echt schlimm jetzt, aber ich hab ne Frage an dich, ja? Du bist doch nich allein auf's Schiff gekommen, hab ich Recht?"

"Ja, und?"

"Also..." Auf seinem Gesicht breitete sich ein leicht schiefes Grinsen aus, was ihn spontan noch um etliche Grade unsympathischer machte, obgleich es wohl das genaue Gegenteil hätte bewirken sollen. "Die Kleine... du weißt schon... die is nich übel. Geht da noch was mit der?"

"Die Kleine... Misty?!" Shinya riss entsetzt seine Augen auf. Das wurde ja immer schöner! Schlimm genug, dass der Rotschopf ein elender Störenfried war, jetzt war er also auch noch ein pädophiler elender Störenfried!

"Heißt die so? Nich schlecht... aber jetzt sag endlich, was is mit der? Meinste, ich hab da so meine Chancen? Du verstehst schon..."

"Sag mal, geht's noch?" Der Katzenjunge warf sich den Zopf über die Schulter und rammte sich beide Hände in die Seiten. "Hallo, das is vielleicht ein Kind! Was... was zum Henker hast du vor mit der!?"

"Ein Kind? Häh?" Der Rothaarige kratzte sich am Kopf und blickte etliche Momente lang ebenso kritisch wie ratlos aus der Wäsche. Dann jedoch wandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht schlagartig, seine Augenbrauen zogen sich etliche Millimeter nach unten und um seine Mundwinkel spielte ein wütendes Zucken. Breitbeinig setzte er sich in Bewegung und stapfte geradewegs auf Shinya zu. "Hey, was hast du für Probleme? Seh ich aus als würd ich auf... woah! Was geht eigentlich?! Ich mein die Tuss mit den braunen Haaren, verstanden?"

"Hoshi?" Shinya konnte sich ein leises Keuchen nicht verkneifen und baute sich nun seinerseits auf, um seinen Mangel an Körpergröße so gut es eben ging zu kompensieren. "Also, um eins mal klarzustellen, Hoshi ist keine... keine Tuss, und außerdem hast du mir gar nix zu sagen!"

"Ach ne", gab der Rotschopf angriffslustig grinsend zurück und verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust. "Das glaub ich jetzt nich. Das Kätzchen wird eifersüchtig!"

"Halt's Maul, ja? Und weil du's ja sooo unbedingt wissen willst: Rein zufällig hat Hoshi Geschmack, also versuch's besser gar nicht erst bei ihr!"

"Sagt wer?!" Der Fremde schlug mit seiner rechten Faust in die flache linke Hand. "Jetzt hör mir mal gut zu, du... Freak! Überleg's dir lieber mal, mit wem du dich anlegst, ja? So was wie dich mach ich mit meinem kleinen Finger platt, und das gleich zweimal!"

"Ja klar! Du bist natürlich so stark und toll und unbesiegbar und gibst nem... Freak... wie mir sogar noch nen guten Ratschlag, hey, das is ja richtig... edel. Pass auf, gleich fall ich vor dir auf die Knie! Abgefahren, was?"

"Hey... hey, werd nich frech, ja?!"

"Wie jetzt? Ich werde frech? Oh tatsächlich? Jetzt gib dir das, ich werde frech, nein, das ist ja wirklich... der Hammer!"

"Sei lieber ruhig, bevor's dir leid tut! Hör mal lieber drauf was dir andre sagen, die größer sind wie du!"

"Machst du jetzt hier einen auf Anführer, oder was?" Shinya verzog seine Lippen zu einem abfälligen Lächeln, für das er sich übrigens nicht einmal mehr anstrengen musste. "Und da glaubst du jetzt, dass Hoshi drauf steht, ja? Hey, sicher, klappt bestimmt. Der große Meister kann zwar nich richtig reden, aber ganz toll rumkommandieren, Mann, wie geil..." Der Halbdämon entblößte seine spitzen Eckzähne in einem durch und durch boshaften Grinsen. "Freak!"

Im nächsten Moment traf Shinya ein wütender Faustschlag mitten ins Gesicht und riss ihn beinahe von den Füßen. Augenblicklich zuckte ein rasender Schmerz durch seinen gesamten Kopf und für ein paar Sekunden wurde das Bild vor seinen Augen von wirbelnden schwarzen und grellweißen Flecken getrübt. Er biss jedoch tapfer die Zähne zusammen, unterdrückte einen Schrei, ja sogar noch das leiseste Wimmern, und lächelte dem Fremden zwar etwas mitgenommen, aber immer noch provokant herausfordernd entgegen.

Dessen Gesicht glühte mittlerweile derartig vor Zorn, dass es beinahe schon die Farbe seiner Haare angenommen hatte. Nur mit viel Glück und auch nur äußerst knapp konnte der Halbdämon sich unter einem weiteren Schlag des Rotschopfes, der ihm höchstwahrscheinlich kurz und schmerzvoll den Rest gegeben hätte, hinwegducken und verpasste seinem Kontrahenten nun seinerseits einen kräftigen Tritt vors Schienbein. Was diesem aber unglücklicherweise nicht sonderlich viel auszumachen, denn auf seinem Gesicht zeigte sich nicht auch nur der leiseste Anflug von Schmerz. Stattdessen verzogen sich seine Lippen zu einem beängstigend breiten Grinsen.

"So is das also, Katze... du willst Ärger, ja? Bitte, kannste gerne haben!"

Begleitet von einem wütenden Knurren stürzte der rothaarige Junge sich auf Shinya, welcher aber zum Glück geschickt genug war, den meisten Tritten und Schlägen gekonnt auszuweichen. Zudem wusste er die Hitzköpfigkeit des Fremden dann und wann zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen, was seine körperliche Unterlegenheit sogar beinahe wieder wettmachte und ihm die Chance auf mehr als nur einen gezielten Hieb eröffnete. Mit einer fließenden Bewegung sprang Shinya nach hinten zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern, um sich den blind auf ihn einprasselnden Fäusten auf leidlich elegante Weise zu entziehen, und holte dann blitzschnell zu einem Handkantenschlag aus - allerdings nicht zu irgendeinem Handkantenschlag.

Im Laufe der Jahre, die Shinya im Heim verbracht hatte, waren ihm etliche merkwürdige Gestalten über den Weg gelaufen, und mit manchen von ihnen hatte er sogar tatsächlich etwas näheren Kontakt zugelassen. Eines von den ganz besonders kuriosen Exemplaren war ein midgardisches Mädchen namens Kylie gewesen, die jedoch alle Welt aus naheliegenden Gründen nur mit Kyle angesprochen hatte. Sie hatte ihr blondes Haar stets kurz getragen und außerdem neben einer Vorliebe für möglichst zerschlissene Hosen auch eine für silvanischen Kampfsport gehegt, was sie übrigens bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit durch kurze Vorführungen und umso längere Ausführungen anschaulich unter Beweis gestellt hatte.

Jedenfalls war Kylie oder Kyle auch ein äußerst großherziges Mädchen gewesen, das möglichst viele an ihrer Weisheit teilhaben lassen wollte und ganz besonders den kleinsten Kindern mit größtem Vergnügen ein paar wirkungsvolle Tricks für den Notfall beigebracht hatte. Und wenn Shinya auch nur eine einzige ihrer zahlreichen Lektion behalten hatte, dann war das der patentierte Kylie-Handkanten-Todesschlag direkt gegen den Hals des Gegners, der selbst wildgewordene Riesen im allerbesten Fall in süße Ohnmacht versetzte, ganz gewiss aber mit einer ordentlichen Portion nachhaltigen Schmerzes beglückte.

Er war gerade dabei, den glorreichen Siegestreffer gekonnt und zielsicher zu platzieren, als nun schon zum zweiten Mal an diesem einen Morgen ein durchdringend lauter Ruf seine schönen Pläne schlagartig wieder zunichte machte.

"Shinya? Shinya, verdammt noch mal, was tust du da eigentlich?! Shinya!!"

Der Katzenjunge erstarrte und mit ihm der eben noch so hitzig tobende Faustkampf. Ein überaus ungutes Gefühl kroch mit beängstigender Geschwindigkeit in seinem Inneren hoch, und als er ganz langsam den Blick zu heben wagte, da fand Shinya jede einzelne seiner schlimmsten Vermutungen bestätigt. Wenige Schritte hinter dem verschüchtert dreinblickenden schwarzhaarigen Jungen war ein ihm mittlerweile doch ziemlich gut bekanntes braunhaariges Mädchen zu ihnen an Deck getreten. Wie so oft blitzten und funkelten ihre dunklen Augen mit der Morgensonne um die Wette - nur leider diesmal nicht unbedingt vor Freude oder gar Begeisterung.

"Hoshi!"

Mit einiger Mühe kämpfte sich Shinya aus dem schraubstockähnlichen Griff des Rotschopfes, der seine kurze Schrecksekunde natürlich sofort schamlos ausgenutzt hatte, und stolperte derart hektisch auf das Mädchen zu, als ob er tatsächlich sie und nicht viel eher sich vor ihr retten musste. Und das, obwohl jedes einzelne seiner Gliedmaßen ganz unverschämt schmerzte oder doch zumindest vor Anstrengung stöhnte und ächzte und er zu allem Überfluss auch noch feststellen musste, dass ihm eine warme, leicht klebrige Flüssigkeit über das Gesicht lief, zu deren Identifizierung er sogar in seinem momentanen Zustand nicht unbedingt viel Fantasie benötigte. Ein kurzer Blick nach Links verschaffte ihm jedoch mindestens noch kurzfristige Linderung und eine große Portion wohltuenden Triumphes, denn auch sein Gegner war keineswegs ungeschoren davongekommen. Sein rechtes Auge übte sich eifrig im anschwellen und hatte sich zudem in ein durchaus kleidsames Blauviolett gehüllt, und auch sein zuvor noch so selbstsicherer Gang glich nur mehr einem (leider immer noch viel zu selbstsicheren) Humpeln.

"Würdest du mir bitte mal verraten, was das hier eigentlich werden soll?" Aus dem Blick des Mädchens war jegliche Sanftmut gewichen. "Du hast Nerven! Als ob wir nicht eh schon genug Probleme hätten! Musst du dich jetzt auch noch unbedingt mit irgendwelchen wildfremden Leuten herumprügeln?"

"Was denn?!" Shinyas Stimme klang weitaus wütender, als er das eigentlich beabsichtigt hatte, und obwohl sich da ganz tief in ihm schon so eine leise Ahnung regte, wem dieser Zorn nun tatsächlich galt, gelang es ihm nicht, seine trotzige Wut zu zügeln. "Was glaubst du denn, wofür ich das mach, häh? Du hast ja nicht gehört, wie er über dich geredet hat! Der wollte was von dir, aber wie, hätt ich da einfach schweigend zuhören sollen, ja?!"

"Jetzt hör mal zu, Shinya, ich kann sehr wohl auch mich selber aufpassen. Das hier hättest du dir jedenfalls sparen können, aber scheinbar habe ich dich wohl für deutlich erwachsener gehalten, als du tatsächlich bist!"

"Mann, Hoshi, ich..."

"Nein!" Die Lichtmagierin brachte ihn mit einer überraschend herrischen Handbewegung zum Schweigen. "Ich will überhaupt nichts mehr davon hören, wer hier wem und warum den Kopf eingeschlagen hat. Und jetzt geh endlich und wasch dir das Blut vom Gesicht!"
 

"...da hab ich dich wohl für erwachsener gehalten, für so toll und perfekt und erwachsen wie mich!", grummelte Shinya und durchbohrte die Decke über ihm mit einem ganz besonders finsteren Blick. Das dunkle Holz hielt es jedoch offensichtlich nicht für nötig, ihm gleich welche Antwort auf sein nun schon mindestens eine halbe Stunde lang andauerndes Schimpfen und Fluchen zu geben (von einem leisen Quietschen dann und wann einmal abgesehen) und so musste Shinya hilflos mit ansehen, wie sein Ärger im Laufe dieses wenig poetischen Monologes mehr und mehr verebbte.

Das Licht in der kleinen Kajüte war so finster, staubig und bedrückend wie eh und je, legte aber nun neben dieser depressiven Grundstimmung auch noch eine grauenhaft höhnisch-vorwurfsvolle Ader an den Tag, die dem Halbdämon zuvor noch niemals so wirklich aufgefallen war. Die ihm aber jetzt mit jeder einzelnen Minute, die er in seiner leidlich bequemen Koje verbrachte, schwerer auf dem Gemüt zu lasten schien, bis er es irgendwann kaum mehr aushielt. Aber wohin sollte er gehen? Dieses stille Kämmerchen war vermutlich der einzige Ort auf dem ganzen Schiff, an dem er garantiert keine Gefahr lief, Hoshi über den Weg zu laufen, und das machte beinahe jedes Manko hundertfach wieder wett.

Mindestens vorläufig.

Shinya wollte gerade wieder zu einer neuerlichen Schimpftirade über seine dunkelhaarige Gefährtin ansetzen, doch stattdessen drang nur ein niedergeschlagenes Seufzen über seine Lippen. Ja, verdammt, er wusste doch auch, wem er eigentlich und verdientermaßen ganze Salven unflätigster Beleidigungen an den Kopf zu werfen hatte! Wer wieder einmal und wie immer und überhaupt schuld an der ganzen Situation und an allem Ärger war und wer jetzt nicht einmal den Mut aufbringen konnte, zu diesen Fehlern zu stehen und solch ein an und für sich recht simples Wort wie Entschuldige über die Lippen zu bringen.

Wie so oft war das dämonische Blut in seinen Adern mit ihm durchgegangen, und wie sie oft folgte nun auf den ersten Adrenalinstoß ein tiefes Tal von Reue und Selbstvorwürfen, in dem er sich hilflos verirrte. Er kannte Situationen wie diese aus seiner Zeit im Heim, und schon damals hatte er erkennen müssen, dass ein ruinierter Ruf sich leider nicht mehr so schnell aus der Welt schaffen ließ und ein einmal gewonnener Eindruck meistens fester und hartnäckiger in den Köpfen der Menschen haften blieb als jeder aufrichtige Versuch der Wiedergutmachung. In denen Shinya ohnehin keine große Übung und erst recht kein großes Geschick besaß. Er hatte nicht umsonst die meiste Zeit seines Lebens allein verbracht und sich irgendwann auch damit abgefunden.

Aber nun war das etwas anderes, etwas vollkommen anderes, und das machte die ganze Situation erst so richtig schmerzhaft. Es war für Shinya nämlich durchaus nichts Selbstverständliches, sich überhaupt erst einmal auf andere einzulassen, und im Gegensatz zu Phil gehörte er auch ganz sicher nicht zu den Menschen, die jeden halbwegs sympathischen Zeitgenossen augenblicklich und wie selbstverständlich als Freund titulierten. Nun war er also gerade im Begriff dazu gewesen, im Fall von Hoshi wenigstens einmal mit diesen gewohnten Prinzipen zu brechen, und dann kam sie und führte sich auf wie...

Und dann kam er und machte mit seiner Unbeherrschtheit alles wieder zunichte.

Warum hatte sie ihm denn nicht wenigstens eine halbe Minute lang zugehört? Er hatte ihr doch nur helfen wollen und er hatte es verdammt noch mal gut gemeint und jetzt saß er hier in diesem hässlichen finsteren Kämmerlein unter Deck, während draußen der Himmel und das Meer miteinander um die Wette strahlten. Shinya richtete sich auf und zog seine Beine an den Körper. Irgendein äußerst unangenehmes Gefühl hatte sich zwischen seiner Brust und seinem Bauch breit gemacht, und der Katzenjunge konnte nicht so recht sagen, ob es sich dabei nun um Traurigkeit oder Wut oder Angst oder Einsamkeit oder einfach nur um ein ganz furchtbar schlechtes Gewissen handelte; wahrscheinlich um eine Mischung aus allem.

Und genau in dem Augenblick, da er sich dieser durch und durch negativen Gefühlsflut wirklich bewusst wurde, da begriff Shinya, dass es eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen konnte, als es momentan ja ohnehin schon war. Natürlich verspürte er nicht einmal das geringste bisschen Lust dazu, auf die Schiffsplanken zu fallen und demütig um Gnade flehend geradewegs über das feuchte Holz vor Hoshis Füße zu kriechen, aber selbst das war im Grunde genommen immer noch besser als das ewig drückende Halblicht der einsamen Schiffskajüte. So kam es, dass Shinya sich schließlich doch auf den Boden hinabquälte, um dann wenig euphorisch auf den Gang hinauszutreten und sein hässliches Refugium endlich hinter sich zu lassen.

Den Weg über den Korridor und an Deck hinauf hatte er zugegebenermaßen schon deutlich schneller hinter sich gebracht, und auch vor der Tür ins Freie blieb er noch einmal gut eine halbe Minute stehen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Dann atmete er tief durch (wobei die beißend staubig in seine Lungen eindringende Luft ihn um ein Haar hustend und keuchend durch die schicksalhafte Pforte hätten taumeln lassen) und stahl sich so leise wie möglich in die angenehm sommerliche Wärme hinaus.

Vielleicht war es ja tatsächlich so, dass das Schicksal nicht so recht in seinen Mut und seine Entschlossenheit vertrauen konnte, jedenfalls stand Hoshi in einer beinahe schnurgeraden Linie exakt dem Ausgang gegenüber an der Reling und blickte aufs Meer hinaus. Shinya war sich nicht so ganz sicher, ob sie ihn tatsächlich nicht wahrnahm oder ihn einfach nur nicht wahrnehmen wollte, jedenfalls drehte sie sich nicht zu ihm um, als er sich ihr näherte.

"Hoshi?", fragte (oder flüsterte) er vorsichtig, und wieder zeigte das Mädchen keinerlei Reaktion. Immerhin stand sie auch direkt am Wasser und inmitten von Windgesang und Meeresrauschen war es schon mal gut möglich, von ein paar leise dahingenuschelten Worten überhaupt nichts mitzubekommen. Möglicherweise hatte sie auch einfach keinerlei Lust dazu, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, und das konnte Shinya sogar sehr gut nachvollziehen. Trotzdem wusste er, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, dass er jetzt nicht einfach wieder in seine Koje kriechen und sich zwischen Staub und Zwielicht verstecken konnte. Wenn er überhaupt irgendwann in seinem Leben die Chance bekommen hatte, Stärke zu zeigen, dann war das jetzt, genau jetzt und in diesem Augenblick und so nah, dass er einfach nur seine Hand danach ausstrecken und zugreifen musste.

Shinya atmete ein weiteres Mal tief durch, und nun war die Luft auch überhaupt nicht mehr staubig und abgestanden, sondern erfrischend kühl und wunderbar salzig. Er schritt langsam und vorsichtig auf das Mädchen zu, den Blick starr auf ihr dunkles Haar gerichtet, dessen übermütiger Tanz im Seewind so gar nicht zu dem sonstigen Zeitlupentempo der gesamten Szene passen wollte. Vorsichtig hob der Katzenjunge seine Hand und streckte sie ganz langsam nach der Schulter des Mädchens, bis er beinahe schon ihre Körperwärme an seinen Fingern spüren konnte.

Und dann besann er sich, warf kurzerhand all seine grauenvoll zögerlichen und feigen Anschleichpläne über den Haufen und folgte stattdessen einer vollkommen anderen Angriffsstrategie.

Er zog seine Hand ruckartig wieder zurück, beschleunigte seine Schritte und vollführte eine rasche Wendung nach rechts. Mit angehaltenem Atem und gesenktem Kopf hastete er so leise wie möglich auf den hinteren Teil des Schiffes zu und schickte währenddessen im Sekundentakt Stoßgebete zu sämtlichen Göttern, die ihm gerade einfielen, dass Hoshi ihn doch bitteschön weder gesehen noch gehört noch sonst wie wahrgenommen hatte. Was freilich nicht unbedingt sehr wahrscheinlich war, aber erstens starb die Hoffnung ja bekanntermaßen immer noch zuletzt und zweitens würde Hoshi, falls sie diese bodenlose, unbeschreibliche Peinlichkeit tatsächlich mitbekommen hatte, nun wahrscheinlich sowieso niemals wieder in seine Nähe kommen wollen.

Mit hochrotem Kopf und heftig klopfendem Herzen ließ sich Shinya zwischen einer besonders großen Taurolle und den Überresten eines offensichtlich nicht mehr ganz intakten Segels auf dem Schiffsboden nieder und stützte seinen Kopf auf die angewinkelten Beine. Offensichtlich war er unten in seiner Kajüte einem ganz besonders bösen Irrtum auf den Leim gegangen - es hatte sogar sehr wohl schlimmer kommen können und es war schlimmer gekommen, sehr viel schlimmer. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, er hatte sich zusätzlich zu seinem Aussetzer in den frühen Morgenstunden nun auch noch bis auf die Knochen blamiert und darüber hinaus sehr eindrucksvoll bewiesen, was für ein elender Feigling er doch war.

Von seinem wenigstens recht gut verborgenen Platz aus konnte Shinya das Meer nicht sehen, dafür aber den Himmel, und außerdem war das ruhige Rauschen der Wellen auch ohne visuelle Untermalung noch sehr wohl zu hören. Doch selbst diese gelungene Mischung aus Idylle und Fernweh konnte den Katzenjungen nun nicht mehr nennenswert beruhigen; eher im Gegenteil. Tausend Gedanken jagten durch seinen Kopf, einer beklemmender und niederschmetternder als der andere, und doch fühlte Shinya sich außer Stande, diesem finsteren Sog der Grübeleien noch eigenmächtig zu entkommen.

Während er so dasaß und das Meer nahezu unbeachtet an ihm vorbeizog, vergaß der Halbdämon vollkommen, dass neben unendlich vielen anderen Dingen auf dem Planeten ja auch so etwas wie ein Phänomen mit dem Namen Zeit existierte, oder zumindest achtete er nicht mehr weiter darauf. Das Blau des Himmels wurde zunehmend dunkler und der Wind wurde kälter, aber Shinya war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um noch derart unbedeutsamen Alltäglichkeiten Beachtung schenken zu können.

Einmal horchte der Katzenjunge kurz auf, als er seinen Namen über das Schiff hallen hörte, aber dann konnte er sich doch nicht dazu aufraffen, sich zu erheben und in menschliche Gesellschaft zurückzukehren. Die Einsamkeit war auch unter freiem Himmel immer noch bedrückend, aber gleichzeitig hatte sie doch auch etwas sehr Beruhigendes, Friedliches an sich, das ihm immer noch lieber war als jegliche unangenehme Unterhaltung. Am Horizont zeichnete sich bereits der blasse Kreis des aufgehenden Mondes ab und Shinya stellte fest, dass hier auf See die Sterne noch ungleich heller strahlten und funkelten als an Land.

Aber vielleicht bildete er sich das ja auch nur ein, so wie er sich anscheinend viele Dinge einbilden konnte. Ein Held zu sein, beispielsweise. So bedeutungsvoll und verlockend die Worte jener nächtlichen Stimme auch geklungen haben mochten, sie waren eben doch nicht mehr und nichts anderes gewesen als Worte, höchstwahrscheinlich nur leere Versprechungen, heraufbeschworen von seinen tiefsten und sehnlichsten Wünschen. Was war er denn schon für ein Auserwählter? Er konnte doch im Endeffekt nichts Anderes, als fähigeren Magiern und Kriegern ein hartnäckiger Klotz am Bein zu sein, gesegnet mit nur einer einzigen, äußerst zweifelhaften Fähigkeit, nämlich andere und sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen.

Und als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hörte er im nächsten Moment auch noch Schritte, die sich ihm eilig näherten.

"Shinya! Shinya, da bist du ja endlich!"

Der Katzenjunge blickte nicht auf. Natürlich wusste er, zu wem diese Stimme gehörte - er hatte die betreffende Person eigentlich bereits an der Art ihres Ganges erkannt, und überhaupt, wer hätte es denn auch sonst sein sollen? Shinya war sich sehr wohl auch im Klaren darüber, dass er ganz und gar nicht das Recht hatte, wütend auf Hoshi zu sein, und im Grunde genommen war er das ja auch überhaupt nicht. Er wollte sie nur nicht sehen. Er wollte niemanden sehen, aber sie am allerwenigsten, und jetzt stand sie vor ihm und er hatte keine Ahnung, wie er denn bitteschön reagieren sollte.

"Was machst du denn da, Shinya? Du bist nicht mehr aufgetaucht und da... da hab ich mir Sorgen gemacht und ich... ach, ich weiß auch nicht. Ich bin nicht mehr böse auf dich, ja? Es tut mir leid, ich glaube, ich habe auch überreagiert..."

Der Halbdämon biss sich auf die Lippe. Aus irgendeinem Grund sorgte Hoshis vollkommen überflüssige Entschuldigung nicht unbedingt dafür, dass er sich besser fühlte. Eigentlich war sie sogar weitaus schlimmer und schmerzhafter, als es jeder noch so berechtigte Vorwurf hätte sein können, und das Grausamste an der ganzen Sache war, dass Shinya nur allzu genau wusste, dass Hoshi ihre entschuldigenden Worte vollkommen ernst gemeint und ohne jeglichen bösen Hintergedanken vorgebracht hatte. Natürlich wollte sie ihm kein schlechtes Gewissen einreden, sie wollte ihn aufmuntern, und am allerwenigsten wollte sie ihm willentlich demonstrieren, dass sie ja so unendlich viel stärker war als er selbst und sich nicht einfach nur entschuldigen, sondern sich sogar an seiner Stelle entschuldigen konnte, und zwar für etwas, das ihr wohl kein Mensch auf der ganzen Welt hätte vorgeworfen.

Was selbstverständlich daran lag, dass Hoshi ja so unvorstellbar gut war und er nicht, aber das wusste er ja sowieso schon und er wollte nicht noch weitere Beweise dafür hören und überhaupt sollte sie ihn einfach nur in Ruhe lassen.

"Shinya? Was ist denn..." Hoshi machte einen weiteren Schritt auf den Katzenjungen zu und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken. Ganz kurz schnappte dieser ihren Blick auf, der so sanft und so warmherzig war, als ob niemals etwas anderes zwischen den beiden jungen Estrella geherrscht hätte als perfekte Harmonie. Er schluckte.

"Mann... tut mir ja auch alles leid, in Ordnung?", murmelte er, wobei seine Stimme leider doch nicht ganz so missmutig klang, wie es ihm eigentlich lieb gewesen wäre. "Ich weiß auch, dass ich nich unbedingt sonderlich nützlich bin für euch und... ja, ich hätt's nicht tun sollen. Du musst jetzt nicht ankommen und hier groß einen auf Mitleid machen, wenn du mich eigentlich lieber anschreien und schlagen würdest und so..."

Zu seinem größten Entsetzen spürte Shinya plötzlich, wie sich sein Blick leicht trübte und sich seine Augen mit einem unangenehm feuchten Film überzogen, und er wandte sehr hastig seine Kopf von Hoshis sanftem Lächeln ab.

"Du bist ein Idiot, Shinya!", sagte das Mädchen in einem Tonfall, der eigentlich auch überaus gut zu jedem liebevoll schmeichelhaften Kompliment gepasst hätte. Wie selbstverständlich legte sie einen Arm um seine Schultern und lehnte ihren Kopf an seinen Hals. "Und wie kommst du eigentlich darauf, dass du nicht nützlich für uns bist? Du bist mächtiger als wir alle zusammen, hörst du?"

"Ach?" Der Katzenjunge lachte bitter. "Entschuldige, das muss mir bislang irgendwie entgangen sein."

Shinya spürte, wie Hoshi mit den Schultern zuckte.

"Dir vielleicht. Mir aber nicht."

"Und wie das?!", murmelte er nach wie vor recht missmutig vor sich hin, obwohl ihn die unmittelbare Nähe des Mädchens doch langsam aber sicher auch mit einer gewissen Nervosität erfüllte.

"Schau mal", erklärte sie in ihrem unnachahmlichem, geduldig überzeugenden Tonfall, während ihr Blick ganz entspannt auf dem hell erleuchteten Nachthimmel ruhte, "das kann doch wohl kein Zufall sein, dass du in so kurzer Zeit schon derart viele Estrella getroffen hast! Jeder normale Mensch könnte jahrelang durch Silvania irren und würde nicht einen einzigen von uns finden! Wie denn auch? Ich glaube jedenfalls nicht, dass das Zufall ist. Ich weiß zwar nicht, wie, aber du scheinst Estrella irgendwie... anzuziehen."

"Im Kampf bringt mir das trotzdem nichts..."

"Im Kampf, im Kampf!" Hoshi verpasste dem Katzenjungen einen leichten Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. "Das ist mal wieder typisch Mann, weißt du das eigentlich? Es geht doch wohl nicht immer nur ums Kämpfen!"

"Das ist also typisch Mann, ja? Na, erzähl das mal Tierra! Und was ist mit dir? Du wirst doch wohl auch nicht nur aus lauter Spaß am Zaubern trainiert haben!"

"Du verstehst überhaupt nicht, was ich meine!", beschwerte sich die Lichtmagierin in gespielt entnervten Tonfall und verpasste dem Katzenjungen zur Abwechslung einen Ellbogenstoß in die Seite. "Shinya... es geht doch nicht darum, wer hier am besten Zaubern und kämpfen kann! Du bist der Auserwählte, schon vergessen? Der Auserwählte, der Licht und Schatten in sich vereint. Und der mal so ganz nebenbei auch als einziger von uns durch dieses... dieses komische Licht in diesen Wald gekommen ist... in Avârta, du weißt schon. Ist das Zufall? Nein, ist es nicht. Ich glaube wirklich, du bist viel mächtiger, als du eigentlich weißt..."

Ein Grinsen stahl sich auf Shinyas Gesicht, das zu seiner größten Überraschung nicht einmal falsch oder zynisch war.

"Sag mal Hoshi, willst du grad irgendwie schleimen oder so?"

"Immer doch!", lachte das Mädchen. "Aber nein... nein, ich mein das eigentlich ernst... wirklich! Du bist der Auserwählte, Shinya, das hab ich von Anfang an gesagt und ich sag es immer noch, und wie du ja weißt habe ich in solchen Dingen grundsätzlich Recht!"

Shinya warf dem Mädchen einen zweifelnden Seitenblick zu.

"Ach? Wenn du so viel weißt, dann erklär mir doch bitte mal, wie ich gleichzeitig so mächtig sein kann und dann nix davon merke? Ich... ich hab keine Ahnung, was dieses ganze Gerede von wegen zwei Seiten zu bedeuten hat und ob ich überhaupt wirklich... das klingt jetzt total doof... ob ich wirklich bei den, na ja, Guten bin. Verstehst du das, Hoshi? Ich hab keine Ahnung, ob ich nicht irgendwann aufwache und die Welt geht unter und ich merk dann plötzlich, dass es eigentlich meine Schuld war..."

Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf und strich Shinya vorsichtig über die Wange.

"Ich weiß doch selber nicht genau, was jetzt hier richtig und was falsch ist. Keiner weiß das. Wir haben nur die Legenden und die können wir lesen und dran glauben oder eben nicht. Aber hey, ob wir nun gut oder böse oder was auch immer sind, wir stehen immer noch auf derselben Seite, und das ist doch wenigstens etwas, oder?"
 

Die Sonne stand hoch am wolkenlos blauen Himmel, als die Küste der Insel Hoshiyama endlich am Horizont hinter den Wellen auftauchte. Shinya stand gemeinsam mit Hoshi und Misty an der Reling und betrachtete fasziniert die weißen Küsten Hoshiyamas. Das Land war gesäumt von hohen, scharfkantigen Kreidefelsen, die im hellen Tageslicht wie kostbares Elfenbein erstrahlten. An diesen natürlichen Wällen türmten sich türkisblaue Wellen auf, nur um dann in einem Regen aus tausend kleinen, funkelnden Kristallsplitten zu zerbersten. Auch Noctan stand einige Meter abseits von ihnen und nahm mit unbewegter Miene das nahende Land in Augenschein, aber da er sowieso schon den ganzen Morgen schwieg, hatte Shinya kurzerhand beschlossen, ihn eben einfach zu ignorieren.

Der Tag war viel zu schön, um ihn sich von irgendjemandem ruinieren zu lassen.

Auch der Rotschopf, mit dem der Katzenjunge am Tag zuvor aneinandergeraten war, befand sich mittlerweile an Deck und beglückte seine Mitmenschen wieder einmal mit seinen lautstark begeisterten Kommentare. Wobei ihn Shinya nun ausnahmsweise sogar verstehen konnte, denn wenn man nicht gerade zufällig auf den Namen Noctan hörte, war es wohl praktisch unmöglich, beim Anblick des perfekt vom Sommerhimmel in Szene gesetzten Naturschauspiels nicht in Begeisterungsstürme zu verfallen. Der Halbdämon hatte von Adel und Militär und von strategisch kluger Siedlungsweise noch immer nicht sonderlich viel Ahnung, aber langsam begann er doch zu verstehen, warum jenes kaiserliche Geschlecht einst sein Schloss ausgerechnet hier auf Hoshiyama errichtet hatte.

"Was meinst du, Shinya", fragte Hoshi und blinzelte nachdenklich auf den glitzernden Teppich von Sonnenlicht und Meereswasser hinaus, "was ist dieser Rayo de Fugio wohl für ein Mensch?"

"Hmm... ein Adliger halt", entgegnete Shinya und unterstrich seine wenig aufschlussreichen Worte mit einem ratlosen Schulterzucken.

"Und wie sind Adlige so?", hakte das Mädchen nach. "Ich habe jedenfalls noch nie einen getroffen..."

"Ja, denkst du ich?"

"Umbringen wird euch dieses Versäumnis wohl nicht gerade", mischte sich - oh Wunder! - ausgerechnet Noctan in das gerade erst beginnende Gespräch der beiden jungen Estrella ein. "Und bald werdet ihr euch wahrscheinlich auch wünschen, es niemals nachgeholt zu haben."

"Optimistisch wie immer", grinste Hoshi und schenkte Shinya ein amüsiertes Augenzwinkern. "Dabei dachte ich, alle Adligen wären elegante, gebildete Kavaliere..."

"Nein, Hoshi", verbesserte der Weißhaarige, "nicht ele gant sondern arro gant. Da gibt es einen kleinen aber feinen Unterschied."

Was du ja wohl am besten wissen müsstest, dachte Shinya, behielt diesen Gedanken aber lieber für sich.

"Weil ja auch ganz bestimmt alle Adligen auf der ganzen Welt ausnahmslos und exakt gleich sind, natürlich!"

"Vielleicht nicht alle, Hoshi, aber wir haben es hier immerhin mit dem erlauchten Herren des Feuers zu tun!" Noctan verdrehte die Augen. "Oh, ich sehe ihn förmlich schon vor mir stehen, einen weisen, uralten, verknöcherten und erzkonservativen Magiergrafen... oder von mir auch Magierherzog, Magierbaron, wie auch immer... er wird uns lieben und auf Händen tragen!"

"Solange er wenigstens zaubern kann, soll's mir auch recht sein!", entgegnete Shinya lachend und warf sich schwungvoll seinen braunen Zopf über die Schulter. "Der Meister des Feuers, wie? Also ich hätt absolut nix dagegen, wenn er Phil mal ein bisschen einheizen würde!"

Noctan antwortete nicht mehr, aber sein Blick sprach Bände, und so zog es der Katzenjunge vor, sich lieber wieder mit dem wohltuend warm aussehenden Ozean und den schneefarbenen Klippen zu beschäftigen. Selbige waren tatsächlich schon weitaus näher gekommen, als er es angesichts der sonstigen Langsamkeit ihrer Reise für möglich gehalten hätte, aber das sollte ihm nur recht sein. Wind und Meer hatten zwar auch etwas für sich, aber im Endeffekt blieb Wasser eben doch nur Wasser, und das mochte zwar wunderschön aussehen, war aber bei näherem Kontakt meist eher kalt und nass und vor allem tief.

Trotz seiner Vorfreude auf den unbekannten und festen Boden vergingen die Minuten bis zu ihrer Ankunft auf Hoshiyama wie im Flug. Das Panorama der nahenden Insel war und blieb auch bei längerer Betrachtung ganz unheimlich faszinierend, und auch die hoch über ihren Köpfen kreisenden Vögel und das eine oder andere vorbeiziehende Fischerboot sorgten für angenehme Abwechslung und Unterhaltung. Dann lief das Schiff auch schon in den Hafen ein und Shinya wollte gerade innerlich triumphieren, als er mit einem Mal die grauenhafte Veränderung bemerkte, die binnen weniger Sekundenbruchteile mit der Zeit vor sich gegangen war.

War selbige nämlich eben noch leichtfüßig und munter dahingeeilt, so schien sie nun irgendwo zwischen Schiffskörpern und Holzstegen gestürzt zu sein und sich obendrein auch noch einen überaus komplizierten Bruch zugezogen zu haben, sodass sie jetzt bestenfalls noch kriechen konnte. Es schienen tatsächlich mehrere Stunden zu vergehen, bis ihr hölzernes Gefährt endlich sicher an seinen schmalen Platz zwischen vielen kleinen und großen Artgenossen eingelaufen war. Und dann wuselten plötzlich zahlreiche Matrosen durcheinander, sprangen furchtlos zwischen Land und Schiff hin- und her, bis (zumindest laut Shinyas zeitlicher Wahrnehmung) Tage später endlich alles vertaut und mit Stegen versehen und überhaupt irgendwie vorbereitet war.

Misty war die Erste, die ohne Rücksicht auf wacklige Planken übermütig an Land hüpfte und ausgelassene Freudensprünge auf dem weißen Pflaster der Hafenstadt vollführte. Trotz seiner Sehnsucht nach dem nicht schwankenden Boden hatte es der Katzenjunge weitaus weniger eilig, der Kleinen zu folgen, und lenkte sich mit konzentrierten Blicken in Hoshis Richtung von seinem heftig pochenden Herzen ab, denn das Mädchen schien vor lauter Begeisterung offensichtlich gar nicht mehr zu wissen, wohin sie nun zuerst blicken sollte. Faszinierenderweise sah aber sogar Noctan noch irgendwie, wenn auch nur andeutungsweise beeindruckt aus, als er wieder einmal als Letzter das Schiff verließ.

Was allerdings auch kein großes Wunder war, denn das Bild, das sich den jungen Estrella bot, schien tatsächlich der Zeichenfeder eines Märchenbuchillustratoren entsprungen zu sein. Vor ihnen lag eine lange Reihe von Häuserfronten, und fast jedes dieser Gebäude besaß eine kleine, mit bunten Blumen geschmückte Dachterrasse, winzige Erkerfensterchen oder liebevoll verzierte Fachwerkfassaden. Unzählige Schiffchen und Bote schaukelten auf den türkisblau strahlenden Wellen, und zwischen den Tauen, Fischernetzen und Holzstegen, die bis weit auf das Wasser hinausführten, tummelten sich weiße Möwen, verschlafene Katzen und spielende Kinder.

In etlichen Metern Entfernung waren zahlreiche Marktstände aufgebaut worden, zwischen denen ein überaus reges Treiben herrschte, ein buntes Durcheinander von Händlern, von Frauen mit schweren Körben und von zottigen Pferden, die über und über mit Waren aus dem Inland beladen waren. Das gesamte Szenario wirkte derart verspielt und niedlich, als wäre Shinya nicht etwa auf eine zwar bekanntermaßen sehr schöne, aber eben doch unbestreitbar reale Insel, sondern vielmehr geradewegs in ein Spielzeugdorf getreten.

"Hey, Hoshi, schau dir das an, da hinten, der ganze Fisch!", lachte der Katzenjunge, während er mit großen Augen (und knurrendem Magen) seine wundersame Umgebung betrachtete. "Da könnt man glatt Hunger kriegen, wenn man's nicht eh schon hätte..."

"Na, warum schauen wir's uns dann nicht einfach mal genauer an?", strahlte Hoshi sichtlich begeistert und vollführte eine halb gesprungene, halb getanzte Drehung um die eigene Achse. Dann rannte sie übermütig und mit weit ausgebreiteten Armen auf die kleinen, windschiefen Holzaufbauten zu, hinter deren reich gefüllten Theken die Händler lautstark ihre Ware als die beste des ganzen Marktes, wenn nicht sogar des ganzen Landes anpriesen. "Es ist einfach toll hier!", rief das Mädchen lachend dem wolkenlosen Himmelszelt entgegen, und ihr dunkles Haar flatterte im Wind.

Was sie leider angesichts von Puppenstubenstadt und Sommerhimmel ganz zu vergessen schien, war die wenig romantische Tatsache, dass man überfüllte Straßen vielleicht doch lieber nicht rennend und hüpfend und schon gar nicht mit geschlossenen Augen durchqueren sollte, und als Shinya das nahende Unglück bemerkte, da war es beinahe schon zu spät.

"Hoshi, pass auf!"

Der Ruf des Katzenjungen erreichte die Dunkelhaarige tatsächlich gerade noch rechtzeitig - und setzte eine unheilvolle Kettenreaktion in Gang. Anstatt nämlich anzuhalten oder auszuweichen oder sonst irgendetwas Konstruktives zu tun, wandte Hoshi mitten im Lauf ihren Kopf zu Shinya um und blickte ihm fragend entgegen. Allerdings nur etwa zwei Sekunden lang, bevor sie mit voller Wucht auf einen vorbeigehenden Jungen prallte, um dann gemeinsam mit ihm unter Schreckensschreien in einem Gewirr aus vergeblich nach Halt suchenden Armen und Beinen zu Boden zu gehen.

"Hoshi!", rief Shinya nicht minder erschrocken und vor allem noch ungleich lauter als das Mädchen, was die ohnehin schon peinliche Szene nun endgültig in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit rückte. Er stürzte tapfer an allen gaffenden und kichernden Menschen vorbei auf seine Freundin zu, doch noch bevor er sie erreichen konnte, hatten sich beide Gefallenen zumindest wieder in eine sitzende Position gekämpft.

"Kannst du nicht aufpassen?", schnaubte der Junge und bedachte Hoshi mit einem überaus ärgerlichen Blick aus seinen tiefblauen Augen, bevor er sich mit einiger Mühe wieder aufrappelte. Er war von eher zierlicher Statur und nicht sonderlich groß, konnte aber nur geringfügig jünger sein als Shinya selbst. Sein langes Haar war von der Farbe sehr hellen Blonds und auch seine Haut war auffallend, allerdings keineswegs ungesund bleich. Absurderweise trug dieser alles andere als kriegerisch anmutende Mensch die blaue Uniform der Soldaten Hoshiyamas, dazu hohe schwarze Stiefel und fingerlose Handschuhe von derselben Farbe.

"Hey, lass sie in Ruhe, ja?", mischte sich Shinya ein, doch bevor er sich richtig aufbauen und als großer Beschützer in Szene setzen konnte, wurde er von Hoshi mit einer beschwichtigenden Geste zum Schweigen und Zurückbleiben gebracht.

"Shinya... es ist in Ordnung." Die Lichtmagierin stand langsam auf und bedachte den Katzenjungen zusätzlich (und vollkommen überflüssigerweise!) mit einen flehenden Blick. Der seufzte tief und nachgiebig, trat aber schon aus bloßem Trotz dennoch mit verschränkten Armen und drohendem Blick an die Seite seiner Freundin.

"Wer selbst keine Augen im Kopf hat", grummelte er gerade so laut vor sich hin, dass es auch garantiert noch jeder Anwesende verstehen konnte, "braucht dich aber auch gar nicht dumm anzumachen, Hoshi!"

"Keine Augen im Kopf? Dumm anmachen?" Der Blonde warf Shinya einen fassungslosen Blick zu. "Ich höre wohl nicht recht! Ihr... ihr scheint ganz offensichtlich nicht zu wissen, wen ihr da eigentlich vor euch habt!"

"Nein, verzeiht!", gab der Katzenjunge in spöttischem Tonfall zurück. "Sollten wir das etwa?"

"Das will ich doch sehr meinen!" Der blonde Junge strich sich die langen Haare aus dem Gesicht und reckte sein Kinn demonstrativ noch ein Stückchen höher, was ihn spontan sogar noch ein klein wenig überheblicher aussehen ließ, als er sowieso schon von Anfang an getan hatte. "Ich weiß nicht, wie es um eure Bildung steht - eurem Aussehen nach zu urteilen, scheint ihr ja nicht gerade von sonderlich hoher Herkunft zu sein - aber mein Name sollte doch selbst euch noch bekannt sein. Nur damit ihr's wisst, ich bin Rayo de Fugio!"
 

Ende des viertes Kapitels

Kapitel V - Innere Stärke

Nomen est omen... der Name des Kapitels war in diesem Fall wirklich Programm, denn es zu korrigieren war auch ein Test an meiner inneren Stärke... und was für einer! Ich wusste von Anfang an, dass ich etliche Stellen so nicht stehen lassen kann und habe auch einige Stellen wirklich sehr geändert, zum Beispiel ein gewisser Perspektivenwechsel, den ich einfach komplett gestrichen habe, weil er an dieser Stelle absolut nicht tragbar war. Das war alles sooo anstrengend, und als ich es dann endlich fertig überarbeitet hatte druck ich's aus, les es mir durch und... es war furchtbar. Ohne Spaß, ich hätte bei jedem zweiten Satz heulen können, und wenn ich mich jetzt um Euphemismus bemühen wollte, würde ich wohl sagen: Das Kapitel war voll von Ellipsen, Repetitiones, Inkonnzinität und Hyperbata.

Auf Deutsch gesagt, es fehlten überall irgendwelche Nomen und Pronomina und Konjunktionen und Verben und überhaupt alles, was man eben so vergessen kann, die Syntax war allgemein eine einzige Katastrophe und ich glaube, ich habe vor lauter Schock fast einen Monat lang nicht mehr weitergearbeitet. ^^; Jetzt ist es fertig und ich habe wie geplant fünfzig Kreuze im Kalender gemacht (kein Witz!). Mir gefallen einige Stellen sogar überraschend gut... es gibt nur zwei Abschnitte, die ich wirklich hasse, aber ich verrate nicht welche, weil sich's jetzt auch nicht mehr ändern lässt. Ich bin stolz darauf, was ich noch draus gemacht habe und hoffe, dass ihr (wer eigentlich? ^^;) trotzdem weiterlest und mir ein paar Dinge nachseht. I did my very best!
 

"Nee, oder?" Auf Shinyas Gesicht trat ein Ausdruck unverhohlenen Entsetzens. "Jetzt hol aber noch mal tief Luft und dann sag mir, dass du nicht Rayo de Fugio bist! Bitte!!"

"Ich... was soll denn das nun wieder heißen? Sehe ich etwa so aus, als ob ich einen Grund hätte, zu lügen?" Der Blondschopf warf sich schwungvoll sein langes blondes Haar über die Schulter und funkelte Shinya gleichermaßen wütend und trotzig an. "Außerdem leuchtet mir sowieso nicht ein, warum ich auch nur eine einzige Sekunde meiner kostbaren Zeit an eine Konversation mit irgendwelchen obskuren und... verzeiht, heruntergekommenen Fremden verschwenden sollte! Entschuldigt vielmals, aber ich habe gewiss wichtigere Dinge zu erledigen!"

Der Katzenjunge spürte, wie sich seine Hände (die er vorsichtshalber schon mal in den Hosentaschen verstaut hatte) krampfhaft zu Fäusten ballten und wie die Nägel seiner Finger fest und wütend gegen den vergleichsweise dünnen Stoff seiner Handschuhe pressten. Doch obwohl seine Lippen langsam aber sicher vor Wut zu zittern begannen, biss er tapfer die Zähne zusammen und bemühte sich um ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Er hatte gewiss nicht vor, noch ein weiteres Mal in Hoshis Gegenwart die Beherrschung zu verlieren - schon gar nicht vor den Augen eines derart großen Publikums!

Wenn es doch nur nicht so unglaublich verlockend gewesen wäre, jener wandelnden Arroganz einmal ganz gepflegt die adlige Fresse zu polieren.

"Mach endlich mal nen Punkt, großer Meister de Fugio, und hör mir zu statt immer nur dir selber! Wir sind nämlich grad so rein zufällig auf der Suche nach dir, also spar dir die Nummer mit dem weglaufen, ja? Ich..."

"Mich? Ihr - ich meine ihr sucht mich ?!" Rayo schüttelte den Kopf und verzog seine Lippen zu einem Lächeln, das Shinyas Weltbild vollkommen mühelos mit einem schmerzlich tiefen Riss versah. Es war nämlich eigentlich so, dass der Halbdämon bereits nach seiner ersten Begegnung mit Phil wie selbstverständlich davon ausgegangen war, eindeutig und ohne jeden Zweifel zu wissen, wie ein gnadenlos herablassendes Lächeln aussah und vor allem auch wie es sich anfühlte, mit genau so einem Lächeln bedacht zu werden. Als er nun jedoch sah, auf welch vernichtende Weise der junge Adlige seine Mundwinkel und Augenbrauen eigentlich nur geringfügig anheben konnte, da musste er sich widerwillig eingestehen, dass er ja keine Ahnung gehabt hatte.

"Nein, den einen Fisch da hinten auf dem Marktstand!", knurrte er und hätte sich dabei doch wenigstens einen flüchtig kühlen Hauch von Noctans eiskaltem Sarkasmus in der eigenen Stimme gewünscht.

"Also, das ist ja wirklich das Lächerlichste, was mir jemals in meinem ganzen Leben zu Ohren gekommen ist! Seht euch doch an - das ist absurd! Und überhaupt, da wollt ihr doch tatsächlich auf der Suche nach mir sein und dann erkennt ihr mich nicht einmal?"

"Wenn du vielleicht endlich mal..."

"Wer hat dir erlaubt, mich zu duzen?!"

"Ich sagte, wenn du vielleicht endlich mal zuhören statt immer nur ach so klug daherreden würdest, dann könnt ich's ja vielleicht auch erklären oder so, wär ja zum Beispiel ne Möglichkeit! Also... mein Name ist Shinya Trival und das sind meine... ähm... Gefährten. Gefährten deshalb, weil wir alle die gleiche, ja, Aufgabe haben, und zwar die... legendären Estrella zu suchen. Gut, das klingt jetzt irgendwie alles total abgefahren, aber das sind..."

"Du meinst doch hoffentlich nicht allen Ernstes, mir erklären zu müssen, was ein Estrella ist?!" Der Blondschopf stieß entnervt seinen Atem zwischen den Zähnen hervor und dann lächelte er wieder, wofür Shinya ihm am allerliebsten nicht nur das Gesicht mit seinen Fäusten hätte Bekanntschaft schließen lassen, sondern es besser gleich samt Kopf von den zugehörigen Schultern gerissen hätte. "Wenn ihr mich schon sucht, dann sollte euch doch wenigstens bekannt sein, dass ich selbst zu der Gruppe dieser magischen Krieger zähle?"

"Ja, und genau deshalb..."

"Und außerdem will mir nun wirklich nicht einleuchten, was an der Legende der Estrella so... so abgefahren sein sollte - bei den Götten, was für eine Ausdrucksweise ist das überhaupt?" Seine Stimme schien auf wundersame Weise bei jedem Wort noch ein klein wenig abfälliger zu klingen. "Ich habe es gewiss nicht nötig, mich von einer Gruppe dahergelaufener... nennen wir es... Reisender... belehren oder gar beleidigen zu lassen! Schon gar nicht von so etwas... etwas... was um alles in der Welt bist du eigentlich?!"

"Zum Glück nicht so aufgeblasenes arrogantes Ar... ach, vergiss es doch!"

Shinya sah seine Beherrschung langsam aber sicher mit dem Meereswind von dannen wehen, doch ein strafender Ellbogenstoß seiner dunkelhaarigen Freundin riet ihm unsanft zu einem Waffenwechsel, sodass er den jungen Adligen lieber mit Blicken als mit Worten zu erdolchen beschloss. Er bemühte sich um einen sachlich distanzierten Tonfall, konnte es sich jedoch nicht nehmen lassen, ab und an mit der Zunge über seine spitzen Eckzähne zu streifen.

"Jedenfalls sind wir ganz bestimmt nich hier, weil wir dich so unheimlich sympathisch finden, also mach mal bloß nich einen auf was Besseres, nur weil du..."

"Was Shinya damit sagen möchte", fiel ihm Hoshi ins Wort und trat mit einer fließenden Bewegung zwischen den Katzenjungen und den mittlerweile überaus ungeduldig dreinblickenden Blondschopf, "ist, dass wir eigentlich nicht hergekommen sind, um uns mit dir zu streiten."

"Hoshi, das wollte ich überhaupt nicht sa..."

"Ist gut, Shinya, ich weiß, dass du niemanden beleidigen wolltest!" Das Mädchen zauberte sich ein ungemein verlegenes Lächeln auf die Lippen, das man beinahe schon wieder für aufrichtig hätte halten können, und deutete eine überraschend elegante Verneigung in Richtung des jungen Adligen an. "Wie ja bereits... im Laufe des Gesprächs angedeutet worden ist, wir sind ebenfalls Estrella und das ist letztlich auch der Grund unseres Kommens."

"Estrella? Ihr?" Rayos kritisch herablassender Blick brachte Shinya endgültig zum Schweigen, und zwar ganz einfach deshalb, weil ihm mit einem Mal nur noch Dinge einfielen, die er in Mistys Anwesenheit niemals guten Gewissen über die Lippen gebracht hätte. Aber da Hoshi ja ohnehin schon das Ruder übernommen und ihr... Gespräch auf einen wohl nur ihr allein bekannten Kurs gelenkt hatte, machte das sowieso keinen großen Unterschied mehr, und so übte sich der Katzenjunge lieber darin, Noctans Blicke mit seinen eigenen an Temperatur noch zu untertreffen.

"So ist es", nickte die Dunkelhaarige und lächelte. "Wir kommen vom Festland, aber es dürfte dir ja gewiss nicht unbekannt sein, dass dein Ruf dir auch bis dorthin vorausgeeilt ist. Ich weiß ja, dass wir nur eine... sehr kleine und leider auch äußerst bescheidene Gruppe sind und nicht wie große Krieger aussehen mögen, aber gerade deshalb sind wir auf deine Unterstützung angewiesen. Es wäre uns eine große Ehre, wenn wir uns dir anschließen könnten!"

Shinya hörte, wie Misty neben ihm leise zu kichern begann, und auch seine Stimmung hätte plötzlicher gar nicht umschlagen können. Er hätte sich seiner Freundin am liebsten vor die Füße geworfen - zum einen deshalb, weil Hoshis unfassbare Wortgewandtheit ihn sowieso beinahe umhaute, und zum anderen, weil ihn der Ausdruck auf Rayos Gesicht nun kein bisschen mehr erzürnte, sondern im Gegenteil ganz ungemein erheiterte. Der junge Adelige schien nämlich tatsächlich der Einzige zu sein, der das spöttische Blitzen in den dunklen Augen der Lichtmagierin schlichtweg nicht bemerkte.

"Hm..." Rayo blinzelte das Mädchen unschlüssig an. "So ist das also... nun ja, ich muss gestehen, dass ich mir die übrigen Estrella... doch ein klein wenig anders vorgestellt habe. Aber es lässt sich wohl nicht ändern, und in Anbetracht der Tatsache, dass nur ein Bruchteil des - verzeiht mir den Ausdruck - gewöhnlichen Volkes überhaupt etwas von den großen magischen Kriegern weiß, scheint ihr wohl die Wahrheit zu sagen..."

"Hey - sehn wir so aus, als würden wir dich anlügen?", grinste Shinya so gefällig und... schleimig er nur irgendwie konnte. Auch wenn er sich dabei doch ein kleines bisschen so fühlte wie ein Auktionär, der mit Schweiß und Tränen und mit seinem eigenen kostbaren Herzblut wie besessen um die Ersteigerung einer unangenehmen Hautkrankheit kämpfte, denn nicht mehr und nicht weniger erstrebenswert erschien ihm auch die zweifelhafte Ehre, von nun an mit einem gewissen Feuermagier im Schlepptau durch die Lande ziehen zu dürfen.

Nun war es aber leider Gottes so, dass Shinya keine Wahl und sie ganz allgemein auch überhaupt keine Zeit für lange Diskussionen und überflüssige Streitigkeiten hatten, so sehr ihm dieser Gedanke auch widerstrebte. Es mochte daran liegen, dass er als Bruchteil des gewöhnlichen Volkes mit seinem beschränkten Verstand ganz einfach nicht angemessen zu schätzen wusste, was für ein unglaubliches Geschenk ihm die Götter da in Form eines sterbensarroganten Blaublütigen buchstäblich vor die Füße geworfen hatten. Aber bei aller Dankbarkeit über den raschen Fund konnte der Katzenjunge sich doch nicht ganz der brennenden Frage erwehren, warum ausgerechnet er immer wieder mit dem - vorsichtig ausgedrückt - doch etwas schwierigeren Teil der Estrella beglückt wurde.

Wahrscheinlich, versuchte er sich Gedanken wenig erfolgreich zu trösten, lag das gar nicht mal so sehr an seinem eigenen Pech, sondern ganz einfach nur daran, dass sein alter Freund Phil seit jeher vom Glück verfolgt wurde wie andere Menschen von Pest und Cholera und den Steuereintreibern des Königs. So oder so war es verdammt noch mal nicht fair, und wäre der Spätsommerhimmel weniger blau und das Rauschen der Wellen weniger beruhigend und Hoshi weniger schlagfertig und diplomatisch geschickt gewesen, so hätte ihn diese Ungerechtigkeit sogar ganz ernsthaft verstimmen können.

"Wenn ich es so überdenke, dann könnte ich es mir doch durchaus vorstellen, dass ihr tatsächlich meine Hilfe benötigen werdet", verkündete Rayo in aufrichtig nachdenklichem Tonfall und ließ seine tiefblauen Augen prüfend über die vier gerade überhaupt erst als solche anerkannten Estrella streifen. Dann nickte er langsam und zauberte sich ein unerträglich gnädiges Lächeln auf die Lippen. "Es ist wohl doch keine so alltägliche Situation, derart vielen Estrella zu einer Gruppe vereint zu begegnen, und man sollte günstige Gelegenheiten nicht ungenutzt verstreichen lassen, oder? Und außerdem... wie soll ich sagen..."

"Ich weiß nicht", hakte Shinya vordergründig aufmunternd und hintergründig durch und durch spöttisch nach, als er bemerkte, dass der junge Adlige offensichtlich nicht von sich aus weiterzusprechen gedachte. Einen Augenblick lang sah der Katzenjunge mit tiefster Genugtuung, dass ein nervöser Schatten über das blasse Gesicht des Blondschopfes huschte, der jedoch rasch wieder von einem fast schon kindlichen Trotz verdrängt wurde.

"Außerdem habe ich sowieso nicht vor, in den Palast zurückzukehren!"

"Häh? Wie jetzt?" Shinya wackelte mit seinen Katzenohren. "Jetzt sag aber nich, du bist auch noch ausgerissen. Is nich wahr!"

"Ich bin nicht... ausgerissen!", entgegnete Rayo sichtlich empört. "Niemand kann mich dazu zwingen, dort zu bleiben! Ich kann tun und lassen, was ich möchte!"

"Ach", mischte sich Noctan mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen in das Gespräch ein, "dann bist du also tatsächlich der wohl erste und einzige Adlige auf diesem ganzen weiten Planeten, der sich freiwillig in die Uniform eines gewöhnlichen Soldaten hüllt. Was ja auch gut zu deiner allgemeinen Bescheidenheit passt, versteht sich. Wie konnte ich nur jemals auf die Idee kommen, dass du diese Kleidung zur bloßen Tarnung entwendet hast... ich weiß es nicht."

"Ent-entwendet?", keuchte Rayo und riss seine blauen Augen weit auf. "Willst du mir damit etwa unterstellen, ich sei ein Dieb? Ich..."

Er hielt inne, mitten im Satz, und wandte mit verschränkten Armen den Blick zu Boden, und dieses plötzliche Schweigen war eigentlich schon Antwort genug.

"Das ist doch jetzt auch überhaupt nicht wichtig", fiel Hoshi lächelnd in die aufkommende Stille ein. "Du möchtest diese Insel verlassen, wir möchten diese Insel verlassen, und rein zufällig haben wir dabei auch noch dasselbe Ziel, also wo ist das Problem? Und damit wären wir schon fünf, was Phil uns erst einmal nachmachen muss, was Shinya?"

"Wo das Problem ist?" Noctans Lachen klang im Gegensatz zu dem des Mädchens weder warm noch fröhlich noch ehrlich. "Na, das nenne ich Nerven! Jetzt denkt mal scharf nach und dann sagt mir, wo genau das Problem dabei liegt, ein flüchtiges Adelssöhnchen im Gepäck zu haben, womöglich noch das einzige der Familie! Nun gut, nicht alle Menschen stört der Gedanke, die Garde am und womöglich am Ende auch noch einen Strick um den Hals zu haben - wozu sich aufregen? Mit ein bisschen Glück landen wir ja vielleicht auch nur für den Rest unseres Lebens in einem gemütlich feuchten, unterirdischen Kerkerloch. Oh, welch ein Jubel!"

"Noctan... geht es denn nicht ein einziges Mal auch ein bisschen weniger pessimistisch? Nur einmal?" Hoshi rollte seufzend mit ihren dunkelbraunen Augen. "Musst du wirklich... ach, wozu red ich eigentlich? Ist ja auch egal. Es bringt uns jedenfalls rein gar nichts, wenn wir uns jetzt noch streiten. Also, Themenwechsel. Ihr kennt unsere Aufgabe... Rayo, weißt du vielleicht etwas über die restlichen Estrella?"

Der blonde Junge zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß leider auch nicht mehr als in den Büchern steht, verzeiht. Aber ich habe wirklich sehr viel darüber gelesen, und ich brach eigentlich auf, um eine Insel zu finden, die in etlichen Legenden und Prophezeiungen erwähnt wird. Nicht um... davonzulaufen! Ich weiß zwar nicht genau, was es ist, aber angeblich soll sich dort irgendetwas ungemein Wichtiges befinden... jedenfalls könnte es nicht schaden, sie einmal aufzusuchen, oder?"

Ein Kopf mit zwei blauen Zöpfen und großen, dunkelblau leuchtenden Augen schob sich zwischen Hoshi und Rayo.

"Heißt das, Misty und ihre Freunde fahren zu einer Insel?"

"Sieht wohl so aus", nickte Shinya nach sehr kurzem Überlegen, was ihn spontan mit dem guten Gefühl erfüllte, doch wenigstens noch irgendwie an der Entscheidungsfindung teilzuhaben. "Ich jedenfalls denk schon, dass wir dort mal hinfahren sollten, Leute. Ich glaub nämlich echt, das könnt irgendwie was werden und ein Ziel zu haben, ist doch immer besser, als keins zu haben, richtig? Wir sollten..."

"...nur auf ein vages Gerücht aus schon seit mehreren Jahrtausenden verstaubten Büchern hin zu irgendeiner Insel fahren, auf der es irgendwie irgendetwas gibt oder zumindest geben soll, das uns auf irgendeine Weise irgendwann behilflich sein könnte! Gute Idee." Noctan verdrehte die Augen. "Ja, das nenne ich Krieger! Kaum kommt so ein selbstverliebtes Adelskindchen angetrabt und lässt seine ach so überragende Bildung heraushängen, schaltet ihr dankbar euer eigenes Denk- und Urteilsvermögen ab und folgt blind und ohne auch nur eine Sekunde lang nachzudenken seinen mehr als abstrusen Anweisungen. Bewundernswert!"

Rayo riss wieder einmal seine Augen auf, was offenbar zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte, und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Shinya ihn kurzerhand am Arm packte und den kurzen Moment der Überraschung nutzte, um ihn wenig rücksichtsvoll mit sich zu ziehen.

"Wer sagt uns denn eigentlich, dass diese Insel nicht nur in den Legenden existiert?", hörte er Noctan hinter sich unbeeindruckt weiterschimpfen. "Und natürlich wird es auch das reinste Kinderspiel sein, mit unserem... verzeiht, mit Shinyas prophetischem Gespür genau die Insel auszuwählen, die der große Sir Rayo de Fugio aus seinen altehrwürdigen Büchern ausgegraben hat, wieso auch nicht? Es gibt ja hier vor Silvanias Küste auch nur etwa tausend Inseln, die... heh?"

Ein erstaunter bis empörter Atemzug verriet Shinya, dass Noctan endlich von dem wortlosen Aufbruch seiner Gefährten Notiz genommen hatte, und er konnte es sich nicht nehmen lassen, einen kurzen, schadenfrohen Blick über die Schulter zurückzuwerfen.

"Jetzt komm endlich!", rief er dem sofort noch etwas finsterer dreinblickenden Weißhaarigen so laut wie möglich entgegen, bevor er sich bei Hoshi einhakte und lächelnd an ihrer Seite den Hafenkai hinabschlenderte.
 

"Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten?!" Noctan erdolchte abwechselnd Shinya und Rayo mit eisig kalten und reichlich entgeisterten Blicken. "Bitte sagt mir jetzt, dass ihr euch gerade eben einen überaus schlechten Scherz erlaubt! Wir sollen... rudern?!"

"Au Prima, Misty will Boooooot fahren!", jauchzte das kleine blauhaarige Mädchen, das - ganz im Gegensatz zu Noctan - von dieser Idee sogar hellauf begeistert zu sein schien. "Das macht bestimmt ganz, ganz viel Spaß!"

Oh ja, und was für einen Spaß es mir machen wird, auf solch stilvolle Art und Weise mein Leben aufs Spiel zu setzen", grummelte der Weißhaarige, was von Rayo jedoch lediglich mit einem ungerührten Schulterzucken quittiert wurde.

"Verzeiht, aber ich sehe leider keine andere Möglichkeit, unser Ziel zu erreichen. Ich dachte nicht, dass ich extra erwähnen müsste, dass zu dieser Insel selbstverständlich keine regulären Linienschiffe fahren, und ein größeres Gefährt dürfte wohl keiner von uns angemessen zu navigieren wissen. Aber da wir ja kaum Gepäck bei uns tragen, dürften wir das Fassungsvermögen des Bootes wohl kaum überschreiten, oder? Allerdings..." Er runzelte die Stirn und warf Noctan einen kritischen Blick zu. "Ich frage mich, ob es tatsächlich so eine gute Idee ist - ohne dich kritisieren zu wollen -, eine Waffe mit an Bord eines derart kleinen Holzgefährtes zu nehmen..."

"Moment mal... was möchten Hochwohlgeboren damit andeuten?" Noctan hob langsam den Kopf und fixierte den jungen Adligen mit lauernder Feindseligkeit.

"Andeuten möcht er gar nix, glaub ich", antwortete Shinya vorsorglich an Rayos Stelle, um Schlimmeres zu verhindern. "Aber eine gewisse Logik is an dem Vorschlag wirklich nich von der Hand zu weisen. Holz und Stahl vertragen sich eben doch nich so recht, und auf so engem Raum kann das schon mal gefährlich werden, so ein Schwert..."

"Aber natürlich. Das Schwert. Das böse, böse Schwert. Wie dankbar ich euch doch bin, dass ihr mich vor dieser Gefahr errettet, oh große Helden! Falls wir mit dieser morschen kleinen Nussschale irgendwo in den tosenden Fluten des Ozeans versinken, ja, dann wird es ganz bestimmt an meinem Schwert gelegen haben."

"Noctan!"

"Nein! Hoshi, wenn du das nächste Mal das Bedürfnis verspürst, dieses vorwurfsvolle ,Noctan! Noctan!' zu rufen, dann... lass es. Bitte." Er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte der Gruppe seinen Rücken zu. "Ich kann wirklich nicht mehr sagen, was genau mich nun geritten hat, überhaupt erst mit euch zu kommen, aber gut, jeder macht Fehler und jetzt ist es leider zu spät. Aber wenn von jetzt an dieses verzogene Aristokratensöhnchen hier das Kommando übernimmt, dann ersteche ich mich an Ort und Stelle."

"Das wär vielleicht auch besser so!"

Bevor Rayo auch nur einen einzigen Laut der Empörung von sich geben konnte, trat Shinya vor ihn und riss Noctan mit einer unbeabsichtigt heftigen Bewegung an der Schulter herum. Der Weißhaarige strauchelte und gewann nur mit einiger Mühe sein Gleichgewicht zurück. Als er wieder aufblickte, lag ein zorniges Funkeln in seinen tiefvioletten Augen.

"Was soll das?!", stieß er mit einer... fast schon hasserfüllten Stimme hervor, die Shinya einen eisigen Schauer über den Rücken hinabjagte - seine Wut jedoch keinesfalls linderte.

"Halt! Genau das müsste ich dich fragen!" Der Katzenjunge wich dem vernichtenden Blick des Weißhaarigen nicht aus. "Mir reicht es langsam! Denkst du, wir schleppen dich aus reiner Sympathie und Großherzigkeit mit uns herum? Eben, dann tu aber auch nicht so. Wenn's dir nicht passt, was wir machen, dann bleib halt bitteschön einfach hier. Schon klar, Rayo ist nicht unser Anführer, aber du bist es ganz bestimmt auch nicht! Und ich habe mehr als genug davon, dass du dich so aufführst als wärst du's! Also mach, was du willst - aber dann um Gottes Willen nicht mit mir!"

Noctan antwortete lediglich mit einem noch todbringenderen Blitzen in den leicht geweiteten Augen, und so herrschte einige Sekunden lang bedrückendes Schweigen zwischen dem Rauschen des türkisblauen Meeres und dem Flattern und Kreischen der Möwen am Hafen. Dann schließlich trat Rayo nach vorne und lächelte zögerlich in die Runde.

"Ich wüsste, wo... man das Schwert abgeben kann... so... so lange bis wir wiederkommen, versteht sich... und wo es auch etwas zu Essen gibt. Ich für meinen Teil habe nämlich mittlerweile wirklich großen Hunger und ich könnte euch selbstverständlich auch einladen, ihr scheint ja nicht über sonderlich viel Geld zu verfügen. Also... kommt ihr?"

"Ich komme jedenfalls mit!" Shinya warf Noctan noch einen letzten wütenden Blick zu, dann wandte er sich hoch erhobenen Hauptes von ihm ab und ließ den Weißhaarigen allein an der Hafenmauer stehen. Die Zurückbleibenden tauschten noch einmal stumme Blicke miteinander, dann folgten sie dem Katzenjungen, bis schließlich nur noch Noctan bei ihrem kleinen Boot zurückblieb. Der Weißhaarige legte eine Hand an den Griff seines Schwertes und holte tief Luft.

Dann rollte er mit den Augen und ging dem Rest der Gruppe hinterher.
 

Trotz der sommerlichen Wärme war der Abend früh gekommen und mit ihm eine Dunkelheit, die man eigentlich gar nicht wirklich als solche bezeichnen konnte. Die Nacht wurde nämlich durch ein Meer von Sternen erleuchtet, deren silberheller Glanz mit den Lichtern der Hafenstadt um die Wette strahlte und funkelte. Der Hafenkai war von Laternen gesäumt. Aus den kleinen Fenstern der Puppenhäuser drang warmes Licht in die blaue Nacht hinaus. Die vollkommene Ruhe dieses malerischen Spiels von Licht und Schatten war ohne jeden Zweifel wunderschön, fast schon zu schön, um überhaupt noch real sein zu können, und dieser Gedanke machte Shinya bei aller Idylle doch auch ein kleines bisschen Angst.

Er wandte sich Hoshi zu, die neben ihm an der Hafenmauer stand und versunken auf das Wasser hinausblickte. Am Horizont verlor sich der Ozean in Schwärze - sofern man überhaupt noch von einem Horizont sprechen konnte, denn die Konturen von Himmel und Meer verschwammen vollständig in der Dunkelheit. Dies geschah jedoch, wie gesagt, erst in weiter Ferne, denn unmittelbar zu ihren Füßen spiegelten sich die unzähligen Lichtquellen der Hafenstadt und verwandelten so die Wasseroberfläche in einen bewegten Tanz aus Glitzern und Nachtblau.

"Ist das schön...", flüsterte die Lichtmagierin und Shinya antwortete mit einem stummen Nicken. Er wusste, dass sie jeden Augenblick aufbrechen würden und dass das zauberhafte nächtliche Städtchen nur ein unbedeutender kurzer Zwischenhalt auf dem Weg zu ihrem ganz großen Ziel war und vermutlich auch bleiben würde, und eben dieser Gedanke stimmte ihn melancholisch, wundervoll melancholisch. Vielleicht war genau das ja auch der einzige Grund, warum die junge Nacht überhaupt etwas Besonderes war.

Auf Hoshis Lippen breitete sich ein zartes Lächeln aus. Shinya wusste nicht genau, wie er den Ausdruck in ihren Augen zu verstehen hatte, er war ein bisschen verträumt und sehr zufrieden, und wieder einmal war der Katzenjunge ganz und gar überwältigt davon, wie sehr diese so dunklen Augen doch leuchten konnten. Es war nicht das erste Mal, dass es ihm so vorkam, als ob das Mädchen tatsächlich über die Gabe verfügte, sich voll und ganz in einen Moment zu stürzen und sämtliche bevorstehende oder zurückliegende Ereignisse komplett auszublenden, und Shinya konnte überhaupt nicht anders, als sie dafür aus tiefstem Herzen zu bewundern.

Auch Hoshis dunkelbraunes Haar verfügte über ein ganz besonderes und einzigartiges Talent, nämlich unvergleichlich schön und bewegt im Wind zu tanzen, der übrigens immer noch herrlich salzig schmeckte. Als das Mädchen seinen Blick bemerkte wandte sie ihren Kopf und sah ihm direkt in die Augen, und noch im selben Moment begann Shinya zu verstehen. Er verstand, dass Hoshi es nicht einfach nur gekonnt, aber dennoch krampfhaft vermied, ihre Gedanken an Gestern oder Morgen zu verschwenden, sondern dass einfach alles außer diesem einen Abend vollkommen bedeutungslos war; und zwar wirklich alles.

Die Welt war bedeutungslos und die Reise war bedeutungslos und der Wind und das Meer sowieso, im Grunde genommen war auch der Abend selbst überhaupt nicht wichtig, denn der Mond und die Sterne und auch die Lampen in den Häusern und Laternen schienen ja immerhin nicht zum ersten und schon gar nicht zum letzten Mal. Aber Hoshi lächelte und dann hob sie ihre Hand, nur ein ganz klein wenig und vielleicht - wahrscheinlich auch unbewusst, doch Shinya verstand die Geste. Er spürte, wie sein Herz weit mehr als nur ein bisschen schneller zu schlagen begann und er wusste zwar nicht genau, warum das so war, aber ehrlich gesagt wollte er auch überhaupt nicht darüber nachdenken.

Stattdessen streckte er ebenfalls seine Hand der des Mädchens entgegen, ohne dabei den Blick von Hoshis glitzernden Augen zu nehmen, denn nichts war es wert, den Blick von diesen Augen abzuwenden. Die Luft war auf gar keinen Fall kalt, aber eben doch auf angenehme Weise erfrischend kühl genug, um die nahende Körperwärme der Dunkelhaarigen sehr bald schon auf seinem Handrücken wahrzunehmen. Und obwohl Shinya sich aus irgendeinem Grund ganz furchtbar langsam bewegte - vielleicht, weil er fürchtete, die traumhafte Stimmung durch eine ganz unromantisch schnelle und plötzliche Bewegung zu zerstören -, fühlte er doch endlich Hoshis Fingerspitzen an seinen eigenen und...

"Hey, Hooooshi, Shinyaaaaa, wir brechen aaa-auuuf!"

...und dann hüpfte urplötzlich ein blauhaariges Etwas vergnügt quietschend in ihre Welt irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, die daraufhin schlagartig in sich zusammenfiel und den Katzenjungen überaus unsanft wieder in die Realität zurückversetzte. Er verzog unwillig das Gesicht und beschoss das kleine Mädchen mit einem wahrhaft tödlichen Blick, der dieses allerdings nicht sonderlich zu bekümmern schien. Pfeifend sprang sie zu dem kleinen Holzboot zurück, neben dem - in einigem Abstand zueinander - Noctan und Rayo schon sichtlich ungeduldig warteten, und Shinya kämpfte nur mit großer Mühe das brennende Verlangen nieder, die Kleine einfach bei den Schultern zu packen und möglichst weit ins Meer hinaus zu befördern.

Was aber wahrscheinlich sowieso vollkommen sinnlos gewesen wäre, denn der Zauber der Nacht war verblasst und der Wind war nicht mehr als Wind, ein bisschen kühl vielleicht noch obendrein, und auch die Reflexion der Lichter auf der Meeresoberfläche war zwar ganz unbestreitbar immer noch schön, aber eben nicht mehr als das. Außerdem war die Wärme von Hoshis Hand an seiner eigenen verschwunden und das Lächeln des Mädchens leider auch nicht mehr das, was es noch vor ein, zwei Sekunden gewesen war, und so beließ es der Katzenjunge bei einem resignierten Seufzen und schlenderte dann zu dem Rest ihrer kleinen Gruppe hin.

Rayo schenkte ihm ein zufriedenes Lächeln.

"Gut, dass ihr endlich kommt! Ich war nämlich gerade dabei, euch in meine Pläne einzuweihen und möchte nur ungern noch länger warten... hört ihr mir alle zu?" Er stellte sich auf eine der Bänke im Boot, was aber eigentlich überhaupt nicht nötig gewesen wäre, um auf den Rest der Gruppe hinabzublicken. "Also, passt auf: Wir brauchen zwei Ruderer und ich dachte da an Shinya und Noctan. Ihr müsstet kräftig genug sein für diese Aufgabe. Hoshi und Misty können dann mit ihren Rudern das Boot in die richtige Richtung lenken."

"Moment mal! Hast du da nicht - im wahrsten Sinne des Wortes - eine ganz unbedeutsame Kleinigkeit vergessen?" Noctan bemaß den jungen Adeligen mit einem vernichtenden Blick. "Was ist mit dir?"

"Nun ja, ich bin schließlich immer noch der Einzige, dem der Weg zu dieser Insel bekannt ist, oder? Ich werde euch folglich die Anweisungen geben!"

"Oh welch ein Plan! Wir niederen Sklaven erledigen also die Drecksarbeit und Hochwohlgeboren de Fugio gibt uns Kommandos und schwingt die Peitsche. Alle Achtung, du verstehst wirklich etwas von fairer Arbeitsteilung!"

"Also, da muss ich Noctan doch ausnahmsweise mal Recht geben", protestierte Shinya, und seine Stimme klang ganz genau so begeistert von dem Plan des jungen Adligen, wie er es auch tatsächlich war; nämlich überhaupt nicht. "Ist's denn echt unmöglich, uns gleichzeitig... ähm... anzuweisen und uns beim Rudern zu helfen, oder so?"

"Vollkommen ausgeschlossen!" Rayo schüttelte energisch seinen Kopf. "Ein Ruderer auf jeder Seite, sonst kommt das Boot aus dem Gleichgewicht und wir kentern möglicherweise! Und..." Er warf Shinya einen eindringlichen, auf eine widerliche Weise ganz unverschämt siegessicheren Blick zu. "Und du willst doch sicherlich nicht, dass Hoshi rudern muss, oder?"

"Warum eigentlich nicht?", warf Noctan schulternzuckend ein, aber Shinya beachtete ihn nicht weiter und ließ sich mit einem ergebenen Seufzen auf eine der schmalen hölzernen Sitzbänke fallen. Er wusste plötzlich nicht mehr, wofür der Planet bei einer Armee von derart resoluten Estrella überhaupt noch einen Auserwählten brauchte.

Und vor allem war er sich langsam nicht mehr sicher, ob er wirklich noch weitere der legendären Krieger kennen lernen wollte.
 

Die Fahrt war zunächst sogar noch ungleich anstrengender, als Shinya es ja ohnehin schon befürchtet hatte. Verspielte kleine Schaumkronen tanzten auf dem schwarzblauen Ozean umher und waren zwar ohne jeden Zweifel hübsch anzusehen, konnten ihr hölzernes Gefährt aber leider auch nicht schneller voranbringen. Ein ums andere Mal musste Shinya sein Ruder in die schlafende Wasseroberfläche schlagen, um sich dann doch nur wie in Zeitlupentempo - wenn überhaupt - von den Lichtern des Hafens zu entfernen.

Der Katzenjunge hatte das Leben in seinen Armen längst schon aufgegeben, als das Festland dann endlich doch hinter der tiefblauen Scheibe des Horizonts verschwand, und es war ihm ein Rätsel, wie ihr hinreißender neuer Weggefährte auf diese Weise und vor allem in diesem Tempo überhaupt irgendeine Insel erreichen wollte, bevor die gesamte Gruppe (von ihm selbst einmal abgesehen, denn er tat ja nichts) von einem wenig rühmlichen Erschöpfungstod dahingerafft werden würde. Als dann irgendwann langsam, aber unbarmherzig die Meeresströmung von ihrem Boot Besitz ergriff, da freute Shinya sich zunächst sogar noch ebenso sehr darüber wie über den aufkommenden Wind, der ihm angenehm den verschwitzten Rücken kühlte.

Der Halbdämon war erschöpft und müde, bewegte seine Arme nur noch mechanisch in einem immer gleichen Rhythmus, und so nahm er auch gar keine rechte Notiz davon, dass der Wind nicht einfach nur sanft und erfrischend blieb und dass sich dichte grauschwarze Wolkenmauern vor dem silberblauen Nachthimmel auftürmten. Sein Blick war starr auf den schmutzig braunen Holzboden des Bootes gerichtet, der sich schleichend mehr und mehr verdunkelte, doch auch das interessierte ihn herzlich wenig. Dankbar schloss Shinya die Augen, als ihm kalte Wassertropfen ins Gesicht spritzten und seine bleierne Müdigkeit zumindest ein kleines Stück weit vertrieben. Er spürte, wie das salzige Meerwasser ihm den Schweiß von der Stirn wischte, und selbst Rayos Anweisungen schienen nun schon deutlich klarer an sein Ohr zu dringen.

Oder lag es nur daran, dass der junge Adelige zu schreien begonnen hatte?

Shinya riss ruckartig beide Augen wieder auf, und plötzlich waren all seine Sinne sogar weitaus wacher und schärfer, als es ihm lieb gewesen wäre. Der Wind schlug ihm mit der flachen Hand mitten ins Gesicht, und er war kalt, eisig kalt, durchdrungen von winzigen Wassertropfen, die sich ihm wie eisige Nadeln in die Haut bohrten. Die Wellen waren ebenso grau und glanzlos wie die bizarr geformten Sturmwolken, die den Mond und die Sterne hinter dicke Mauern sperrten und der Nacht so jegliche Helligkeit raubten. Der Katzenjunge spürte, wie ihm ein Schwall klebrig kühlen Wassers langsam über den Rücken hinablief und wie sich eine klamme Hand fest um seinen Nacken legte, als er endlich begriff, was er da eigentlich gerade mit ansehen musste.

Der Ozean war aus seinem friedlichen Schlummer erwacht.

Leider kam diese Erkenntnis zu spät, um noch irgendwie darauf zu reagieren, denn der Sturm braute sich rasend schnell über den Köpfen der jungen Estrella zusammen. Binnen weniger Augenblicke wurde das kleine Holzboot von den wütend tosenden Wellen hin- und hergeworfen wie ein welkes Blatt im Wind, und Shinya klammerte sich mehr an sein Ruder, als dass er es wirklich noch zur sinnvollen Fortbewegung des Bootes hätte benutzen können.

Das Blickfeld des Katzenjungen war getrübt von dem beißend kalten Wind und der schäumenden Gischt, aber irgendwo hinter diesem Vorhang aus Weiß und Nebel konnte er Rayos Gestalt erkennen. Shinya wusste nicht, mit welcher Kraft der junge Adlige sich aufrecht hielt und nach Leibeskräften gegen den Wind anschrie. Der Regen und das aufgepeitschte Meereswasser liefen in Strömen über seine bleiche Haut hinab, aber er gab tapfer weiter seine Kommandos und Anweisungen und versuchte das Boot in eine Richtung zu lenken, die nur ihm bekannt war.

"Wir haben Glück!", versuchte der junge Adlige mit sichtlicher Mühe und zitternder Stimme die ohrenbetäubende Sinfonie des Sturmes zu übertönen. "Die Strömung scheint uns genau in Richtung der Insel zu ziehen!"

"Warum zum Henker rudern wir dann überhaupt noch?!", brüllte Shinya nicht weniger laut zurück und musste husten, als ihm das salzige Meereswasser die Kehle hinablief.

"Wir könnten vom Kurs abkommen, wenn wir es nicht tun, und das würde unangenehme Folgen haben! Oder wir prallen auf ein Riff, und dann..."

Das Meer hatte ganz offensichtlich sogar noch schlechtere Manieren als der Halbdämon und seine Gefährten, denn es gestattete dem jungen Adligen nicht, seinen begonnenen Satz auch zu Ende zu bringen. Eine wahrhaft haushohe Welle erfasste das Boot und riss es derart vehement mit sich in die Höhe, dass es sich beinahe überschlug. Shinya spürte, wie er nun endgültig seinen eigentlich sowieso niemals wirklich existent gewesenen Halt verlor und auf das beängstigend schmale Ende des Bootes zugeschleudert wurde. Er wollte schreien, aber der Wind fuhr ihm in die Kehle und raubte ihm seinen Atem.

Eine Woge schmutzig grauen Wassers ergoss sich in das Innere ihres hölzernen Gefährtes. Der kleine Bug hob sich ruckartig an und ragte bedrohlich steil dem von bleiernen Wolken verhangenen Himmel entgegen. Shinya erkannte die Gefahr erst im allerletzten Augenblick und machte einen verzweifelten Satz nach vorne, um das Gleichgewicht des Bootes (und sein eigenes obendrein) wiederherzustellen. An und für sich keine schlechte Idee, die auch beinahe von Erfolg gekrönt wurde - aber eben leider nur beinahe.

Shinya war kaum wieder auf beiden Füßen gelandet, als auch schon eine weitere Welle gegen das Heck des Bootes prallte. Der unerwartete Ruck brachte den Halbdämon umgehend wieder ins Taumeln, und seine Hände suchten vergeblich nach Halt in der rasenden Luft. Er schwankte, stieß gegen irgendetwas Weiches und drückte sich dann mit der Kraft der Verzweiflung ein weiteres Mal von dem bereits gut und gern zehn Zentimeter tief unter Wasser stehenden Boden ab. Und tatsächlich schien das Glück nun endlich einmal auf seiner Seite zu stehen, denn Shinyas Hände bekamen die vordere Bank zu fassen und er schlug ohne Rücksicht auf Schmerzen oder Verluste seine Fingernägel tief in das feuchte Holz.

Mit einem lauten Knall grub sich das kleine Holzboot in die unstete Wasseroberfläche, und Shinya wollte gerade erleichtert aufatmen, als er wie zufällig den Kopf wandte und begriff, dass es Hoshi gewesen war, mit der er noch vor wenigen Sekunden zusammengestoßen war. Das Mädchen starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, während ihre Hände hilflos um ihren Körper ruderten und vergeblich nach einem Halt suchten, den es nicht gab und den es auch überhaupt nicht geben konnte. Eine fürchterliche Schrecksekunde lang wusste der Halbdämon mit unumstößlicher Gewissheit, dass sie fallen würde, dass sie fallen musste, und doch konnte er nichts anderes tun als ihren Blick mit ebenbürtiger Entgeisterung zu erwidern.

Dann sprang er auf und hechtete ohne große Vorsicht über das schwankende Holz und über Noctans reglosen Körper hinweg, den die Wucht der Wellen gnädigerweise in eine sichere Position zwischen den beiden Sitzbänken geschleudert hatte. Er riss seinen Arm nach oben und streckte ihn dem Mädchen so weit es ging entgegen, aber der wahnwitzige Tanz der Wellen ließ ihn ein weiteres Mal stolpern und dann war es auch schon zu spät.

"Hoshi!", schrie er, so laut er nur irgendwie konnte, aber den Wind und die Wellen und die Gesetze der Schwerkraft schien das herzlich wenig zu beeindrucken, denn schon im nächsten Moment war der Körper des Mädchens über die rückwärtige Kante des Bootes gestürzt und von den aufgepeitschten Fluten verschluckt worden. Es ging so schnell, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Das schwarze Meer verschlang ihren Körper, und dann schrie und tobte es weiter, als ob niemals etwas geschehen wäre.

Shinya ächzte und kroch mit zitternden Gliedmaßen durch das eisig kalte Wasser hindurch, das sich in immer größeren Mengen auf dem Boden ihres ungeschützten Gefährtes sammelte. Ganz am hinteren Ende des Bootes klammerte Misty sich verzweifelt schluchzend an die Bank, auf der sie bis vor kurzem noch gesessen war, doch der Katzenjunge konnte ihr keine größere Beachtung mehr schenken und schob sich an ihr vorbei auf die schmale hölzerne Kante zu. In Panik tasteten seine Augen die Meeresoberfläche ab, doch die war überall so zerklüftet und aufgewühlt, dass er nichts, aber auch gar nichts darin erkennen konnte.

"Hoshi! Hoshi!!", brüllte er ein ums andere Mal, doch die einzige Antwort war das Kreischen und das Donnern von Wind und Wellen, in denen eine menschliche Stimme ja förmlich ersticken musste. Er beugte sich so weit nach vorne wie das eben möglich war, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, und streckte seine Hand tief in die eisigen Fluten hinein. Ein heftiger Schauder lief ihm über den Rücken hinab, schon bei der bloßen Vorstellung davon, in diese trübe und obendrein auch noch verflucht kalte Drecksbrühe einzutauchten. Und dabei wusste er ja nicht einmal, ob Hoshi überhaupt schwimmen konnte! Wie um alles in der Welt sollte sie da...

Der Halbdämon schüttelte heftig seinen Kopf und biss die Zähne so fest aufeinander, dass es knirschte. Das Letzte, was ihm jetzt noch weiterhalf, war ein vorzeitiges Aufgeben, und so wühlte er tapfer weiter in dem schaurigen Nass des sturmgepeitschten Ozeans herum. Tapfer - aber leider auch vollkommen erfolglos. Genau genommen hätte er auch ebenso gut mit beiden Händen in der Luft herumfuchteln können, denn schon nach wenigen Augenblicken hatte er sich so sehr an die Kälte des Wassers gewöhnt, dass er eigentlich überhaupt nichts mehr spürte. Nichts als Leere, grauenhafte, vollkommene Leere, und dabei wusste er nur zu gut, dass ihm die Zeit mit rasenden Schritten davonlief.

Falls Hoshi bei dem Aufprall auf der Wasseroberfläche das Bewusstsein verloren hatte, dann war sie so oder so schon längst in den eisigen Tiefen verschwunden und es gab keinerlei Chancen mehr, sie noch zu retten. Dies war der Fall, über den Shinya nicht nachdenken wollte und auch überhaupt nicht nachdenken konnte, da er dem Mädchen sonst wohl höchstwahrscheinlich selbst mit einer eleganten Rolle vorwärts ganz spontan in die düstere See gefolgt wäre. Falls sie aber tatsächlich noch irgendwo dort unten verzweifelt strampelnd und mit angehaltenem Atem um das Überleben kämpfte, dann zählte wahrhaftig jede Sekunde, denn die Kälte musste rasch an ihren Kräften zehren und es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis das tobende Meer aus diesem ungleichen Kampf als Sieger hervorgehen würde.

Ein heftiges Zittern lief über Shinyas ganzen Körper - und dies lag nicht etwa nur daran, dass ihm der Wind fortlaufend eisiges Meerwasser ins Gesicht peitschte, dass seine Kleidung ihm mittlerweile nur noch als nasser Fetzen am Körper klebte und dass seine Beine nach wie vor von zu schmutzigem Nass zerflossener Kälte umspült wurden. Er sah sich einer Situation gegenüber, in der er nichts, aber auch gar nichts tun konnte außer vielleicht noch hoffen, beten und verzweifelt mit den Fingern in dem Ozean zu wühlen, der vor wenigen Augenblicken den wohl kostbarsten Menschen verschlungen hatte, dem er jemals begegnet war.

Genau an diesem Punkt geschah es, dass sich Shinyas momentan sowieso nicht mehr sonderlich klarer Verstand ganz einfach ausschaltete und er etwas tat, über das er keine einzige Sekunde lang nachdachte. Seine Zehenspitzen berührten fast schon jene schmale Grenze, hinter der seine lähmende, verzweifelte Angst enden und in nackte, kopflose Panik umschlagen würde, als sein Körper seinem Geist das Ruder aus den Händen nahm und ganz einfach handelte, ohne vorher lange bei Logik und Verstand um Rat zu fragen.

Oder anders ausgedrückt: Shinya wandte sich um und griff dann seinerseits nach einem der Ruder, die nicht hinaus in den Ozean, sondern mit irgendeinem der Insassen hinein in das Boot geschleudert worden waren. Seine klammen Finger schlossen sich so fest es nur irgendwie möglich war um das glitschig feuchte Holz, als er es in einer (für ihr schwankendes Gefährt eigentlich viel zu schwungvollen) Halbdrehung über seinen Kopf hinweg riss und dann tief in die wogende Haut des brüllenden Meeres rammte.

Er stocherte nach Links, nach Rechts und selbst tief unter ihr eigenes Gefährt, doch die einzige Kraft, die ununterbrochen an dem Ruder riss und zerrte, war die nur sehr langsam wieder abflauende Gewalt der aufgebrachten Wellen. Vor den Augen des Katzenjungen begann es zu flackern. Ein schwarzweißes Schneegestöber raste wie irrsinnig in seinem Blickfeld umher, und mit einem Mal wusste er nicht mehr, wo genau der Himmel begann und der Ozean aufhörte und was davon nun über oder unter oder neben ihm war. In seinen Schultern schienen glühende Dolche zu stecken und eine Welle von Übelkeit brach über ihn herein, die ihn um ein Haar mit sich ins Meer gerissen hätte.

Durch das Holz in seinen Fingern lief ein Ruck.

Shinya keuchte und rang nach Atem, bekam als kleines Dankeschön der Elemente jedoch lediglich einen Schwall abgestanden schmeckenden Meerwassers in den Mund gespült. Was er jedoch kaum mehr bemerkte, denn der klägliche Rest seines schwindenden Bewusstseins hatte sich wie ein tollwütiger Hundes in diesem einen schwachen Lebenszeichen festgebissen, das es vielleicht niemals wirklich gegeben hatte und wahrscheinlich auch niemals wirklich geben würde. Hustend und würgend stemmte der Katzenjunge beide Füße gegen die immer noch beunruhigend instabil aussehende Rückwand des Bootes (wie gut, dass er sie ja sowieso nicht mehr deutlich erkennen konnte...) und zog so fest er konnte an dem glitschigen Ruder.

Genau das hätte seine ganzen Pläne beinahe doch noch über den Haufen geworfen. Das Ruder war nämlich, wie gesagt, ein sogar überaus glitschiges Ruder, und so konnten die steif gefrorenen Finger des Halbdämons keinen festen Halt auf der schleimig glatten Oberfläche finden. In hilflosem Entsetzen musste er mit ansehen, wie der letzte rettende Strohhalm, an den er sich so verzweifelt geklammert hat, unaufhaltsam seinem Griff entglitt und in die ebenso tödlichen wie hungrigen Fluten gezogen wurde.

Dann lief ein weiterer Ruck durch ihr leidgeprüftes kleines Gefährt, und plötzlich tauchte ein schwarzbraun glänzender Haarschopf an der Wasseroberfläche auf. Shinya krallte sich mehr in das nasse Holz hinein, als dass er es festhielt, bis die eisige Taubheit in seinen Fingerspitzen irgendwann einem warmen, feuchtklebrigen Schmerz wich, der in diesem Augenblick aber absurderweise sogar regelrecht wohltuend war. Seine Schultern protestierten lautstark gegen die unverhältnismäßige Überbelastung (die glühenden Dolche hatten mittlerweile zu rotieren begonnen), aber all das interessierte den Katzenjungen nicht viel mehr das Heulen des Windes oder das schmutzige Grau der Sturmwolkentürme, die nach und nach in immer kleinere Fetzen gerissen wurde.

Im nächsten Moment verlor Shinya das Gleichgewicht und kippte nach hinten weg. Erstaunlicherweise landete er jedoch nicht in der schmutzig kalten Pfütze, die sich im Inneren des Bootes angesammelt hatte, sondern mehr oder weniger warm und weich, und etliche Sekunden lang war er sich vollkommen sicher, noch im Fallen gestorben zu sein. Irgendetwas Schweres und vor allem unglaublich Nasses legte sich über seine Füße, und dann hörte er aus weiter Ferne Rayos entsetzte Stimme an sein Ohr dringen:

"Shinya, geh da weg, du wirst ihn noch umbringen! Bei den Göttern, er ertrinkt!"

Noch bevor Shinya begreifen konnte, was der junge Adlige ihm da eigentlich mitteilen wollte - und ob er nun tatsächlich tot war oder nicht - kam irgendeinen Teil seines Bewusstseins zu dem Entschluss, dass dies vielleicht doch alles ein kleines bisschen zuviel auf einmal gewesen war, und sein Körper wagte es nicht zu widersprechen. Im selben Moment hörten die Wellen auf zu brüllen und der Sturm auf zu toben, selbst das kleine Holzboot schwankte nicht mehr, und was blieb war Schwärze.
 

Rauschen.

Das Erste, was Shinya bewusst wieder wahrnahm, war Rauschen. Und ein stetes, behäbiges Auf und Ab, das ihn aus irgendeinem Grund an eine alte Kinderschaukel denken ließ. Oder an eines der bunt lackierten Pferdchen, die sich zu Drehorgelmusik und fröhlichem Kinderlachen auf einem der Karussells auf dem Jahrmarkt von Haída gedreht hatten. Ganz kurz überlegte er, ob das Jenseits vielleicht doch in Wahrheit ein riesengroßer Rummelplatz war, aber dann schmeckte er das Salz der Meeresluft auf seiner Zunge und besann sich eines Besseren.

Natürlich war er nicht tot. Er saß auch nicht auf irgendeiner Schaukel und schon gar nicht auf einer zumindest in seinen Augen doch irgendwie recht morbiden Attraktion, die ihm aus Kindertagen ganz besonders gut im Gedächtnis haften geblieben war. Was er spürte war nichts anderes als der Tanz der Wellen, begleitet von ihrer tiefen, ruhigen Stimme, und überhaupt hatte eben noch ein Sturm getobt und der Wind gebrüllt und Hoshi war in die schwarzen Fluten des Meeres gestürzt und er hatte versucht, sie zu retten (vergeblich?) und bei dieser Gelegenheit scheinbar irgendjemanden umgebracht oder beinahe umgebracht und...

Und jetzt lag er dort auf dem immer noch leicht feuchten und unangenehm kühlen Boden und ließ seine Gedanken tatsächlich kreisen wie ein durchgedrehtes Kinderkarussell, anstatt einfach nur die Augen zu öffnen.

Shinya atmete tief durch - die Luft war erfrischend klar und duftete noch viel besser, als es Seeluft seiner Meinung nach ja sowieso schon tat - und zwang sich dann mit einer riesengroßen Portion Überwindung dazu, seine Augenlider langsam Millimeter um Millimeter anzuheben. Die Wärme auf seiner Haut ließ ihn hoffen, erst einmal in die Sonne zu blicken und überhaupt nichts sehen zu können, aber dieser gnädige Aufschub der möglicherweise mehr als nur bitteren Wahrheit sollte ihm nicht gewährt werden. Der Himmel war blau, wie er aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte, aber unmittelbar über ihm war es dunkel.

Was ganz einfach daran lag, dass sich jemand über ihn gebeugt hatte und so den direkten Blick auf die Sonne versperrte.

Der Katzenjunge hätte zur gleichen Sekunde weinen und jubeln können, als er geradewegs in zwei dunkle und ein klein wenig müde dreinblickende Augen sah, die in dem allerschönsten Gesicht auf dem ganzen Planeten lagen. Und die seinen Blick erwiderten, die blinzelten, die funkelten und leuchteten, obwohl Hoshi doch eigentlich mit dem Rücken zur Sonne saß und ihre Augen somit im Schatten lagen. Aber das alles war sowieso von vorne bis hinten gleichgültig, denn sie lebte, sie saß neben ihm und sie lebte, was also konnte da denn überhaupt noch irgendwie von Bedeutung sein?

"Hoshi!", rief Shinya, weil ihm nichts mehr anderes einfallen wollte, und zog das Mädchen mit einem erstaunlich kraftvollen Ruck zu sich hinab. Sie gab einen leisen, erschrockenen Laut von sich, und allein dafür hätte der Halbdämon sie an Ort und Stelle zur Frau nehmen können, wenn denn nur ein Priester zur Stelle gewesen wäre. "Du lebst! Du lebst, du lebst, du lebst, du lebst! Du... lebst doch, oder?"

"Ja, ich glaube schon", lachte die Lichtmagierin, und ihr warmer Atem kitzelte Shinyas Hals. Ihr dunkles Haar war offensichtlich von der bloßen Kraft des Windes getrocknet worden und sah nun reichlich zerzaust und unordentlich aus, aber das entstellte sie keineswegs - ganz im Gegenteil. "Und was ist mit dir?"

"Öhm... alles noch dran... denk ich..."

"Ach wirklich? Ich nicht!" Hoshi rappelte sich auf und nahm Shinyas Hand in ihre eigene. Der Katzenjunge genoss die Berührung (so wie er wahrscheinlich gerade mehr oder weniger alles, was Hoshi auch immer tun mochte, genossen hätte), begriff aber erst nach einigen Augenblicken des Schweigens, was das Mädchen ihm damit eigentlich hatte mitteilen wollen. Und bereute es gleich darauf, denn mit einem einzigen Blick auf seine Fingerkuppen kehrten auch die Schmerzen in vollem Maße wieder zurück, die er angesichts seiner überschwänglichen Wiedersehensfreude zunächst einmal erfolgreich verdrängt hatte.

Wobei ebendiese Fingerkuppen kaum noch als solche zu erkennen waren, so sehr waren sie verkrustet von frisch getrocknetem Blut. Shinya wagte es nicht, genauer nachzuzählen, wie viele seiner Fingernägel die Rettung seiner Freundin überstanden hatten - alle zehn waren es jedenfalls nicht mehr - und warf der Dunkelhaarigen stattdessen einen halb verlegenen, halb trotzigen Blick zu.

"Was hätt ich denn tun sollen? Dich ertrinken lassen?"

"Ach Unsinn!" Die Lichtmagierin lächelte nun nicht mehr, sie strahlte. Vorsichtig legte sie ihre Arme um den Hals des Katzenjungen und ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. "Danke..."

"Oh bitte, erspart mir weitere Rührseligkeiten, bevor ich hier endgültig noch in Tränen ausbreche", trampelte Noctan reichlich unsensibel auf dem gerade erst in Shinya aufflammenden Gefühl von tiefer Glückseligkeit herum. Der Halbdämon blickte grummelnd auf und bedachte den Weißhaarigen mit einem bitterbösen Blick. Aus irgendeinem Grund hielt sich sein Mitgefühl stark in Grenzen, als er die Überreste einer Platzwunde auf dessen Stirn bemerkte, ebenso wie die Tatsache, dass Noctans Haut sogar noch ein klein wenig blasser war als gewohnt.

"Schon klar, is ja auch jetzt nich irgendwie so, als ob ich Grund zur Freude hätte... falls du überhaupt weißt, was das eigentlich ist..."

"Du kannst dich auch freuen und gleichzeitig noch gemeinnützigen Aufgaben nachkommen. Mir beim Rudern zu helfen, beispielsweise." Er rückte demonstrativ ein Stück weit zur Seite, um auf der kleinen Holzbank Platz für einen Nebenmann zu schaffen, und streckte Shinya einladend eines der reichlich mitgenommen aussehenden Ruder entgegen. Dabei wirkten seine Bewegungen keineswegs so sicher und geschmeidig, wie der Katzenjunge das von dem offenbar schon äußerst kampfeserprobten Estrella normalerweise gewohnt war. Einen Moment lang überlegte er sogar ernsthaft, ob er Noctan nicht vielleicht doch Unrecht tat - immerhin war der ja trotz allem auch nur ein Mensch und musste sich mit solch einer Wunde am Kopf nun wirklich alles andere als gut fühlen! -, kam dann aber zu dem Schluss, dass es ein wahrhaft unverzeihliches Verbrechen war, sich nicht angemessen oder gleich gar nicht über Hoshis glückliche Rettung zu freuen.

Leise grummelnd erhob er sich von seinem eigentlich gar nicht mal so unbequemen Platz auf dem mittlerweile schon deutlich weniger überfluteten Schiffsboden - und vergaß noch im nächsten Augenblick vollkommen, dass er sich ja eigentlich hatte ärgern wollen. Der Horizont war nämlich keineswegs mehr einfach nur leer und blau, sondern von einer noch recht kleinen, aber unübersehbaren Erhebung unterbrochen, die in gar nicht mal mehr so weiter Ferne aus dem Ozean emporragte. Als Shinya einen fragenden Blick in Richtung Rayo warf, lag ein äußerst zufriedenes Lächeln auf dessen Gesicht.

"Ich sagte ja bereits, dass die Strömung uns genau in die richtige Richtung gezogen hat!"

"Gibt's ja nicht...", murmelte der Katzenjunge und versuchte gleichzeitig, irgendwelche Einzelheiten an dem dunklen Schemen zu erkennen, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte.

"Gibt's ja doch", entgegnete Noctan trocken und ruderte demonstrativ noch ein klein wenig schneller, als Shinya nicht sofort in sein Tempo einfiel. "Also mach den Mund wieder zu und streng dich lieber ein bisschen an."

Die Aufregung der vergangenen Stunden lastete immer noch schwer auf seinen nach wie vor schmerzenden Schultern, und so war der Halbdämon auch ganz entschieden zu müde, um sich noch auf irgendwelche Diskussionen einzulassen. Er war eigentlich auch zu müde zum Rudern oder zum Atmen oder zu einfach allem, aber die Aussicht auf eine nahende Küste, auf einen Schlummer in sonnenwarmem Sand und vor allem auf sicheren, festen Boden unter den Füßen war einfach viel zu verlockend, um sich nicht doch wenigstens noch kurzfristig von ihr motivieren zu lassen.

Trotzdem waren da, wie gesagt, ja immer noch Shinyas Schultern, die für seinen Geschmack ein bisschen zu eifrig mit seinen geschundenen Fingern und vor allem auch mit seinen Katzenohren, die während der ganzen Fahrt doch entschieden zuviel Wasser abbekommen hatten, um die Wette schmerzten, und so kam ihm die Fahrt dann doch weitaus länger vor, als sie es wohl tatsächlich war. Seine Kleidung, die ihm klamm und merkwürdig starr am Körper klebte, machte die ganze Sache nicht unbedingt besser, doch irgendwann waren selbst die vielleicht längsten zwei Stunden seines Lebens vorüber gegangen und ihr tapferes kleines Boot wurde auf sanften Wellen dem Strand des kleinen Eilands entgegengetragen.

Der Katzenjunge nutzte die letzten noch verbleibenden Minuten ihrer Fahrt zu einer näheren Musterung ihres Zieles - oder zumindest des Teiles davon, den er von seinem Platz auf dem offenen Wasser aus erkennen konnte. Ein großer Teil der Landschaft war nämlich von dichten, schneeweißen Wolken verhangen, die sich über dem Zentrum der Insel bis hoch in den Himmel hinein auftürmten. Was sich jedoch erkennen ließ, war ganz ohne jeden Zweifel schön genug, um Shinyas Herz schon einmal vorfreudig schnell und auch deutlich höher schlagen zu lassen.

Nicht mehr weit von ihnen entfernt erstreckte sich ein lang gezogener Strand, aus dessen schneeweiß schimmerndem Sand sattgrüne Palmen wuchsen. Das Meer schlug in sanften azurblauen Wellen an die flache Küste, und die Strahlen der Mittagssonne tauchten die Wasseroberfläche in ein lebendiges Glitzern. Inmitten dieser überwältigenden Idylle stand ein kleines, blauweiß lackiertes Boot zwischen einigen besonders hohen und fransigen Palmenstämmen, ein paar Vögel flatterten hoch oben im nunmehr wolkenlos blauen Himmel umher, und...

"Ein Boot?!" Shinya war derart perplex, dass er einen Moment lang beinahe sogar das Rudern vergaß, was Noctan sofort zu einem strafenden Seitenblick veranlasste. "Also schön - verrät mir jetzt vielleicht bitte mal einer, wie da ein Boot auf die Insel kommt? Ich meine... hallo, wer ist so bescheuert und fährt bei so einem Sauwetter wie gestern auf irgendeine verlassene Insel? Der muss doch lebensmüde sein!"

Er ignorierte Hoshi, die demonstrativ grinsend in die Runde blickte, und wandte sich stattdessen Rayo zu.

"Hm...", murmelte der und neigte seinen Kopf zur Seite. "Das ist allerdings wirklich seltsam... mir war jedenfalls nicht bekannt, dass diese Insel hier bewohnt sein sollte."

"Das bedeutet dann wohl...", entgegnete Shinya und warf einen beunruhigten Blick in Richtung des paradiesischen Palmenstrandes. "Dass wir nicht als Einzige diese Insel da suchen..."

"Und dass wir dort auf gar keinen Fall alleine sein werden", fügte Hoshi hinzu, wie um seine ungute Vorahnung perfekt zu machen. Shinya schluckte und antwortete nicht mehr, und auch der Rest seiner Gefährten schien keine sonderlich große Lust auf eine lebhafte Konversation zu verspüren, jedenfalls brachten sie den Rest der Fahrt schweigend hinter sich. Was übrigens auch nicht weiter verwunderlich war, denn je näher die Insel rückte, desto schwerer fiel jeder einzelne Ruderschlag, desto heißer brannte die Sonne auf sie herab, und auch die Wellen schienen mit jeder Minute noch ein bisschen widerspenstiger zu werden.

Als das Boot dann endlich Festland statt des ewig gleichen Wellenspiels unter seinem schmalen Bug spürte, da fiel Shinya ein derart gigantischer Felsblock vom Herzen, dass er am allerliebsten laut gejubelt hätte - wenn er denn noch dazu in der Lage gewesen wäre. Im ersten Moment konnte er jedoch nicht einmal mehr aufstehen und sah nur mit müden Augen und nicht ohne einen Anflug von Eifersucht dabei zu, wie sich Hoshi als Erste von dem klebrig feuchten Holz erhob, sich ausgiebig streckte und räkelte und dann mit einem Satz in den schneeweißen Sand hüpfte

"Hach, ist das schön! Hier ließe es sich gut noch eine ganze Weile aushalten, was?"

"Ich habe jedenfalls fürchterlichen Hunger!", seufzte Rayo und stakste etwas ungelenk über den Rand des Bootes hinweg. "Ihr etwa nicht? Dann seid froh, dass ich daran gedacht habe, den Proviant auch sicher und wasserdicht zu verpacken!"

"Wir werden ewig in Eurer Schuld stehen, Hochwohlgeboren!", grummelte Noctan und griff nach einem der gut verschnürten Beutelchen.

"Beachte ihn gar nicht, Rayo, die Idee war super!", versicherte Hoshi hastig und machte sich daran, auch die restlichen Beutel auszupacken. Der Anblick der kleinen Köstlichkeiten, die unter den schützenden Hüllen zum Vorschein kamen, war derart verlockend, dass auch Shinya sich endlich dazu aufraffen konnte, langsam und umständlich den qualvollen Abstieg aus ihrem hölzernen Gefährt auf das bezaubernd schöne Festland in Angriff zu nehmen. Der weiße Sand empfing ihn mit einer wundervollen Wärme, ganz so, als ob er die sanften Sonnenstrahlen tatsächlich einfach in sich aufnehmen und festhalten könnte, und ein wohliger Seufzer stahl sich über die Lippen des Katzenjungen.

Das Meer rauschte sanft und im Halbschatten der Palmenblätter herrschte eine derart angenehme Wärme, dass er einfach gar nicht mehr über ihre große Aufgabe oder das nach wie vor ungelöste Rätsel des fremden kleinen Bootes nachdenken konnte. Die Anspannung ihrer im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlichen Reise fiel nun schlagartig von ihm ab, und schon nach wenigen Bissen brach eine süße, verführerische Schläfrigkeit über Shinyas Körper herein. Ohne lange nachzudenken, ließ er sich einfach an Ort und Stelle in das weiße Sandbett fallen, rollte sich zusammen und ließ dann bereitwillig den zarten Schleier des Schlafes über seine Gedanken sinken.
 

"Shinya..."

"Was...?"

Verwirrt schreckte der Katzenjunge hoch. Hatte er tatsächlich bereits geschlafen? Sein Schlummer musste jedenfalls außerordentlich tief und traumlos und obendrein noch sehr, sehr ausgiebig gewesen sein, denn als er jetzt noch reichlich orientierungslos um sich blinzelte, da fand er sich in vollkommener Finsternis wieder. Wenn es denn nun wirklich Finsternis war. Tatsächlich sah Shinya nämlich schlicht und ergreifend - überhaupt nichts, und absurderweise hätte er beim besten Willen nicht sagen können, ob dieses Nichts nun schwarz oder weiß, hell oder dunkel war.

Darüber hinaus war er allein oder konnte wenigstens niemanden sehen, der ihm noch vor wenigen Augenblicken seinen eigenen Namen ins Ohr hätte flüstern können.

"Jetzt ist es also tatsächlich so weit gekommen, Shinya... ihr steht unmittelbar vor eurer ersten Prüfung."

"Vor unserer... bitte was?!" Der Halbdämon kam mit einem Satz auf die Füße und blickte hektisch nach Links und Rechts, aber er konnte unmöglich sagen, aus welcher Richtung die merkwürdige Stimme an sein Ohr drang. "Wo... wo bin ich hier eigentlich? Das ist doch nicht mehr der Strand, oder?"

"Nein, aber das ist auch überhaupt nicht wichtig. Hör mir gut zu, Shinya: Ihr seid auf diese Insel gekommen, weil ihr eine Entscheidung treffen müsst. Jeder von euch wird - ganz auf sich allein gestellt - eine Aufgabe zu bestehen haben. Und trotzdem..." In die leise nachhallenden Worte mischte sich ein fast schon beschwörend strenger Unterton. "Es wird langsam Zeit, dass ihr endlich die Bedeutung des Wortes Zusammenhalt begreifen lernt, sonst werdet ihr niemals gegen eure Gegner bestehen können!"

Trotz aller Ratlosigkeit konnte Shinya nicht umhin, reichlich entnervt mit den Augen zu Rollen. Es stimmte ihn nicht unbedingt glücklich, an den nicht vorhandenen Gemeinschaftssinn seiner ohnehin recht bunt zusammengewürfelten Mitstreiter zu denken, zumal seine Gedanken eigentlich bei einem vollkommen anderen Thema weilten. Er hatte die Stimme, die da wieder einmal aus dem Nichts zu ihm sprach, natürlich längst schon erkannt - immerhin hatte sein ganzes merkwürdiges Abenteuer mit ihr und ihren manchmal fast schon zu wichtig klingenden Prophezeiungen ja überhaupt erst begonnen! Aber das war nicht alles... das war längst nicht alles, denn so fremdartig ihm die körperlose Stimme zunächst erschienen war, so war er sich doch mittlerweile vollkommen sicher, sie schon lange, ja ganz unwahrscheinlich lange zu kennen.

Aber woher?

"Du musst wissen, dass ihr Estrella euch nicht nur mithilfe von magischen Kräften verteidigen könnt. Auf dieser Insel sollt ihr geprüft werden... soll eure innere Stärke geprüft werden, und eine unendlich kostbare Belohnung erwartet euch. Shinya, du bist der Einzige, der wissen darf, dass diese Insel ein Geheimnis hütet, also pass auf, ich werde dir helfen! Denn nur, wenn du..."

"Waaaah!!"

Von einer Sekunde auf die nächste wurde das farblose Nichts von einer eisigen und vor allem ungemein schmerzhaften Kälte in tausend Stücke gerissen. Shinya fuhr mit einem Schrei hoch und wollte die Augen entsetzt aufreißen, aber eine plötzliche stechende Helligkeit zwang ihn umgehend wieder zum Blinzeln. Verstört und vollkommen ratlos blickte der Katzenjunge um sich, ohne auch nur die winzigste Kleinigkeit zu erkennen. Dann endlich zeichneten sich in dem viel zu grellen Licht die Konturen der paradiesischen Insel ab, und Shinya begriff, dass es nichts anderes als eiskaltes Wasser war, das ihm in kleinen Strömen über den Rücken hinablief.

"Sehr witzig!", stieß er leise knurrend zwischen den Zähnen hervor. "Hoshi, Rayo, Misty, Noctan, wer immer das war, der ist des To..."

"Hallo, Shinya."

Der Katzenjunge erschauderte, als die Wassertropfen auf seiner Haut spontan noch um etliche Grade kälter wurden und der Sand unter seinem Körper zu glitzerndem Eis gefror. Diesmal kostete es ihn weniger als den Bruchteil einer einzigen Sekunde, um jene ihm leider nur allzu wohl bekannte Stimme zu identifizieren, und noch im gleichen Moment verfluchte er sich dafür.

"Du?!" Shinya warf einen vernichtenden Blick auf das Gesicht eines gewissen blonden Jungen (nicht Rayo!), der breit grinsend und breitbeinig über ihm stand, beide Hände so widerlich selbstsicher wie eh und je in die Seiten gestützt. "Phil! Was zum Henker hast... ausgerechnet du hier verloren? Machst du's jetzt deiner nächsten Verwandten, der Pest, nach und suchst harmlose Menschen heim, egal, wohin sie vor dir abhauen?"

"Nein, wie komisch du doch heute mal wieder bist! Aber wenn du's wirklich so genau wissen willst... ich und meine Estrella-Freunde haben spitzgekriegt, dass es hier für uns was Hübsches zu holen gibt."

"Spitzgekriegt?" Shinya wiederholte das Wort mit Todesverachtung in seiner Stimme. "Kann mir mal ein Mensch verraten, woher ihr das jetzt schon wieder habt?"

Phil zögerte einen Moment lang, dann zuckte er langsam mit den Schultern und grinste sogar noch ein bisschen breiter als zuvor.

"Tja... dir wird Dies Ultima aber nicht zufällig ein Begriff sein?"

"Was für'n Ding?!"

"Dies Ultima - der letzte Tag..." Der blonde Junge beugte sich ein Stück weit zu Shinya hinab und sah ihm geradewegs in die Augen. "Das ist... schon seit sehr langer Zeit ein Zusammenschluss der mächtigsten Magier des gesamten Planeten! Und soll ich dir noch was sagen? Die verfolgen rein zufällig die gleichen Ziele wie wir, hörst du? Drum helfen sie nämlich auch uns, nicht euch! Aber war ja klar, dass dir das mal wieder kein Begriff ist..."

"Also, ich würd dich ja jetzt eigentlich für komplett durchgeknallt und krank im Hirn und größenwahnsinnig und so weiter erklären", entgegnete Shinya so missmutig und abfällig er nur irgendwie konnte, während er ein gutes Stück weit von Phil wegrutschte und sich eilig aufrappelte. "Aber das Schlimme is ja, dass dein dummes Gelaber auch noch irgendwie Sinn macht. Kommt daher deine Todesmagie, oder was?"

"Was ist mit Todesmagie?" Hoshi war hinter die beiden Jungen getreten und blinzelte nun verschlafen in die Runde. Shinya war sich nicht ganz sicher, ob sie einfach noch nicht richtig wach war oder ihr Entsetzen über Phils plötzliches Auftauchen tatsächlich nur beeindruckend gut verbergen konnte, jedenfalls war der Katzenjunge doch überaus froh darüber, das Mädchen von nun an unterstützend an seiner Seite zu wissen. Auch Noctan, Rayo und Misty schienen langsam wieder lebendig zu werden, was Shinya allerdings nur sehr bedingt verwunderte. Es musste schwer sein, bei der Lautstärke ihrer Unterhaltung noch ruhig weiterzuschlafen - sofern das in Phils Gegenwart überhaupt irgendwie möglich war.

"Ach, nichts weiter Wichtiges, Hoshi. Phil verzapft nur plötzlich was davon, so mal eben mit den mächtigsten Magiern des Universums im Bunde zu sein..."

"Na, wenn's sonst nichts ist..." Hoshi rieb sich die dunklen Augen. "Aber... igitt, der ist ja wirklich da! Ich meine... gehört dir etwa dieses komische Boot?"

"Boot? Welches Boot?" Phil fuhr sich mit der rechten Hand durch sein blondes Haar, das daraufhin nur noch viel verstrubbelter nach allen Seiten abstand. "Seh ich etwa so aus als ob ich blöd genug wär, mein Boot hier mitten am Strand herumstehn zu lassen, so als Einladung und am besten noch mit nem Schild dran: Nimm mich mit?"

"Definitiv!", stellte Shinya nüchtern fest. "Aber mal abgesehen davon, diese Insel müsste eigentlich verlassen sein."

"Gleiches Recht für alle!" Phil hob wenig beeindruckt seine Schultern. "Wenn ihr da seid, wir da sind... warum nicht noch jemand anderes?"

"Vielleicht dein allmächtiger Magierclub?"

"Also nein..." Der Blondschopf verzog abfällig das Gesicht. "Shinya hat heute seinen ganz besonders witzigen Tag, man höre und staune. Sag mal, wär's vielleicht irgendwie möglich, dass du mir nicht glaubst?"

"Ich glaube nur, dass du..."

Shinya wurde von einem leisen Lachen unterbrochen, das sich irgendwo hinter ihm in das Wispern des Palmenwäldchens gemischt hatte. Erschrocken drehte er sich um - und sah eine junge Frau, die nur wenige Meter von ihnen entfernt im Schatten der Bäume stand. Und dort wahrscheinlich auch schon eine ganze Weile gestanden war, was der Katzenjunge jedoch ebenso wenig bemerkt hatte wie ihr offenbar sogar sehr leises Kommen. Dabei war die Fremde nun wirklich alles andere als eine unauffällige Erscheinung, und überhaupt wirkte sie in ihrer ganzen Umgebung derart unwirklich, dass der Katzenjunge zwei- oder dreimal hinsehen musste, um überhaupt erst glauben zu können, dass sie auch wirklich da war.

Die Frau war nicht sonderlich groß, hatte ihren zierlichen Körper jedoch in mit einem Wort beschrieben ungewöhnliche Kleidung gehüllt. Sie trug einen recht kurzen schwarzen Rock und ein silbrig weißes, eng geschnürtes Oberteil, dazu beinahe kniehohe Stiefel aus einem azurblau schimmerndem und irgendwie reichlich fremdartigen Material, über dessen genauere Beschaffenheit Shinya beim besten Willen keinerlei Aussage treffen konnte. Ihre Arme steckten fast bis zu den Schultern hinauf in nicht weniger intensiv blauen Stulpen, an denen zur Krönung dieses eigenwilligen Gesamtkunstwerks auch noch lange, bläulich transparent schimmernde und hauchdünne Stoffbahnen befestigt waren, die sanft in der warmen Meeresbrise tanzten.

Das lange Haar der Fremden war von einer tiefblauen, lebendig schimmernden Farbe und fiel ihr zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden über den Rücken hinab. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen, und auch sonst war die schöne Unbekannte von einer derart intensiven Aura des Geheimnisvollen umgeben, dass Shinya einfach gar nicht anders konnte, als davon zutiefst beeindruckt zu sein. Ihre meeresfarbenen Augen leuchteten sanft und ein bisschen spöttisch, und ganz unweigerlich drängte sich dem Katzenjungen die Frage auf, wie lang die Fremde sie wohl schon belauscht und beobachtete hatte.

"Also, das nenne ich einen Zufall!" Ihre Stimme klang ruhig, war aber gleichzeitig von einer übermütigen Heiterkeit erfüllt, die Shinya wohl bei jedem anderen Menschen ganz furchtbar aufgeregt hätte. "Ich bin auf diese Insel gekommen, um nach den magischen Kriegern zu suchen, aber dass ich gleich so viele von ihnen auf einmal finden würde, damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet! Heute scheint mein Glückstag zu sein."

"Habt Ihr... hast du uns etwa... zugehört?", fragte Shinya eigentlich nur deshalb, um die Fremde bei diesen Worten empört ansehen zu können.

"Du meinst wohl, ob sie gelauscht hat", ergänzte Noctan, der es sich im Schatten einer Palme bequem gemacht hatte und an der ganzen Sache nicht im geringsten beteiligt zu sein schien. "Ja, hat sie."

Erneut gab die junge Frau ein warmes, herzliches Lachen von sich und strich sich durch den schnurgerade abgeschnittenen, etwa kinnlang zu beiden Seiten ihres Gesichts herabhängenden Pony.

"Nicht gerade sonderlich höflich, ich weiß, aber als ich das Wort Estrella hörte, da konnte ich einfach nicht anders! Außerdem könnt ihr ja nun auch nicht unbedingt behaupten, geflüstert zu haben. Genau genommen war es sogar wirklich sehr schwer, euch zu überhören." Sie lächelte entschuldigend und deutete eine Verbeugung an. "Aber da wir nun schon einmal alle hier gemeinsam versammelt sind, kann ich mich euch doch genauso gut auch anschließen, nicht wahr? Ich bin übrigens Cascada Perdido, meines Zeichens wandernde Heilerin und Estrella des Wassers!"

"Also... ich bin Shinya Trival und das sind - in dieser Reihenfolge - Hoshi, gleich neben mir, dort unter dem Baum sitzt Noctan und da hinten, das sind Misty und Rayo."

"Und ich bin Phil", nickte der blonde Junge und lächelte auf jene unnachahmlich sympathische Art und Weise, die Shinya schon seit jeher aus tiefstem Herzen an ihm gehasst hatte. Es fiel ihm sehr leicht, ein überaus boshaftes Grinsen auf seine Lippen zu zaubern, als er sich wie beiläufig wieder an seinen alten Bekannten wandte.

"Sag mal, Phil... wo hast du denn eigentlich deine... ach so mächtigen Estrella-Freunde gelassen? Die haben doch wohl nich etwa schon genug von dir?"

"Aber nicht doch!" Phil lachte kurz und hämisch auf. "Sie warten nur darauf, all deine... sympathischen Gefährten endlich einmal näher kennen zu lernen, und zwar am Eingang der legendären Höhle..."

"Häh?" Shinya gönnte dem Blondschopf den unverdienten Triumph eines ratlosen Blickes und wandte sich dann hastig in Richtung Rayo ab. "Hey, von einer legendären Höhle oder so was hast du aber nix gesagt!"

Der junge Adelige erhob sich von seinem Platz an der sanften Meeresbrandung und kam ihnen eilig entgegen. Er unterzog Phil einer kurzen, herablassend kritischen Musterung und schenkte Cascada ein höfliches Nicken, das wohl so etwas ähnliches wie eine Verneigung andeuten sollte.

"Ehrlich gesagt war mir bislang auch nichts von einer Höhle bekannt. Ich sagte doch, ich kann nur das wiedergeben, was ich in den Büchern gelesen habe." In seinen tiefblauen Augen spiegelte sich ein Kampf zwischen hochmütiger Empörung und schuldbewusster Unsicherheit, und dann machte er plötzlich einen Schritt zurück und senkte den Blick. "Es... war hoffentlich kein falscher Ratschlag, oder?"

Shinya musste lachen.

"Ach was, Rayo! Ich glaub sogar langsam, das war ne verdammt gute Idee, hierher zu kommen... nich wahr, Leute?"

"Genau", fügte Phil grinsend hinzu. "Man merkt sofort, dass sie nicht von dir stammt."

"Halt dein dummes Maul, Phil!" Shinya verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich frag mich ja eh, warum deine tollen Magierfreunde dich ausgerechnet jetzt hierher schicken mussten. Hab ich jemals erwähnt, dass du eine echte Plage bist?"

"In dem Punkt muss ich dich leider enttäuschen." Um Phils Lippen spielte ein überlegenes Lächeln. "Der Tipp kam aus ner andren Richtung. Weißt du... du bist nicht der Einzige, der hier fleißig seine Estrella gesammelt hat. Und wie der Zufall es so wollte, habe ich seit kurzem den Herren des Windes auf meiner Seite... der übrigens auf einem Schiff aufgewachsen ist und die Gegend hier kennt wie seine Westentasche!"

"Nein, wie schön für dich, oh du vom Schicksal beglückter Meister der Estrella! Aber wie wär's denn, wenn wir jetzt langsam mal zu dieser mysteriösen Höhle gehn statt ewig nur drum rumreden würden? Oder ist dir am Ende wirklich dein Gefolge davongerannt und du willst es nur nicht zugeben und..."

"...und wenn du eifersüchtig auf meinen Erfolg bist, darfst du mir das gerne sagen, liebster Shinya! Du weißt doch, ich würde mich niemals über dich lustig machen."

"Bist du dann endlich fertig?"

"Fertiger als fertig! Cascada?"

Die blauhaarige Frau musterte die jungen Estrella mit blitzenden Augen. Dann lächelte sie.

"Ja... ich denke, das könnte noch durchaus interessant werden. Phil, nicht wahr? Bring uns doch bitte zu dieser Höhle. Und auf dem Weg dorthin erklärt ihr mir am Besten, was ihr zwei nun eigentlich für Pläne habt!" Sie schenkte den beiden Jungen ein amüsiertes Zwinkern. "Aus irgendeinem Grund habe ich nämlich nicht unbedingt das Gefühl, dass ihr beide ein eingespieltes Team seid - oder irre ich mich?"
 

Ein schmaler Weg führte die jungen Estrella durch den Urwald aus Licht und grünen Schatten. Die Sonnenstrahlen bahnten sich nur hier und dort spielerisch ihren Weg zwischen Blattwerk und Lianen hindurch und die Luft war von einem steten Vogelgezwitscher erfüllt. Beinahe schien es so, als ob noch nie zuvor ein Mensch diesen ruhigen und doch noch bis zur kleinsten Wurzel hin mit Leben erfüllten Wald betreten hatte, was aber - wenn man Phils Worten tatsächlich glauben schenken durfte - natürlich überhaupt nicht möglich war. Die von farbenfroh blühenden Ranken umschlossenen Bäume bildeten eine dichte Mauer, die dann jedoch ganz plötzlich aufriss und den Blick auf eine kleine Lichtung freigab.

"So... da wären wir!"

Phil trat mit einem triumphierenden Grinsen auf den weißen Sandboden heraus, der wie ein leuchtender Flickenteppich von hohen Grasbüscheln durchwachsen war. Vögel in allen nur erdenklichen schillernden Regenbogenfarben flatterten zwischen dem Wald und einer steilen, glatten Felswand umher, die nur wenige Meter hinter dem blonden Jungen bis weit in einen dichten Ring aus Wolken emporragte. Pflanzen hatten sich wie ein grünes Spinnennetz um die silbergrau schimmernden Felsen geschlungen, die in dem Sonnenlicht glänzten wie der spiegelglatt polierte Boden eines Ballsaales. Zwei große schwarze Eingänge klafften wie alte Wunden in dem hellen Stein. In ihrer Mitte war ein kleiner Brunnen in den Fels gehauen, in dem sich türkis schimmerndes Wasser sammelte, das wie ein lebendiger Vorhang aus einer kleinen Felsspalte über das silbrige Gestein plätscherte.

Shinya war einige Augenblicke lang vollkommen überwältigt von der unwirklich ruhigen Schönheit dieses seltsamen Ortes.

"Hey, wo seid ihr denn alle? Jetzt kommt schon her!" Phils lauter Ruf scheuchte hier und dort ein paar kleine Vögel auf, verfehlte seine Wirkung jedoch keineswegs. In der Palmenwand zu ihrer Rechten begann es zu rascheln, als drei Gestalten aus dem Unterholz ins Freie traten. Ihnen voran schritt ein junger Mann mit einer schwarzen Rüstung und ebenso schwarzem Haar. Er strich sich eine Liane aus dem Gesicht und zwinkerte Shinya grinsend zu. Ihm folgte Tierra, die nicht weniger gut gelaunt aussah und mit behutsamen Bewegungen die Pflanzenwand beiseite schob. Ihre grünen Katzenaugen blitzten auf, als sie Shinya und Hoshi auf der Lichtung erblickte. Sie nickte ihnen zu, dann warf sie einen besorgten Blick über die Schulter zurück, als ihr Hintermann lautstark fluchend ins Straucheln geriet.

Der Halbdämon war jedoch viel zu entsetzt, um in die offensichtliche Wiedersehensfreude seiner alten Reisebekanntschaften mit einzustimmen. Er vergaß sogar einen Moment lang, sich über Phils zufriedenes Lächeln aufzuregen, als ihm in einer grauenhaften Sekunde des Begreifens klar wurde, wer da gerade eben zwischen den Bäumen hervorgestolpert kam.

"Hoshi... sag mir bitte, dass ich... ich meine... da ist irgendwas in diesem Urwald und davon krieg ich Halluzinationen. Oder wegen der Hitze. Irgendetwas. Bitte!!" Der Katzenjunge warf seiner Freundin einen flehenden Blick zu, den sie mit einem nur mühsam und nicht unbedingt gekonnt unterdrückten Grinsen erwiderte.

"Shinya, so was bringst auch echt nur du fertig! Hab ich nicht gesagt, dass du Estrella irgendwie anziehst? Aber dass du dich gleich mit ihnen prügeln musst..."

"Na so was - ihr kennt euch?" Phil hob zweifelnd die Augenbrauen.

"Ja, leider!", knurrte Shinya und bleckte die Zähne. "Gratuliere, da hast du ja endlich mal nen Estrella gefunden, der so richtig gut zu dir passt! Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass der überhaupt weiß, was Magie ist!"

Der rothaarige Junge warf den Kopf in den Nacken und stieß ein abfälliges Lachen hervor.

"Träum weiter, Kätzchen! Aber was für ein geiler Zufall, dass wir uns so verdammt schnell wieder übern Weg laufen! Nur dass du's weißt, ich bin Tempest O'Hara, und zum Thema Magie..."

Der Rotschopf schloss seine Augen, zog mit seiner rechten Hand eine unsichtbare, senkrechte Linie vor seinem Gesicht und stieß sie dann blitzschnell dem Katzenjungen entgegen. Der weiße Sand wurde aufgewirbelt und die Vögel stoben wie ein grellbunter Blütenschauer auseinander. Shinya blieb gerade noch Zeit, entsetzt seine Augen aufzureißen, als er im nächsten Moment auch schon von den Füßen gerissen und hilflos wie ein Blatt im Wind durch die Luft gewirbelt wurde. Der Halbdämon stieß einen Schrei aus und suchte verzweifelt nach einem rettenden Halt, doch sein unfreiwilliger Flug endete erst, als sein Rücken äußerst unsanft gegen einen der Palmenstämme prallte und er sich wenige Sekunden später im kühlen Unterholz wiederfand.

"Sag mal, geht's noch?" Hoshis Augen verdunkelten sich, während sie beide Hände in ihre Seiten rammte und bedrohlich wie eine Rachegöttin auf den grinsenden Tempest zustapfte.

"Da geht noch Einiges!", grinste der und strich sich mit beiden Händen durch sein kupferrotes Haar. "Ich wollt deinen superschlauen Freund nur schon mal kurz mit meiner Windmagie bekannt machen, ja? Ich kann's nämlich ganz verdammt nich ab, wenn man sich über mich lustig macht, alles klar, Süße!"

"Die Süße macht dich gleich auch mal mit ihrer Lichtmagie bekannt, ja?", funkelte das Mädchen ihm mit zornig geballten Fäusten entgegen. Und während Shinya noch immer hilflos gegen die unbarmherzige Umarmung der einen oder anderen Schlingpflanze ankämpfte, konnte er trotz des hellen Sonnenlichtes sogar überaus gut erkennen, dass sich ein weißes Glühen um die Finger der Dunkelhaarigen legte. Er schluckte und wurde sich wieder einmal überdeutlich bewusst, wie froh er doch war, Hoshi nicht zum Feind zu haben.

"Au cool, ne Schlägerei!", entgegnete Tempest hingegen reichlich unbeeindruckt und schlug sich mit der linken Faust in seine rechte Hand. Tierra trat hinter ihn und musterte die ihr gegenüberstehenden Gestalten mit einem übermütigen Blitzen in den grünen Augen.

"Eine Schlägerei?", wiederholte sie kopfschüttelnd und warf Tempest einen beschwörenden Blick zu. Dann jedoch lachte sie und rieb sich die Hände. "Das könnte durchaus interessant werden..."

"Ja, total interessant", grummelte Shinya aus seinem grünen Gefängnis heraus, woraufhin sich Hoshi - oh Wunder! - mit einem letzten geringschätzigen Blick von dem Rotschopf abwandte und ihm schuldbewusst entgegeneilte. Der Halbdämon begrüßte seine Freundin mit trotziger Miene und hängenden Katzenohren. "Is ja mal echt nett von euch, dass ihr nicht einfach weitersprecht und mich hier vergesst oder so... ihr doch nicht!"

"Tut mir ja leid!" Hoshi seufzte unwillig und streckte dem Halbdämon eine Hand entgegen. "Aber verdient hätte er's trotzdem..."

"Na, darauf kannst du Gift nehmen!" Shinya verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen und ließ sich dankbar von dem Mädchen in die Höhe ziehen. Dann klopfte er sich erst einmal den Sand von der Kleidung und zupfte einige Grashalme aus seinem langen braunen Zopf, bevor er sich wieder dem Rotschopf zuwandte.

"Na, was is?", empfing der ihn mit kampfeslustig erhobenen Fäusten. "Habt ihr's jetzt mit der Angst bekommen oder?"

"Vielleicht besitzen wir ja auch ganz einfach nur noch ein Minimum an Stolz und Schamgefühl, das uns im Gegensatz zu gewissen anderen Personen daran hindert, hier wie kleine, beleidigte Kinder aufeinander einzuprügeln", entgegnete Noctan trocken, und Shinya wollte ihm gerade schon beinahe dankbar sein für seinen unnachahmlichen Sarkasmus, als ihn seinerseits ein finsterer Blick aus zwei tiefvioletten Augen traf. "Wenigstens manche von uns."

"Aber sonst geht's noch, Noctan?" Die helle Spitze von Shinyas dunkelbraunem Katzenschwanz begann gefährlich zu zucken. "Ich soll jetzt hier also einen auf diplomatisch machen und der darf mich gegen einen Baum werfen, ja klar!"

"Genau", erklärte der Weißhaarige seelenruhig, "und zwar weil er primitiv ist und du... nein... ich spreche lieber doch nicht weiter."

"Jetzt mach aber mal halblang!" Hoshi trat neben den Katzenjungen und funkelte nun zur Abwechslung einmal Noctan mordlüstern an. "Ich bin ja nun wirklich ein sehr friedliebender Mensch, aber alles hat Grenzen und was zuviel ist, ist zuviel!"

"Außerdem", grinste Phil siegessicher, "hätt ich rein gar nix gegen ein kleines Kräftemessen einzuwenden..."

"Ich allerdings schon", entgegnete Rayo und trat hinter dem Rest der Gruppe hervor, nur um sich hoch erhobenen Hauptes der Felswand zuzuwenden. "Und zwar, dass ich diesen ganzen Streit für ebenso kindisch wie überflüssig halte. Stattdessen könnten wir uns beispielsweise endlich einmal darüber Gedanken machen, welcher dieser beiden Eingänge hier der Richtige ist, meint ihr nicht? Oder was diese Schriftzeichen dort zu bedeuten haben."

"Schriftzeichen?" Shinya stieß Phil zur Seite und trat neben den jungen Adligen. Tatsächlich bemerkte er erst jetzt die feinen Reihen langgezogener Linien und Punkte, die neben den beiden schwarzen Löchern in den silbernen Fels gemeißelt worden waren. Die vor sehr langer Zeit in den Fels gemeißelt worden war, um genau zu sein, denn die zarten Inschriften waren beinahe schon verblasst. Der Katzenjunge fuhr mit den Fingerspitzen darüber und betrachtete ratlos die langen Kolonnen der fremdartigen Buchstaben.

"Die sind ja schön!", lachte Hoshi, während sie die Zeichen über Shinyas Schulter hinweg betrachtete. "Kaum zu glauben, dass wir das um ein Haar übersehen hätten..."

"Ihr wart ja auch beschäftigt damit, euch gegenseitig die Köpfe einzuschlagen", entgegnete Noctan, während seine violetten Augen auf dem blanken Gestein ruhten. "Weiß zufällig irgendjemand, was das hier zu bedeuten hat?"

"Davon wusste ja nicht mal ich!" Phil runzelte kritisch die Stirn. "Und klüger macht's mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Also, was jetzt? Münze werfen?"

"Hey, wir können doch Will vorschicken!", grinste Tierra. "Und wenn er dann nach drei Tagen noch nicht zurückgekommen ist, nehmen wir den anderen Weg."

"Einverstanden!", lachte der Schwarzhaarige. "Aber nur, wenn ich dann auch den ganzen Schatz für mich behalten darf."

"Oder ihr könntet euch wenigstens ein einziges Mal daran erinnern, dass es auch gebildete Menschen in dieser Runde gibt!" Rayos Stimme klang aus irgendeinem Grund ganz furchtbar genervt, und Shinya wollte gerade zu einer entsprechenden Antwort ansetzen, als er mit einem Mal begriff, was der Blondschopf ihm wohl eigentlich hatte mitteilen wollen.

"Moment - soll das heißen, du kannst es lesen? Ähm... kannst du das vielleicht in Zukunft auch noch ein bisschen später sagen?!"

"Ihr habt mich nicht danach gefragt!"

"Nein, das haben wir wirklich nicht", antwortete Hoshi in versöhnlichem Tonfall, bevor Shinya es auf eine vollkommen andere Art und Weise tun konnte. "Aber lasst uns doch bitte nicht auch noch darüber streiten. Lies es einfach jetzt vor, in Ordnung?"

"Also gut...", seufzte der junge Adlige. "Obwohl die Worte keinen großen Sinn ergeben. Hier links, dort steht... atreya vana'in... also... das müsste soviel bedeuten wie... Stärke von innen. Oder innere Stärke. Und dort... estya na lestis... Macht des Geistes."

"Ach nein, wie kitschig!", kicherte Will. "Das haben sich bestimmt irgendwelche uralten Priester oder so ausgedacht, die sich dabei ganz unwahrscheinlich wichtig und toll vorgekommen sind! Schrecklich!"

"Nein, Will, schrecklich ist nur dein Humor." Tierra verzog die Lippen und wandte ihren Blick abwechselnd beiden Inschriften zu. "Und die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, was um alles in der Welt mir das jetzt sagen soll!"

"Wow, und Rayo kann das wirklich lesen?", staunte Misty.

"Natürlich kann Hochwohlgeboren das!", verkündete Noctan an dessen Stelle. "Das sind litische Runen - eine wirklich uralte Schrift, aber was am Hof nicht so alles unterrichtet wird... die wahre Essenz des Lebens!"

"Erspare mir diesen verächtlichen Tonfall! Nur, weil du wahrscheinlich nicht über eine gute Ausbildung verfügst, musst du die meinige nicht verurteilen. Immerhin hat sie uns, wie ich noch einmal betonen möchte, nun ja auch weitergeholfen, oder?"

"Darüber lässt sich streiten..." Shinya seufzte ergeben - und schlug sich im nächsten Moment mit der flachen Hand gegen die Stirn, als ihm wieder einmal auffiel, was für ein riesengroßer Vollidiot er doch eigentlich war. "Meine Fresse, bin ich blöd!"

"Wissen wir!", nickte Phil. "Wieso?"

"Na, du bist der Letzte, dem ich das jetzt sagen werde!" Der Katzenjunge reckte triumphierend das Kinn in die Höhe, dann wandte er sich von den beiden Höhlen ab und stolzierte mit wichtiger Miene auf den tiefgrünen Dschungel zu. "Kommt mal alle mit, Leute!"

"Vorsicht, geheime Versammlung!", grinste Tempest spöttisch, aber Shinya ignorierte den Rotschopf ebenso wie Wills enttäuschtes Gesicht, als er mit großen Schritten einige Meter weit in den Palmenwald hineinstapfte.

Immerhin erfüllte ihn ganz plötzlich wieder das unbeschreiblich gute Gefühl, als Einziger in ihrer großen, merkwürdigen Spielrunde einen sicheren Trumpf in den Händen zu halten.
 

"Ich gebe diesem rothaarigen Etwas ja nicht gerne Recht, aber... Shinya, findest du nicht auch, dass diese Aktion von wegen spontaner Geheimrat nicht doch irgendwie ein wenig... peinlich ist?"

"Aber natürlich, Noctan, lassen wir's bleiben und gehn auf die Lichtung zurück, Spitzenidee!" Der Katzenjunge drehte sich um und warf dem Weißhaarigen einen entnervten Blick zu. "Wir ham ja heut alle unsren netten Tag, warum sagen wir nicht einfach den Feinden, welcher Weg der richtige ist?!"

"Ach, und woher dieser plötzliche Geistesblitz? Haben irgendwelche freundlichen Stimmen zu dir geflüstert?!"

"Jetzt stell dir mal vor, genau so war's!" Der Katzenjunge ließ sich von den kritischen Blicken des Weißhaarigen nicht weiter beeindrucken und machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er mit gesenkter Stimme fortfuhr. "Was ihr nicht wisst und was Phil nicht weiß und auch gar nicht wissen soll... ich hatte eine Vision."

"Man höre und staune", murmelte Noctan gelangweilt. "Shinya ist unter die Visionäre gegangen. Oder unter die Größenwahnsinnigen, je nachdem."

"Wie wär's wenn ihr mir - wenn du mir erst mal zuhören und danach dumm rumlabern würdest?! Ich hab das nämlich rein zufällig nicht zum ersten Mal, sonst wüsst ich auch überhaupt nicht, dass ich ein Estrella bin und so weiter, also kann's so verkehrt ja wohl nicht sein!"

"Ist ja gut!" Der Weißhaarige hob abwehrend beide Hände. "Du hattest also eine Vision, und weiter?"

"Das war grad erst vorhin, unten am Strand. Angeblich soll's auf dieser Insel irgendein Geheimnis geben, das aber nur ich kennen darf. Und wir müssen eine Prüfung... an unserer inneren Stärke bestehen. Versteht ihr? Innere Stärke!"

"Aber natürlich!" Rayos Gesicht hellte sich auf. "Das stand doch neben dem linken Eingang, erinnert ihr euch?"

"Vielen Dank für den Hinweis Rayo, darauf wäre ich nie im Leben gekommen!", entgegnete Noctan in wenig begeistertem Tonfall. "Wir sollen also eine Prüfung bestehen. Wie weiter?"

"Tja... die Stimme sagte auch, dass wir das nur schaffen können, wenn wir... wenn..."

"Wenn - was?! Sag nicht, dass du es vergessen hast!"

"Nein, das ist es nicht... es gibt da nur... ein kleines Problem..." Shinya stieß geräuschvoll die Luft zwischen seinen Zähnen hervor. "Ich hab's nicht mehr gehört, ich bin davor aufgewacht. Oder besser gesagt, aufgeweckt worden. Und zwar von Phil, der es irgendwie ganz besonders witzig fand, mir Wasser über den Rücken zu kippen."

"Also ich sage so was ja wirklich nicht oft", murmelte ausgerechnet Hoshi in jenem ganz besonderen Tonfall, den Shinya mittlerweile durchaus zu fürchten gelernt hatte, "aber ich könnte diesen... diesen... diese Person wirklich umbringen! Oder ihm zumindest sehr, sehr weh tun!"

"Hey, es hätte schlimmer kommen können!" Der Katzenjunge fand es ganz ungemein absurd, dass plötzlich er derjenige war, der seine Freundin beschwichtigen musste, und nicht mehr umgekehrt, aber er fühlte sich einfach viel zu überlegen und gut, als dass er sich diesen Augenblick des Triumphes von irgendetwas hätte trüben lassen. "Immerhin wissen wir ja, welchen Weg wir nehmen müssen und alles Weitere wird sich dann sowieso von selbst ergeben!"

"Wahrscheinlich hast du Recht..." Die Dunkelhaarige seufzte grimmig. "Aber verdient hätt er's trotzdem!"

"Meine Rede!"

"Dann sollten wir jetzt aber wirklich aufbrechen, oder?" Rayo wandte sich wieder der Lichtung zu, die beinahe vollständig hinter einer grünen Pflanzenmauer verborgen war.

"Und wie!" Der Katzenjunge stieß ein gehässiges Lachen aus und warf sich seinen Zopf über die Schulter. "Diesmal zeigen wir's ihm! Auf geht's, Leute, lasst es uns genießen..."

Shinya fühlte sich ein ganz kleines bisschen so wie einer jener sagenhaften Helden, der mit einem Drachenkopf in der einen und einer wunderschönen Prinzessin an der anderen Hand nach vollbrachter Ruhmestat in sein Heimatschloss zurückkehrte, als er sich den Weg über Wurzeln und Sträucher auf das kleine sandige Eiland inmitten des sattgrünen Ozeans erkämpfte. Eigentlich wusste er ja, dass er bislang noch wahrlich nichts, aber auch gar nichts vollbracht hatte (außer vielleicht die undurchsichtigen Worte einer gewissen rätselhaften Stimme nachzuplappern), aber er fühlte sich so unvorstellbar gut dabei, dass ihm weder Phils schleimiges Grinsen noch der Anblick seiner allerliebsten rothaarigen Reisebekanntschaft die Laune verderben konnte.

"Wir werden den linken Weg nehmen!", verkündete er mit feierlicher Stimme. "Ihr könnt von mir aus auch gerne mitkommen. Wie heißt es doch so schön? Gemeinsam ist man stark!"

"Grandiose Idee! Ich hoffe nur, dass du das nicht ernst meinst!" Phil winkte ab. "Ich wollte sowieso nach Rechts gehen. Macht des Geistes... hm... wieso nur finde ich, dass das einfach nicht zu deinem mickrigen kleinen... Haufen... passen will?"

"Was fällt diesem... diesem... also, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll!" Rayo warf sich in gewohnt überheblicher Manier sein langes blondes Haar über die Schulter. "Und das, wo nicht einmal einer von euch eine simple Inschrift zu entziffern wusste!"

"Sag mal... wird Arroganz seit neustem irgendwie bezahlt und du möchtest reich werden oder was geht hier ab?"

"Arroganz?" Rayos Tonfall rutschte um gut eine halbe Oktave in die Höhe und seine helle Haut wurde sogar noch ein wenig bleicher. "Wer spielt sich denn hier groß auf, nur weil er zu meinen scheint, dass ein Pakt... dass ein simples Bündnis mit noch so mächtigen Magiern jahrelanges Training bei den besten Ausbildern des Reiches ersetzen könnte! Lächerlich!"

Phil antwortete mit einem herablassend milden Grinsen.

"Ich bin wirklich gerührt von so viel ehrenhafter... gut, verzichten wir auf das Wort Arroganz, nennen wir es... Überheblichkeit. Aber mir ist so ein schäbiges Bündnis immer noch lieber, als gar keine Magie zu besitzen, was, Shinya?"

"Ich warne dich, Phil, du solltest lieber..."

"... ruhig sein, wie wir alle übrigens!" Hoshi trat eilig in die Schusslinie der eisigen Pfeile, die der Katzenjunge mit seinen hasserfüllt blitzenden Augen zu dem Blondschopf hinüberschoss. "Ihr seid euch doch sowieso gleich wieder los, also wo ist das Problem?"

"Das einzige Problem ist", erklärte Phil in jenem oberlehrerhaften Tonfall, den er wohlgemerkt nur zu ganz besonderen Gelegenheiten hervorkramte, "dass sich ein Mensch leider nicht in zwei Hälften teilen kann. Womit sich mir ganz unweigerlich die Frage aufdrängt: Cascada, wem wirst du dich anschließen?"

Die junge Frau war die ganze Zeit über nur wenige Schritte von den Gruppen entfernt gestanden - sie hätte jedoch genauso gut auch mitten auf der Lichtung zu Shinyas Füßen sitzen können und wäre trotzdem immer noch das geblieben, was sie war, nämlich eine scheinbar vollkommen unbeteiligte Beobachterin. Sie lächelte, und dieses bloße Verziehen ihrer Mundwinkel reichte voll und ganz aus, um sie derart überlegen wirken zu lassen, dass es Shinya trotz der Wärme in ihren tiefblauen Augen kalt den Rücken hinablief.

"Na schön... wie sagtet ihr noch gleich? Phil, du und deine Freunde, ihr möchtet eine Welt ohne alles... Böse, wie ihr es nennt... ohne Dunkelheit... eine Art verheißenes Land, richtig? Ganz im Gegensatz dazu wollt ihr... sozusagen die Gegenseite... das bestehende Gleichgewicht bewahren... und zwar genau so, wie es jetzt gerade ist und mit allen Konsequenzen." Ihre Augen wanderten langsam zwischen den beiden Jungen hin und her. Schließlich blieb ihr Blick an Phil hängen. "Beides klingt vom jeweiligen Standpunkt aus gesehen durchaus vernünftig. Aber ich denke, ich habe meine Wahl getroffen. Phil..."

In die Augen des blonden Jungen trat ein Blitzen, das sie nicht weniger hell als den wolkenlos blauen Spätsommerhimmel strahlen ließ.

"Also wirst du..."

"Also werde ich mit Shinya gehen." Sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, während Phils triumphierendes Grinsen langsam aber sicher zu Eis erstarrte. "Ich zweifle nicht daran, dass ihr eine nette kleine Truppe seid, mit der ich gewiss viel Spaß haben würde, aber ich kann mich schließlich, wie du schon ganz richtig bemerkt hast, nicht zweiteilen, und Shinyas Pläne erscheinen mir doch weitaus vernünftiger."

"Hat jemals einer das Gegenteil behauptet?" Der Katzenjunge schenkte Phil ein vernichtendes Lachen.

"Gewiss nicht", entgegnete ausgerechnet Rayo und stieg wohl nicht ganz ohne Hintergedanken die erste Stufe der steinernen Treppe hinab, die sich in der Dunkelheit des Felseingangs verbarg. "Aber jetzt sollten wir uns wirklich auf den Weg machen, oder? Ich würde jedenfalls gerne noch vor Einbruch der Dämmerung aufbrechen!"

"Gute Idee, sonst könntet ihr ja auch dort in der Höhle tief unter der Erdoberfläche vielleicht nicht mehr richtig sehen!" Phil gab sich keinerlei Mühe, die Enttäuschung über Cascadas Entschluss zu verbergen. Hatten Shinyas wütende Blicke kurz zuvor noch eisigen Pfeilen geglichen, so mussten die des Blondschopfes mit tödlichem Gift getränkt sein. "Wir brechen nicht sofort auf... nur für den Fall, dass du dich doch noch anders entscheiden möchtest, Cascada... woran ich übrigens nicht zweifle... wirst du uns noch bis morgen früh an dieser Stelle hier finden!"

"Danke für das Angebot. Ich werde es mir merken, doch ich glaube nicht, dass ich darauf zurückkommen muss." Die blauhaarige Magierin lachte, und wieder lag eine kindliche Freude in ihren Augen. "Aber wollten wir nicht gerade noch aufbrechen? Wie sagt man doch so schön? Mögen die Spiele beginnen!"
 

Vorsichtig stieg Shinya Stufe um Stufe der steinernen Wendeltreppe hinab - was wohlgemerkt sehr viel leichter gesagt als getan war, denn der zerklüftete graubraune Fels unter seinen Füßen war nicht nur feucht, sondern auch ganz verflucht glatt, und beides zusammen war eine wahrhaft halsbrecherische Kombination. Die Decke war niedrig - er konnte gerade noch aufrecht stehen - und mit zahllosen wachsgleichen Steinfingern übersäht, von denen kühle Wassertropfen wahlweise auf den Stein zu seinen Füßen oder auf seine Stirn, in seinen Nacken und im allerbesten Fall auf seine Katzenohren hinabstürzten.

"Hilfe, ist das rutschig! Wir sollten wirklich vorsichtig sein..." Hoshi sprach nicht laut, doch ihre Stimme wurde explosionsartig von den Wänden zurückgeworfen und hallte als düsteres Echo durch das Zwielicht des Ganges (von dem sich Shinya sowieso nicht erklären konnte, woher es denn eigentlich kam, denn sie waren längst schon viel zu tief unter der Erde, als dass die Sonnenstrahlen sie noch hätten erreichen können). Unweigerlich wurde der Katzenjunge an einen gewissen Korridor erinnert, durch den er vor so langer Zeit in jener schicksalhaften Nacht im Heim gelaufen war. Vor langer Zeit? Shinya hätte beim besten Willen nicht mehr sagen können, wie viele Tage oder Wochen tatsächlich schon seit Beginn seiner Reise vergangen waren - ihm erschien es jedenfalls wie eine halbe Ewigkeit. Er hatte doch schon so viel erlebt! Und nun sollte dies also wirklich ihre erste Prüfung sein? Es fiel ihm schwer, das zu glauben.

Shinya hatte sich in den vergangenen Tagen mehr als nur einmal gefragt, ob er nicht tatsächlich noch in seinem Bett lag, umgeben von dem ganzen menschlichen Rest der Heimkinder, schlafend, träumend... er hatte die Legenden über große Helden längst vergangener Zeiten immer schon mit besonderer Vorliebe verschlungen. Und wie wahrscheinlich jedes kleine Kind hatte auch er sich unzählige Male in wundervollen Tagträumereien verloren, in denen er fremde Länder bereist und schwierige Aufgaben gelöst und am Ende eine wunderschöne Prinzessin als wohl verdiente Belohnung zur Frau bekommen hatte.

Nun lief also Hoshi nur wenige Stufen hinter ihm und er stand auch immerhin schon mal der überaus komplexen Aufgabe gegenüber, auf den nassen Steinstufen nicht das Gleichgewicht zu verlieren und garantiert vollkommen unheldenhaft zu Tode zu stürzen. Eine geheimnisvolle Belohnung erwartete ihn obendrein, und außerdem hatte er jetzt schon mehr fantastische Orte gesehen, faszinierende Menschen getroffen und tödliche Gefahren überwunden als jemals zuvor in seinem ganzen Leben. Er seufzte leise. Der einzige Nachteil an derart schönen Träumen war für gewöhnlich, dass man irgendwann auch wieder aus ihnen erwachen musste.

"Misty hat sooo Hunger! Haben Mistys Freunde noch was zum Essen dabei?", platzte das kleine Mädchen dann auch prompt in Shinyas Gedankenwelt und ließ sich demonstrativ auf einer der Stufen nieder, sodass Rayo, der hinter ihr gegangen war, beinahe über sie stolperte.

"Nur keine Panik, ich habe ein paar Leckereien im Gepäck... für den Notfall", versicherte Cascada lächelnd. "Aber dies hier ist kein sonderlich gemütlicher Ort für eine Rast..."

"Ach was, das passt schon!", meinte Shinya und ließ sich ebenfalls auf einer der zwar unvermeidlich glatten, dafür aber nicht ganz so feuchten Steinstufen nieder. Er hatte immerhin seit den Morgenstunden nichts mehr zu sich genommen, und auch das Frühstück war viel zu schnell von seiner überwältigenden Müdigkeit unterbrochen worden, was seinem Magen übrigens alles andere als zu gefallen schien. Außerdem wusste er zwar nicht, welche Gefahren und Lebensbedrohlichkeiten ihn erst noch erwarten würden - sehr wohl aber, dass er ihnen lieber nicht mit leerem Bauch und trockener Kehle die Stirn bieten wollte.

"Ich würde allerdings eher Cascada zustimmen", widersprach Rayo und warf dem kleinen Mädchen einen missbilligenden Blick zu. "Mir gefällt diese Treppe ganz und gar nicht! Wir sollten lieber weitergehen und uns nach einer Höhle oder einem anderen geeigneten Rastplatz umsehen, oder?"

"Gute Idee. Denn wenn wir nicht alle fünf Minuten eine Pause einlegen würden, dann wären wir womöglich Morgen bereits nicht mehr an diesem reizenden Ort und das wäre ja nun wirklich ganz entsetzlich!" Noctan rollte entnervt mit den Augen. "Aber ohne drängen zu wollen: Ich könnte gerne auch darauf verzichten, noch einmal Phil und seinen Jüngern über den Weg zu laufen, wenn sie ihren Teil des Berges erkundet und ganz nebenbei auch bemerkt haben, dass sie sich - womöglich - für den falschen Eingang entschieden haben."

"Mensch, Noctan, kannst du nicht einmal auch noch was anderes als immer nur Schwarz sehen?!" Shinya merkte augenblicklich an Hoshis Stimme, dass die Dunkelhaarige sich krampfhaft darum bemühte, ruhig zu bleiben. "Die brechen doch eh erst morgen auf!"

"Fantastisch!" Der Weißhaarige stieß ein humorloses Lachen aus. "Mit ein bisschen Glück haben wir uns bis dahin ja auch entschieden, ob wir nun hier essen möchten oder nicht."

"Also, jetzt ist aber mal gut!" Shinya sprang mit einem leisen Knurren wieder auf die Füße. "Immerhin bist du ja wie üblich der Einzige, der sich wieder über alles beschweren muss!"

"Ach, und was ist mit unserem Adelskindchen? Möglicherweise hat mich ja auch irgendwo auf halbem Wege nach unten die Amnesie befallen, aber ich meine doch, mich düster daran erinnern zu können, dass nicht ich es war, der mit den Einwänden begonnen hat..."

"Offensichtlich scheinst du auch vergessen zu haben, was Respekt ist!" Rayo stemmte sich die Arme in die Seiten und funkelte Noctan mit seinen tiefblau blitzenden Augen an. "Ich sehe jedenfalls nur einen, der sich hier andauernd aufspielen und wichtig machen muss, und das bin ganz bestimmt nicht ich! Du solltest dir wirklich einmal überlegen, mit wem du gerade sprichst!"

"Ich zittere vor Angst." Sofern das überhaupt möglich war, wurde der Blick des Weißhaarigen noch ein kleines bisschen kälter als zuvor. "Jetzt hör mir mal gut zu, Rayo-sama. Du bist hier nicht mehr in deiner heilen kleinen Palastwelt, in der du dich bei jeder Gelegenheit hinter dem großen Namen deiner Eltern verstecken kannst!"

"Rede nie wieder von meinen Eltern, hast du das verstanden?!" Rayos Stimme überschlug sich beinahe und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Shinya spürte, wie einmal mehr ein nervöses Zucken durch seinen Katzenschwanz lief.

"Das gehört jetzt aber echt nicht zum Thema, Leute! Wir wollten was Essen, ja? Also macht hier mal nicht groß einen auf Katastrophenstimmung!"

"Und du..." Noctan wandte sich dem Katzenjungen zu, und obwohl sich dieser dafür hätte ohrfeigen können, lief doch ein Frösteln über seinen ganzen Körper. "Hör endlich auf damit, dich hier als großer Anführer aufzuspielen!"

"Ach! Aber vielleicht bin ich das ja? Ohne mich hätten wir uns doch alle gar nicht erst getroffen, schon vergessen?"

"Was für eine wunderschöne Vorstellung..."

"So?" Shinya hatte all seine Pläne, aus Rücksicht auf Hall und Echo leise zu sprechen, längst schon über den Haufen geworfen. "Dann hau doch ab! Geh doch zu Phil und diesen anderen Vollidioten! Mir reicht es langsam echt, hörst du?! Immer dieses..."

"Nein! Es reicht schon lange!" Cascada war bereits einige Treppenstufen hinter den anderen Estrella stehen geblieben. Etwas in ihrem Blick hatte sich verdüstert, und das lag keineswegs nur an den ungünstigen Lichtverhältnissen. "Sieht das bei euch etwa immer so aus? Na dann vielen Dank!"

"Moment mal! Hier sah überhaupt nichts irgendwie aus, bevor er zu uns gestoßen ist!" Noctan deutete mit einer Kopfbewegung zu Rayo hin.

"Du meinst wohl, bevor ihr beide zu uns gestoßen seid?", knurrte Shinya. Rayo sog geräuschvoll die Luft ein und blickte mit flammenden Augen auf ihn herab.

"Was fällt euch eigentlich..."

"Halt!" Die Wassermagierin ließ ihren Fuß von einem dumpfen Platschen begleitet auf die feuchte Treppenstufe niedersausen. "Es reicht! Es reicht vollkommen, ja? Also, entschuldigt bitte, ich dachte ja wirklich, ihr hättet die vernünftigeren Ziele, aber von Vernunft spüre ich hier absolut nichts mehr! Von dieser makellosen Sonnenscheinwelt kann man ja nun wirklich halten, was man will, aber Phil und die anderen schienen sich wenigstens gut zu verstehen!"

"Ja, natürlich tun sie das!" Shinya blickte trotzig zu der blauhaarigen Frau auf, obwohl er eigentlich sehr wohl begriff, dass nun genau der richtige Zeitpunkt für feinfühlige Diplomatie gekommen war und er wahrscheinlich am besten sowieso den Mund halten und Hoshi für sich sprechen lassen sollte. Andererseits hatte er weiß Gott schon genug damit zu tun, das unwiderstehliche Bedürfnis niederzuringen, mindestens zwei der anwesenden Personen rücklings die steilen Stufen hinabzustoßen, und da war für Taktgefühl nun wirklich keinerlei Platz mehr! "Die sind ja auch alle miteinander gleich bescheuert!"

"Nun, dann möchte ich gar nicht wissen, was euch zusammenhält..." Cascada senkte den Kopf und atmete tief durch. Als sie wieder aufblickte lächelte sie, und auch die geheimnisvolle Ruhe war in ihre dunkelblauen Augen zurückgekehrt. "Aber nein, wahrscheinlich seid ihr ja alle gar nicht so schlimm, wie... das vielleicht jetzt gerade den Anschein hat. Betrachten wir es lieber als eine Art... Wink des Schicksals. Und wenn mich dieses Schicksal nur ein einziges Mal in meinem Leben vor einem Unglück bewahren will, dann sollte ich das Angebot wohl lieber annehmen. Vielleicht klingt es in dieser Situation ja ein wenig makaber, aber... lebt wohl!"

Shinya schluckte und wollte irgendetwas sagen, aber ihm rasten zeitgleich viel zuviele Gedanken und Worte durch seinen Kopf, als dass er sie zu irgendeinem sinnvollen Ganzen hätte zusammenfügen und so das Ruder in letzter Sekunde möglicherweise doch noch herumreißen können. Hilflos schweigend sah er dabei zu, wie die Wassermagierin sich umwandte und dann mit einem wahrlich bewundernswerten Geschick die glitschigen Stufen der steinernen Wendeltreppe hinaufeilte. Etliche Wassertropfen zerplatzten geräuschvoll zu seinen Füßen, andere auch auf seiner Haut oder seiner Kleidung, aber ansonsten herrschte äußerst betretenes Schweigen, das auch mehrere Minuten lang nicht mehr enden wollte.

"Das war dann wohl nichts...", murmelte Shinya endlich, weil er die nasskalte Stille einfach nicht mehr länger ertragen konnte, und zuckte etwas verloren mit den Schultern.

"Ja, so könnte man es allerdings auch ausdrücken. Aber was nimmt man nicht alles in Kauf, um einen derart hochwohlgeborenen Menschen mit sich..."

"Noctan... bitte." Der Katzenjunge schüttelte den Kopf und blickte ernst in die Runde. "Es reicht jetzt! Meint ihr nicht auch, das war genug Streit für heute?"

"Ist ja gut... aber bitte verschone mich mit deinen Moralpredigten! Falls ich dich erinnern darf, ganz unbeteiligt warst du an der ganzen Sache schließlich auch nicht..."

"Schon klar. Und soll ich euch mal sagen, was diese komische Stimme in meinem Traum nämlich noch gesagt hat? Dass wir zusammenhalten sollen. Ich weiß, dass es blöd klingt, aber irgendwie hat sie schon Recht, oder? Vielleicht liegt's ja wirklich an der kollektiven Blödheit, aber Phil und sein Gefolge scheinen irgendwie deutlich besser miteinander klarzukommen und wir haben ein echtes Problem, wenn wir das nicht langsam auch mal hinbekommen!"

"Gut gesprochen, Professor Shinya!", erwiderte Noctan in tatsächlich etwas weniger missmutigem Tonfall und strich sich eine seiner schneeweißen Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Aber bitte bedenkt, dass diese Regel nicht allein nur für mich gilt."

"Schon klar!" Der Katzenjunge seufzte leise. "Drum hab ich's ja auch zu allen gesagt, einschließlich mir selbst. Zufrieden? Ich frage mich nur... warum kriegt dieses unerträgliche Großmaul eigentlich immer alles sooo viel besser hin als jeder Normalsterbliche?"

"Ach... ich hab da schon so eine Ahnung..." Hoshi kicherte, obwohl in ihren Augen immer noch ein gewisser Anflug von Trübsinn und vor allem von Enttäuschung lag. "Wahrscheinlich wird ganz einfach jeder von Phils Estrella-Anhängern, der es wagt, gegen seinen großen Führer aufzumucken, mit mindestens fünfzig Peitschenhieben belohnt... äh, bestraft!

"Man Hoshi, das ist doch die Idee!" Auch Shinya rang sich ein Lächeln ab, das von dem Mädchen dankbar erwidert wurde. "Schau nicht so ängstlich, Misty, bei dir können wir ja eine Ausnahme machen... aber auf jeden Fall..."

Er stockte. Seine grünen Augen weiteten sich und mit einem Mal machte sich ein seltsam beengendes Gefühl in seiner Kehle breit, so als ob er ein ganzes Fischgerippe am Stück verschluckt hätte.

"Was denn?" fragte Noctan und zog eine Augenbraue nach oben.

"Auf jeden Fall ist da hinten jetzt eine Wand!"

Der Halbdämon deutete die Treppe hinauf, und tatsächlich: Dort, wo eben noch der - übrigens mittlerweile schon ganz schön weite - Weg zurück nach oben geführt hatte, zurück ans Tageslicht, zu der Lichtung und dem Urwald aus gedämpften Sonnenstrählen und bunten Vögelchen, endete der steinerne Gang nun in einer massiven Felswand. Trotzig streckte sie der kleinen Gruppe ihr graubraunes, feucht glänzendes Antlitz entgegen und fügte sich dabei so perfekt in das umliegende Gesteinsmassiv ein, als ob sie niemals zuvor etwas anderes getan hätte.

"Aber... das ist doch nicht möglich!" Rayo schüttelte den Kopf und blinzelte etliche Male verwirrt dem massiven Hindernis entgegen. "Bis eben war doch dort noch eine Treppe, oder?"

"Ein Wink des Schicksals...", murmelte Hoshi. "Jetzt haltet mich ruhig für verrückt und abergläubisch, aber vielleicht hatte Cascada ja gar nicht mal so Unrecht damit..."

"Du meinst... sie sollte einfach überhaupt nicht mit uns kommen?" Shinya sah das Mädchen lange an. "Das ist zwar irgendwie blöd, aber irgendwie auch logisch. Ich meine, fünf Estrella auf jeder Seite... ach kommt, dann hätten wir uns das eben aber auch gleich sparen können!"

"Tja, die Wege des Schicksals..." Die Dunkelhaarige seufzte. "Ist ja jetzt auch egal, oder? Lasst uns weitergehen, umkehren können wir schließlich eh nicht mehr."

"Und was ist mit Mistys Es..."

Shinya warf der Kleinen einen derart finsteren Blick zu, dass er sich für einen ganz kurzen Augenblick fast schon selbst mit Noctan verwechselte. Sie verstummte schlagartig und sah den Katzenjungen ängstlich an, aber der verspürte nicht einmal den Anflug eines schlechten Gewissens. Wortlos wandte er sich um und nahm tapfer den Kampf gegen die feuchten Treppenstufen wieder auf. Und obwohl es natürlich vollkommen falsch und absurd war, hatte er doch plötzlich das merkwürdige Gefühl, als ob zwischen seinem anfänglichen zögerlichen Abstieg nach dem Betreten der Höhle und seinem jetzigen zögerlichen Abstieg, noch viel länger nach dem Betreten der Höhle, doch eigentlich überhaupt nichts geschehen wäre.
 

Was folgte, waren Stufen - viele Stufen, glitschige Stufen, feuchte Stufen, Stufen und kein Ende. Das Bild vor Shinyas Augen veränderte sich im Grunde genommen überhaupt nicht. Wieder und wieder schob sich die gleiche graubraune Felswand, die gleichen unregelmäßigen Steinstufen, die gleichen geisterhaften, deformierten Tropfsteinfinger hinter der engen Windung des unterirdischen Treppenhauses hervor. Eigentlich waren nur die langsam, aber ungemein sicher einsetzenden dumpfen Schmerzen in seinen Fußsohlen ein stummes Zeugnis davon, dass er sich auch tatsächlich vorwärts bewegte.

Der Katzenjunge verfiel so sehr in einen immer gleichen Trott, dass er es zunächst einmal noch gar nicht wirklich begreifen konnte, als sich vor ihm endlich die vage Ahnung eines flackernden Lichtscheins erkennen ließ. Dann jedoch sammelte er noch einmal all seine Motivation und beschleunigte seine Schritte, so weit das auf der glatten Steintreppe eben möglich war. Das Licht wurde heller - oder vielmehr, reiner und durch den mehr und mehr schwindenden Schleier aus dumpfer Feuchtigkeit auch deutlich intensiver. Shinyas Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er wusste zwar nicht ganz genau, was sie nun eigentlich geschafft hatten, aber dass sie überhaupt irgendetwas geschafft hatten war allein schon Grund genug zur Freude.

Ihr Ziel... ihre Prüfung musste ja förmlich in greifbarer Nähe liegen!

Leider schienen die Füße des Halbdämons nicht minder ungeduldig zu sein als er selbst. Er trat auf eine Kante, setzte mit dem rechten Fuß nach - und begriff erst einen Augenblick später (und leider auch einen Augenblick zu spät!), dass er soeben seinen sicheren Halt aufgegeben hatte. Seine Ferse rutschte nach vorne und sein Fuß trat ins Leere. Er taumelte, versuchte vergeblich, mit seinem Oberkörper die davonrasenden Beine einzuholen - und streckte dann im allerletzten Moment beide Arme zur Seite weg.

Seine Handflächen schrammten schmerzhaft über den kalten Fels, verfehlten allerdings nicht ihr Ziel - Shinyas Fall wurde gebremst und seine zitternden Beine fanden mehr oder minder festen Boden unter den Füßen. Was der Rest seines Körpers anscheinend jedoch noch nicht so recht begriffen hatte, denn sein Puls jagte ihm das Blut mit doppelter Geschwindigkeit durch die Adern und ließ tosende Wasserfälle in seinen Ohren rauschen. Er schloss die Augen und musste etliche Sekunden lang tief durchatmen, bevor sich sein Herzschlag langsam wieder normalisiert hatte. Die feuchte Luft strömte kühl in seine Lungen und hinterließ ein unangenehm klebriges Gefühl in seiner Kehle.

Da fiel ihm plötzlich auf, dass er keine Schritte mehr hinter sich hörte. Wieder einmal herrschte tropfende Stille in dem unterirdischen Gang.

"Hey, was ist los... wo bleibt ihr?" Shinya drehte sich langsam um, konnte aber weder Hoshi noch Misty noch sonst irgendjemanden hinter sich erkennen. Nur eine winzige Sekunde lang war der Katzenjunge heilfroh, dass niemand seinen alles andere als eleganten Ausrutscher beobachtet hatte - dann aber kamen ihm Zweifel. War er denn wirklich so schnell gegangen, dass er die Nachfolgenden um etliche Meter abgehängt hatte?

"Leute... wo seid ihr denn alle? Jetzt sagt doch mal was! Hört ihr nicht?"

Shinya wartete mehrere Sekunden und schließlich auch mehrere Minuten lang vergeblich auf eine Antwort. Die allerdings zunächst nur in Form seines eigenen hohlen Echos erfolgte, das aber auch recht schnell wieder verstummte, um dem ewig gleichen Tropfkonzert auf den steinernen Stufen zu weichen. Was fehlte, waren Schritte, Atemzüge und menschliche Stimmen. Der Katzenjunge wartete weiter, doch niemand antwortete und niemand kam über die Wendeltreppe zu ihm hinabgestiegen.

Er war allein.
 

Ende des fünften Kapitels

Kapitel VI - Die Macht der Einsamkeit

...und wieder eines! Und im Gegensatz zum vorigen Kapitel ging mir dieses sogar erstaunlich leicht von der Hand, obwohl ich vor diesen Szenen wirklich Angst hatte. Ich frage mich zwar, warum es so lang ist (erst passiert soooo viel und trotzdem ist man nur auf Seite Sieben, und knapp zwölf Seiten später wundert man sich dann, wieso eigentlich plötzlich so viel Zeit vergangen ist... ^^;), aber irgendwie mag ich es. Aus mehreren Gründen. Ich hatte viel Spaß beim Schreiben und hoffe, dass es sich auch gut lesen lässt. Mehr möchte ich gar nicht dazu sagen, weil ich sonst zuviel verraten würde, und so wünsche ich lediglich noch eine frohe Lektüre und ein bisschen gesunden Wahnsinn für jedermann! ^_^
 

Die Stufe, auf der Shinya nun schon seit geschlagenen zehn bis fünfzehn Minuten saß, war kalt und nass und furchtbar unbequem, doch ihm fehlte die Kraft, um aufzustehen. Oder die Motivation. Oder beides. Sein Körper war wie gelähmt und seine Gedanken drehten sich im Kreis, dass ihm schwindlig wurde. Dabei wusste er eigentlich nur zu gut, dass er irgendetwas hätte tun müssen. Er wusste nur nicht, was. Er konnte ja nicht einmal wirklich begreifen, in welch absurde Lage er da wieder einmal geraten war.

Da waren vier Menschen - vier Menschen, von denen wenigstens einer ihm sogar verdammt am Herzen lag - von einem Augenblick auf den nächsten ganz einfach verschwunden und anstelle einer Treppe befand sich da plötzlich eine anscheinend vollkommen willkürlich umherwandernde und zudem noch äußerst anhängliche Steinmauer hinter ihm. Was übrigens auch der Grund dafür war, dass er nun weder ein noch aus konnte, denn der Weg hinauf ans Tageslicht war blockiert und der verheißungsvolle Lichtschein am Fuß der steinernen Wendeltreppe war aus einer kleinen Höhle gekommen, die weder Durchgänge noch Löcher im Boden, sondern lediglich ein paar halb heruntergebrannte Fackeln zu bieten hatte.

Und überhaupt, es war doch wirklich zum Verzweifeln! Da hatte er sich noch bis vor kurzem gefühlt wie ein sagenhafter Held, nur um wenig später (nämlich jetzt) so hilflos und jämmerlich wie eine Maus in der Falle zu sitzen. Er wusste ja selbst, dass er... vielleicht doch ein klein wenig vorschnell und unüberlegt gehandelt hatte, als er in eine vielleicht nur zufällige Wortwahl seines unsichtbaren Ratgebers gleich eine ganze Welt von Glorie und Triumph und Überlegenheit hineininterpretiert hatte, aber diese Strafe ging doch entschieden zu weit!

Wenn es denn eine Strafe war, denn möglicherweise lief ja auch alles ganz richtig und er musste sogar an genau diesem Ort mit genau diesen Gedanken sitzen, wer wusste das schon? Er jedenfalls nicht, denn immerhin hatte Phil ihn ja zuverlässig aus dem Reich seiner Träume gerissen, bevor er dem wirklich wichtigen Teil der Prophezeiung - er erschrak ein bisschen darüber, mit welch einer Selbstverständlichkeit er das Wort nun schon in Gedanken verwendete - hatte lauschen können. Oder war es am Ende gar sein Schicksal, in diesem feuchten Loch hier elendig verhungern zu müssen, während der Sonnenschein vom Dienst sich aufmachte, um den Planeten von allem Übel zu befreien?

Schlimmer als jede dieser ziellosen Gedankenverirrungen war jedoch die nagende Ungewissheit über das Schicksal seiner Gefährten. Gut, er hatte die Hälfte von ihnen nicht wirklich gemocht und auch die Vorstellung von einem Leben ohne Misty erschien ihm, ehrlich gesagt, nicht unbedingt als unerträglich schmerzvoll, aber trotzdem... er gönnte keinem von ihnen das Schicksal, von einer Felsmauer verschluckt zu werden, lebendig begraben in einem kalten Sarg aus massivem Stein. Ob sie überhaupt noch am Leben waren?

Shinya schüttelte kraftlos den Kopf und versuchte krampfhaft, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Er war an und für sich noch nie ein Mensch gewesen, der sich gerne in Gesellschaft großer Gruppen aufhielt oder mit anderen zusammenarbeitete. Im Gegenteil, er hatte schon so viele glückliche Stunden alleine verbracht und oft genug auch lieber mehr Arbeit verrichtet, als für ein bisschen - möglicherweise minderwertige - Unterstützung den teuren Preis von unliebsamen Kompromissen bezahlen zu müssen.

Nun jedoch hätte er viel darum gegeben, auch nur einen einzigen Menschen, egal welchen, an seiner Seite zu wissen. Er hasste sich dafür, aber sogar Phil wäre ihm in diesem Fall ganz recht gewesen, denn das qualvolle Gefühl, vollkommen auf sich allein gestellt zu sein, lastete derart schwer auf seinen Schultern, dass er meinte, jeden Augenblick unter seinem Gewicht zusammenbrechen zu müssen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war vollkommen ratlos und er sehnte sich so sehr nach irgendeiner Hilfe, dass es ihm schier die Kehle zuschnürte.

Aber warum konnte er das dumme Gefühl nicht loswerden, irgendetwas unendlich Wichtiges vergessen zu haben?

Die grün schimmernden Augen des Katzenjungen folgten einem Wassertropfen, der unendlich langsam von einem der fleckigen Steinfinger hinabrann, zitternd anschwoll und dann schließlich ruckartig zu Boden stürzte, wo er mit einem dumpfen Geräusch zerplatzte. Er ging im Geiste Satz für Satz der kurzen Unterhaltung durch, die er mit der merkwürdigen Stimme geführt hatte, versuchte sich an jedes Wort, jeden Wechsel im Tonfall genauestens zu erinnern, und dann plötzlich musste er lachen, als ihm auffiel, wie unverschämt naheliegend das Gesuchte doch wieder einmal gewesen war.
 

Jeder von euch wird - ganz auf sich allein gestellt - eine Aufgabe zu bestehen haben...
 

Shinya hob den Kopf, und ganz langsam verzogen sich seine Lippen zu einem siegessicheren Lächeln. Er stemmte sich an der glatten Felswand hoch und stapfte in die Mitte der kleinen Höhle, deren feuchte Wände im flackernden Licht der Fackeln zu brennen schienen. Seine Knie waren leicht zittrig, aber er meinte doch zumindest, endlich wieder einen vagen Lichtschein am Ende des Tunnels zu erkennen - nein, er weigerte sich, die Gefahr einer optischen Täuschung diesbezüglich auch nur in Betracht zu ziehen. Stattdessen stemmte er sich die Arme in die Seiten und schob trotzig sein Kinn nach vorne.

"Nettes Spielchen!" Shinyas Worte ließen die Flammen zu seinen Seiten wie kurze, heftige Windstöße erzittern. Für einen Augenblick schien das gedämpfte Licht in der Tropfsteinhöhle heller, blendender zu werden.

Und da glaubte der Katzenjunge, all die verwirrenden, scheinbar unerklärlichen Vorgänge der vergangenen Minuten endlich begreifen zu können. Im Grunde genommen waren sie doch alle vollkommen naiv und verblendet an die ganze Sache herangegangen. Er zumindest. In den schillerndsten, vielleicht auch abstoßendsten und bluttriefendsten Farben hatte er sich die Schrecken ausgemalt, die am Ende der steinernen Wendeltreppe möglicherweise auf ihn warten würden - ohne auch nur eine Sekunde lang überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass ihre Prüfung ja möglicherweise längst schon begonnen hatte. Dies war natürlich keine Sackgasse, dies war lediglich ein Test, der Test an seiner inneren Stärke.

Und bislang, musste Shinya mit einem leisen, beschämten Seufzer feststellen, hatte er auf der ganzen Linie versagt.

"Glaub bloß nicht, dass du mich so leicht drankriegst!", knurrte er einer der Wände entgegen und kam sich dabei zwar ziemlich blöd, aber irgendwie auch ganz schön gewitzt vor. Er war gefangen und er wurde geprüft, so weit alles schön und gut, aber immerhin wusste er um seine Zwangslage und allein schon das machte ihn verdammt noch mal um so vieles besser als diesen hässlichen tropfenden Kerker (er verzichtete bewusst auf die Bezeichnung Grab), der sich da auf Teufel komm raus mit ihm anlegen wollte. Natürlich gab es einen Ausweg und natürlich würde er ihn finden, wenn er es nur wirklich wollte!

"Also gut, ich weiß, dass es hier weitergeht!"

Shinya spürte selber, dass seine Worte nicht halb so überzeugt und überzeugend klangen, wie er das gerne gehabt hätte. Aber wie hätte er sich denn auch wirklich sicher sein können, das Richtige zu tun? Ein leiser Anflug von Scham überkam ihm, als er sich vorstellte, wie unglaublich lächerlich er in diesem Augenblick doch aussehen musste. Er hatte ja durchaus nichts gegen ungewöhnliche Problemlösungen einzuwenden, aber was er jetzt tat, war einfach zu absurd!

So absurd wie anscheinend alles auf dieser Insel, und gerade deshalb musste es ja eigentlich der richtige Weg sein. Außerdem - was hatte er denn schon für eine Wahl? Wenn dies hier wirklich das Ende war, wenn es aus seinem tropfenden, modrig riechenden Gefängnis tatsächlich keine Rettung mehr gab, dann konnte er sich auf diese Weise wenigstens die Zeit bis zu seinem Ende ein wenig verkürzen.

"Du meinst wohl wirklich, ich gebe so leicht auf? Jetzt hör mal zu, ich bin ein Estrella! Ich bin von wem auch immer auserwählt worden, ja? Und jetzt kommt da allen Ernstes so eine kleine Mauer daher und will mich aufhalten? Ach nein, wie komisch! Spar dir deine beschissenen Psychospielchen für jemand anderen, falls du das überhaupt noch kannst, wenn ich hier erst mal raus bin!"

Der Katzenjunge wusste nicht, wen er da nun eigentlich anschrie, aber in jedem Fall half es ihm, denn langsam fühlte er echte Wut in sich aufsteigen.

"Ich finde einen Weg aus dieser verdammten Höhle heraus und ich find auch die andren wieder! Ich weiß, dass ich es kann, hörst du mich? Ich weiß es!!"

Shinyas letzte Worte gingen in einem urplötzlich über ihn hereinbrechenden Klirren unter. In Sekundenbruchteilen schien die Welt um ihn herum in sich zusammenzufallen wie ein Schloss aus Sand, begraben unter einer Sturmwelle. Ein helles Licht flackerte auf und zwang ihn dazu, seine Augen zu schließen und die Hände vor das Gesicht zu schlagen. Einige Sekunden lang verharrte er in dieser Haltung, bis die enervierende Geräuschkulisse erneut einer Stille wich, die aus irgendeinem Grund sogar noch ungleich bedrückender war als die vorherige.

Der Katzenjunge wagte es nicht sofort, seine Augen zu öffnen, und konnte seine Umgebung dann, als er es tat, auch zunächst einmal noch gar nicht richtig wahrnehmen. Grelle Flämmchen tanzten wie betrunkene Glühwürmchen in einem vollkommen unscharfen, konturlosen Bild umher, was allerdings nicht etwa der Grund dafür war, dass Shinya seine Umgebung nicht mehr wiedererkennen konnte. Er war nicht länger von düsterem, kantigem Höhlengestein umgeben, sondern von ungemein hellen und vollkommen glatten Wänden, die auch den schwächsten, kümmerlichsten Lichtstrahl hundertfach reflektieren mussten.

Der Halbdämon schloss erneut die Augen, und als er sie zum zweiten Mal öffnete, klärte sich sein Blickfeld endgültig auf und nahm feste Gestalt an. Er stand vor einer Wand, die aus einem seltsam glänzenden Metall bestand. Diese Wand setzte sich ohne Unterbrechungen zu beiden Seiten von ihm scheinbar bis ins Unendliche fort und war dabei vollkommen gerade und exakt symmetrisch. Nur ein etwa einen Meter breiter Gang trennte die spiegelglatten Mauern voneinander.

Spiegelglatt...

Shinya fröstelte, als ihm schlagartig bewusst wurde, was ihn an dem fremdartigen Mauerwerk so sehr irritiert hatte. Er war sich nämlich vollkommen sicher, dass es sich dabei tatsächlich um Spiegel handeln musste - allerdings um Spiegel, in denen er sich selbst nicht sehen konnte! Aber wie war das möglich? Der Katzenjunge wandte seinen Blick nach oben und nach unten, nur um festzustellen, dass auch die Decke und der Boden aus demselben merkwürdigen Metall oder Gestein oder was auch immer bestanden und nahtlos in die Wände übergingen, sodass mit bloßem Auge kaum auszumachen war, wo nun die Decke anfing und die Wand endete oder umgekehrt.

"Shinya?"

Der Halbdämon spitzte die Ohren. Hatte er wirklich Hoshis Stimme gehört? Alles um ihn herum war so... so seltsam, so... falsch, dass er sich eigentlich überhaupt nicht mehr sicher war, was er noch glauben konnte. Ein beklemmendes Gefühl presste auf seine Kehle, als er sich langsam, fast schon ein wenig ängstlich herumdrehte - und verflog dann schlagartig wieder, als er seine Freundin am Ende des durch und durch von Licht erfüllten Ganges stehen sah. Ihr Gesicht war bleich und ihre dunklen Augen ein bisschen geweitet, aber beides erhellte sich, als Shinya ihren Blick erwiderte. Ein leises Beben lief durch ihre Lippen, und auch ihr Körper schien zu zittern, als sie zögerlich ihre Arme in seine Richtung hob.

"Hoshi! Du... du bist in Ordnung, ja?"

Das Mädchen nickte, auch wenn sie mit jeder Sekunde mehr danach aussah, als ob sie im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen müsste. Obwohl er wusste, dass das nicht unbedingt sensibel war, entwich doch ein erleichtertes Lachen aus Shinyas Brust. Er hatte zwar immer noch keine Ahnung, wo er war und was er zu tun hatte, aber der Gedanke, mit Hoshi gemeinsam ratlos und ängstlich und vielleicht sogar etwas verstört zu sein, erschien ihm doch als durchaus erträglich.

Der Katzenjunge wollte noch irgendetwas sagen, vielleicht etwas Tröstliches, aber dann überkam ihn ganz plötzlich das unbedingte Bedürfnis, den zierlichen Körper der Dunkelhaarigen in seine Arme zu schließen, sie an sich zu drücken und nie wieder loszulassen. Er begann zu rennen, den Blick auf ihre sanften, einsamen Augen gerichtet, und öffnete noch im Laufen die Arme, um sich ihr ohne Rücksicht auf Verluste schlicht und ergreifend um den Hals zu werfen.

"Hoshi!"

Der Aufprall war so hart wie auf blankem Stein, und eine eisige Kälte durchzuckte Shinyas Körper, als er das spiegelnde Glas berührte. Mit einem erschrockenen Aufschrei taumelte der Katzenjunge zurück. Er starrte auf die Wand und direkt in zwei große, grüne Augen, die seinen Blick nicht weniger entsetzt erwiderten - in die Augen seines eigenen totenbleichen Spiegelbildes.

"Nein!" Erst jetzt bemerkte Shinya überhaupt, dass er gestürzt war. Er sprang auf und trat heftig atmend der Spiegelmauer entgegen. "Hoshi, verdammt, wo bist du?"

Der Halbdämon streckte eine zittrige Hand nach seinem eigenen Abbild aus, doch noch bevor seine Finger die des gespiegelten Shinyas berührten, jagte ein eisiger Schmerz durch seine Haut. Auf dem Gesicht des Katzenjungen im Spiegel breitete sich ein höhnisches Lächeln aus.

"Willkommen in deinem Alptraum, Shinya!"

Die Stimme des Spiegelbildes klang alles, nur nicht menschlich - mehr wie zerspringendes Eis. Shinya stieß ein panisches Keuchen aus und wollte seine Hand zurückreißen, doch leider drang dieser Befehl um etliche Sekunden zu spät zu den schon beinahe tauben Fingerkuppen durch. Die beiden Hände trafen sich und noch im selben Augenblick erstarrte Shinyas gesamter Körper. Sein Ebenbild warf den Kopf in den Nacken und gab ein gehässiges, schrilles Lachen von sich, das an den Wänden abprallte und wie ein nadelspitzer Eisregen durch den Gang fegte.

"Wie gefällt dir das, Shinya?"

Ein helles Licht bohrte sich wie glühende Dolche in die Augen des Halbdämons (der diese blendenden Ungetüme übrigens langsam aber sicher zu hassen begann), ein bläulich-weißes Glühen, das gleichzeitig von einer eiskalten Transparenz erfüllt war. Die kalte Helligkeit verblasste zu einem nebligen Schleier, in den sich eine wirbelnde Bewegung mischte, und schließlich konnte Shinya vier Gestalten erkennen, deren Körper wie bizarre Geistererscheinungen in durchscheinendem Blau glommen.

Obwohl es der Situation wohl eigentlich alles andere als angemessen war, spürte Shinya doch eine Welle hysterischer Erheiterung über seinen Körper hereinbrechen, als er endlich erkannte, wer da als finsterer Gespensterreigen um ihn herum tanzte - es waren niemand anderes als Hoshi, Rayo, Noctan und Misty, deren glühende Augen ihn aus maskenhaft starr lächelnden Gesichtern heraus fixierten. Ihren körperlos leichtfüßigen Bewegungen haftete eine spielerisch absurde Anmut an, die es dem Katzenjungen unmöglich machte, seinen Blick von dem unheimlichen Schauspiel abzuwenden.

Hoshi lachte auf. Ihr Lachen war so klar und kalt wie tausend Eisnadeln, die sich unendlich langsam in seine Trommelfelle bohrten.

"Hallo, Shinya! Da bist du ja endlich! Sag, wollen wir nicht ein wenig spielen?" Das Mädchen kicherte, dann neigte sie den Kopf zur Seite und verzog ihre Lippen zu einem zuckersüßen Lächeln. "Hoshi sagt... lauf!"

Shinya war immer noch viel zu geschockt, um sich auch nur einen einzigen Schritt nach vorne oder hinten oder sonst wohin bewegen zu können. Einzig sein Kopf folgte in rastloser, gehetzter Bewegung dem Tanz der eisfarben schimmernden Geister, die einmal seine Gefährten gewesen waren. Der gespenstischen Hoshi schien das ganz und gar nicht zu gefallen, denn sie verzog ihr Gesicht und wirkte einen Moment lang wie ein wütendes kleines Mädchen, das trotz größter Anstrengung von seinen Eltern keine Süßigkeiten hatte erbetteln können. Ein zorniges Blitzen lief durch ihre kalten Augen.

"Ich sagte... lauf!!"

In das klirrend verzerrte Echo der sogar überaus nachdrücklich gesprochenen Worte mischte sich ein anderes Geräusch - ein leises, tiefes Grollen, ähnlich einem weit entfernten Donner, der vom Nahen eines Gewitters kündigte. Wie in Zeitlupentempo drehte Shinya seinen Kopf, während sich ein eiserner Ring um seinen Hals zu legen schien.

Am Ende des Ganges sah er ein klaffendes schwarzes Loch in der Spiegelwand, dessen pulsierende, bewegte Konturen es erst auf den zweiten Blick als lebendiges Wesen auswiesen. Bläulich glänzendes Fell bedeckte seinen riesigen, unförmigen Leib, der ebenso kalt schimmerte wie einer der Spiegel, die ihn umgaben. Das sterile Licht, das den Gang zu Anfang erfüllt hatte, war inzwischen einem leblosen, eisig blauen Schimmer gewichen. Die Augen der Kreatur, deren geschwulstartig verzerrte Gliedmaßen entfernt an einen etwas zu groß geratenen Kampfhund erinnerten, leuchteten als grauenvoll lebendiger Kontrast dazu in einem sehr tiefen Rot, ähnlich dem Blut eines frisch geschlachteten Ochsen.

"Du... du bist doch nur eine Illusion!" Shinyas Ruf brachte Bewegung in den trägen Leib der Bestie. Die blutig leeren Augenhöhlen fixierten den Katzenjungen wie ein hilfloses Beutetier, aber der zwang sich dazu, seinen Blick nicht von dem abstoßenden Untier abzuwenden. "Du bist nur ein Spiegelbild, okay? Du kannst mir nichts tun!"

Shinya hatte eigentlich vorgehabt, seine Stimme gefasst und sicher und sogar ein bisschen bedrohlich klingen zu lassen, aber wieder einmal sollte sein Plan sogar gründlichst scheitern. Jedes einzelne seiner Worte war durchtränkt von einem hysterischen Zittern, das nicht einmal er selbst von sich kannte. Hoshi schien das jedenfalls ganz furchtbar amüsant zu finden, denn sie stieß ein schmerzhaft schrilles Lachen aus.

"Dummchen! Hunde spüren Angst, weißt du das nicht?"

Die Augen des Katzenjungen weiteten sich, als er sah, wie sich das Wesen ihm langsam, beinahe schleppend näherte. Die Nase des Ungetüms zuckte fortwährend, und wenn der Gedanke nicht so unerträglich gewesen wäre, dann hätte Shinya schwören können, dass es ihn witterte.

"Du bist nicht echt...", murmelte er ein ums andere mal wie eine verzweifelte Beschwörungsformel vor sich hin, während er rückwärts kroch, bis er das eiskalte Spiegelglas in seinem Rücken fühlte. "Du kannst mir nichts tun, du bist doch gar nicht echt..."

Das rotäugige Monster schlurfte unbeirrbar weiter auf ihn zu, bis es irgendwann direkt vor ihm stand und Shinya seinen warmen, nach verwestem Fleisch stinkenden Atem im Gesicht fühlen konnte.

"Verdammt noch mal, du bist nicht echt!!"

Die Bestie holte aus und schlug dann blitzschnell ihre Klauen in Shinyas zur Abwehr erhobenen Arm. Einen Augenblick lang war dieser so perplex, dass es vorkam, als ob genau in dieser Sekunde die Zeit ganz einfach eingefroren worden wäre, als ob der entstellte Hund mit den blutigen Augen ebenso zu atmen aufgehört hätte wie seine geisterhaften Mitstreiter und vor allem auch wie er selbst. Dann kehrte auf einen Schlag die Bewegung zurück - und mit ihr der Schmerz. Shinya sah, dass sich eine langer, hässlich gezackter Riss über seinen linken Unterarm zog, aus dem das Blut förmlich hervorquoll. Der zerfetzte grüne Stoff seines Ärmels färbte sich in ein dunkles Rot und auf dem spiegelnden Boden breitete sich beunruhigend schnell eine klebrige warme Lache aus, die vergeblich versuchte, ihr eigenes, bläuliches Spiegelbild zu bedecken.

Die tanzende Hoshi gab erneut ein eisig kaltes, durchdringendes Lachen von sich. Ihre Stimme klang mittlerweile jedoch nicht einmal mehr so klar wie Eis, sondern viel eher wie das misstönende Kratzen einer zerbrochenen Spieluhr.

"Na los doch, Shinya... lauf! Lauf!"

Noch während sie ihren unmelodischen Singsang von sich gab, riss das schwarze Wesen sein Maul weit auf und legte zwei unregelmäßige Reihen messerscharfer, rot verkrusteter Zähne frei.

"Lauf, Shinya, lauf!!"

Ein erneuter feuchtwarmer Schwall übelriechenden Atems schlug dem Katzenjungen mitten ins Gesicht und trieb ihm Tränen in die Augen - ließ jedoch endlich auch die lähmende Starre von seinem Körper abfallen, als er in einer einzigen grauenvollen Sekunde erkennen musste, dass jedes weitere Zögern sein sicheres und ganz und gar nicht nur eingebildetes Todesurteil bedeuten würde.

Mit einem Schrei fuhr er hoch und stürzte blindlings den Spiegelgang hinab, ohne noch einmal zurückzublicken. Anstelle von Blut schien nunmehr pures Adrenalin durch seinen Körper zu jagen, und es ließ ihn rennen, so schnell seine Beine ihn tragen konnten. Die Krallen des Monsters verursachten ein scharrendes Geräusch auf dem Boden, als es enttäuscht oder einfach nur hungrig knurrend die Verfolgung aufnahm. Shinya zwang sich dazu, sein halsbrecherisches Tempo beizubehalten, trotzdem schienen sich die knirschenden Schritte der Bestie nicht im Geringsten zu entfernen - ganz im Gegenteil. Das schnaubende Keuchen hinter ihm schien mit jedem verzweifelten Meter näher zu kommen.

Der eisfarbene Gang war nicht, wie er zunächst fälschlicherweise angenommen hatte, schnurgerade, sondern teilte sich in unzählige Biegungen und Abzweigungen, sodass der Katzenjunge bereits nach kurzer Zeit jegliche Orientierung verloren hatte. Ein Labyrinth, fuhr es ihm durch den Kopf, er war in ein Spiegellabyrinth geraten! Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass es damals auf dem Jahrmarkt von Haída auch solch einen verwinkelten Irrgarten gegeben hatte. Shinya war damals noch sehr klein gewesen und er hatte sich ein bisschen verlaufen und schreckliche Angst gehabt, den Ausgang möglicherweise niemals wiederzufinden und von den anderen Kindern ganz einfach zurückgelassen und vergessen zu werden. Natürlich war dies eine kindische Angst und das Spiegelkabinett eben doch nicht mehr als eine Kirmesattraktion gewesen, die sicher keinem Menschen, der älter war als sieben oder acht Jahre, das Fürchten gelehrt hätte.

Leider befand er sich nun in einer doch etwas anderen Situation. Er war in einem alptraumhaften Labyrinth gefangen, von dem er ja nicht einmal sicher wissen konnte, ob es denn überhaupt einen Ausgang besaß. Den Gesetzen der Natur zufolge musste zwar wirklich alles, das über einen Eingang verfügte, auch irgendwo einen Ausgang oder zumindest ein Ende besitzen, aber wer sagte ihm denn, dass ebendiese Gesetze an solch einem Ort auch gültig waren? Konnten denn Steinwände Treppen steigen und Menschen verschwinden und Höhlen, wenn sie beleidigt wurden, zu Spiegeln werden? Was ihn aber vor allem mehr und mehr beunruhigte, das war sein sogar überaus berechtigter Zweifel daran, ob er den Ausgang, wenn es ihn denn gab, überhaupt noch finden konnte, bevor eine gewisse blutrünstige Bestie ihn einholen und zum Frühstück verspeisen würde. Oder zum Mittagessen. Je nachdem.

Andererseits, vielleicht war dieses verwinkelte Gewirr spiegelglatter Wände ja auch seine letzte, wenn auch nur verschwindend kleine Chance?

Der Gedanke kam Shinya so plötzlich, dass der unvermutete Lichtblick ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht und seine aufkeimende Hoffnung so im Ansatz schon wieder zerschlagen, oder besser gesagt, verspeist hätte. Es war riskant, es war schlecht bis überhaupt nicht durchdacht und es war auch eigentlich gar kein richtiger Plan, sondern mehr eine gar nicht mal sonderlich aussichtsreiche Verzweiflungstat. Aber vielleicht würde er das monströse, blutgierige Hundewesen ja doch noch abhängen können, wenn er nur schnell genug rannte, wenn er nur immer und immer wieder Haken schlagen und die Richtung wechseln würde?

Er musste schleunigst versuchen, den schnelleren Verfolger durch Geschick abzuhängen, denn mit jedem Schritt wich ein bisschen mehr Gefühl aus seinen Beinen und machte einem dumpfen, reißenden Schmerz Platz. Die Luft schien aus tausend winzigen Eiskristallen zu bestehen, die sich wie Nadeln in Shinyas Lungen bohrten und das Atmen zur Qual werden ließen. Und auch das heftige Seitenstechen, das wie ein stumpfer Dolch in der Brust des Katzenjungen wütete, erleichterte seine verzweifelte Flucht nicht unbedingt. Vielleicht war es ein letzter, blasser Hoffnungsfunke, der Shinya dennoch unbarmherzig weitertrieb - vielleicht war es aber auch einfach nur der eiskalte Hauch der Todesangst, der mit jedem Scharren, jedem Knurren und Lechzen, das an seine Ohren drang, wie ein Stromschlag durch seinen Körper jagte.

Irgendwie gelang es ihm sogar, sein Tempo noch einmal zu steigern - eine schier übermenschliche Leistung, von der er sich bei späterem Nachdenken niemals mehr so wirklich hatte erklären können, wie er sie denn überhaupt noch zustande gebracht hatte. Shinyas Füße flogen förmlich über den Spiegelboden hinweg, während er blind um jede Ecke und in jeden Gang hinein stürzte, der zufällig seinen Weg kreuzte. Mehr als nur einmal schlug er sich in seiner irrsinnigen Geschwindigkeit an den Mauern und Kanten an, was ganz besonders die tiefe Wunde in seinem Arm erfreute, aber er presste die Zähne fest aufeinander und lief weiter.

In diesen Minuten ging beziehungsweise rannte Shinya im wahrsten Sinne des Wortes durch die Hölle. Er fühlte sich schon grauenhaft, bevor das beflügelnde Überlebenshormon seinen Körper wieder verlassen hatte - was danach erst kommen würde, wollte er sich einfach nicht vorstellen! Seine Muskeln fühlten sich ganz weich und zittrig an und obendrein schmerzten sie fürchterlich. Sein Magen hatte schon vor geraumer Zeit damit begonnen, gegen die gar nicht mehr enden wollende körperliche Überbelastung zu protestieren und vor seinen Augen flimmerte es, was die Übelkeit auch nicht unbedingt sehr viel besser machte.

Der Katzenjunge litt, aber wenigstens litt er nicht umsonst, denn irgendwann meinte er trotz des heftig in seinen Ohren rauschenden Blutes wahrzunehmen, dass das Geräusch der auf dem Boden scharrenden Krallen langsamer wurde und sich dann nach und nach von ihm entfernte. Ein leises Gefühl des Triumphes erwachte in seiner geschundenen Brust. Vielleicht konnte er es ja tatsächlich noch schaffen, wenn er jetzt nur nicht aufgab!

Der Gedanke hatte sich gerade erst vorsichtig in seine rasenden Gedanken eingeschlichen, als Shinya plötzlich ein leises, aber trotzdem noch unerträglich schrilles Kichern neben sich hörte. Widerwillig wandte er seine Augen in die Richtung des unangenehm misstönenden Geräusches, freilich ohne dabei sein Tempo zu drosseln, und sah die geisterhaft düstere Gestalt von Hoshi, die scheinbar vollkommen mühelos im Spiegel neben ihm herhüpfte.

"Ach Shinya, du Dummchen. Du glaubst doch wohl nicht wirklich, du könntest ihn so abhängen? Du wirst laufen, immer weiter laufen, solange ich es will!"

"Hau ab!", stieß Shinya keuchend hervor, auch wenn jedes Wort ihn... eigentlich überall schmerzte, besonders aber in seinen Lungen. "Er... er kann mich... nicht überall finden!"

"Nicht?" Das Mädchen schlug ihre langen Wimpern einige Male auf und nieder, dann lachte sie. "Aber natürlich kann er das! Es ist ganz einfach. Du legst die Spur und er folgt ihr."

"Die... Spur?"

Obwohl Shinya es nicht tun wollte und auch eigentlich gar nicht mehr wirklich tun konnte, da er ja selbst zum Geradeauslaufen kaum mehr imstande war, wandte er doch den Kopf und warf einen Blick zurück über seine Schulter. Im nächsten Moment verwandelte sich wiederum die Konsistenz seines ehemaligen Blutes, nämlich in zerfließendes Eis, das seinen ganzen Körper schlagartig einfrieren ließ. Hinter ihm zog sich nämlich eine dünne, unregelmäßige, aber doch leider auch unübersehbare Blutspur wie ein roter Faden den gesamten Gang hinab.

"Mein... mein Arm...", ächzte der Katzenjunge. Hoshis bläuliche Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.

"Na, was hab ich dir gesagt? Du wirst laufen, Shinya, lauf nur immer weiter, sonst kriegt er dich! Und weißt du was? Du wirst für immer, immer, immer hier bleiben. Hier, bei mir... bei uns..."

"Nein..."

Auf einen Schlag erlosch auch noch der letzte Funken Kraft, den die verzweifelte Hoffnung in Shinyas Körper entfacht hatte. Seine Beine trugen sein Gewicht nicht mehr. Er kippte vornüber und konnte sich gerade noch mit dem rechten Arm abfangen, bevor er ganz auf dem eisigen Boden aufschlug. Sein Körper sackte zitternd in sich zusammen, und beinahe noch in der nächsten Sekunde vernahm der Katzenjunge ein Geräusch hinter der Biegung des Spiegelganges, das er ohne große Fantasie als das suchende Wittern eines sehr großen Jagdhundes ausmachen konnte. Gleichzeitig begriff Shinya, dass er sterben würde - dass er sterben musste, dass der sichere Tod ihm während seines gesamten Laufes im Nacken gesessen war, bis er ihn nun endlich eingeholt hatte.

Shinya keuchte und versuchte verzweifelt, noch einmal aufzustehen, aber es gelang ihm nicht einmal mehr, sich auf dem Spiegelboden abzustützen, geschweige denn die Beine zu bewegen. Vor seinen Augen flimmerte es, so als blickte er durch eine über und über von schwirrenden Fliegenkörpern bedeckte Glasscheibe. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm jemals zuvor derart schlecht gewesen war und so verwandte er seine letzten Kräfte lieber darauf, möglichst keinen Millimeter seines Körpers mehr zu bewegen, um sich nach Möglichkeiten nicht auch noch von seinem ohnehin schon reichlich kümmerlichen Frühstück verabschieden zu müssen.

Ja, verdammt, er wusste immer noch, dass er sterben würde, aber je öfter er diese Worte durch seinen trüben Gedankensumpf kreisen lies, desto mehr verloren sie an Bedeutung. Er hatte keine Angst. Wie konnte er sich noch fürchten, wenn jede Faser seines Körpers vor Schmerzen schrie und er vor Erschöpfung hätte in Tränen ausbrechen können, wäre das nicht auch eine entschieden zu große Anstrengung gewiesen? Der Kampf war vorbei, und es war ihm gleichgültig. Alles war besser, als weiterlaufen zu müssen!

Um seinen Atem zu beruhigen (ein allzu gieriges Einsaugen der Luft war nicht unbedingt die beste Medizin für das Stechen in seinen Lungen und seinen sich scheinbar pausenlos im Kreise drehenden Magen) begann Shinya im Geiste zu zählen - die Sekunden bis zu seinem Tode, wie er in einem leisen, aber eben wirklich nur sehr, sehr leisen Anflug von Bitterkeit feststellte. In seinem Mund hatte es sich ein widerwärtiger Geschmack von Blut bequem gemacht und sein Hals brannte wie Feuer, aber wenigstens fand das rasende Pulsieren seines Herzens langsam wieder in einen gleichmäßigen Takt zurück und auch das Rauschen in seinen Ohren verklang nach und nach.

Die Rückkehr der Stille war diesmal allerdings keineswegs mehr belastend. Sie erfüllte den Halbdämon mit einer tiefen, endgültigen Ruhe, nach der er sich in diesen fürchterlichen Augenblicken mehr sehnte als nach allem anderen, und irgendwann schrumpften selbst die freundlichen Brüder Schmerz und Erschöpfung wieder auf ein erträgliches Maß zurück. Oder er spürte er sie einfach nicht mehr so recht, weil er sich langsam daran gewöhnt hatte. Oder er war bereits tot. Allerdings hätte er dann ja wohl überhaupt nichts mehr spüren dürfen, was aber nicht der Fall war, und so konnte Shinya wenigstens diese Möglichkeit nach reiflicher Überlegung ausschließen.

Er war also noch am Leben und außerdem war es still, und plötzlich bemerkte der Katzenjunge, dass darin doch eigentlich ein unvereinbarer Widerspruch lag.

Wo war der grausige schwarze Schatten, der ihn die ganze Zeit über verfolgt hatte? Wo war sein Keuchen, sein Hecheln, sein Knurren, wo das unvermeidliche Scharren seiner messerscharfen Klauen auf dem glatten Untergrund? Dass er es nun nicht mehr hörte, konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass die Bestie sich verzogen hatte. Aber warum hätte sie sich verziehen sollen, ohne ihn davor getötet, zerlegt und aufgefressen zu haben?

Verwirrt und angespannt schlug Shinya die Augen auf. Im Grunde genommen rechnete er fest damit, geradewegs in einen weit aufgerissenen, stinkenden Schlund und nur wenige Sekunden später der Totengöttin höchstpersönlich ins bleiche Angesicht zu blicken, aber die Wirklichkeit sollte sich doch als weitaus unspektakulärer herausstellen. Vor ihm lag nichts anderes als ein kalter, beharrlich schweigender Spiegelgang, durch dessen eisiges Blau sich als einziger Farbtupfer eine dünne, glitzernd rote Blutspur zog. Von dem schwarzen Höllenhund und Hoshis tanzendem, kicherndem Geisterspiegelbild fehlte hingegen jede Spur.

Shinya presste einen müden Seufzer zwischen den Lippen hervor und ließ seinen Kopf achtlos wieder auf den kalten, harten Boden zurückfallen. Er war jetzt entschieden zu erschöpft dazu, um sich über all die Rätsel und Absurditäten dieses tödlichen Irrgartens noch länger den Kopf zu zerbrechen. Eine merkwürdig dumpfe Gleichgültigkeit hatte sich in seinem Inneren ausgebreitet und er schaffte es einfach nicht mehr, diese zu hinterfragen oder gar dagegen anzukämpfen. Einige Minuten lang blieb er regungslos liegen und sammelte neue Kräfte. Dann quälte er sich mit einiger Mühe wieder auf die Beine und trottete den eisblauen Spiegelgang hinab.
 

Was auch immer Shinya nun eigentlich vorgehabt hatte - es sollte sich schon bald als vollkommen aussichtslos erweisen. Die unzähligen Abzweigungen der finsteren Spiegelkorridore glichen sich wie ein Ei dem anderen und machten es ihm unmöglich, auch nur ein Mindestmaß an Orientierung zu bewahren. Sein Arm hatte mittlerweile aufgehört zu bluten, das schmerzhafte Stechen und Pochen der Wunde war dem Katzenjungen jedoch sehr wohl erhalten geblieben. Mehr als nur einmal war sein Weg in einer Sackgasse geendet, und manchmal, wenn er gerade neue Hoffnung geschöpft hatte, dem Ausgang vielleicht doch ein Stückchen näher gekommen zu sein, fand er sich im nächsten Augenblick auch schon in einem Gang wieder, in dem eine dünne, eingetrocknete Blutspur ihn wenig angenehm an seine verzweifelte Flucht erinnerte.

Sein einziger Begleiter auf dem langen, ziel- und ereignislosen Marsch durch die endlosen Gänge des Labyrinthes war sein eigenes Spiegelbild, das ihm von jeder einzelnen Wand, ja sogar von Decke und Boden her müde und niedergeschlagen entgegenblickte. Übrigens eine Gesellschaft, auf die er gut und gern hätte verzichten können, da sie weder ermutigend noch unterhaltsam war. Nur ab und an suchten die glanzlosen Augen der geschundenen Kreatur im Spiegel die von Shinya, doch schon ein kurzer Blick auf die hängenden, struppigen Katzenohren, die blutverschmierte Kleidung und das starre, bleiche Gesicht brachte den Halbdämon meist recht schnell dazu, sich wieder von seinem äußerst mitgenommen aussehenden Gefährten abzuwenden - so weit die erdrückende Übermacht der Spiegel dies eben zuließ.

Shinya seufzte zum etwa hundertsten Mal, seit er seine ganz und gar erfolglose Suche nach was auch immer begonnen hatte. Ihm war, als ob ihn jeder schmerzende Schritt seiner mittlerweile fast schon tauben Füße tiefer in einen Abgrund völliger Resignation und Hoffnungslosigkeit hineinführte, doch er konnte sich nicht mehr dazu aufraffen, diesen Pfad zu verlassen und nach einem anderen zu suchen. Überall waren Spiegel, Spiegel, nichts als Spiegel und kaltes Licht und dahinter wieder Spiegel, über und neben und unter ihm, und er wollte sie nicht mehr sehen, er... er wollte sich nicht mehr sehen.

Und überhaupt, was nutzte es ihm denn eigentlich, dass er sich neben seinem Arm nun auch noch die Sohlen und Beine ruinierte? Shinya seufzte erneut und sogar noch ein bisschen mutloser als zuvor und ließ sich dann an einer der makellos glatten Spiegelwände hinabsinken. Er hatte verflucht noch mal genug von dieser Prüfung, von der erdrückenden Stille und von der Einsamkeit, am allermeisten aber von jener erbärmlichen, bleichen Fratze, die da mit ihren leeren, blassen Augen durch ihn hindurchstarrte. Er zog die Knie an seinen Körper und vergrub das Gesicht in den Armen, um seinen eigenen Anblick nicht mehr länger ertragen zu müssen.

Was verlangte man da eigentlich von ihm? Sollte er mit bloßen Händen eine geifernde, mordlustige Bestie erschlagen? Sollte er ohne jedes Hilfsmittel jeden einzelnen der unzähligen Spiegel in tausend Stücke zertrümmern und sich so irgendwie einen Weg ins Freie bahnen? Sollte er immer weiter und weiter und weiter laufen, bis ihm irgendwann die Füße bluteten oder er einfach vor Erschöpfung und Durst tot umkippte? Er wollte sich doch bewähren, aber wie um alles in der Welt sollte er das denn machen, wenn man es ausgerechnet ihm wieder einmal vollkommen unmöglich machte?!

"Shinya gibt au-auf..."

Müde hob der Katzenjunge den Blick und sah nun doch wieder in sein eigenes Antlitz, das ihn jetzt allerdings vollkommen unpassenderweise aus dem Spiegel heraus anlächelte. Dabei war ihm nun wirklich zu allem, nur ganz gewiss nicht zum Lächeln zumute!

"Was willst du?", murmelte er, ohne dass ihn die Antwort auch nur im Geringsten interessiert hätte. Warum konnte man ihn denn nicht einfach in Ruhe lassen?

"Schäm dich! So etwas tut man doch nicht!" Shinyas Stimme schien auf eine grauenhafte Art und Weise verzerrt aus allen Richtungen an seine Ohren zu dringen. "Los, steh schon auf, oder soll ich dir helfen?"

Das Spiegelbild lächelte nicht mehr länger - es grinste, allerdings auf eine unbeschreiblich düstere und bösartige Weise, die den Katzenjungen nun doch ein kleines bisschen beunruhigte. Diese Beunruhigung schlug im nächsten Augenblick in blankes Entsetzen um, als sein dunkles Abbild ein langes, beilartiges Messer hinter dem Rücken hervorzog. Die Klinge schimmerte in demselben transparent kalten Eisblau wie Spiegel, die den Katzenjungen in diesem furchtbaren Irrgarten gefangen hielten.

"Nein!" Plötzlich war Shinya sogar sehr schnell wieder auf den Beinen - fast ein bisschen zu schnell, denn sein Kreislauf war ja ohnehin schon reichlich mitgenommen, sodass sein eigener Schwung den Katzenjungen beinahe postwendend wieder zu Boden geworfen hätte. "Ich... ich hab's kapiert, ja? Ich such doch weiter, schon klar, aber... aber lass mich wenigstens kurz mal ausruhen, nur... nur ein bisschen!"

"Ein bisschen, ein bisschen!" Die Stimme des Spiegelbildes klang zunehmend schriller, und noch während das Grinsen auf seinem Gesicht zu einer wahnwitzigen Grimasse erstarrte, platzten auch die Äderchen in seinen Augen auf, bis diese von demselben blutigen Rot durchtränkt waren wie die des bestialischen Hundes. "Ich lasse mich nicht gerne belügen, das mag ich nämlich überhaupt gar nicht! Du gibst schon wieder auf, Shinya, ist es nicht so? Es wird schwierig und du gibst auf, ach nein, wie bewundernswert! Ein wahrer Held..."

Er kicherte blechern, und dann stieß er zu, blitzschnell und ohne jede weitere Vorwarnung. Shinya konnte nicht einmal mehr darüber nachdenken, auszuweichen, und sein grauenhaftes Ebenbild hätte ihn wohl ganz ohne jeden Zweifel umgebracht, wäre dies denn wirklich in seiner Absicht gelegen. Oder, wie der Katzenjunge sich bei einem weiteren Blick in die klaffenden Höhlen, bei denen es sich vor gar nicht mal so langer Zeit noch um Augen gehandelt hatte, verbesserte, wenn dies denn wirklich schon in seiner Absicht gelegen hätte. Dass nämlich nichts anderes als sein blutiges Ableben das erklärte Ziel des Spiegelwesens sein musste, daran zweifelte Shinya keine Sekunde lang.

Wahrscheinlich war es nur ganz einfach so, dass es dieses Vorhaben noch eine Weile genießen wollte.

Shinya schluckte schwer, und erst jetzt bemerkte er, dass ein heftiges Brennen durch seine Wange zuckte. Vorsichtig hob seine Hand zu seinem Gesicht und betastete die schmerzende Stelle, und er war wenig überrascht, als er eine warme und leicht klebrige Flüssigkeit an seinen Fingerspitzen fühlte, die sich zudem langsam den Weg über seinen Hals hinabbahnte.

"Das nächste mal treffe ich deinen Hals... oder dein Herz, wenn du so etwas überhaupt besitzt, Dämon!", knurrte der Shinya im Spiegel und stieß ein kaltes Lachen aus. "Du willst dich ausruhen? Bitte... ich kann dir eine Menge Zeit zur Ruhe geben, wenn dir so viel daran liegt. Es ist besser für jeden von uns..."

"Ja... aber..."

"Halt den Mund!" Die Stimme des düsteren Spiegelbildes überschlug sich. Mit einer ungelenken, ruckartigen Bewegung riss er die breite Klinge seines eisigen Messers hoch über seinen Kopf, und diese marionettenhafte Verrenkung hätte sogar durchaus etwas überaus Komisches an sich gehabt, wäre da nicht auch eine unübersehbar immense Kraft gewesen, die dem geplanten Angriff innewohnen musste. Shinya keuchte, und obwohl sich jedes einzelne Haar an seinem Körper schon bei dem Gedanken daran hartnäckig sträubte, vollführte er eine wenig elegante Halbdrehung und sprintete dann aufs Neue den eisig blauen Gang hinab.

Seine zweite Flucht sollte sich als noch ungleich kopfloser gestalten als die vorangegangene. Shinya dachte nicht einmal mehr darüber nach, wie und ob er seinen Verfolger durch geschicktes Haken schlagen abhängen konnte, er stürzte einfach in jeden neuen Spiegelkorridor, den er vor sich auftauchen sah. Aber gerade aus diesem Grund, weil er einfach lief, ohne lange darüber nachzudenken, erreichte er trotz allem noch ein Tempo, das er sich angesichts seiner mehr als nur angeschlagenen Konstitution gar nicht mehr wirklich zu erhoffen gewagt hatte. Die Umgebung des Katzenjungen verschwamm zu einem konturlosen Rausch aus dumpfem Licht und schimmerndem Eisblau, jagte mit drohenden Ecken und Kanten meist nur haarscharf an ihm vorbei - und formte sich dann binnen weniger Sekundenbruchteile zu einem massiven Wall aus blitzendem Silber, der sich beinahe unmittelbar vor ihm auftürmte.

Als Shinya begriff, dass er gerade eben emsig dabei war, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, war es schon längst zu spät. Er war gerade wieder nichts ahnend in eine neue Abzweigung gestürmt, ohne seine Geschwindigkeit dabei auch nur im Geringsten zu drosseln - und prallte dann im nächsten Augenblick auch schon gegen die eiskalte und überaus harte Wand, die ihm leider bereits nach kaum mehr als zwei Metern erbarmungslos seinen Weg versperrte.

Ein betäubender Schmerz trieb ihm die Luft aus den Lungen, sodass statt eines Schreis nur mehr ein leises, ersticktes Wimmern über seine Lippen kam. Seine gesamte Körpervorderseite begann schlagartig zu kribbeln, so als ob eine ganze Kolonie von brennenden Ameisen unter seiner Haut umherwuseln würde, und sein Kiefer schien mindestens auf die doppelte Größe anzuschwellen, sodass Shinya etliche Augenblicke lang ernstlich befürchtete, er könnte zerschmettert oder doch zumindest gebrochen sein. Er wollte vorsichtig nach seinem Gesicht tasten, doch noch ehe es dazu kam brach ein heftiges Schwindelgefühl über seinen Körper herein und er taumelte rückwärts, verlor beinahe den Halt unter seinen Füßen und stützte sich dann im letzten Moment an einer der glatten Spiegelmauern ab.

Er atmete tief durch, blickte benommen auf - und bemerkte erst dann, dass er in eine Sackgasse gelaufen war.

Ein hysterisches Krächzen, das wohl so etwas ähnliches wie ein höhnisches Lachen darstellen sollte, ließ den Katzenjungen wie elektrisiert herumfahren. Und obwohl er es selbst unter Aufbietung all seiner Naivität ja im Grunde genommen überhaupt nicht anders hätte erwarten können, versetzte der Anblick seines dämonischen Gegenstücks Shinya doch einen überaus schmerzhaften Stich in der Brust. Ihm war, als ob ein Schutzwall tief in ihm zusammenbrechen würde, eine Mauer, auf die in leuchtenden, verlogenen Buchstaben das Wort Hoffnung geschrieben worden war. Erst jetzt, als sich die Lippen des Spiegelbildes zu einem boshaft triumphierenden Lächeln verzogen, wurde Shinya schlagartig bewusst, in welch einer ausweglosen Situation er sich tatsächlich befand.

Von dem Schlachtermesser in der blässlich transparenten Haut tropfte Blut, das ebenso rot leuchtete wie die ausdruckslosen Augen der Kreatur.

"Denkst du wirklich, du könntest vor mir davonlaufen?" Er warf sich seinen Zopf über die Schulter und hob erneut die befleckte Klinge. Und obwohl sich Shinya dafür mittlerweile wirklich zu verabscheuen begann, brach doch augenblicklich wieder jene schicksalsergebene Lähmung über seinen ganzen Körper herein. Nicht zum ersten Mal, seit er das Labyrinth auf welchem Wege auch immer betreten hatte, war er in einer Situation, in der er ganz genau wusste, dass er laufen... nein, dass er kämpfen sollte, und er obwohl er diesmal körperlich ganz ohne jeden Zweifel noch dazu in der Lage gewesen wäre... konnte er es doch nicht. Nicht mehr.

Er hatte keinerlei Kraft mehr für eine Prüfung, deren Aufgabe darin bestand, vor einem Schatten fliehen zu müssen, dem er ja doch nicht entkommen konnte, weil er untrennbar mit ihm verbunden war.

Das Spiegelbild lachte, als ob es seine Gedanken gelesen hätte, und fuhr langsam mit einem seiner bleichen Finger über die Klinge der schmutzigen Waffe. Ein Tropfen bläulich roten Blutes sickerte träge aus der durchscheinenden Haut hervor. Der geisterhafte Katzenjunge leckte genüsslich die schillernde Flüssigkeit ab, während seine leeren Augen Shinyas Gesicht fixierten.

Dann kicherte er, riss sein Messer hoch und stach zu.

Der Halbdämon sah das Blitzen der Klinge, als sie den höchsten Punkt über dem Kopf seines dunklen Ebenbildes überschritt. Eine Kette absurder Gedanken raste durch Shinyas Bewusstsein, ohne ihn wirklich zu erreichen, während die rasenden Sekunden des tödlich präzisen Angriffes zu einer unerträglichen, merkwürdig hohlen Ewigkeit zerflossen. Wieder blickte der Katzenjunge seinem sicheren Tod ins Auge, und wieder verspürte er keine Angst. Es war vorbei und das konnte er nicht mehr ändern.

Sein Spiegelbild allerdings schon, denn nur wenige Millimeter, bevor sich seine blutige Waffe in Shinyas Stirn bohrte, hielt er ruckartig inne und bremste die rasende Klinge mühelos ab.

"Aber nein... das wäre doch viel zu einfach, unser schönes Spielchen jetzt schon zu beenden. Genau das wünscht du dir doch, oder Shinya? Dass es endlich vorbei ist... wie erbärmlich du doch bist..." Ein glanzloses Blitzen lief durch die blutroten Augen. "Weißt du was? Ich hole mir lieber deine... Freunde, einen nach dem anderen. Oder, wie du es immer so schön ausdrückst, deine... Gefährten, denn für alles andere bist du ja schon aus Prinzip viel zu einsam und ungeliebt und verstoßen, habe ich Recht? Wenigstens werden die sich ein bisschen wehren. Hoffe ich. Was glaubst du wird Hoshi wohl denken, wenn sie von dir, von ihrem geliebten Shinya erstochen wird? Aber hab keine Angst - du kannst hier bleiben und für immer und ewig in deinem geliebten Selbstmitleid zerfließen, weil du genau so alleine sein wirst, wie es dir lieb ist..."

"Nein!!"

Shinya fühlte sich in etwa so, als ob man ihm in den vergangenen Sekunden wenigstens fünfmal mitten ins Gesicht geschlagen hätte - nicht nur verbal, sondern mit roher körperlicher Gewalt, und das war zwar verflucht noch mal äußerst schmerzhaft, aber es riss den Katzenjungen auch aus der resignierten Trance, die ihn befallen hatte. Was ihn nun erfüllte, war ganz gewiss keine Gleichgültigkeit mehr, sondern Hass. Nicht Wut, nicht Zorn, keine heißblütige Erregung, sondern eisig kalter Hass auf sein Spiegelbild... auf sich selbst... auf diese ganze verdammte Prüfung und auf die Tatsache, dass er aufgegeben hatte und genau wusste, dass er es wieder tun würde, wenn das grausame Spiel auch nur eine einzige Minute lang so weitergehen würde wie zuvor.

Der weiße Stoff seiner fingerlosen Handschuhe konnte nun auch nicht mehr viel dagegen ausrichten, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft in die eiskalte Haut seiner Hände bohrten. Aber dieser Schmerz störte ihn rein gar nicht mehr, ganz im Gegenteil, er ließ eine unbändige Kraft durch seine Adern jagen, die sein Herz schneller schlagen ließ, und das nicht etwa vor Angst. Eine Welle lebendiger Hitze lief durch seine erstarrten Gliedmaßen, und plötzlich sickerte etwas zwischen seinen Fingern hervor, ein pechschwarzer, pulsierender Nebel, der sich wie eine zweite, dunkel glühende Haut um seine Hände legte.

"Du rührst sie nicht an! Du rührst mich nicht an!"

Shinya stieß einen Schrei aus, der mit seiner gewohnten menschlichen Stimme nicht mehr auch nur das Geringste zu tun hatte, winkelte seine Arme an und riss sie dann ruckartig wieder nach vorne.

Die Explosion war so gewaltig, dass sie ihn selbst von den Beinen riss und rückwärts gegen einen der kalten blauen Spiegel schleuderte, der noch im selben Augenblick mit einem kreischenden Klirren in tausend funkelnde Stücke zersprang. Eine Welle von schwarzem Licht durchflutete binnen weniger Sekundenbruchteile den gesamten Raum und ließ die massiven, scheinbar unüberwindlichen Wände in ein Meer von eisigen Glassplittern zerbersten. Tiefvioletter Rauch legte sich über das düstere und doch gleißend helle Leuchten und vernebelte die Sicht auf das gläserne Blutbad.

Die Todesschreie der fallenden Spiegel wurden von dem angenehm warmen Schleier verschluckt, aber ihr Sterben war noch längst nicht vorüber. Keine der Scherben erreichte den Boden, sie verblassten noch im Fallen wie ein Traum, der vergeblich versuchte, sich im Kopf eines Erwachenden festzuhalten, wenn die ersten Strahlen der Morgensonne diesen mit unerbittlicher Sanftheit in die Wirklichkeit zurückzerrten.

Das gläserne Labyrinth war binnen weniger Augenblicke in sich zusammengebrochen.
 

Die Zeit schien stillzustehen, während Shinya durch die Luft geworfen wurde. Er spürte, wie er in die Scheibe eines Spiegels krachte, hörte das Bersten der Wände im gesamten Labyrinth, doch keine der zahllosen Spiegelscherben bohrte sich in seine Haut oder verletzte ihn. Das Nächste was er wieder bewusst fühlte, war ein dumpfer Schmerz im Rücken, als er mit eben diesem auf dem steinharten Boden aufschlug.

Der Katzenjunge schnappte nach Luft und öffnete dann zögerlich seine Augen. Zunächst einmal sah er nichts als violetten Nebel, der in schweren Bahnen die Luft erfüllte, aber als auch dieser langsam verblasste, erblickte Shinya weit über sich eine dunkle, zerklüftete Steindecke. Das Atmen bereitete ihm größte Mühe und er konnte sich auch jetzt schon lebhaft die schwarz und blau und grün und violett befleckte Landschaft von Blutergüssen vorstellen, die in wohl nicht allzu ferner Zukunft seinen Rücken zieren würde, aber gleichzeitig fühlte er sich von einer nie gekannten Kraft durchströmt und lebendiger als jemals zuvor. Aber was hatte er denn überhaupt getan? Hatte er wirklich mit seinen eigenen Händen das Labyrinth vernichtet, wo er sich doch noch vor wenigen Augenblicken den Tod ja förmlich herbeigesehnt hatte?

Und war dieses warme, berauschende Gefühl in seinem Körper... war das Magie?

"Shinya!"

Der Katzenjunge hob langsam und mit einiger Mühe den Kopf nur ein Stück weit an, doch dieses kleine Stückchen genügte vollkommen, um ihn seine Schmerzen auf einen Schlag vergessen zu lassen - zumindest weitestgehend. Und vorläufig. Und oberflächlich. Aber immerhin.

Nur wenige Meter von ihm entfernt stand da nämlich Hoshi, und schon ein einziger Blick in ihre Augen versicherte Shinya mit vollkommener Gewissheit, dass es sich diesmal um die wirkliche, die echte Hoshi handeln musste. Die Erleichterung auf ihrem Gesicht erfüllte ihn mit neuer Kraft, und so kämpfte er sich tapfer wieder auf die Füße und wartete sicherheitshalber noch zwei oder drei Sekunden, bis er sich vollkommen sicher sein konnte, nicht augenblicklich wieder nach vorne oder hinten oder auch irgendwie seitlich umzukippen.

Dann rannte er los und fiel dem Mädchen um den Hals.

"Hoshi... du... du bist wieder da..."

Einige Minuten lang stand er einfach nur da und hielt sie fest, so fest er eben noch konnte. Er fühlte ihre Wärme auf seiner Haut, ihren Atem in seinem Nacken und atmete den Duft ihres dunklen, schimmernden Haares ein. Und obwohl er eigentlich sehr genau zu wissen glaubte, dass es nun vorbei war, wagte er es dennoch nicht, sich auch nur einen einzigen Millimeter weit von ihr zu entfernen, denn da war immer noch diese boshafte Stimme in seinem Inneren, und die flüsterte unaufhörlich, dass Hoshi wieder verschwinden würde, dass sie ebenso zerspringen und sich in dampfendes Nichts auflösen musste wie all die Spiegel, wenn er sie nur jemals wieder losließ.

"Ist ja gut, Shinya. Ich... ich bin ja hier..." Der Katzenjunge spürte, wie ihm Hoshis Finger unendlich sanft über den Rücken strichen. Er drückte sein Gesicht an ihren Hals und wagte es nun endlich, befreit und erleichtert aufzuatmen.

"Ähm... auch auf die Gefahr hin, dich möglicherweise zu enttäuschen... wir sind übrigens auch wieder da."

Shinya blickte auf und sah Noctan und Misty, die neben ihn getreten waren, ohne dass er davon Notiz genommen hätte. Noctan hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während das kleine Mädchen über das ganze Gesicht strahlte, obgleich in ihren Augen auch ein verdächtig feuchter Schimmer lag. Sie öffnete den Mund, presste ihre Lippen dann jedoch wieder fest aufeinander und warf sich Hoshi um die Hüften. Shinya stolperte unweigerlich zurück - und war heilfroh, als sich die Dunkelhaarige daraufhin keineswegs wieder in Luft auflöste, sondern das schluchzende kleine Mädchen mit einem leisen bedauernden Seufzer in ihre Arme schloss.

Der Katzenjunge musste lächeln und sah sich nach Rayo um, der aus einer weiter entfernten Ecke des wahrhaft gigantischen Raumes auf sie zugeeilt kam.

"Hey Leute, ich bin so dermaßen froh, euch alle wiederzusehn, das glaubt ihr nicht!" Shinya schenkte seinen Gefährten... seinen Freunden ein sehr erschöpftes, aber doch auch ungemein glückliches Lachen.

"Ich wäre ja vor allem froh, diese märchenhafte Idylle hier auch irgendwann mal wieder verlassen zu dürfen!" Noctan sah sich leise grummelnd in der riesigen und überaus finsteren Höhle um, in deren Mitte sie nun standen. "Von dieser mysteriösen Belohnung fange ich liebe erst gar nicht an... man ist ja nicht habgierig. Oder anspruchsvoll."

Shinya nickte nur und musterte schweigend die müden, immer noch etwas verängstigt wirkenden Gesichter seiner Mitstreiter. Anscheinend war es ihnen auch nicht viel besser ergangen als ihm selbst, dachte er mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen - und stockte, als sein Blick bei Noctan hängen blieb.

In den violetten Augen des Weißhaarigen lag ein seltsames Flackern und sein Blick wirkte merkwürdig rastlos, ja fast schon... gehetzt. Der Katzenjunge runzelte die Stirn. Vielleicht irritierte ihn der Anblick ja nur deshalb so sehr, weil er derart menschliche Gefühlsregungen von dem jungen Estrella ganz einfach nicht gewohnt war. Aber dennoch konnte er den Eindruck nicht ganz loswerden, dass auf Noctans Gesicht eine seltsame Art von besonders tiefer Verstörtheit lag, die er bei dem natürlich auch ganz schön mitgenommen dreinblickenden Rest seiner Gefährten trotz allem nicht entdecken konnte. Shinya konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was der junge Weißhaarige in dem Labyrinth gesehen hatte, aber anscheinend war es sogar noch schlimmer gewesen als blutrünstige Bestien, durchgedrehte Hoshis und amoklaufende Spiegelbilder.

Der Katzenjunge schüttelte den Kopf und wandte sich rasch wieder von ihm ab.

"Wir... sollten erst mal ne Pause machen, find ich. Keine Ahnung wie's euch da so geht, aber ich brauch jetzt unbedingt eine kleine Stärkung!" Er streckte sich und gähnte demonstrativ.

"Das ist eine gute Idee, dann kann ich mich vielleicht auch ein bisschen um eure Wunden kümmern!", nickte Hoshi und schielte auf Shinyas Arm. "Ach so, und... Shinya..." In ihre großen braunen Augen trat ein ernster Ausdruck. "Warst du das?"

"Meinst du das Labyrinth?" Der Katzenjunge zuckte mit den Schultern. "Ich... ich weiß nicht... aber ich denk mal schon... sieht aus, als ob ich doch auch irgendwie zaubern könnte!" Er verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. "Na wart mal ab, wenn ich das Phil erzähle!"

Hoshi sah zu Boden, und aus irgendeinem Grund hatte Shinya das dumpfe Gefühl, dass sie seinem Blick nicht zufällig auswich.

"Ich weiß nicht... ob das so einfach ist. Denkst du nicht, ich hätte so etwas auch versucht? Dieses Labyrinth muss durch einen sehr, sehr mächtigen Zauber erschaffen worden sein. So mächtig, dass alle Illusionen uns tatsächlich angreifen und verletzen konnten." Sie atmete tief durch und musste sich sichtlich dazu zwingen, Shinya wieder direkt in die Augen zu sehen. "Du hast gerade eben zum ersten Mal in deinem Leben gezaubert, und du hast den gesamten Irrgarten auf einen Schlag vernichtet. Ich habe noch nie in meinem Leben eine derartig mächtige Magie gesehen!"

"Ja, aber... warum dann diese finstere Miene?" Shinya sah das Mädchen lauernd und auch ein wenig verletzt an. Er fühlte seine neu gewonnene Macht immer noch als wohligen Schauer durch seinen Körper jagen - warum also lag auf Hoshis Gesicht nun ein derart sorgenvoller Ausdruck? "Bist du eifersüchtig, weil ich das Ding kaputt machen konnte und du nicht, oder wie?"

Der Katzenjunge wusste, dass er Unsinn redete, und der Ausdruck in Hoshis dunklen Augen tat sein Übriges, um ihn die Worte eigentlich schon in dem Moment bereuen zu lassen, da er sie über die Lippen gebracht hatte. Das Mädchen tat zwar so, als ob es seinen unpassenden Nachsatz ganz einfach überhört hätte, erreichte damit aber lediglich, dass Shinya sich sogar noch ein kleines bisschen kindischer und dümmer vorkam.

"Na ja... du bist immerhin der Krieger der Dunkelheit, vergiss das nicht. Ich weiß ja wohl am besten, dass du keine bösen Absichten hast, aber deine Macht ist und bleibt nun mal tödlich. Und ich denke nicht, dass du deine Magie kontrollieren kannst."

"Moment mal!" Shinyas guter Vorsatz, das Gespräch von nun an auf sachlicher, diplomatischer Ebene fortzuführen, war leider schneller wieder vergessen, als er ihn überhaupt gefasst hatte. "Immerhin hab ich euch gerade eben allen miteinander das Leben gerettet, schon vergessen? Soooo schlecht und tödlich und böse und was weiß ich noch alles kann meine Magie dann ja wohl nicht sein, oder?"

"Nein, aber... du hast doch aus Angst gezaubert, aus Wut, warum auch immer..."

"... und ich habe euch allen damit das Leben gerettet." Der Katzenjunge presste trotzig seine Lippen aufeinander. Hoshi seufzte.

"Bitte, Shinya, versteh mich nicht falsch. Ich weiß, wie sehr du dich... darüber freust... das sehe ich doch! Ich mache mir ja einfach nur Sorgen um dich!"

"Ja, aber ich verstehe nicht warum!" Shinya ließ seinen Blick durch den schwarzbraunen, von dicht verwobenen Schatten erfüllten Steinsaal schweifen. "Phil hat das Zaubern ja auch nicht gelernt! Wenn er es so plötzlich kann, warum sollte ich es nicht genauso gut beherrschen? Nur, weil ich ein halber Dämon bin, ist es das?!"

"Das hat doch damit nichts zu tun!" Hoshi trat direkt vor Shinya hin und sah ihm tief in die Augen. Der Katzenjunge wusste nicht, ob er seine Freundin schon jemals so ernst gesehen hatte, und plötzlich fühlte er sich wieder ebenso kindisch und dumm wie zuvor. "Jetzt hör mal zu: Erstens haben sich Phils Kräfte ja ganz offensichtlich nicht auf natürlichem Wege entwickelt... und außerdem sind das Spielereien im Vergleich zu dem, was du da gerade eben vollbracht hast. Weißt du nicht mehr, Shinya? Du bist der Auserwählte, und daran glaube ich ganz fest, auch wenn das immer noch furchtbar kitschig klingt. Aber wenn du noch einmal die Kontrolle über deine Kräfte verlierst, könntest du vielleicht mehr zerstören als nur Glas, verstehst du?"

"Mann, Hoshi, ich hasse es, dass du immer und mit allem Recht hast, weißt du das eigentlich?" Shinya strich sich sein braunes Haar aus der Stirn und lächelte ergeben. Er war enttäuscht und er spürte auch, dass man ihm das ansah, aber Hoshi war taktvoll genug, um unbefangen und ohne jede Spur von Mitleid in ihren Augen sein Lächeln zu erwidern. "Ich weiß, ich kann meine Magie nicht wirklich kontrollieren. Aber wenn ich Phil und seine Truppe besiegen möchte, dann muss ich wohl irgendwie nen Weg finden, das zu lernen."

Hoshi nickte langsam.

"Kann schon sein. Aber davor solltest du deine Magie auf gar keinen Fall mehr benutzen!"
 

"...und dann hatte Chibi plötzlich gaaaaanz lange Zähne und... und... und hat Misty verfolgt und Misty hatte soooolche Angst!" Das kleine Mädchen schüttelte sich, dass ihre hellblauen Zöpfe wild um ihren Kopf herum flogen.

"Das ist ja noch harmlos!", entgegnete Rayo und hob seinen Zeigefinger. "Ich wurde von einer monströsen Erscheinung auf einem schwarzen Ross gejagt, und von meinem Spiegelbild, ist das nicht wirklich furchtbar? Und am Ende... stellt euch nur vor, am Ende wollte mich Noctan mit einem Messer töten!"

Shinya konnte sich ein Grinsen in Richtung des weißhaarigen Kriegers nicht verkneifen, was ihm mit einem wahrhaft tödlichen Blick quittiert wurde.

"Also, bei mir wurde erst der Gang überflutet und ich hatte schon das Gefühl, ich würde ertrinken!" Hoshi verzog das Gesicht. "Außerdem war da auch noch mein Spiegelbild... und dann hat Shinya... ja, genau du... mir so ein wahnsinniges Vampirmädchen auf den Hals gehetzt! Sie wollte mich gerade beißen, als du den Irrgarten vernichtet hast."

"Das ist ja seltsam!" Der Katzenjunge runzelte die Stirn. "Mir hast du, Hoshi, nämlich so einen widerlichen Mörderhund hinterhergejagt, weil ich erst nicht bei deinem Hoshi-sagt-lauf-Spielchen mitmachen wollte... jetzt kuck nicht so! In dem Labyrinth fand ich das gar nicht lustig. Wie auch immer, dann hat mich natürlich auch noch mein irres Spiegelbild mit so nem halben Beil gejagt, aber da erzähl ich euch ja scheinbar nix Neues..."

"Hey, ich glaub, ich hab's kapiert!", rief Hoshi und klatschte triumphierend in die Hände. "Jeder wurde von etwas gejagt, was er besonders gern hat! Bei Misty war es ihr Tien-Tien, Chibi. Bei mir..." Ihr Lächeln wirkte mit einem Mal ganz hinreißend verlegen. "Bei mir warst es du, Shinya... bei dir gerade umgekehrt... und bei Rayo... nein... doch nicht..."

Shinya sah seine Freundin an, und kaum trafen seine Augen die des Mädchens, da war es um seine Beherrschung geschehen und er brach beinahe synchron mit ihr in lautstarkes Gelächter aus.

"Das... das ist überhaupt nicht komisch!", protestierte Rayo und schüttelte eifrig seinen hochroten Kopf. "Das kann doch nur... nur ein Zufall sein, oder?"

"Ja... ja bestimmt!", kicherte Hoshi und schnappte nach Luft, während Shinya sich auf den Rücken hatte fallen lassen und sich immer noch lachend den Bauch hielt, der ihm das übrigens einmal mehr mit einem empörten Schmerzen und Ziehen dankte. "Aber mal eine andere Frage, was ist dir eigentlich passiert, Noctan?"

"Das geht euch überhaupt nichts an!"

Der Tonfall des Weißhaarigen war derart scharf, dass selbst der Katzenjunge schlagartig verstummte, obwohl er sich bis vor einer Sekunde lang noch vollkommen sicher gewesen war, an seinem gar nicht mehr enden wollenden Lachen ersticken zu müssen. Er wischte sich verlegen eine Lachträne aus dem Gesicht und rappelte sich dann eilig wieder auf.

"Hey, Noctan was is denn..."

"Ich werde mich lediglich nicht an diesem ganzen kindischen Herumgezanke über das schlimmste und schrecklichste und traumatischste Erlebnis beteiligen, das ist!" Die violetten Augen des jungen Weißhaarigen funkelten wütend... nein, eigentlich weit mehr als einfach nur wütend auf, und ein leises, aber doch nicht unbedingt beruhigendes Beben lief durch seine Lippen.

"Ist ja gut..." Hoshi hob abwehrend die Hände. "Du musst uns nicht gleich auffressen!"

"Ach, lasst mich doch einfach in Ruhe...", murmelte Noctan und stand auf. "Ich werde euch schon nicht beim gegenseitigen Bemitleiden stören, keine Angst. Macht nur immer weiter so! Wir haben ja auch schließlich keine anderen Pläne, aber nein, warum sollten wir denn auch weitergehen? Phil und seine Jünger werden uns ja ganz bestimmt nicht die sagenumwobene Belohnung wegnehmen, sondern brav auf uns warten, um dann alles brüderlich mit uns zu teilen. Oh Freude!"

"Danke, Noctan!" Shinya stemmte sich ebenfalls auf die Füße und stapfte an dem Weißhaarigen vorbei, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen. "Kommt, Leute! Lasst uns gehen..."

"Jetzt streitet doch nicht schon wieder! Bitte! Habt ihr vergessen, was die Stimme aus Shinyas Traum gesagt hat? Wir müssen wenigstens versuchen, zusammenzuhalten!"

Shinya seufzte. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

"Ist ja gut, Hoshi. Wir... sollten uns wirklich nicht streiten. Nicht jetzt, wo wir so weit gekommen sind..."

Trotz des mehr oder weniger überzeugt besiegelten Friedensvertrages lag ein düsteres Schweigen über der kleinen Gruppe, als sie durch den scheinbar endlosen Felsensaal wanderte. Der lange, eintönige Marsch führte sie durch ein graubraunes, modrig riechendes Halbdunkel aus Stein und tropfendem Wasser. Das trostlose Lied der patschenden Schritte auf dem feuchten, unangenehm felsigen Boden schien gar nicht mehr verstummen zu wollen und begleitete die kleine Gruppe auf ihrer ziellosen Suche wie ein höhnisches, glucksendes Lachen.

Bis irgendwann, ganz plötzlich, lautlos und vollkommen unspektakulär ein großes, von einem fleckigen Marmorbogen umrahmtes Portal in der Felswand vor ihnen auftauchte. Der Anblick kam derart unvermutet, dass Shinya beinahe einfach an dem hohen, schmucklosen Ausgang vorbeigelaufen wäre. Der Katzenjunge blieb einige Sekunden lang mit offenem Mund stehen, dann schüttelte er den Kopf und ging weiter.

Höchstwahrscheinlich hatten seine Augen ihm angesichts der unregelmäßig gemusterten, feuchtglatten Felswand zuvor ganz einfach nur einen Streich gespielt, sodass er den schlichten Durchgang überhaupt nicht früher hatte bemerken können. Sicher, diese Höhle war gigantisch, düster, und mit einem Mindestmaß an Fantasie betrachtet auch reichlich unheimlich, aber eines war sie doch ganz bestimmt nicht mehr - verzaubert. Dazu war einfach alles ein bisschen zu kalt, zu feucht und ein gewaltiges Stück zu ungemütlich.

"Endlich!" Hoshis Lachen glich einem erleichterten Stoßseufzer und zerschnitt das beklemmende Tuch der Stille, das sich wie ein unangenehm klebriges Spinnennetz um die jungen Estrella geschlungen hatte. "Na kommt schon, nichts wie weg von hier"

Das Mädchen beschleunigte seine Schritte und zog an Shinya vorbei, der dem vermeintlichen Ausgang weit weniger euphorisch entgegeneilte. Der Katzenjunge hielt sich eine Hand an die Stirn und kniff angestrengt seine Augen zusammen, konnte aber dennoch nicht erkennen, was hinter dem Durchgang lag, obwohl dieser ganz eindeutig nicht durch ein Tor verschlossen war. Trotzdem schien die vollkommene, dichte Dunkelheit hinter dem fleckigen Gestein massiver und undurchdringlicher zu sein als jede noch so solide Stahltüre.

Dem Katzenjungen lief ein kalter Schauer über den Nacken und kroch dann wie mit einer Hundertschaft von eisigen, ekelhaft behaarten Spinnenbeinen seinen Rücken hinab.

"Wenn du meinst...", seufzte er, spannte seinen Körper und zwang sich dazu, eilig voranzuschreiten. Wenige Schritte vor der klaffenden Felswunde verlangsamte er jedoch sein Tempo erneut und blieb dann schließlich ganz stehen.

"Worauf wartest du, Shinya?" Hoshi wandte sich zu dem Katzenjungen um und lächelte ihm mit fragenden Augen aufmunternd entgegen.

"Ach, irgendwie..." Shinya brach ab und suchte nach den richtigen Worten, ohne jedoch wirklich fündig zu werden. "Irgendwie... gefällt mir das nicht. Keine Ahnung, aber wenn ich daran denke, was bis jetzt so alles passiert ist, geht mir das hier irgendwie ein wenig zu... einfach. Plötzlich ist da ne Türe und dahinter liegt dann am besten auch gleich noch der Schatz, oder wie? Ich weiß nicht..."

"Wer sagt, dass dahinter ein Schatz auf uns wartet?" Noctan trat vor das konturlose, undurchdringliche Dunkel. "Schön, das Labyrinth ist vernichtet. Aber diese Einladung ist so offensichtlich, dass doch eigentlich nur eine Falle dahinter stecken kann. Wie auch immer, mich soll's nicht stören."

"Misty will aber keine Falle mehr!" Das kleine Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust und hockte sich demonstrativ auf den kalten Felsboden. "Dieses Labyrinth hat Misty Angst gemacht und diese Höhle mag Misty auch nicht und überhaupt will Misty nicht, dass ihre Freunde schon wieder weg sind!"

"Auch gut." Noctan zuckte mit den Schultern. "Dann bleiben wir eben hier und warten, bis wir verhungert sind."

"Misty will nicht verhungert sein!"

"Misty muss auch nicht verhungern!", seufzte Hoshi, nicht ohne einen vorwurfsvollen Blick in Richtung des Weißhaarigen zu schicken. "Und natürlich leg ich auch keinen Wert darauf, dass wir wieder voneinander getrennt werden und der ganze Ärger hier von vorne beginnt. Aber ganz offensichtlich gibt es ja nur den einen Weg."

"Was uns folglich zu welchem Entschluss bringt?"

"Jetzt denk mal scharf nach, Noctan!" Shinyas linkes Katzenohr durchlief ein ungeduldiges Zucken. "Es gibt genau einen einzigen Weg und wir wollen hier raus. Jetzt wird's aber verdammt knifflig, was da wohl zu tun ist."

"Shinya! Jetzt hörst du dich aber selbst schon an wie er!", raunte Hoshi dem Halbdämon kopfschüttelnd zu und fuhr dann in lauterem Tonfall fort: "Das Problem ist ja wohl offensichtlich. Wir können schlecht hier bleiben, aber wenn wir weitergehen, lässt sich ein gewisses Risiko halt nicht vermeiden. Und deshalb..." Sie hob ihren Zeigefinger. "Deshalb müssen wir unbedingt vorsorgen, damit wir uns nicht schon wieder verlieren!"

"Sag mal, ist das neuerdings dein Beruf, in Rätseln zu sprechen?" Noctan strich langsam sich durch sein schneeweißes Haar.

"Mir ist allerdings auch nicht ganz klar, von welchen Maßnahmen du da sprichst, Hoshi." Rayo wischte sich mit einer unwilligen Bewegung über seine Stirn, als ein kleiner Wassertropfen ihm ausgerechnet mitten zwischen die Augen stürzte. "Aber ich nehme an, du wirst es uns jetzt gleich erklären, oder?"

"Na, so schwer ist das doch nicht!" Die Lichtmagierin neigte den Kopf zur Seite und griff mit einem verschmitzten Lächeln nach Shinyas Hand. "Seht ihr? Und schon bleiben wir zusammen!"

"Das meinst du aber hoffentlich nicht ernst!" Noctan zog die Augenbrauen hoch und bedachte das Mädchen mit einer Spur von Entsetzen in seinem Blick. "Wir halten uns bei den Händchen wie Schulkinder und haben uns alle lieb, und siehe da, die Magie dieser uralten, heiligen Stätte löst sich in Wohlgefallen auf und wir leben glücklich bis ans Ende unsrer Tage. Dass wir nicht eher darauf gekommen sind..."

"Sehr komisch!" Shinya stieß ein leises, tadelndes Knurren in Richtung des Weißhaarigen aus, bevor er sich wieder dem Portal aus Marmor und Finsternis zuwandte. "Aber eigentlich hast du ja Recht und Hoshi sowieso - wir hätten wirklich früher draufkommen können. Wenn wir uns berühren, können wir uns ja wohl nicht einfach so verlieren. Irgendwie logisch, oder?"

"Genau!", nickte Misty eifrig, war binnen weniger Augenblicke wieder auf den Beinen und hängte sich mit zu allem entschlossener Miene an den Arm der Lichtmagierin.

"Euer Familienglück rührt mich beinahe zu Tränen, aber ich glaube immer noch nicht, dass..."

"Wir können es ja in jedem Fall erst einmal ausprobieren, bevor wir es verurteilen, meinst du nicht?", fiel Rayo dem jungen Weißhaarigen ins Wort, warf sich sein langes, hellblondes Haar über die Schulter und ergriff dann in betont kooperativer Weise Shinyas freie Hand. "Lasst uns gehen!"

"Aber ihr..."

"Noctan!" In Hoshis Stimme trat ein Tonfall strenger Ungeduld, ganz so, als ob sie eigentlich keinen legendären Krieger, sondern vielmehr ein kleines, trotziges Kind vor sich stehen hätte. "Hör endlich auf, dich hier als sonst was aufzuspielen, ja? Sonst kommen wir in hundert Jahren noch nicht weiter, und wenn wir bis dahin nicht gestorben sind, dann können wir nämlich wirklich dabei zusehen, wie Phil und seine Lakaien sich unsere Belohnung unter den Nagel reißen! Verstehst du meine Worte?!"

"Ich danke Euch für diese Zurechtweisung, Herrin. Verzeiht, wenn ich nicht vor Euch auf die Knie falle und... ach, was soll das eigentlich..." Der Weißhaarige verdrehte wieder einmal seine violetten Augen, dann stapfte er auf Rayo zu und packte mit einem Ruck dessen Hand, sodass der junge Adlige beinahe das Gleichgewicht verlor und mit einem erschrockenen Keuchen nach vorne stolperte. "Worauf wartet ihr noch?"

"Auf dich", knurrte Shinya entnervt und richtete seine grünen Augen auf den finsteren Durchgang, der ihn blind und schweigend um Eintritt bat. "Na dann, Leute, im Gleichschritt Marsch! Wagen wir's..."

Mit dem ersten Schritt, den Shinya auf das bogenförmige Loch zutrat, brach er gleichzeitig einen unsichtbaren Bann, der ihn die ganze Zeit über mit Fesseln aus ängstlichem Zweifel zurückgehalten hatte. Seinen Freunden schien es nicht anders zu gehen - mehr oder weniger in Reih und Glied, dafür aber umso zielstrebiger gingen sie auf das Portal aus dicht verwobenen Schatten zu und traten dann ohne weiteres Zögern auf die andere Seite.
 

Die Schwärze, die sie erwartete, war vollkommen und umfing Shinya wie eine schwere, warme Decke, aus der er sich nicht befreien konnte. Dennoch verspürte er keinerlei Furcht mehr, während er durch die absolute Dunkelheit schritt. Im Gegenteil - einige kurze, flüchtige Augenblicke lang stieg sogar das unbeschreiblich schöne Gefühl in ihm auf, nach einer langen, anstrengenden Reise endlich wieder heimzukehren. Er spürte den leichten Druck von Hoshis Hand an seiner eigenen, und unweigerlich stahl sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen.

Der Katzenjunge war beinahe ein wenig enttäuscht, als zu seiner Rechten ein Funke aufglomm und sich dann rasch zu einer tiefvioletten, flackernden Flamme entzündete, die in einem hohen silbernen Pokal loderte. Nur wenige Sekundenbruchteile später entbrannte ein zweites Feuer in tiefem, glühendem Rot, dessen kreisrunder Träger golden blitzte. Shinya blieb kaum Zeit, dieses wundersame Schauspiel zu bestaunen, als der Dunkelheit zu seiner Linken auch schon zwei weitere Flammen entstiegen, von denen eine die Farbe des leuchtendsten Sommerhimmels trug, die andere ein vollkommen reines Weiß. Zuletzt glommen die Schatten nur wenige Meter vor ihm auf, gerieten in Bewegung und verdichteten sich dann zu einem pechschwarzem Feuer, das die weite Öffnung des Silberpokals in ein kaltes, lebloses Licht tauchte.

Und erst jetzt konnte der Katzenjunge die vagen Konturen des Raumes ausmachen, in dem er stand. Der Boden war hart und grau wie Stein, wobei sein Muster und seine Beschaffenheit viel eher an längliche Holzbalken erinnerten. Auch wenn die Wände immer noch im Dunkeln lagen, konnte Shinya doch ohne jeden Zweifel sagen, dass sie rund waren, was ihn an ein Turmzimmer denken ließ. Der Halbdämon wandte seinen Blick nach oben, doch an Stelle einer Decke breitete sich etwa zwei Meter über ihm ein bläulich schwarzer Baldachin aus Dunkelheit aus. Nur hier und dort flackerte schwach und scheinbar unendlich weit entfernt ein winziger, silberner Leuchtpunkt auf und vermittelte so die trügerische Illusion, unter einem merkwürdig verschwommenen, in Fetzen hinabhängenden Sternenhimmel zu stehen.

"Ihr habt es also tatsächlich geschafft..." Shinya spürte einen Anflug von Verwunderung in sich aufsteigen, als er bemerkte, dass es ihn weder überraschte noch erschreckte, die ihm mittlerweile so vertraute Stimme auch an diesem fremdartigen Ort zu vernehmen. Umso mehr verblüffte es ihn, als auch Hoshi ihren Kopf hob und sich mit großen, ängstlich suchenden Augen in dem runden Zimmer umsah.

"Hey! Was soll das?" Der Katzenjunge ignorierte die fragenden Blicke seiner Freunde, denen seine viel eher wütende als erstaunte Reaktion ganz offensichtlich sogar noch ungleich merkwürdiger vorkam als ihm selbst.

"Shinya, was hat das zu bedeuten?", raunte Hoshi ihm zu. "Wer spricht da überhaupt? Ich... ich sehe hier niemanden!"

Der Halbdämon blieb ihr eine Antwort schuldig und richtete sich stattdessen wieder an die körperlose Stimme.

"Wir sind doch wohl als Erste hier angekommen, ich meine, vor Phil und seinem Gefolge, richtig? Also, wo ist unsere Belohnung?"

"Bist du dir so sicher, dass ihr zuerst hier eingetroffen seid, Shinya?" In den gewohnt ruhigen Klang der Stimme mischte sich ein leiser Unterton liebevollen Spottes.

"Ja! Ich meine, ich... ich denk doch mal. Jedenfalls hab ich die anderen in der Halle da draußen nirgendwo gesehen!"

"Und wer sagt dir, dass die beiden Wege das gleiche Ziel haben?"

"Aber dann..." Mit einem Mal hatte Shinya das Gefühl, dass sich ein Ring aus kaltem Metall unerbittlich langsam um seinen Hals legte und dass sein Atem in gefrorenes Wasser verwandelt wurde. Er schluckte. "Bin ich jetzt nur zu blind oder zu blöd dazu, diese seltsame Belohnung zu sehen, oder... oder..."

"Oder ihr habt den falschen Weg genommen. Das möchtest du doch sagen, nicht wahr, Shinya?"

Jedes einzelne der Worte drückte ihm wie ein zentnerschweres Gewicht auf seine Brust. Einige Sekunden lang schien die schwarze Flamme vor seinen Augen zu verschwimmen, während die Luft um ihn herum plötzlich einen ganz furchtbar bittereren Nachgeschmack von Enttäuschung mit sich führte. Auch wenn die Stimme noch gar nicht wirklich ausgesprochen hatte, dass er sich oben auf der Lichtung vor den beiden Höhlen tatsächlich komplett und für alle Zeiten zum Affen gemacht und mit stolz geschwellter Brust die falsche Entscheidung getroffen hatte - allein die bloße Vorstellung davon, dass all seine Mühen, die Angst und die Verzweiflung, die ihn zwischen den spiegelnden Mauern des Labyrinthes gequält hatten, nun vollkommen umsonst gewesen sein sollten, war weit mehr, als er jetzt noch ertragen konnte.

Schlimmer und quälender war lediglich noch das unbestimmte und doch unbeirrbar in ihm aufkeimende Gefühl, verraten worden zu sein.

"Einen Augenblick bitte, was soll das heißen - wir haben den falschen Weg genommen?" Noctan stieß Rayos Hand von sich und trat einen Schritt nach vorne. Seine Augen strichen unentwegt, beinahe hektisch nervös über seine finstere Umgebung und das Licht der farbigen Flammen. "Dürfte man als Normalsterblicher vielleicht auch mal erfahren, was hier eigentlich gerade gespielt wird? Komm verdammt noch mal raus und sag es mir ins Gesicht, dass wir gerade vollkommen umsonst durch diese ganze verfluchte Hölle gegangen sind!"

"Habt ihr denn gar nichts begriffen?" Einem leicht entnervten Seufzer der Stimme folgte ein mildes, verzeihendes Lachen. "Nein... wie solltet ihr auch?"

"Ja, genau! Wie sollten wir auch? Wir armen, niederen Kreaturen!" Noctan stieß wütend die Luft zwischen seinen Zähnen hervor. "Aber vielleicht bin ich ja auch wieder mal der Einzige hier, der das dumme Gefühl nicht loswird, dass da irgendjemand ist, der sich über ihn lustig macht..."

"Das ist keineswegs meine Absicht", fuhr die Stimme in unverändert warmem Tonfall fort, allerdings deutlich ernster als zuvor. "Denkt doch einmal nach! Innere Stärke, Macht des Geistes... wo ist da der Unterschied? Ist es nicht im Grunde genommen dasselbe?"

"Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!" Shinya fuhr sich durch sein braunes Haar und schüttelte leicht hilflos den Kopf. "Wenn es das Gleiche ist... dann... war's dann etwa egal, welchen Weg wir gehn würden?"

"Du hast es erkannt, Shinya. Die Prüfungen, die euch erwarteten, mochten durchaus verschieden sein, aber das lag nicht am Weg, sondern vielmehr an den Geprüften."

"Ja, aber... warum hast du mir das nicht gleich gesagt?"

"Ich bin nicht mehr dazu gekommen, erinnere dich. Unsere Verbindung wurde durchtrennt..."

"Phil!" In Hoshis Stimme schwang ein zorniges Beben mit. "Dieser Idiot musste dich ja unbedingt aufwecken! Oh, ich könnte ihn..."

"Ich glaub's ja nicht!" Ein wütendes Knurren stahl sich über Shinyas Lippen. "Der is ja wohl so was von eine Plage! Aber... Moment mal..." Der Katzenjunge schob langsam eine seiner Augenbrauen nach oben, während sich ein Ausdruck von Misstrauen auf sein Gesicht legte. "Wenn es von Anfang an egal war, in welchen Eingang wir gehn würden, heißt das... Phil und sein Anhang kriegen jetzt auch eine Belohung? Nich ernsthaft, oder?"

"Ob sie ihrem Labyrinth entfliehen konnten, das vermag ich dir nicht zu sagen. Aber sollte es ihnen gelungen sein... ja, dann werden sie ebenso wie ihr eine Belohnung erhalten. Gerechterweise, wie ich meine. Die Zwillingshöhlen sind ein heimtückischer, gefährlicher Ort, aber sie haben noch niemals ein Versprechen gebrochen. Wem ein Preis für seine Mühen gebührt, der soll ihn erhalten."

"Aber das ist nicht fair!"

"Wieso nicht, Shinya?" Der sanftmütige Tonfall war in die Stimme zurückgekehrt, und der Katzenjunge wusste nicht mehr, was er ihr entgegnen sollte. Stattdessen stieß Noctan nun auch ihn ein Stück weit zur Seite und ergriff das Wort.

"Es ist ja wirklich schön, dass hier jeder Held zu seinem Schatz kommt, nur... die Prinzipientreue dieser heiligen Stätte in Ehren, aber bislang habe ich von unserer großartigen Belohnung leider noch nicht allzu viel gesehen!"

"Du scheinst ja richtig misstrauisch zu sein, Krieger des Mondes." Wieder schwang Spott in den Worten der körperlosen Stimme mit, allerdings fehlte nun der fast schon zärtliche Tonfall, der ihr bislang eigen gewesen war. "Aber selbstverständlich trägst du deine Ungeduld zu recht in dir. Eure Prüfung liegt hinter euch, auch wenn ihr sie... auf andere Art und Weise bestanden habt, als ich es zunächst angenommen hatte. Shinya, du hast es geschafft, deine Angst zu bezwingen. Und Noctan, du solltest deine Wut nicht gegen mich richten, weil dir dasselbe nicht gelungen ist. Immerhin seid ihr alle noch am Leben, so nehmt denn eure Belohnung hin."

Die violetten Augen des jungen Weißhaarigen weiteten sich und wurden für einen Moment von einem selbst für seine Verhältnisse noch beängstigenden Blitzen durchzuckt, doch gerade als er seinen Mund öffnete, um zu einer Antwort anzusetzen, lief ein Beben durch die finsteren Mauern des runden Schattenzimmers. Das flackernd bunte Licht, das sie bislang sanft und dämmrig eingehüllt hatte, flammte nun auf und steigerte sich zu einer gleißenden, unangenehmen Helligkeit, die noch im nächsten Moment von einer erdrückenden Hitzewelle begleitet wurde.

Der vielfarbige Lichtblitz schmerzte in Shinyas Augen, aber dennoch gelang es ihm nicht, seinen Blick von den wie ein Mensch im Todeskampf zuckenden und zornig auflodernden schwarzen Flammen vor ihm zu nehmen. Es schien, als ob im Inneren des zerstörerischen Elementes etwas heranwachsen würde; ein dunkler, dickflüssiger Klumpen, der stetig an Masse zunahm und sich wie schmelzendes Metall träge in die Länge zog. An- und abschwellende Beulen wanderten wie lebende Geschwülste in der schwarz glühenden Materie umher, formten sie und erstarrten schließlich.

Als das Feuer sich wieder beruhigte und zu seinem ruhigen, flackernden Dasein als warme, dumpfe Lichtquelle zurückkehrte, hatte sich aus dem wabernden Klumpen lebendiger Schatten eine prächtige Lanze geformt, die an ihren Enden glänzende, mondsichelförmige Klingen aus pechschwarzem Stahl trug. Wie von unsichtbarer Hand getragen schwebte die beinahe zierlich wirkende Waffe über den unschuldig vor sich hinglühenden Flammen.

"Nehmt sie nur. Sie gehören euch."

Die Worte der körperlosen Stimme rissen Shinya aus der Trance, die ihn beim Anblick des bizarren Schmiedevorgangs befallen hatte. Er nickte nur stumm und trat langsam einen Schritt auf das sanft glühende Metall zu. Dann jedoch stockte er.

"Waffen? Warum eigentlich... Waffen? Sind die jetzt... für diese letzte Schlacht, von der hier irgendwie ständig die Rede ist, oder wie hab ich das zu verstehen?"

"Ihr werdet sie schon sehr bald brauchen, glaubt mir. Zögere nicht, sie an dich zu nehmen, Shinya. Sie haben lange genug auf eure Ankunft gewartet."

"Gewartet?" Der Katzenjunge runzelte die Stirn, hakte aber nicht weiter nach, als die Stimme ihm nicht mehr antwortete. Er atmete tief durch und griff dann mit einem Ruck nach der Waffe. Erst im letzten Augenblick fiel ihm dabei auf, dass er dabei wieder einmal nicht mitgedacht hatte - doch ehe er noch reagieren konnte, hatten sich seine Finger auch fest schon um den schwarzen Stahl gelegt. Der allerdings wieder Erwarten nicht glühend heiß, sondern im Gegenteil nur gerade so weit angewärmt war, dass er sich überaus angenehm halten ließ. Shinya nahm die Lanze nun vollständig in beide Hände und erlebte bereits die zweite Überraschung binnen weniger Sekunden, als er feststellte, dass sie so leicht war, als bestünde sie vielmehr aus dünnem, zerbrechlichem Holz, nicht etwa aus massivem Stahl.

"Eine Zweililienlanze!", raunte Rayo hinter ihm. Der Halbdämon drehte sich zu dem jungen Adligen um und sah ihn mit großen Augen an.

"Aha."

"Siehst du die beiden Klingen an ihren Enden? Dadurch unterscheidet sich eine Zweililienlanze von einer normalen Lanze. Gut geführt ist sie deshalb noch ungleich tödlicher, allerdings habe ich bislang nur äußerst wenig Menschen getroffen, die diese Kunst beherrschen... aber das müsstest du doch eigentlich wissen, oder nicht?"

"Ja... ja, klar!" Shinya winkte ab und schenkte dem Blondschopf ein etwas zu breites Grinsen. Erst jetzt bemerkte er, dass auch Rayo eine Waffe an sich genommen hatte, ein mächtiges Zweihandschwert, auf dessen Klinge fein geschwungene Runen in tiefrotem Licht glommen. Der junge Adlige wog den Zweihänder prüfend in der Hand, trat dann einen Schritt zurück und vollführte einige spielerische Hiebe gegen einen unsichtbaren Gegner. Shinya musste sich eingestehen, dass der Anblick ihn erstaunte, ja beinahe sogar ein wenig erschreckte. Die flüssigen, sicheren Bewegungen zeigten nur allzu deutlich die Routine, die Rayo im Schwertkampf haben musste - und das hatte der Katzenjunge seinem Gefährten nun wirklich nicht zugetraut!

"Also, das ist wirklich... sehr, sehr schön", mischte sich nun Hoshi ein und sah sich leicht verloren nach ihrem unsichtbaren Ansprechpartner um, "aber was genau soll ich jetzt damit machen?" Shinya sah, dass das Mädchen einen langen, silbrig weiß schimmernden Stab in den Händen hielt, der in seiner transparenten Zartheit fast schon gläsern wirkte. An seinem Ende baumelte ein kleiner rotvioletter Kristall in einer herzförmig anmutenden Fassung umher.

"Keine Sorge, Lichtkriegerin. Du wirst es beizeiten erfahren."

"Wird Misty das dann auch bei... bei... bei diesen Zeiten da erfahren?", fragte die Kleine schüchtern und schielte ein wenig ängstlich auf ein kreisrundes, hellblau glänzendes Wurfeisen, an dessen Griff zwei silberne Glöckchen baumelten und das sie mit leicht zittrigen Fingern möglichst weit von ihrem Körper entfernt hielt.

"Oh, welch ein Glück!" Noctan stieß ein sarkastisches Lachen aus. "Da ich hier ja offensichtlich der Einzige bin, der zu wissen scheint, was eine Waffen eigentlich ist, wird diese mystische letzte Schlacht dann wohl zu einem lustiges Glücksspiel werden, ob ich nun von Freund oder Feind aufgespießt werde..."

"Was soll das heißen, der Einzige?" In Rayos tiefblaue Augen trat ein zorniges Flackern. "Ich weiß sehr wohl, wie man ein Schwert zu führen hat, und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, gewiss auch besser als du!"

"Aber natürlich, Hochwohlgeboren!" Noctan trat einen Schritt auf den jungen Adligen zu. In jeder seiner Hände hielt er einen silbern glänzenden Kampfdolch, dessen Griffe mit tiefviolett glühenden Edelsteinen geschmückt waren. "Warum wollen wir es nicht einfach ausprobieren?"

"Ja, warum nicht?" Der junge Adlige hob das Runenschwert an, ging in Kampfstellung und funkelte dem Weißhaarigen drohend entgegen.

"Noctan! Rayo! Das... das meint ihr ja nun hoffentlich nicht ernst!" Hoshi trat eilig zwischen die beiden Estrella und schwang ein wenig hilflos ihren weißen Stab. "Dafür haben wir diese Belohnung ja wohl ganz bestimmt nicht erhalten!"

"Wieso nicht?" Noctan warf sich sein langes Haar über die Schulter zurück, ganz so, wie es eigentlich sonst nur Rayo zu tun pflegte. Seine Lippen hatten sich zu einem eisig kalten Lächeln verzogen, und mit einem Mal war sich Shinya vollkommen sicher, dass dieser Kampf nicht einfach nur einer seiner besonders misslungenen Scherze und Provokationen war, sondern purer Ernst. Irgendetwas an dem Weißhaarigen war... anders, seit sie das Labyrinth auf solch gewaltsamem Wege verlassen hatten, und diese kaum zu beschreibende Veränderung erschreckte ihn viel zu sehr, als dass er noch irgendeinen sinnvollen Beitrag zur Schlichtung des langsam aber sicher eskalierenden Streites hätte beitragen können.

"Ja, aber..." Die Dunkelhaarige verstummte, als sie der Blick von Noctans vollständig erkalteten Augen traf. Offensichtlich war Shinya nicht der Einzige, dem auffiel, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht so mehr war, wie es bis vor kurzem noch gewesen war und vermutlich auch besser hätte bleiben sollen.

"Diese Waffe gehört mir", fuhr Noctan in einem erschreckend emotionslosen Tonfall fort, "also warum sollte ich mir vorschreiben lassen, zu welchen Zwecken ich sie benutzen werde? Immerhin ist dies das Beste, das wir seit... heh?"

Die eisige Leere im Blick des Weißhaarigen wich einem Ausdruck fassungslosen Entsetzens, als der schimmernde Stahl in seiner Hand plötzlich in einem diffusen, weißlichen Licht glühte, langsam seine Konturen verlor und sich dann schließlich binnen weniger Sekunden vollkommen geräuschlos und ohne größere Effekthascherei in Luft auflöste. Der gleiche lautlose Zersetzungsvorgang brach beinahe gleichzeitig auch über die übrigen Waffen herein, und ehe Shinya sich versah, griffen seine Hände ins Leere.

"Was ist denn jetzt los?!", stieß er mit einem leisen Keuchen hervor und starrte auf seine bloßen Finger. Dann hob er ruckartig den Kopf und stapfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. "Hey, das is jetzt aber nich fair! Ich weiß, wir sollten uns vertragen. Ich weiß, wir sollten eine Gruppe sein und wir sind's nicht. Aber was kann ich dafür, dass..."

"Wie üblich. Shinya, der Unschuldsengel! Verzeih unsere Unwürdigkeit." Noctan schickte ein abfälliges Schnauben in Richtung des Katzenjungen. Da war wieder diese Kälte in seinem Blick, und plötzlich drängte sich Shinya von irgendwoher die Frage auf, wie oft der Weißhaarige in seinem jungen Leben wohl schon getötet hatte; denn dass er es getan hatte, und das weit öfter als nur einmal, war für ihn spätestens seit den letzten drei oder vier Minuten keine Vermutung mehr, sondern eine Tatsache. Trotzdem war er wieder einmal viel zu wütend und aufgebracht, als dass er sich noch von irgendeinem Mörder der Welt hätte einschüchtern lassen, und so stemmte er sich die Hände in die Seiten und trat Noctan mit zornig glühenden Augen entgegen.

"Ich denk, du bist grad wirklich der Letzte, der sich hier über irgendetwas aufregen darf! Ich hab die Prüfung bestanden, ich, nicht ihr und schon gar nicht du! Ich hab diese Belohnung verdammt noch mal verdient, und ich..."

"Seid ruhig!!"

Der Ruf der körperlosen Stimme klang scharf wie ein frisch geschliffenes Messer und hallte schmerzhaft in Shinyas Ohren nach. Instinktiv zog er seine Schultern hoch und duckte sich ein wenig, und obwohl er seinen Blick nicht mehr zu heben wagte, verriet ihm doch die schlagartig eingekehrte Stille, dass es seinen Gefährten nicht anders gehen konnte als ihm selbst. Er hätte nicht einmal wirklich sagen können, was genau ihn nun so sehr eingeschüchtert hatte - normalerweise reagierte er auf lautstarke Zurechtweisungen gleich welcher Art eher mit Trotz als mit wirklichem Schrecken - aber es mussten tatsächlich mehrere Sekunden verstreichen, bevor er es überhaupt wieder wagte, Luft zu holen.

"Seht ihr? Ist doch gar nicht so schwer!" Ein genervtes Ausatmen ließ die bunten Flammen ängstlich aufflackern. "Wenn ihr mit eurem kindischen Gezanke und den Schuldzuweisungen und vor allem mit diesem hochmütigen Kräftemessen endlich fertig seid, dann kann ich es euch ja vielleicht auch einmal erklären."

"Er-klären?" Shinya brachte möglichst geräuscharm seinen begonnenen Atemzug zu Ende und meldete sich dann schüchtern wieder zu Wort. "Ähm... was denn?"

"Zum Beispiel, dass dies keine gewöhnlichen Waffen sind!" Die Stimme seufzte leise und fuhr dann in versöhnlicherem Tonfall fort: "Was ihr in den Händen gehalten habt, sind die Seelen der Estrella, deren Lichter schon vor langer Zeit erloschen sind."

"Und das soll im Klartext was heißen?" Noctan betrachtete kurz seine bleichen Hände, dann strich er sich die Haare aus dem Gesicht und blickte auf. "Und wieso wurden uns die Waffen wieder weggenommen? Sind wir etwa derer nicht würdig?"

"Ich habe sie euch nicht weggenommen. Und außerdem bleibt uns nicht mehr viel Zeit, ihr haltet euch schon viel zu lange an diesem Ort auf. Also hört gut zu: Stirbt ein Estrella, so wird seine Seele zu einer Waffe. Eine ganz außergewöhnliche Waffe, denn ihr müsst sie nicht ständig mit euch tragen. Sie wird euch begleiten und dann beizeiten zu Diensten stehen."

"Das klingt, als ob diese Dinger... denken könnten!" Shinya kratzte sich am Kopf und wackelte mit den Katzenohren.

"Glaubt mir, das können sie auch!" Wahrscheinlich sogar besser als ihr, sprach die Stimme zwar nicht wirklich aus, aber Shinya hörte es trotzdem. "Diese Waffen lassen sich nicht beherrschen - im Gegenteil. Sie werden euch nur dann erscheinen, wenn es wirklich vonnöten ist. Ihr könnt sie niemals zu einem Kampf zwingen, aber wenn, dann werden sie euch besser verteidigen als jede andere Waffe es jemals tun könnte."

"Ja, aber... was müssen wir denn dann machen, wenn wir sie brauchen?" Hoshi warf einen hilflosen Blick ins Leere. "Ich verstehe das nicht! Sie werden doch wohl nicht plötzlich auftauchen, oder etwa doch? Und außerdem, was nützt mir das? Ich habe noch niemals eine Waffe geführt!"

"Sorgt euch nicht. Wenn es so weit ist, dann werdet ihr wissen, was ihr tun müsst. Haltet eure Begleiter in Ehren und kehrt zurück, es ist mehr als nur höchste Zeit dazu. Ich wünsche euch viel Glück, junge Krieger..."

"Ich... ich will aber noch nicht gehen!" Shinya stieß ein empörtes Schnauben hervor und trabte wild entschlossen an der pechschwarzen Flamme vorbei - nur um bereits einen halben Meter weiter vor einer kahlen, steinernen Wand zum Stehen zu kommen, die ihn stumm und unverwandt anblickte. "Ich meine, ich hab doch noch so viele Fragen! In... in diesem Labyrinth... also... hab ich da echt gezaubert? Also kann ich das doch? Und außerdem, was soll dieses Dies... Dies Ultima sein und wohin müssen wir jetzt überhaupt gehen? Hallo?"

Die einzige Antwort, die Shinya erhielt, war das leise Prasseln des bunten Feuers, und obwohl die Vorstellung davon, wie er so dastand und in trotziger Wut eine Mauer anbrüllte, ihm schon jetzt die Schamesröte ins Gesicht trieb, dachte er überhaupt nicht daran, so einfach aufzugeben.

"Hey, ich hab dich was gefragt! Antworte endlich, verdammt noch mal! Du kannst doch nich so einfach abhauen!"

"Shinya... sie ist fort."

Hoshis Stimme sollte wohl eigentlich einfach nur sanft und beschwichtigend klingend, aber ihre unaufgeregte Endgültigkeit traf den Katzenjungen wie ein Tritt in die Kniekehlen, der ihn um ein Haar ins Stolpern gebracht hätte. Natürlich wusste er ja selbst, dass die Stimme nicht mehr antworten würde, egal wie lange er sich noch vor seinen Freunden blamierte. Und trotzdem... Shinya wusste selbst nicht, warum ihm dieser Gedanke plötzlich derart fürchterlich, ja beinahe unerträglich erschien.

Erst jetzt, als sein unsichtbarer Ratgeber lautlos wieder verschwunden war, wurde dem Halbdämon überhaupt erst bewusst, wie tief er dessen Präsenz die ganze Zeit über in sich gefühlt hatte. Es war zwar eigentlich von vorne bis hinten einfach nur absurd, doch allein die stumme Gegenwart des merkwürdigen Unsichtbaren hatte ihn mit einem Gefühl von Sicherheit erfüllt, das jetzt einer seltsam kalten inneren Ernüchterung gewichen war. Und auch das kreisrunde Zimmer mit seiner Sternenhimmeldecke und den brennenden Pokalen hatte sogar ein sehr großes Stück von seinem Zauber eingebüßt.

"Wir können hier ja doch nichts mehr erreichen", seufzte Hoshi, und Shinya nickte nur, obwohl ihm eigentlich überhaupt nicht danach zumute war. Der Katzenjunge schlurfte mit hängenden Schultern zu seiner Freundin zurück und ergriff ihre Hand. Dann blickte er auf und zwang sich zu einem Lächeln, das schlimmer gar nicht mehr hätte missglücken können.

"Kommt, Leute. Lasst uns gehen."

Aus irgendeinem Grund folgte selbst Noctan ohne größere Gegenwehr, lediglich von einem leisen, unwilligen Murren begleitet, Shinyas stummer Aufforderung und ergriff aufs Neue Rayos Hand. Nachdem Misty sich schließlich mit einem inbrünstigen Seufzer der Erleichterung wiederum an Hoshis Arm geheftet hatte, setzten sich die jungen Estrella langsam und schweigend in Bewegung und traten nun schon zum zweiten Mal durch das alles verschluckende Schattenportal.
 

Ein warmer Nachtwind wiegte sanft die blaugrünen Palmenblätter in den Schlaf, während aus der Ferne das Rauschen des Meeres ein leises, beruhigendes Schlaflied sang. Die Vögelchen waren verstummt. Die Natur schlief. Einzig das türkisblau schimmernde Wasser aus dem Inneren des Berges plätscherte unaufhörlich in den kleinen Steinbrunnen, während das silberne Mondlicht in weichen, konturlosen Schlieren auf seiner Oberfläche tanzte und zerfloss wie Fäden geschmolzenen Silbers. Über dieses stille Bildnis vollkommener Ruhe hatte der klare, tiefblaue Sternenhimmel seine samtene Decke ausgebreitet.

Über Shinyas Lippen huschte ein Lächeln. Er hatte kaum einen einzigen Atemzug von der frischen, klaren Nachtluft eingesogen, da erwachte in ihm eine tiefe, wärmende Zufriedenheit, die jede negative Empfindung in seinem Innen mühelos beiseite wischte.

"Wir... wir haben's geschafft... wir haben die Prüfung bestanden!"

"Ja, das haben wir wohl..." Noctans Blick fixierte einen Moment lang das flüssige Mondlicht, das aus dem weißen Gestein des Berges sprudelte. Das tiefe Violett seiner Augen reflektierte den silbrigen Schimmer und ließ sie beinahe transparent wirken. Dann wandte der Weißhaarige sein Gesicht dem Katzenjungen zu und die amethystfarbenen Augen verdunkelten sich wieder. "Aber in einem entscheidenden Punkt sind wir keinen Schritt weitergekommen: Was jetzt?"

"Eine gute Frage..." Shinya ließ seinen Blick über das wogende Pflanzenmeer schweifen. Die großen gefächerten Blätter verloren im bläulichen Dunkel der Nacht jegliche Konturen und verschwammen zu einem grünlich schimmernden See.

"Waffen nützen uns vorerst wohl herzlich wenig, wenn wir nicht einmal ein Ziel vor Augen haben, meint ihr nicht?" Rayo stieß einen unwilligen Seufzer aus und legte seinen Kopf in den Nacken. Shinya fühlte einen Anflug von kalter, nagender Wut in sich hochsteigen. Die ungeduldige, seltsam distanzierte Arroganz in den Worten des jungen Adligen gefiel ihm ganz und gar nicht. Immerhin wusste er doch offensichtlich genauso wenig wie der unwürdige Rest von ihnen, was sie als nächstes tun sollten - was gab ihm also das Recht, sich durch den stummen Vorwurf in seinen Worten wieder einmal ein gewaltiges Stück weit vom gemeinen Estrellavolk abzusetzen?

"Gut, dass du's sagst, ich hätt's sonst auch gar nicht gemerkt, weißt du?", grummelte er unwirsch und schickte einen strafenden Blick zu dem Blondschopf hinüber, der diesen mit sichtlicher Verwirrung entgegennahm und sich dann kopfschüttelnd von dem Halbdämon abwandte.

Noch im selben Augenblick begriff Shinya, wie ungerechtfertigt seine Zurechtweisung gewesen war. Langsam benahm er sich ja wirklich schon wie Noctan! Dabei war er sich im Grunde genommen sehr wohl darüber im Klaren, dass Rayos beiläufig eingeworfener Satz ihn nur deshalb so sehr verletzte, weil der junge Adlige mit seinen Worten zielsicher ins Schwarze getroffen hatte. Der Gedanke hatte sich schon lange wie ein hartnäckiges, Blut saugendes Insekt in Shinyas Kopf festgesetzt - aber erst jetzt begriff der Katzenjunge das ganze Ausmaß seines Problems.

Eigentlich war seine Reise doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er war kopflos und ohne sich auch nur den Ansatz eines Planes zurechtzulegen in einer Nacht- und Nebelaktion davongelaufen, und wenn er ehrlich war, hatte er doch die ganze Zeit über nichts weiter als unverschämtes Glück gehabt. Jetzt jedoch, als eine Entscheidung gefragt war und es nicht einfach irgendwie weiterging, war er mit seinem Latein am Ende.

"Misty hat eine Idee!", platzte das kleine Mädchen strahlend in seine trübsinnigen Gedanken. "Mistys Großmutter hat nämlich immer gesagt, wohin Misty gehen soll, wenn sie mal nicht mehr weiter weiß!"

"Sieh an! Ein Lichtblick am Ende des Tunnels!" Noctan verzog abfällig das Gesicht. "Hätte unsere Retterin in der Not denn womöglich auch die Güte, uns mitzuteilen, was für ein geheimnisvolles verheißenes Land das nun sein soll?"

"Mistys Großmutter hat immer von der alten Stadt Lluvia erzählt!" Die Kleine schien den triefenden Sarkasmus in Noctans Stimme wieder einmal nicht zu bemerken, jedenfalls klang ihre Stimme mit jedem Wort noch ein wenig begeisterter. Ihre hellblauen Augen leuchteten sogar in der Dunkelheit der Nacht.

"Lluvia?" Rayo bemaß das Mädchen mit einem überraschten Blick. "Aber das ist doch nur eine Legende!"

"Was denn für eine Legende?", mischte sich Shinya nun wieder ein. "Werd ich dann vielleicht auch mal eingeweiht?"

"Oh Gott, ich dachte, die kennt echt jeder", lächelte Hoshi und sprach dann eilig weiter, als sie sah, dass der Katzenjunge bei diesen Worten schmerzlich das Gesicht verzog. "Pass auf: Lluvia soll einst eine unglaublich schöne Stadt gewesen sein, in der nur Magier lebten, und alle Kinder, die dort geboren wurden, besaßen ebenfalls die Gabe der Magie. Doch irgendwann gingen die Herrscher der Stadt und der Insel, auf der sie lag, zu weit und ließen sich mit irgendwelchen Mächten ein, denen sie nicht gewachsen waren. Zur Strafe wurden alle Bewohner Lluvias mit schweren Plagen geschlagen, mit Seuchen, Unwettern, Heimsuchungen und so weiter. Viele starben, die anderen sind wohl geflohen. Heute ist die Geschichte so ziemlich die beliebteste Mahnung, vor allem an junge, noch lernende und potentiell erst einmal übermütige Magier. Glaub mir, jeder Lehrer und Dorfältester hat diese Legende für seine Schüler auf Lager!

"Und da wollen wir hin?" Shinya blickte Hoshi zweifelnd an. "Mal angenommen, es wäre nicht nur eine kluge Geschichte, die sich irgendein alter Magier ausgedacht hat, um seinen Schützlingen Angst einzujagen... was sollten wir da?"

"Nun ja... man sagt, dass wenige Menschen, die ein besonders reines Herz hatten, die Unglücke überlebten und noch heute die Stadt bevölkern... aber das denke ich eher nicht. Klingt einfach ein bisschen zu sehr nach erhobenem Zeigefinger, oder? Ich glaube eher, dass wir dort andere wichtige Dinge finden könnten... vielleicht alte Bücher, Artefakte oder so was. Wo sonst, wenn nicht in einer Magierstadt?" Die Dunkelhaarige lächelte aufmunternd. "Misty, deine Großmutter hätte dich bestimmt nicht grundlos dort hingeschickt, oder wenn es gefährlich wäre... ja, ich glaube, es kann nicht schaden dort hinzugehen!"

"Das stimmt aber nicht!" Die kleine Blauhaarige verschränkte die zierlichen Ärmchen vor ihrer Brust. "Mistys Großmutter hat nämlich immer gesagt, Misty, hat sie gesagt, in Lluvia, da lebt eine Weise, die weiß aaaaalles, was Misty mal wissen will. Und Großmutter hat ganz bestimmt schon gewusst, dass Misty euch treffen wird. Großmutter weiß nämlich alles!"

Shinya nickte ergeben und ließ seinen Blick dann wieder gen Nachthimmel schweifen.

"Etwas Anderes oder Besseres wird uns ja sowieso nicht mehr einfallen, also gehen wir halt in diese komische Stadt..."

"Sicher. Obwohl wir weder wissen, wie wir diese ominöse Märchenstadt nun finden können, noch, ob sie überhaupt existiert und dort womöglich irgendetwas lauert, das sich jetzt schon darauf freut, uns nicht nur um-, sondern dabei auch noch irgendwie weiterzubringen... warum nicht?"

"Irgendwie war das klar, dass so was jetzt kommen musste." Der Katzenjunge knurrte leise. "Als ob du jemals mit irgendetwas einverstanden gewesen wärst, das irgendeiner von uns gesagt oder vorgeschlagen hat. Aber mittlerweile wissen wir's ja eh schon alle, also kannst du doch eigentlich in Zukunft auch die Klappe halten!"

"Danke - gleichfalls." Noctan durchbohrte Shinya mit einem bitterbösen Blick, den dieser allerdings so gut es eben ging zu ignorieren versuchte.

"Wie auch immer... wir sollten uns sowieso erst mal noch ausruhen und morgen können wir dann von mir aus weiterreden, so lang ihr wollt. Ich weiß ja nicht, wie's euch geht, aber ich für meinen Teil bin verdammt müde!"

Prompt stahl sich ein Gähnen über seine Lippen, und als der Katzenjunge sich die tränenden Augen gewischt hatte und in die Runde blickte, da konnte er in den erschöpften Gesichtern seiner Mitstreiter ausnahmsweise einmal keinerlei Widerwillen erkennen. Und so wartete Shinya auch gar nicht mehr lange auf Antwort, sondern tauchte lieber gleich in den schlafenden Palmenwald ein, bevor sich womöglich doch noch von irgendwoher Protest regen konnte.

Schweigend zog er durch die dunstigen, weichen Nebelschwaden blauen Lichtes, die zwischen den Stämmen und Pflanzen emporstiegen. Die Nacht war wunderschön, unbeschreiblich schön, aber Shinya konnte sich nicht mehr wirklich daran erfreuen. Er war heilfroh, als sich vor ihm endlich eine kleine Lichtung auftat, die wie ein gut geschützter Burghof zwischen den grünen Wällen verborgen lag. Auf dem verhältnismäßig hohen und weichen Gras tanzte das silberne Mondlicht wie auf einer ruhigen Meeresoberfläche.

Shinya schickte noch ein letztes kurzes Stoßgebet zum samtenen Himmel hinauf, dass Phil und sein Gefolge nicht auch ausgerechnet diesen Weg wählen würde, während er sich mit einem erleichterten Seufzer auf die wogende Decke hinabsinken ließ. Er hatte sich kaum richtig hingelegt, da fielen ihm auch schon die Augen zu, so als ob sich seine Lider und Wimpern in tonnenschweres Blei verwandelt hätten. Doch kurz bevor ihn der süße, wohlige Schlaf übermannte und seinem völlig erschöpften Körper nach viel zuvielen Stunden pausenloser Aufregung und Anstrengung endlich seine wohl verdiente Ruhe gönnte, fiel dem Katzenjungen plötzlich etwas auf. Etwas, das er noch nie bemerkt oder für wichtig gehalten hatte, und auch in diesem Augenblick zwischen Träumen und Wachen wusste er nicht, wieso er ausgerechnet jetzt daran denken musste.

Die körperlose Stimme gehörte einer Frau.
 

Ende des sechsten Kapitels

Kapitel VII - Anfang und Ende

Äonen ist es her, dass ich das letzte Kapitel hochgeladen habe, aber diesmal aus anderen Gründen als zuvor. Das Ding war schon extrem schnell fertig, wie viele der nachfolgenden Kapitel auch, aber ich wollte unbedingt an Weihnachten alle groß damit überraschen, dass ich mit dem Überarbeiten fertig bin und habe deshalb niemandem mehr verraten, wie weit ich jeweils war. ^___^ Allerdings ist es auch schon so lange her, dass ich das Kapitel überarbeitet habe, dass ich gar nicht mehr so genau weiß, was mir dabei durch den Kopf ging. Mit etlichen Stellen habe ich mich extrem schwergetan, aber ich finde, dass ich Manches ganz elegant gelöst habe. ^^ So oder so werde ich dieses Kapitel immer in liebevoller Erinnerung behalten als das Kapitel, bei dem ich selbst nicht mehr wusste, wie ich unsere lieben Estrella aus der Situation wieder heil herausbekommen sollte...

Falls es irgendwer da draußen liest, wünsche ich diesem jemand viel Spaß hiermit. ^^
 

Shinya lag auf dem Rücken, alle Viere weit von sich gestreckt, und genoss die goldenen Strahlen der Mittagssonne, die seinen Körper in eine unsichtbare, seidig warme Decke hüllten. Der feine weiße Sand schmiegte sich sanft an seine erschöpften Gliedmaßen und bettete ihn wie die wunderbar weichste Matratze, auf der er jemals in seinem ganzen Leben geschlafen hatte. Ein leises Schnurren stahl sich über seine Lippen, aber im gleichen Augenblick wusste er auch, dass diese Zufriedenheit wohl doch eher oberflächlicher Natur war.

Sicher, sein Körper lechzte nach der erdrückenden und reichlich ungewohnten Anstrengung der vergangenen Stunden nach einer ausgiebigen Ruhepause – immerhin hatten sie am unschuldig blauvioletten Morgen dieses Tages zum zweiten Mal die lange Überfahrt von der kleinen Prüfungsinsel nach Silvania angetreten und das Festland erst erreicht, als die Sonne schon beinahe senkrecht über ihnen gestanden war. Ihr einfaches hölzernes Boot hatte sich in einen grausamen Käfig verwandelt, der keinerlei Zuflucht vor der erdrückenden Gewalt des strahlenden Himmelskörpers bot. Im Gegenteil – sie waren gefangen gewesen auf einem wogenden Spiegel, der die Strahlen der Sonne glitzernd reflektierte und tausendfach auf die unliebsamen Eindringlinge zurückwarf.

Wie froh war der Katzenjunge gewesen, als sie dann endlich das Festland erreicht hatten! Er wusste gar nicht mehr, wie sie in der schmalen, dafür aber äußert idyllischen und ruhigen Bucht angelegt hatten, wie sie das Boot irgendwo zwischen dem hohen Schilfgras versteckt hatten und dann kurzerhand in das verlockend warme Sandbett gefallen waren. Er wusste nur, dass er im ersten Augenblick wirklich wunschlos glücklich gewesen war. Er hatte einen weichen Platz zum Schlafen, er hatte eine gewichtlose Decke, die mit einem Mal alles andere als erdrückend und schweißtreibend heiß war, sondern einfach nur noch wohlig warm – und mehr brauchte er nicht.

Dann war jedoch nach und nach die totale Ermüdung von ihm abgefallen und hatte einer Schwindel erregend tiefen Verwirrung Platz gemacht. Die Ereignisse des vergangenen Tages liefen als vollkommen chaotische, unzusammenhängende Bilderflut ein ums andere Mal in seinen Gedanken ab, überschlugen und verdrehten sich, nur um dann wieder beängstigend klar zu werden, so klar, dass der Halbdämon seine Augen schließen und sich wenigstens symbolisch davon abwenden musste. Er brauchte lange, um sein inneres Durcheinander in einzelne Bestandteile zu zerlegen und zumindest ein bisschen wieder in Ordnung zu bringen, und während sein Körper reglos und zufrieden die Sonne und den Sand genoss, fühlte er sich innerlich wie zerschlagen.

Vor wenigen Stunden hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Magie gespürt. Der letzte betäubend warme Nachhall dieses Gefühles schmerzte ihn noch jetzt, obgleich er nur mehr als die vage Ahnung eines wohligen Schauers über seine Haut jagte. Es war verrückt! Er fürchtete sich vor seiner Macht – allerdings weniger vor ihren angeblich ja so unsagbar katastrophalen Auswirkungen. Vielmehr erschien ihm die Magie wie eine wundervoll berauschende Droge, die schon nach dem ersten Kontakt mit sanfter, aber unerbittlicher Gewalt voll und ganz von ihm Besitz ergriffen hatte. Natürlich durfte er sie nicht mehr verwenden. Aber konnte er das denn überhaupt? Auch wenn er den Gedanken noch nicht ganz begriff, so quälte ihn doch umso mehr die diffuse Ahnung, dass auch in dem gläsernen Labyrinth nicht er selbst seine Magie kontrolliert hatte, und diese vage Hilflosigkeit erschreckte ihn beinahe am meisten.

Irgendwo, ganz tief in einem bislang noch weitestgehend unerforschten Teil von ihm lauerte jedoch noch ein ganz anderes Gefühl, eine kalte Panik, die das letzte bisschen Erinnerung an den vernichtenden Zauber mit aller Kraft festhalten wollte, die tobte und schrie und beinahe den Verstand verlor, weil sie das überwältigende Gefühl von absoluter Macht schon nahezu wieder vergessen hatte.

Shinya spürte, wie ihm trotz der Wärme, die ihn von allen Seiten her einhüllte, ein beklemmend kalter Schauer über den Rücken lief. Für einen Moment hatte er das überaus unangenehme Gefühl, von innen heraus zerrissen zu werden und musste sich beherrschen, nicht laut aufzuschreien. Seine Finger krallten sich in den Sand, der mit einem erschrockenen Knirschen zwischen seinen Fingern entfloh und ihn statt eines festen Halts nur den Stoff seiner Handschuhe unter den Nägeln spüren ließ. Der Katzenjunge biss sich mit einem seiner spitzen Eckzähne auf die Unterlippe und zwang sich dazu, seinem wirren Gedankenfaden weiter zu folgen, während sich ein metallisch warmer Geschmack in seinem Mund ausbreitete.

Blut…

Wie automatisch blieb Shinya an dem nächsten kalten Drahtstückchen hängen, die das unterschwellige, stete Gefühl von leiser Angst in das versponnene Netz in seinem Kopf gebohrt hatte. Im Gegensatz zu einigen seiner Gefährten hielt sich seine Freude über die Belohnung ihrer Prüfung nämlich mehr als nur in Grenzen. Es war ja nicht so, dass er den Gebrauch von Waffen generell ablehnte, und überhaupt, wenn seine Reise auch nur annähernd so gefährlich weiterging, wie sie mit dem beinahe tödlichen Abenteuer im gläsernen Labyrinth begonnen hatte, dann würde vor allem er ganz dringend ein Mittel zur Verteidigung benötigen, immerhin konnte er ja nicht einfach auf irgendeine Magie ausweichen. Auch den zugegebenermaßen höchst ungewohnten Gebrauch der Zweililienlanze fürchtete er nicht – aus irgendeinem Grund war er sich sogar sicher, den Umgang mit dem federleichten schwarzen Stahl recht schnell zu erlernen.

Es war etwas ganz anderes, das ihn beunruhigte. Immerhin hatte höchstwahrscheinlich nicht nur seine eigene Gruppe den Test an ihrer inneren Stärke, der Macht des Geistes oder woran auch immer bestanden. Was, wenn Phil und sein Gefolge nun dieselbe Belohnung erhalten hatten? Obwohl er im Grunde genommen nicht daran zweifelte, ängstigte ihn nicht etwa die Gewissheit, nun noch auf eine weitere Art und Weise von seinem alten Rivalen getötet werden zu können. Vielmehr wurde ihm nun zum ersten Mal das wirkliche Ziel ihrer abenteuerlichen, aufregenden Reise bewusst.

Wenn die Estrella ihre Waffen nicht nur bekommen hatten, um ab und zu einem Monster oder irgendeiner anderen Alptraumgestalt das Lebenslicht auszulöschen – und davon ging der Katzenjunge aus – dann konnte das nur bedeuten, dass sie irgendwann nicht mehr mit Magie, sondern mit blankem Stahl gegeneinander kämpfen und sich vielleicht sogar töten mussten. Und diese letzte Erkenntnis war es, die Shinya mehr als jeder andere Gedanke quälte, weil er nicht wusste, ob er diesen Schritt tatsächlich fertig bringen konnte und wollte.

Bevor der endlose Strudel aus Grübeleien den Halbdämon tiefer in seinen gierigen Schlund hinabreißen konnte, setzte er sich auf und streckte gähnend seine von der Wärme angenehm betäubten Gliedmaßen. Er rieb sich den Schleier der Müdigkeit aus den Augen und nutze die zurückgewonnene Klarheit, um endlich seine Umgebung zu begutachten, der er bislang noch reichlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Beinahe direkt neben ihm lag Hoshi in dem Bett aus weißem Sand, den Kopf auf ihren Armen platziert, die dunklen Augen geschlossen. Misty hatte es sich mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen neben der Lichtmagierin gemütlich gemacht, während Rayo etwas weiter entfernt im Halbschatten ruhte. Einzig Noctans bleiche Gestalt saß deutlich abseits vom Rest der Gruppe auf einem Felsen und starrte hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche.

Der Katzenjunge ließ einen tiefen Seufzer der Resignation über seine Lippen entweichen. Langsam aber sicher zweifelte er ernsthaft daran, dass er sich mit dem Weißhaarigen jemals wirklich anfreunden würde. Auch jetzt schien es, als stünde eine unsichtbare aber dennoch unüberwindbare Mauer zwischen dem jungen Krieger und dem Rest der kleinen Gruppe. Obwohl Noctan nicht viel älter sein konnte als Shinya selbst, lag ein derart kalter Ausdruck in seinen violetten Augen, dass es den Halbdämon selbst bei den sommerlichen Temperaturen an diesem durch und durch freundlichen, warmen, nahezu paradiesischen Fleckchen Erde erschaudern ließ, wenn er in Noctans schönes Gesicht blickte. Konnte dieser Mensch überhaupt lächeln? Shinya seufzte erneut, dann zuckte er mit den Schultern und wandte seinen Blick eilig wieder dem türkisblauen Wasserspiegel zu, der mit sanften Wellen dunkle Muster in den schneefarbenen Sand zeichnete.

Es hatte keinen Zweck, sich über das Verhalten oder den Blick des jungen Weißhaarigen aufzuregen. Auch wenn er es ab und an ganz gerne vergaß – was ihn und seine Gefährten verband, das waren nicht Freundschaft und Sympathie, sondern schlicht und ergreifend ein gemeinsames Ziel, das es um jeden Preis zu verfolgen galt. Und auch wenn Shinya sich im Geiste hundertmal Will oder Tierra an seine Seite wünschte, es änderte doch nichts an einer einzigen entscheidenden Tatsache: Noctan war und blieb ein Estrella und allein das zählte.
 

Die Sonne war tief vom Himmel hinab gesunken, als die seltsame kleine Gruppe ihrer idyllischen Ruhestätte den Rücken zukehrte. Auf den seichten Wellen des Meeres lag ein roter Schleier glühenden Lichtes. Ein kühler Wind zog auf und einzig in den silbrigen Körnern des Sandteppichs war ein zarter Hauch von der Wärme des Tages zurückgeblieben.

„Sagt mal, wohin wollen wir jetzt eigentlich gehen?“ Hoshi sprach als Erste aus, was eigentlich schon die ganze Zeit über in Shinyas Kopf vor sich gegangen war. Die Augen des Katzenjungen ruhten wie hypnotisiert auf dem roten Ball der untergehenden Sonne, die langsam im Ozean versank und dort in leuchtend blutige Schlieren zerfloss.

„Wir sollten auf jeden Fall erst mal ne Stadt suchen“, murmelte er und betrachtete seine Freundin aus den Augenwinkeln, konnte auf ihrem Gesicht jedoch nicht sonderlich viel und schon gar nichts wirklich Aufschlussreiches lesen. „In Städten und auch in Dörfern gibt es Weise, und vielleicht kann uns ja irgendeiner von denen mehr über dieses… Lluvia erzählen, ob’s das gibt, was es da gibt, wie wir da hinkommen und so weiter. Und wenn wir ganz viel Glück haben… Hoshi, sagtest du nicht, es gäb noch Überlebende? Wenn wir einen von denen auftreiben könnten… das wär’s doch!“

„Na, dass wir gleich sooo viel Glück haben, ist zwar eher unwahrscheinlich… aber da wir ja wieder mal nicht wissen, wo’s denn eigentlich lang geht, ist die Idee mit dem Weisen auf jeden Fall nicht schlecht…“ Das dunkelhaarige Mädchen ließ seinen Blick über die im Sonnenuntergang entflammte Natur schweifen. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck nachdenklicher Konzentration, doch als sie ihre braunen Augen endlich wieder dem Katzenjungen zuwandte, da hatte sich ein Lächeln auf ihre Lippen gestohlen. „Ich glaube, diesmal meint’s das Schicksal sogar wirklich gut mit uns. Ich kenne diese Gegend. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir hier ganz in der Nähe von Midras, und das wäre ja nun wirklich die ideale Anlaufstelle für unser Problem!“

„Midras?“ Rayos Miene erhellte sich. „Welch überaus glücklicher Zufall! Ich hörte, dass Reisende aus allen Teilen des Landes in diese Stadt pilgern, um dort bei einem der unzähligen Wahrsager, Schicksalsdeuter und Magier Rat und Hilfe zu ersuchen. Dass es uns ausgerechnet in diese Gegend verschlagen hat, erleichtert unsere Aufgabe natürlich ungemein, oder?“

Shinya zuckte mit den Schultern.

„Um ehrlich zu sein – ich hab noch nie im Leben was von der Stadt gehört. Aber wenn’s da wirklich so von Gelehrten und Orakeln wimmelt, wie ihr sagt, dann gibt’s ja wohl keinen besseren Ort für uns, was, Leute?“

„Dann also Midras!“ Hoshi warf sich ihr dunkelbraunes Haar über die Schulter. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann müssten wir auch schon ganz in der Nähe sein!“

Das Lachen des Mädchens heftete sich leicht wie eine silbrige Feder an den frischen Seewind und wurde weit in das von Sonne überflutete Land hineingetragen.

Etliche Stunden später jedoch, als der Tanz des Windes verebbt und der Sonnenuntergang erloschen war, hatten die schweigenden Ebenen nicht nur Hoshis zuversichtliches Gelächter, sondern auch jedes andere Geräusch schon längst vergessen und in einem endlosen Teppich aus langen, bläulich grünen Grashalmen verschluckt, dessen glatte, schimmernde Oberfläche im klaren silbernen Mondlicht beinahe so weich und warm aussah wie die herrlich behagliche Decke eines riesigen, noch unberührten Bettes.

Die Aussicht auf eine derartige Schlafgelegenheit schien sich allerdings mit jedem quälenden Schritt, der die jungen Estrella in das schlummernde Land hineinführte, weiter von ihnen zu entfernen, nur um irgendwann am Horizont zu verblassen wie die letzte Erinnerung an die Fülle aus Gold und Rubinen, die mit dem sterbenden Sonnenuntergang bedrückend schnell wieder verschwunden war. Der schmale Pfad aus verhärtetem Sand und hier und dort überaus tückisch platzierten Stolpersteinen wand sich wie eine betrunkene Schlange durch das leblose Meer aus kniehohen Halmen, ohne jedoch auch nur die Ahnung eines nahenden Ziels in Aussicht zu stellen.

„Mistys Füße tun sooo schlimm weh!“, jammerte das kleine blauhaarige Mädchen in die Stille der Nacht hinein.

„Rayo… nein… ich meine, ich hätte gegen eine kurze Rast auch durchaus nichts einzuwenden, oder was meint ihr?“ Der junge Adlige fiel in einen demonstrativ schwerfälligen, leicht humpelnden Gang und zauberte einen gequälten Ausdruck auf sein im fahlen Licht des Mondes ganz besonders bleiches Gesicht.

„Welch grandiose Idee!“ Noctan ließ seinen Blick entnervt zum sternenklaren Nachthimmel streifen. „Wozu sollten wir denn überhaupt noch jemals wieder weitergehen? Sagt jemand, dass wir Midras noch heute erreichen müssen? Sagt jemand, dass wir Midras überhaupt irgendwann einmal erreichen müssen? Hey, warum bauen wir uns nicht gleich hier auf dem Feld ein Haus und geben uns einem geruhsamen Dasein als Bauern hin?“

„Ja klar, Noctan, man kann’s aber auch übertreiben!“ Shinya fixierte den Weißhaarigen mit einem zornigen Funkeln in den grünen Augen.

„Aber natürlich! Ich übertreibe ja immer, wenn ich lediglich das ausspreche, was doch eigentlich alle hier denken. Tu dir keinen Zwang an und lass deine Wut ruhig an mir aus, auch wenn es ganz bestimmt nicht meine Idee war, in diese wundersame Stadt der unendlichen Weisheit und Scharlatanerie zu pilgern.“

„Nein, es war wirklich nicht deine Idee. Natürlich war es nicht deine Idee! Du hast nämlich nie irgendwelche Ideen oder Vorschläge, du kannst dich immer nur beschweren. Darin bist du aber wirklich unübertroffen!“ Durch die braunen Ohren des Katzendämons lief ein wütendes Zucken.

„Bitte – jetzt streitet euch doch nicht auch noch! Dadurch kommen wir ganz bestimmt nicht schneller voran.“ Hoshi trat mit beschwichtigender Miene und einem ebensolchen Tonfall in der Stimme zwischen die beiden finster dreinblickenden Jungen. „Die blöde Idee kam von mir, schon vergessen? Aber bei unserem Aufbruch hatte niemand etwas dagegen einzuwenden und überhaupt, wir kommen bestimmt bald an!“

„Irre ich mich, oder sagtest du das vor etwa anderthalb Stunden schon einmal?“, meldete sich Rayo in halb schüchternem, halb tadelndem Tonfall zu Wort.

„Ach, so genau weiß ich das doch auch nicht mehr!“ Langsam schwand die besänftigende Ruhe aus den Worten der Dunkelhaarigen. „Als ich das letzte Mal in Midras war, da war ich noch ein kleines Kind, wie soll ich mich da bitte noch an jede Abzweigung und Wegbiegung erinnern? Überhaupt, wenn man noch klein ist kommt einem alles viel größer und weiter vor, aber trotzdem, es nützt niemandem etwas, wenn ihr euch deswegen gegenseitig Vorwürfe macht!“

„Verzeiht vielmals, Lady Streitschlichterin, aber gestattet Ihr mir trotzdem die unterwürfigste Anmerkung, dass unsere Art zu reisen vollkommen plan- und sinnlos ist?“ In Noctans violette Augen trat ein eisiges Blitzen, das sie nur noch ein wenig kälter und gefühlloser wirken ließ. „Es gab tatsächlich eine Zeit, da glaubte ich daran, dass wir von Hoshiyama aufbrechen und auch wieder dorthin zurückkehren würden. Aber was geschah dann? Wir strandeten irgendwo am Ende der Welt, beziehungsweise von Silvania, und nur dank einer erbärmlich vagen Erinnerung aus glücklichen Kindertagen ist dies plötzlich alles ganz fabelhaft und ein Wink des Schicksal, der Götter oder von wem auch immer. Aber vielleicht ist es ja vermessen, zu sagen, dass ich mir das doch etwas anders vorgestellt habe, als ich mein Schwert auf dieser fröhlichen kleinen Insel zurückließ.“

„Ein Schwert? Was bitte für ein… ach, stimmt, du hattest ja mal eins. Ich vergaß.“ Shinya zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Jetzt verzeih du mir mal, aber ich sehe das Problem nicht. Wir haben doch sowieso bessere Waffen! Dann segle halt um aller Götter Willen irgendwann später nach Hoshiyama zurück und hol dir dein Schwert, jetzt wirst du’s erst mal eh nicht brauchen, warum also die Aufregung? Wir wollen wissen, wie wir zu dieser Stadt kommen, und das erfahren wir höchstwahrscheinlich in Midras. Also ist’s ja wohl gut, dass wir hier gelandet sind und nicht bei einer grad sowieso vollkommen überflüssigen Waffe, aber dafür meilenweit von jedem Weisen oder Magier entfernt. Soweit alles verständlich?“

„Gestatte mir eine kleine, aber entscheidende Verbesserung – wir haben diese Waffen nicht. Wir tragen sie scheinbar auf irgendeine mystische Art und Weise mit uns herum und dürfen im Ernstfall darauf hoffen, dass sich unsere edlen stählernen Verbündeten dazu herablassen, ihren armseligen Trägern zu Hilfe zu eilen. Entschuldige, aber wenn ich mich überhaupt auf irgendetwas verlasse, dann auf Metall, das ich sehen und fühlen kann.“

„Noctan, weißt du eigentlich was mich jetzt am wenigsten von allen Dingen auf diesem ganzen verdammten Planeten interessiert?“ Shinya hatte seine mühsam aufrecht erhaltene Fassung längst aufgegeben, vielmehr schrie er fast schon aus bloßem Trotz gegen die erdrückende Stille der Nacht und gegen die unerträgliche Kälte auf dem Gesicht des Weißhaarigen an. „Genau, dein Schwert. Aber hey, eigentlich ist es doch völlig egal, ob es um dieses verfluchte Ding oder sonst was geht, Hauptsache, du findest irgendwie einen Grund, dich zu beschweren! Es gibt ja anscheinend sonst nix, was dich glücklich macht!“

„Natürlich! Ich beschwere mich. Es ist doch immer dasselbe! Irgendetwas läuft nicht ganz nach einem deiner schlecht bis nicht durchdachten Pläne, und schon…“

„Könnt ihr vielleicht endlich mal mit eurem blöden, absolut überflüssigen Gestreite aufhören?!“ Als Hoshi diesmal zwischen die beiden jungen Estrella trat, lag nicht einmal mehr eine Spur von Sanftmut in ihren Augen oder ihrer Stimme oder in sonst einer noch so winzigen Faser ihres zornig bebenden Körpers. „Wir können ja nicht ankommen, wenn ihr hier noch bis in alle Ewigkeit eure kindischen Meinungsverschiedenheiten austragen müsst! Aber gut – das ist nun wirklich nicht meine Sache und auch nicht mein Problem. Bitte, viel Spaß noch, aber ich gehe jetzt nach Midras!“

Mit einem letzten wütenden Schnauben fuhr die Lichtmagierin auf dem Absatz herum und stapfte den staubigen Pfad in den stillen schwarzen Ozean hinein.

„Hoshi, jetzt warte doch!“ rief Shinya dem Mädchen hinterher, aber sie reagierte nicht. Mit einem tiefen Seufzer sah der Katzenjunge die zierliche Gestalt seiner Freundin mit der Dunkelheit verschmelzen. Er schüttelte ergeben den Kopf, den Blick auf den steinigen Sand zu seinen Füßen gerechnet, bevor er wieder aufsah und sich nicht ohne eine gehörige Portion Widerwillens Noctan zuwandte. „Also gut. Es ist spät, ich bin genervt und es… es tut mir leid. Wir fahren wieder nach Hoshiyama, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt, in Ordnung?“

Der weißhaarige Krieger schien nicht zu bemerken, wie sehr sich Shinya zu seinen Worten zwingen musste, oder vielleicht interessierte ihn auch ganz einfach nicht. Er machte sich jedenfalls nicht einmal die Mühe, zu antworten, sondern nickte nur kurz, fast schon beiläufig, bevor er mit unbewegter Miene und verschränkten Armen dem dunkelhaarigen Mädchen folgte. Shinya rang sich mühsam ein überaus schiefes Grinsen ab, als er zu Rayo und Misty trat, die es sich während des kleinen Streits seelenruhig und sichtlich desinteressiert im weichen Gras am Wegesrand bequem gemacht hatten.

„Also dann… gehen wir? Wird Zeit, dass wir ankommen. Oder denkt ihr nicht, dass es in einem Hotelzimmer sogar noch ein bisschen gemütlicher wäre als hier?“

Der Katzenjunge wusste nicht, wie er in dieser Situation doch zumindest noch etwas hinbekam, das einem fröhlichen Zwinkern entfernt ähnelte. Er wusste auch nicht, warum er sich mit derartiger Verbissenheit dazu quälte. Er fühlte sich unbeschreiblich müde und kraftlos, als er dem jungen Adligen und dem kleinen Mädchen den Rücken zudrehte und mit gesenktem Blick in das silberne Meer aus Nacht und Wiesen eintauchte.
 

„Schaut mal! Schaut mal! Misty sieht Liiiiiiichter!!!“ Die kleine Blauhaarige kreischte vergnügt und vollführte einen erstaunlich lebendig wirkenden Tanz über die staubig schwarzbraune Erde zu ihren Füßen.

„Tatsächlich!“ Auf Rayos Gesicht breitete sich ein Ausdruck tiefster Erleichterung aus. Er lächelte. „Das bedeutet, wir haben es endlich geschafft. Das schönste Ereignis dieser grauenvollen Nacht, meint ihr nicht?“

„Schon klar…“, murmelte Shinya, ohne der Freude des Blondschopfes wirklich Beachtung zu schenken. Er blickt starr auf die hell erleuchtete Mauer aus kleinen, geduckten Häuschen, die mit ihren schmiedeeisernen Laternen und den schmalen, verwinkelten Gässchen einen warmen Willkommensgruß in Richtung der nächtlich Reisenden sandten. Auch wenn er zweifellos nicht weniger erschöpft war als Rayo und sich ebenso wie dieser nach einem weichen Bett und einer warmen Decke sehnte, blieb das erwartete und ersehnte Gefühl von Freude über die späte Ankunft vollständig aus.

Es war ernüchternd. Wieder einmal hatte er es geschafft, dass Hoshi wütend auf ihn war – und er wusste nicht einmal, ob er dieser Wut nun mit Reue oder ebensolchem Zorn begegnen sollte. Was erwartete sie eigentlich von ihm? Sie sah doch selbst, dass Noctan dieses zielsichere Talent besaß, ihm quasi ohne Unterlass auf seinen Nerven herumzutrampeln, und überhaupt schien er von solch unbedeutsamen Kleinigkeiten wie Freundlichkeit oder Rücksichtname gegenüber anderen Menschen (beziehungsweise Halbdämonen) noch niemals im Leben etwas gehört zu haben.

Und wieder war da diese Frage, die er sich so oft schon vergeblich gestellt hatte und die er sich am liebsten niemals mehr gestellt hätte, weil sie doch so unbeschreiblich sinnlos und so überflüssig war, dass es fast schon schmerzte. Dieses hartnäckige und beinahe unerträgliche Warum ich?, das er einfach nicht loswerden konnte und doch so gerne loswerden wollte. Warum musste er sich mit diesem gefühlskalten, streitsüchtigen Menschen herumschlagen, warum er, warum nicht Phil? Aber natürlich war es wieder einmal vollkommen nutzlos, seinem alten unliebsamen Bekannten die Pest oder besser gesagt Noctan an den Hals zu wünschen, denn jetzt war der Weißhaarige nun mal da und er konnte es auch nicht mehr ändern.

Noch während sich seine Wut langsam aber sicher in tiefe Resignation wandelte, kam Shinya zu einer Erkenntnis der ganz anderen Art, die mit all seinen trüben und trägen Gedanken übrigens nicht das Geringste zu tun hatte: Midras war um einiges größer, als es die niedlichen kleinen Häuser und das Labyrinth aus Kopfstein, von Efeu umrankten Mauern und engen Gassen zunächst einmal hatten erahnen lassen. Es dauerte lange, bis die jungen Estrella in dem verzweigten Straßengewirr endlich eine kleine Herberge gefunden hatten.

„Sagt mal, Leute…“ Der Halbdämon blickte verstohlen in die Runde, wobei er Hoshis Gesicht möglichst unauffällig überging. „Haben wir überhaupt noch Geld?“

„Gratuliere – das fällt dir aber wirklich genau im richtigen Augenblick ein“, murmelte Noctan und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine der weißen Außenwände des Nachbarhauses. „ Aber gut – der Schwarzmarkt in der Stadt schließt niemals seine Pforten und zur Not müssen wir eben irgendwas verkaufen. Shinya… hast du da nicht diese alberne Kugel bei dir…?“

„Noctan!“, fuhr Hoshi den Weißhaarigen an, noch bevor Shinya zu einer Antwort ansetzen konnte. Durch ihre Lippen lief ein leises aber ungemein zorniges Beben.

„Ihr müsst euch wirklich nicht aufregen!“ Zur Abwechslung war es diesmal Rayo, der sich beschwichtigend in das Gespräch einmischte. „Ich dürfte noch genügend Geld bei mir haben, um… eine derartige… Unterkunft zu bezahlen.“ Der Blondschopf kramte in einer der Taschen seiner dunkelblauen Uniform herum und zauberte schließlich einen kleinen, leise klimpernden Lederbeutel daraus hervor. „Was habe ich gesagt? Damit dürfte unserer Nachtruhe wohl nichts mehr im Wege stehen, oder?“

Shinya nickte kurz, ohne den jungen Adligen dabei anzusehen, dann stieß er die Türe auf und trat in die Gaststube ein, die im schummrigen Licht der Lampen noch viel kleiner wirkte, als das steinerne Haus von außen ohnehin schon vermuten ließ. Er fühlte sich wie in Trance, als er sich an den beinahe leeren Tischen vorbei zur Theke hindurchschlängelte und dort fünf Betten bezahlte. Er ging und sprach und zahlte sogar, ohne wirklich davon Notiz zu nehmen. Vor seinen Augen hing ein weißlich grauer Schleier und Geräusche gab es sowieso schon lange nicht mehr. Irgendwie musste er sich danach wohl die Treppe hinauf in den Gemeinschaftsschlafraum und in sein Bett gequält haben, jedenfalls nahm er irgendwann noch ganz am Rande eine wunderbar süße Wärme war, die seinen Körper von allen Seiten her umfing.

Dann schlief er ein ohne zu bemerken, dass er in den vergangenen Minuten überhaupt noch wach gewesen war.

In dieser Nacht war Shinyas Schlaf so tief und so ruhig, dass er nicht einmal mehr träumte. Vielleicht lag es daran, dass er nach langer Zeit endlich wieder in einem echten Bett mit einer echten Matratze und einer echten Decke und vor allem einem unbeschreiblich luftig weichen Kissen schlafen durfte, und zwar nicht unter freiem Himmel, sondern zwischen vier sicheren, massiven Wänden. Da war nichts, was plötzlich über ihn hereinbrechen, ihn verschlingen, zerfetzen oder einfach nur ausrauben konnte, sondern einfach nur frisch gewaschener Stoff und ein bisschen staubige Nachtluft, und kein Grillenzirpen oder Windheulen durchbrach die Stille der Nacht.

Umso mehr erschreckte es Shinya, als sich plötzlich doch eine Stimme in sein Bewusstsein stahl und ihn mit leisen, undeutlichen Worten zu erreichen versuchte, was ihr allerdings zunächst einmal nicht gelang. Es war, als ob die süßen Töne aus weiter Ferne wie durch einen dichten Nebelschleier hindurch zu ihm vordringen würden, und obwohl er nichts verstand, wusste er dennoch bald, dass da jemand seinen Namen rief.

Als er endlich auch begriff, dass es Hoshis Stimme war, die so gedämpft und verzerrt durch seinen Kopf hallte, bemerkte er zum ersten Mal, dass er nicht mehr schlief und schon gar nicht mehr träumte. Er lag eingekuschelt und von dicken Stoffbahnen behütet im Bett ihrer Herberge, und der simple, alles andere als übernatürliche Grund dafür, dass er die Worte seiner Freundin nicht gleich hatte verstehen können, war der, dass er sich ein Kissen über den Kopf gezogen hatte.

„Shinya? Shinya, jetzt wach schon auf!“

Der Katzenjunge linste vorsichtig unter dem weißen Stoff hervor und verzog das Gesicht, als sich ein Schwall blendenden Lichtes in seine Augen ergoss.

„Shinya! Es ist schon nach Mittag und wir haben zu tun, also steh endlich auf! Ich weiß, dass du wach bist.“ Die Dunkelhaarige holte tief Luft, dann beraubte sie Shinya mit einer energischen Bewegung seines kuschelig weichen Schutzschildes.

„Morgen, Hoshi…“, grummelte der Halbdämon verschlafen, bevor er sich lustlos aufrappelte und seine müden, leicht brennenden Augen rieb. Er gähnte und streckte sich bewusst ausgiebig und wandte sich dann zögerlich dem dunkelhaarigen Mädchen zu. „Sag mal… du bist doch wohl nich immer noch böse wegen… wegen gestern?“

„Seh ich etwa so aus, als ob ich’s nicht wär?“ Die Lichtmagierin strich sich eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen aus der Stirn und sah mit einem mehr als offenkundigen Vorwurf in den tiefbraunen Augen zu Shinya hinab. „Ich habe noch nie in meinem Leben etwas Kindischeres gesehen als euch beide und eure ewigen Streitereien!“

„Ja! Ja, ich hab’s kapiert, aber Noctan…“

„Nein! Nicht Noctan! Ich mag ihn doch auch nicht, aber lege ich mich deshalb ständig mit ihm an? Genau das ist es, was mich aufregt und genau das scheinst du aus irgendeinem Grund nicht einzusehen! Aber bitte…“ Hoshi wollte sich abwenden, aber Shinya ließ seine Hand mit einer sogar erstaunlich schnellen Bewegung nach vorne schnellen (wie gut, dass Reflexe keinen wachen, ausgeruhten Geist voraussetzten) und schloss seine Finger fest um ihren Unterarm.

„Na schön, dann eben nicht Noctan! Ich weiß, ich… hätt manche Dinge vielleicht auch nicht sagen sollen… wenigstens nicht so… und ich versteh auch, warum du jetzt wütend bist, aber… das wollt ich echt nicht. Ich bin nicht du! Ich kann nich einfach immer meine Klappe halten, wenn der mich aufregt! Aber ich… ich… ach, verdammt, es tut mir ja leid!“

„Bist du jetzt fertig?“ In Hoshis Stimme lag immer noch jener entnervte Unterton, der bereits in der vergangenen Nacht die übliche Sanftheit daraus vertrieben hatte. Shinya schluckte und fühlte sich mit einem Mal wie ein geprügeltes Kind. Er wollte irgendetwas sagen, aber ihm fehlten wieder einmal die Worte und so ließ er nicht nur den Blick sinken, sondern auch seine eben noch so entschlossen zupackende Hand, der binnen weniger Sekunden jegliche Willenskraft verloren gegangen war.

„Stehst du dann endlich auf?“, seufzte die Dunkelhaarige und ergriff nun ihrerseits Shinyas Handgelenk, um ihn ruckartig auf die Beine zu ziehen.

„Hey, jetzt mach aber mal langsam!“, keuchte der Katzenjunge und musste dann erst einmal mit seinem Gleichgewicht kämpfen, als sein schlaftrunkener Kreislauf mit einem heftigen Flirren vor seinen Augen zu einer überaus unangenehmen Art des Protestes ansetzte. „Schon klar, du bist grad nich so gut auf mich zu sprechen und alles, aber ich… ich bin grad erst aufgewacht! Ich meine… hallo, ich penn doch noch halb! Machen die anderen da unten irgendwie Stress, oder warum musst du mich jetzt so rumscheuchen?“

„Damit ich dich endlich bestrafen kann, du Idiot!“, fuhr Hoshi den jungen Estrella an. Sie hatte die Arme in die Seiten gestemmt und die Augenbrauen drohend zusammengezogen, doch ihre dunklen Augen blitzten und bei jedem ihrer Worte lief ein leises Zucken durch ihre Mundwinkel.

Dann plötzlich lachte sie und warf sich Shinya um den Hals.
 

„Fantastisch! Grandios! Ich liebe diese Stadt!“ Noctan rollte sichtlich entnervt mit seinen tiefvioletten Augen. „Aber könnte mir vielleicht bitte mal einer verraten, wo denn nun all die tollen Magier und Seher und was weiß ich nicht alles hinverschwunden sind? Warum sind wir nicht einfach gleich in einen der Läden am Marktplatz gegangen?“

„Dahin, wo Zeichen und Wunder über der Türe stand, oder doch lieber in das Orakel der blühenden Weisheit?“ Shinya seufzte dem stahlblauen Himmelstuch entgegen. „Jetzt denk mal scharf nach, warum nicht…“

„Tja, nur dummerweise scheint es in diesem ganzen verfluchten Nest hier überhaupt nichts anderes als Möchtegernmagier und Pseudopropheten zu geben, die mit Goldstücken in ihren angeblich blinden Augen durch die Welt laufen!“ Der junge Estrella strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung durch sein schneeweißes Haar. „Was machen wir eigentlich noch hier?“

„Wartet mal, ich glaube, ich habe gerade etwas gesehen!“, verkündete Rayo plötzlich und deutete mit einem erwartungsvoll aufgeregten Leuchten in den dunkelblauen Augen auf ein Haus am Ende der schmalen, leicht gewundenen Gasse, die sich wie so viele andere vom zentralen Platz der mehr oder minder magischen Stadt Midras abspaltete. Eine schwere, ebenholzfarbene Türe nahm einen großen Teil der weißen Front ein, die sich eigentlich gar nicht sonderlich von denen der umstehenden Häuschen abhob. Auffällig waren lediglich die kleinen Fenster, die von innen mit tiefvioletten Vorhängen verhängt waren, über die sich in feinen Goldstickereien magische Schutzsymbole und Runen zogen.

„Ich weiß was du meinst“, nickte Hoshi. „Das Ding hat was. Am besten, wir schauen es uns einfach mal aus der Nähe an!“

Tatsächlich musste Shinya direkt vor die niedrige Türe treten, die etwas unterhalb der Straße lag und über eine schmale Steintreppe erreicht werden konnte, um ein schmuckloses Schild aus hellem Holz zu bemerken, das am weißen Stein neben dem Eingang angebracht war und die Inhaberin als „Hanako, Seherin und Kartenleserin“ auswies.

„Unaufdringlich!“, stellte der Katzenjunge anerkennend fest. „Mal was anderes. Sollen wir’s wagen?“

„Also, schaden kann es uns bestimmt nicht!“, lachte Hoshi und machte eine aufmunternde Kopfbewegung in Richtung des runden, golden lackierten Türgriffs. Shinya tauschte noch ein letztes bekräftigendes Nicken mit seiner Freundin aus, dann drehte er das seltsam warme Metall von einem leisen Klicken begleitet in der Fassung herum und trat ein.

Er wurde begrüßt von violetten Rauchschwaden, die sich ihm augenblicklich entgegenschlängelten, ohne jedoch unangenehm in Hals oder Augen zu brennen. Derselbe transparente Nebelschleier erfüllte den gesamten Raum, der sich in überaus bescheidenen Ausmaßen vor ihm erstreckte. In den vier Ecken des Zimmerchens waren hohe silberne Kerzenständer platziert, deren träge flackernder Schein das trübe Dämmerlicht unterstütze, das sich seinen Weg durch den schweren Stoff der Vorhänge bahnte. Die Wände waren mit dunklem, leicht schimmerndem Holz verkleidet und von der ebenso finsteren Decke baumelten silbern funkelnde Anhänger und Ketten herab.

Shinya war augenblicklich wie gefangen von der unwirklichen Atmosphäre des Zimmers und achtete erst im zweiten oder dritten Augenblick auf die Gestalt, die in unzählige Seidentücher gehüllt auf einem Kissen mit goldenen Borten genau in der Mitte der vier Kerzenständer saß. Es war eine alte Frau mit schneeweißer Haut, deren langes, kunstvoll aufgestecktes und mit Goldschmuck verziertes Haar silbergrau schimmerte. Eine schwarze Binde verdeckte ihre Augen. Sie blickte erst auf, als die Türe mit einem unpassend lauten Knall wieder ins Schloss gefallen war.

„Willkommen, meine jungen Freunde. Tretet näher und sagt mir, wie kann ich euch helfen?“

Shinya erschauderte, als aus dem Mund der Alten eine vollkommen klare, glockenhelle Kinderstimme erklang, die gar nicht weniger zu ihrem äußerlichen Gesamtbild hätte passen können. Er war im ersten Moment sogar derart perplex, dass es ihm buchstäblich die Sprache verschlug – ein Fehler, den ein gewisses blauhaariges Mädchen offensichtlich als Einladung verstand, denn sie hüpfte vergnügt strahlend an dem Halbdämon vorbei und verbeugte sich unnötigerweise in Richtung der blinden Frau.

„Aaaalso, das ist ganz einfach! Misty und ihre Freunde sind nämlich Es…“

„…eeeinige junge Magier auf der Suche nach, ähm… Wissen! Wissen… und Erfahrung.“ Shinya hielt dem kleinen Mädchen hastig eine Hand vor den Mund und bedachte das ebenso unschuldig wie verwirrt dreinblickende Wesen mit einem strafenden Blick.

„Soso, Wissen?“ Das Lachen der Frau mutete noch ungleich kindlicher an als ihre Sprechstimme. „Und dann auch noch Erfahrung! Überaus lobenswert. Und es wird mir eine Ehre sein, euch diese Schätze vermitteln zu dürfen. Es ist wahrlich lange her, dass sich die letzten Estrella in meine bescheidenen Gemäuer verirrt haben.“

Shinyas Augen weiteten sich.

„Ja, aber…“

„Woher ich es weiß?“ Ein mildes Lächeln breitete sich auf Hanakos Lippen aus, und einen Moment lang schien es, als würden die vier Kerzen von einem sachten Windstoß bewegt, obgleich die nebelschwere Luft unverändert drückend im Raum stand. „Ihr heiligen Krieger, Beschützer des Planeten, ich könnte niemals die Aura jener uralten Kraft vergessen, die euch wie ein strahlendes Licht umhüllt. Ich habe mich seit der ersten Begegnung mit dieser Aura danach gesehnt, sie nur noch ein einziges Mal spüren zu können, und das ist wahrlich lange her… nichts würde ich lieber tun, als euch auf eurem langen Weg behilflich zu sein.“

„Hmm…“ Hoshi musterte die Frau mit einem nachdenklichen Blick. „Ihr sagt, ihr hättet schon einmal Estrella getroffen…“

„Aber ja. Es gab schon viele Generationen vor euch, wusstet ihr das nicht? Erlischt ein Stern, wird irgendwo ein anderer aufleuchten und den Himmel an seiner Stelle erhellen. Es kommt jedoch nicht oft vor, dass sich alle Krieger zusammenfinden. Das Sternbild droht anscheinend zu zerfallen, und das ist wohl kein gutes Zeichen…“

Shinya runzelte die Stirn und sah mit ernster Miene auf die blinde Seherin hinab.

„Mir wurde gesagt, dass der Planet untergehen wird und ich das Ganze verhindern soll, indem ich irgend so ein Gleichgewicht wieder herstelle und unsere Gegner besiege… oder so ähnlich…“

Das Lächeln auf Hanakos Gesicht erlosch, und spontan erfüllte den Katzenjungen die äußerst unangenehme Gewissheit, irgendetwas unvorstellbar Dummes gesagt zu haben. Er biss sich auf die Lippe und war reichlich erstaunt, als die folgenden Worte der Seherin weder herablassend noch tadelnd oder gar vorwurfsvoll, sondern vielmehr aufrichtig mitfühlend klangen.

„Du bist noch jung, mein Kind der Nacht, ihr alle seid noch so jung… eure Gegner… ihr sprecht von dem Sonnenkrieger, nicht wahr?“

„Alias Phil, genau!“ Der Katzenjunge bleckte die Zähne. „Der hat da irgendwas von einer komischen Vereinigung gefaselt, Dies Ultima, glaub ich, mit der er irgendwie im Bunde stehen will… was is das eigentlich?“

„Dies Ultima…“ Der Halbdämon spürte plötzlich, wie ihn die Alte hinter dem schwarzen Band mit ihren blinden Augen fixierte, ja förmlich anstarrte, und obwohl das natürlich absurd war und ja eigentlich nur seiner Einbildungskraft entspringen konnte, schien die Temperatur in dem kleinen Raum schlagartig um etliche Grade zu fallen. „Diesen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört… vielleicht zu lange… ich habe seine Bedeutung vergessen. Dies Ultima, das bedeutet Letzter Tag. Mehr vermag ich euch nicht mehr zu sagen… verzeiht.“

Shinya war zutiefst erleichtert, als die Seherin ihren Blick senkte, und ließ dann seinerseits die Augen in Richtung Hoshi schweifen. Das Mädchen sah ihn ebenfalls an und nickte kurz, so als ob sie in seinen Gedanken gelesen hätte, doch auch der Katzenjunge verstand ihre wortlose Geste sofort und wunderte sich deshalb nicht mehr länger über diese scheinbare Gabe der Telepathie. Er wusste, dass sie dasselbe dachte wie er und dass sie sich ebenso wie er nicht jetzt und schon gar nicht vor dieser merkwürdigen Frau darüber austauschen wollte, und diese stumme Vereinbarung einer späteren Unterhaltung beruhigte ihn ungemein.

„Is ja auch egal“, lenkte er hastig ein und hob beschwichtigend seine Hände, obwohl er doch eigentlich wusste oder zumindest hoffte, dass Hanako ihn überhaupt nicht sehen konnte. „Ich hab aber noch ne ganz andere Frage, also jetzt nicht direkt zu dem Thema. Wir wollen nämlich in diese komische alte Stadt, dieses… Lluvia… Ihr wisst schon, von wegen Fluch und Magier und so. Wir wissen nur dummerweise nicht, wie man dorthin kommt…“

Die Alte gab erneut ihr kindliches Lachen von sich.

„Ihr wollt also tatsächlich die verfluchten Ruinen Lluvias aufsuchen?“ Sie verharrte einen Augenblick in atemloser Stille, dann schüttelte sie langsam ihren Kopf. „Versteht mich nicht falsch – ich bin sehend, aber gerade deswegen halte ich nicht viel von kindischem Aberglauben. Ich sehe euer Ziel vollkommen klar und der Weg, den ihr gewählt habt, ist vielleicht ungewöhnlich, aber deswegen nicht unbedingt schlecht. Ihr werdet in Lluvia sicherlich Antworten auf so manche eurer Fragen finden, aber wollt ihr wirklich den Preis dafür zahlen? Wisst ihr nicht, wie viele neue Fragen jede Antwort aufwerfen kann? Wollt ihr eure Hände wirklich mit dem Blut der unwissenden Sünder beflecken?“

„Meine Hände sind schon befleckt genug, vielen Dank, und wenn wir nicht nach Lluvia wollten, hätten wir wohl kaum danach gefragt.“ Noctans kalte Stimme schwankte zwischen Ungeduld und entnervter Wut.

„Das ahnte ich bereits, Mondkrieger, es gibt also keinen Grund zur Aufregung“, entgegnete Hanako mit einem verzeihenden Lächeln auf den grauen Lippen. „So soll es also sein, ich verrate euch den Weg und der Rest liegt bei euch. Passt gut auf: Etwa zwei Wegstunden südlich von Midras werdet ihr eine Bucht finden. Von einer kahlen Anhöhe werfen drei Steine den Mondschatten auf den Strand hinab und er streckt sich sehnsüchtig zu den schwarzen Wellen hin. Doch nur wenn der Mond als voller Kreis am Himmel steht, vermag jener Schatten das schlafende Meer zu berühren. Dann wird ein Schiff kommen und den bleichen Fingern der Drillingssteine entgegensegeln. Wartet nun, geht ihm nicht entgegen, und es wird anlegen. Geht an Bord, aber bleibt unbedingt unter Deck und seht niemals aus einem der Bullaugen, niemals, hört ihr?“

Shinya nickte wie automatisch, und plötzlich fiel ihm auf, wie benommen er sich fühlte. Er wusste nicht, ob es an dem violetten Nebel lag, den er nun schon seit mehreren Minuten einatmete, aber ihm war, als ob die Worte der Seherin nicht von außen an seine Ohren dringen, sondern vielmehr direkt in seinem Kopf wiederhallen würden. Schrecklicherweise war ihm diese Erkenntnis nicht einmal mehr unheimlich. Jeder seiner Sinne war wie betäubt, und auch seine Gedanken gehorchten ihm nicht mehr, sondern klammerten sich ganz an die glasklare Stimme der alten Frau.

„Wenn der Mond über der Bucht verblasst ist, dann wird die schwarze Barke an der Küste Lluvias anlegen. Verlasst euer Gefährt sofort und blickt erst zurück, wenn ihr alle wieder Land unter den Füßen spürt, nicht früher. Folgt meinen Anweisungen und ihr werdet sicher ankommen und auch wieder zurückkehren. Aber… was auch immer passieren mag, seid vorsichtig, bleibt in jedem Fall zusammen und verlasst euch auf euer Gefühl, nicht auf eure Augen und Ohren…“

Die silberhaarige Frau musste sich mittlerweile mit beiden Armen abstützen, dennoch bebte ihr Körper bei jedem Wort, das sie mühsam aber unvermindert eindringlich über ihre Lippen brachte. Erschöpfung schien ihre Glieder wie eine rasend schnell voranschreitende Seuche zu befallen und ihr Atem ging schwer. Shinya war sogar außerordentlich froh, dass er ihre Gestalt nicht mehr deutlich erkennen konnte.

„Brecht in zwei Tagen auf, wenn die erste Vollmondnacht gekommen ist, und kehrt bei Vollmond zurück… und denkt stets an meine Worte, hört ihr? Viel… viel Glück, junge Krieger… und… und nun geht… geht!“

Mittlerweile war es Shinya unmöglich geworden, die sich immer weiter ausbreitende Kälte als ein bloßes Produkt seiner Fantasie abzutun, denn sein Körper hatte zu zittern begonnen und sein Atem kristallisierte zu weißen Wolken, kaum dass er seinen Mund verlassen hatte. Auch der violette Rauch schien in der eisigen Luft zu gefrieren, während die Flammen der silbernen Kerzenleuchter wie in Todesangst pulsierten und flackerten.

Der Katzenjunge wich zurück, bis er das Holz der dunklen Türe hart und kühl in seinem Rücken fühlte, öffnete sie mit zitternden Fingern und machte einen Satz ins Freie hinaus. Seine Gefährten folgten ihm beinahe ebenso schnell, doch Shinya achtete gar nicht mehr auf sie, sondern rannte taumelnd weiter und blieb erst stehen, als er aus den Schatten der Gasse hinaus auf den belebten, sonnenbeschienenen Marktplatz gestolpert war. Er stützte seine Arme auf die Knie und sog keuchend die warme, lebendige Luft in seine schmerzenden Lungen ein.

„Die… die war irgendwie ganz schön… unheimlich.“ Hoshi lächelte unbeholfen und vergewisserte sich mit einem raschen Rundumblick davon, wieder in die gewohnt normale und angenehm unmagische Umgebung zurückgekehrt zu sein.

„Na, das kannst du laut sagen…“, murmelte Shinya und rieb sich die kalten Handflächen aneinander.

„Aber immerhin… immerhin kennen wir ja jetzt den Weg, oder?“, bemühte sich Rayo um aufmunternde Worte, um den letzten dunklen Schleier zu vertreiben, der zwischen ihnen und dem sonnenbeschienen Alltagstreiben der Magierstadt schwebte.

„Vorausgesetzt natürlich, wir glauben an Geisterschiffe.“

„Falls du eine Alternative dazu weißt, kannst du dich ja gerne konstruktiv an unseren weiteren Plänen beteiligen, Noctan“, entgegnete Shinya betont ruhig und strich sich durch sein braunes Haar. „Aber Lluvia hin oder her – was ich im Moment viel wichtiger finde…“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause und sah seine Gefährten ernst an. „Phil hat da anscheinend einen Pakt mit irgendeiner Macht geschlossen, von der er keine Ahnung hat. Ich meine… Letzter Tag… vielleicht bin ich ja nur voreingenommen, aber für mich hört sich das gar nicht nett und freundlich an…“

„Du meinst, dass er eine Art… Pakt mit dem Bösen geschlossen hat, oder?“ Rayo sah Shinya mit großen Augen an.

„Irgendwie… kann ich’s nicht glauben…“ Hoshi legte nachdenklich eine Hand an ihr Kinn. „Weißt du, im ersten Moment hab ich ja genau das Gleiche gedacht, aber wenn ich jetzt so drüber nachdenke… meinst du wirklich, dieses Gerede von einer perfekten Welt, das war alles nur gelogen? Aber warum?“

„Ich sag’s ja nicht gern, aber – eigentlich trau ich’s Phil eben auch nicht zu. Er ist vielleicht ein selbstgerechtes Großmaul mit nem verflucht schlechten Humor, aber… irgendwie ist er kein bisschen der Typ dafür, so im Hintergrund Intrigen und böse Pläne zu spinnen. Dafür ist er viel zu…“ Der Katzenjunge verzog das Gesicht. „…viel zu gut. Oder zumindest fühlt er sich so. Ich denk eher, dass Phil wirklich an diese ganze Paradiesgeschichte glaubt. Der ist so blöd und meint, dass er für eine gute Sache kämpft, obwohl diese komischen Dies Ultima-Typen wahrscheinlich genau das Gegenteil von dem wollen, was sie ihm erzählt haben…“

„Du meinst, sie nutzen ihn die ganze Zeit nur aus?“ Die Lichtmagierin stieß geräuschvoll die Luft zwischen ihren Zähnen hervor. „Das würde natürlich mehr Sinn ergeben. Auch wenn ich eine Sache immer noch nicht ganz verstehe: Wenn diese Magier doch so wahnsinnig mächtig sind… wofür brauchen sie dann ausgerechnet Phil? Warum geben sie ihm solche Zauber, die sie selbst wahrscheinlich noch hundertmal besser können? Das begreif ich nicht.“

„Ist das denn wirklich so schwer?“ Noctan zuckte mit den Schultern. „Diese ganze Vereinigung kann noch so mächtig sein – eine Sache hat Phil ihnen immer noch voraus.“

„Und das wäre?“ Shinya sah den Weißhaarigen zweifelnd an.

„Er ist ein Estrella.“

„Ein… natürlich!“ Hoshi schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Sie brauchen ihn, weil er ein Estrella ist! Folglich muss Phil als Estrella irgendetwas tun können, was selbst diese Übermagier nicht hinbekommen, also pumpen sie ihn mit Magie voll und reden ihm irgendwelche schönen Geschichten von einem perfekten Leben ein…“

„…damit er uns davon abhält, den Planeten zu retten!“, brachte Shinya den Satz mit einem aufgeregten Flackern in den smaragdgrünen Augen zu Ende.

„Das ist aber gemein!“, rief Misty und verzog das Gesicht. Der Halbdämon verstand nicht ganz, weshalb, aber er konnte nicht über die wütende Grimasse des kleinen Mädchens lachen. Er nickte nur schwach und sah dann zu Boden.

„Leute… ich mag Phil zwar nicht, aber das geht wirklich zu weit! Wir müssen ihn irgendwie warnen!“

„Erst einmal müssen wir nach Lluvia. Wir können auf keinen Fall mehr bis zum nächsten Vollmond warten! Außerdem… wer weiß, vielleicht treffen wir ihn dort ja sogar?“ Hoshi musste grinsen. „Bislang sind wir ihm jedenfalls schon weit öfter über den Weg gelaufen, als mir lieb war. Rein zufällig, versteht sich.“

„Wir haben ja auch rein zufällig ein ähnliches Ziel… irgendwie…“ Shinya kratzte sich hinter einem seiner Katzenohren. „So oder so – wir haben noch zwei Tage Zeit bis zum Vollmond. Was machen wir?“

„Ich hätte da schon so eine Idee…“ Die Dunkelhaarige warf sich den Kopf in den Nacken und blickte lächelnd zu dem weiten blauen Himmelszelt hinauf. „Noch ist Sommer und wir können im Augenblick ja sowieso nichts mehr Sinnvolles machen. Also… was spricht dagegen, dass wir uns hier einfach noch ein bisschen amüsieren?“
 

Shinya stolperte lachend aus der Türe des kleinen Casinos hinaus, das sich verstohlen in eine der dunkleren Gassen von Midras drängte, trotz seiner verborgenen Lage jedoch immer noch überaus gut besucht war.

„Wie der Typ geschaut hat, als Misty ihm das Gold in die Hand gedrückt hat… das war so gut!“ Der Katzenjunge prustete erneut los und musste sich die Tränen aus den Augen wischen, um seine finstere Umgebung wieder klar erkennen zu können.

„Aber wie! Also, ich verstehe gar nicht, wieso der uns rausgeworfen hat, ihr etwa?“, kicherte Hoshi.

„Hm… war es eventuell, weil ihr die anderen Gäste belästigt und den ganzen Betrieb aufgehalten habt? Nein, bestimmt nicht.“

„Noctan!“ Das Mädchen bedachte den Weißhaarigen mit einem strafenden Blick. „Wie kannst du in so einer Situation noch so kalt bleiben?“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte tief. „Das war doch wirklich witzig! Jetzt lach doch auch mal!“

„Ha, ha, ha!“ Noctan verdrehte die Augen. „Ihr versteht es wirklich, eure Aufgabe ernst zu nehmen.“

„Meine Güte! Ernst, ernst, man kann es auch übertreiben mit all dem Ernst! Du…“

„Haben sie etwas Geld für mich, bitte?“ Hoshi wurde von einem dünnen Stimmchen unterbrochen, und als Shinya sich herumdrehte, sah er, dass sich ihnen ein kleines Mädchen genähert hatte, das in ihrem abgetragenen Röckchen und dem ausgebeulten, löchrigen Mantel noch dünner und zerbrechlicher wirkte, als es ohnehin schon war. Ihre Haut war bleich, das dunkelblonde Haar strähnig und ihre glanzlos grauen Augen viel zu groß für das schmale Gesichtchen. Der Katzenjunge schluckte schwer. Es war offensichtlich, dass die Kleine vollkommen arm und höchstwahrscheinlich heimatlos war, und er las in ihrem Blick jene ihm allzu vertraute Angst vor dem nahenden Herbst und den langen Wintermonaten. Er wollte gerade ein paar Kupferstücke aus seinem Beutel hervorkramen, als ihm Rayo zuvorkam.

„Nein, wir haben nichts! Warum müsst ihr Bettler einen eigentlich andauernd belästigen?“ Auf das Gesicht des jungen Adligen trat ein derart wütender Ausdruck, dass die kleine Blonde leicht zusammenzuckte und erschrocken einen Schritt zurückwich.

„Rayo! Wie… wie kannst du so etwas sagen?“ Hoshi starrte den blonden Jungen sichtlich entgeistert an.

„Hey, soll ich jetzt eifersüchtig werden? Normalerweise sind Blicke dieser Art doch für mich reserviert…“ Noctan lächelte kühl, während Rayo unbeirrt und in reichlich trotzigem Tonfall fortfuhr:

„Wie ich so etwas sagen kann? Ich werde nun einmal nicht gerne von derartigen… Kreaturen angebettelt!“ Der Blondschopf verschränkte die Arme vor der Brust und hob sein Kinn ein Stückchen weit an. „Ich kenne dieses Spielchen doch! Man muss nur einen Augenblick Mitleid haben und mit diesen doch so furchtbar armen Straßenkindern sprechen, und schon schleicht sich von hinten irgendein Dieb an und stiehlt einem das Gold aus der Tasche. Wer sagt mir, wofür sie das Geld wirklich brauchen, und… und ob sie überhaupt wirklich so arm sind, wie sie tun? Wie auch immer, das alles ist ganz gewiss nicht meine Sorge, und ich sehe auch nicht ein, warum ich mich mit derartigen Dingen befassen sollte.“

„Rayo!!“ Shinyas Stimme und auch seine Fäuste zitterten vor Wut. „Was soll das? Bist du jetzt komplett durchgeknallt oder wie?“

„Wie redest du eigentlich mit mir?“ Der junge Adlige warf sich sein langes blondes Haar über die Schulter. „Ich… ich habe mich während der Reise noch kein einziges Mal beschwert! Meinst du, es macht mir Spaß, in derart heruntergekommenen Herbergen oder sogar unter freiem Himmel zu schlafen? Ich bin nun einmal… andere Gesellschaft und ganz gewiss auch andere Bewirtung gewohnt, aber habe ich je etwas dazu gesagt? Nun muss ich mir doch wohl nicht auch vorschreiben lassen, was ich zu sagen und zu denken habe, oder?“

„Oder? Oder? Oder? Habe ich eigentlich jemals gesagt, wie sehr mir dein ewiges oder auf die Nerven geht?“ In Noctans Augen trat ein derart zorniges Funkeln, dass selbst Shinya für einen Moment seine Aufregung vergaß und wie mechanisch einen Schritt vor dem Weißhaarigen zurückwich.

„Was soll das heißen, mein ewiges oder?“ In Rayos Stimme trat ein leises Beben, während er mit jedem Wort lauter und aufgebrachter sprach. „Meine Güte! Wenn ich dieser Plage nichts geben möchte, weil ich es langsam mehr als satt habe, andauernd von so etwas belästigt werden, dann ist das mein gutes Recht, und wenn ich jetzt aus dieser schrecklichen Gegend weggehen und etwas essen will, dann muss ich ja wohl nicht extra um die Erlaubnis unseres ach so mächtigen Anführers betteln, oder?! Und wenn…“

Weiter kam der Blondschopf nicht, denn noch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, holte Noctan mit einer blitzartigen Bewegung aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Rayo schnappte nach Luft, riss seine tiefblauen Augen weit auf und legte langsam, wie benommen eine seiner Hände auf den großen roten Fleck, der sich deutlich von der blassen Haut seines Gesichtes abzeichnete.

„Du hast keine Ahnung, wovon du redest!“ Noctans Worte klangen erstaunlich ruhig, aber gerade diese düstere Kälte ließ sie nur noch ungleich bedrohlicher wirken. „Ich will dies, ich will das, oder? Wie kannst du dir in deiner kindischen Arroganz nur einbilden, anderen Menschen Befehle erteilen zu können? Du möchtest nicht um Erlaubnis betteln? Welch Tragik! Du scheinst gar nicht zu merken, was dieses verfluchte oder, nicht wahr, meint ihr nicht die ganze Zeit über aus jedem deiner Sätze macht! Es ist so erbärmlich…“

„Du… du… was bildest du dir eigentlich ein?“ Rayo starrte den jungen Weißhaarigen fassungslos an, während sich seine zitternden Hände ruckartig zu Fäusten ballten. „Du bist der Letzte, der mir etwas zu befehlen hat!“

„Gewiss doch! Aber bei dir ist es natürlich etwas ganz Anderes. Wir fahren auf diese Insel, wir nehmen jenes Boot, aber ich bin leider zu fein zum Rudern, oh Gott, und jetzt belästigt mich auch noch diese niedere Kreatur, ach wie grauenvoll ist doch mein Leben!“ Noctan stieß ein kaltes, gehässiges Lächeln aus, das Shinya unweigerlich einen Schauder über den Rücken jagte. „Weißt du, was ich dir schon lange sagen wollte? Dein wundervoller Adelstitel, den du zufällig trägst, macht alles andere als einen besseren Menschen aus dir und ich habe eigentlich schon seit unserer ersten Begegnung genug davon, ständig mit ansehen zu müssen, dass du dich offensichtlich für genau das hältst. Du tust mir leid, Rayo, du tust mir wirklich leid. Trotzdem muss ich mir das nicht länger antun – da ist mir die Gesellschaft unserer schäbigen Herberge doch ungleich lieber. Kommt… lassen wir dem reichen Kindchen seine Launen…“

Mit einem letzten eisigen Lächeln in Richtung des Blondschopfes drehte er sich um und ging langsam die finstere Gasse hinab. Die Erste, die ihm folgte, war überraschenderweise Misty.

„Noctan… Noctan ist zwar auch nicht nett, aber er hat Recht! Du darfst nicht so gemein zu dem armen Mädchen sein!“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger und in vorwurfsvollem Tonfall, bevor sie eilig wieder die Verfolgung der weißhaarigen Gestalt aufnahm, die mittlerweile hinter einer der vielen Windungen des gepflasterten Weges verschwunden war. Shinya sah ihre kleine Gestalt in den Schatten verschwinden und ging ihr nach, ohne sich noch einmal zu Rayo umzudrehen. Die Worte des jungen Adligen hatten ihn verletzt – und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, ihm genau das nicht persönlich ins Gesicht gesagt zu haben. Nun, da Noctan die Gelegenheit ergriffen und den richtigen Moment genutzt hatte, wusste er nicht, was es noch zu sagen gab, und so schwieg er lieber und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Hotel zurück.

Hoshi war die Letzte, die im grauen Zwielicht zwischen den Hausmauern stehen blieb.

„Das mit dem Mädchen ging wirklich zu weit. Du kannst dir auch nicht alles erlauben, und ich glaube, es schadet dir nicht, mal darüber nachzudenken. Es tut mir leid, aber ich hatte wirklich vergessen, wie unglaublich dumm du doch sein kannst!“

Dann endlich wandte auch sie sich ab und ließ den blonden Jungen allein und ziemlich verloren in dem kleinen, finsteren Gässchen stehen.
 

Rayo verharrte lange an genau diesem Ort und auch genau so, wie ihn die vier jungen Estrella zurückgelassen hatten. Sein Blick war starr auf das harte, von einer dünnen Staubschicht überzogene Pflaster zu seinen Füßen gerichtet. Er fühlte sich wie betäubt, und als er sich dann endlich aus seiner Starre löste und ohne ein Ziel vor Augen durch die verwinkelten Straßen und Sträßchen von Midras schlenderte, waren diese Bewegungen rein mechanisch, beinahe so, als ob sein Körper wie eine lebendige Marionette an unsichtbaren Fäden zwischen Menschen und Häuschen hindurchgezogen würde.

Die Stunden des Tages liefen ebenso wie seine Umgebung als nebliger Film an ihm vorbei, ohne wirklich bis zu ihm durchzudringen. Erst als die untergehende Sonne die unebene Straße in ein rotgoldenes Licht tauchte, erwachte er wieder aus seiner Trance – und noch in derselben Sekunde brachen all die wirren Gedanken, die beinahe unbemerkt und selbstständig ein Netz in seinem Inneren gesponnen hatten, mit überwältigender Klarheit über ihn herein.

Alles, worüber er seit dem weit zurückliegenden Mittag nachgedacht hatte, breitete sich nun wie eine allwissende, lange verschlossen gehaltene Schriftrolle vor ihm aus. Er schlenderte zu dem halbrunden Springbrunnen hin, der inmitten des Marktplatzes sein rötlich glitzerndes Wasser dem brennenden Himmel entgegenschickte, und ließ sich auf dem leicht feuchten Marmorrand nieder. Die dunkelblauen Augen des jungen Adligen streiften etliche Minuten lang wie versunken seine Umgebung und betrachteten jedes Detail mit einer Genauigkeit und Wärme, die ihn selbst ein wenig überraschte.

Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, und je länger er darüber nachdachte, desto leichter fiel es ihm, das einzusehen. Die anfängliche Barriere aus trotzigem Stolz war schon vor Stunden gefallen und hatte einer merkwürdig endgültigen Leere Platz gemacht. Die Worte der alten Seherin Hanako drängten sich wieder in seine Erinnerung zurück.

Wisst ihr nicht, wie viele neue Fragen jede Antwort aufwerfen kann?

Genau diese Erfahrung war es, die ihn während der verschwommenen Nachmittagstunden die ganze Zeit über verfolgt hatte. Jede neue Erkenntnis hatte ihn tiefer in einen Abgrund hineingeführt, den er niemals hatte betreten wollen, wohl besser auch niemals betreten hätte – nun jedoch nicht mehr verlassen konnte. Und jeder Schritt brachte eine neue, quälende Frage mit sich.

Wann hatte es eigentlich angefangen, dass er anderen Menschen stets nur im Weg gestanden war? Wann hatte er aufgehört, das zu bemerken? Vielleicht war es ein glücklicher Zufall, dass er seit seiner Flucht noch nicht einer einzigen Palastwache, nicht einem Soldaten Hoshiyamas begegnet war. Gleichzeitig war er sich beinahe sicher und hatte sich zunächst sogar davor gefürchtet, dass sie ihn binnen weniger Tage finden konnten und mussten, wenn sie es nur wirklich wollten. Rechneten seine Eltern so sehr damit, dass er von sich aus wieder zurückkehren würde? Wahrscheinlich hatten sie noch nicht einmal bemerkt, dass er überhaupt davongelaufen war!

Rayo stieß einen leisen Seufzer aus und warf einen letzten, langen Blick auf die kleine Gruppe spielender Vögelchen, die übermütig auf dem rotgrauen Pflaster des Marktplatzes herumtollten und empört zwitschernd um die letzten Brotkrümel zankten, die von den längst abgebauten Ständen des Morgens zurückgeblieben waren. Dann drückte er sich mit einer energischen Bewegung von dem kalten Brunnenrand ab und steuerte auf eine der schmaleren Gässchen zu.

Was sollte er jetzt nur tun? Er hatte Angst davor, seinen Freunden überhaupt wieder unter die Augen zu treten, davor, dass sie ihm nicht mehr ins Gesicht sehen und sich die zahllosen Entschuldigungen anhören wollten, die er sich im Laufe des Tages zurechtgelegt hatte. Aber wie konnte er denn auch erwarten, dass sie ihn verstehen würden? Es gab Dinge, die sie nicht wussten und besser auch nicht wissen sollten, aber selbst wenn er ihnen alles hätte erklären können… was hätte es denn jetzt noch für einen Unterschied gemacht?

Genau genommen machte doch alles sowieso keinen Unterschied mehr.

Wieder trugen Rayos Füße ihn wie von selbst zu ihrer kleinen Unterkunft, durch die immer noch nicht sonderlich gut besuchte Gaststube hindurch, die Steintreppe hinauf in den ersten Stock und bis zu der schmucklosen Türe ihres schmucklosen Zimmers. Er hob seine Hand, langsam, zögernd – und zog sie dann hastig wieder zurück. Aus irgendeinem Grund wagte er es nicht, anzuklopfen, Noctan und den anderen sein unvermeidliches Eintreten auch anzukündigen. So oder so fürchtete er ihre Reaktion, aber lieber wollte er sie wenigstens im ersten Augenblick noch überraschen, als gleich von abweisenden Gesichtern empfangen zu werden. Mit klopfendem Herzen schloss er seine kalten Finger um den ebenso kalten Türgriff, nahm all seinen Mut zusammen und trat ein.

Der Raum war leer. Die acht Betten lagen wie unbenutzt im rötlichen Halbdunkel des Gruppenzimmers, so als ob niemals ein Mensch den eigentlich viel zu kleinen Raum benutzt hätte. Einzig auf seinem eigenen Kissen lag ein dunkles Lederbeutelchen, das sich wie ein schwarzes Loch von dem hellen Stoffbezug abzeichnete. Und obwohl Rayo augenblicklich begriff, was das verlassene Zimmerchen zu bedeuten hatte, vergingen etliche grausame Minuten, bis er auch wirklich glauben konnte, was seine starren Augen ihm weismachen wollten.

Sie hatten nicht auf ihn gewartet. Seine Freunde waren ohne ihn weitergezogen – und höchstwahrscheinlich waren sie sogar froh und erleichtern, ihn nun endlich los zu sein. Was ihn übrigens auch nicht weiter verwunderte. Sie waren nicht die Ersten und gewiss nicht die Letzten, die so dachten, und überhaupt konnten sie nicht allzu weit gekommen sein und er würde sie auch gewiss noch einholen können. Genau genommen hatte er sogar die Wahl, wen er von jetzt an wieder belästigen wollte – seine Eltern oder seine Mitstreiter, was wohl mehr oder minder aufs Gleiche herauskommen und wohl auf beiden Seiten mit exakt demselben Maß an Freude und Erleichterung begrüßt werden würde, nämlich mit überhaupt keiner.

Rayo schüttelte heftig seinen Kopf und warf sich auf das Bett. Dann packte er das weiche Leder des Geldbeutels und schmiss ihn mit aller Kraft gegen die Wand, wo die Gold- und Silbermünzen mit einem erschrockenen Klirren abprallten und zu Boden fielen. Warum dachte er denn ausgerechnet jetzt an seine Eltern? Warum dachte er überhaupt noch an sie? Manchmal fiel es ihm schwer, sich an das Gesicht seiner eigenen Mutter zu erinnern, und er konnte ohne größere Schwierigkeiten an seinen Fingern abzählen, wie oft er sie in seinem Leben überhaupt schon gesehen hatte. Aber wofür brauchte er denn auch ihr falsches Lächeln, ihre immer gleichen Ausreden, dass es doch alles nur zu seinem Besten wäre, die einzig richtige Vorbereitung auf all die großen Aufgaben, die dem kleinen Rayo noch bevorstehen würden…

Noch lachhafter war doch eigentlich nur, dass er jetzt im grauen Licht der Abenddämmerung einsam und allein auf dem unbequemen Bett eines ärmlichen Rasthauses lag und seine Gedanken ausgerechnet an die Menschen verschwendete, die es wohl von allen Personen auf dem ganzen Planeten am wenigsten verdient hatten! War es nicht noch ungleich schlimmer, dass ihn nun auch noch seine Freunde im Stich gelassen hatten – sofern er sie überhaupt jemals als solche hatte bezeichnen können?

Natürlich war ihm klar, dass er in dieser ganzen Geschichte nicht einfach nur ein armes Opfer war, oh nein, sogar ganz im Gegenteil. Genau genommen konnte er auch nicht einmal mehr wütend sein. Nicht auf seine Gefährten, die sich ohne ein Wort zu sagen, ohne jegliche Nachricht so einfach aus dem Staub gemacht hatten, nicht auf seine Eltern… nicht einmal mehr auf sich selbst. Gleichzeitig begriff Rayo auch, dass er jetzt nicht einfach wieder aufstehen und den Wirt oder sonst irgendwelche Menschen in der Stadt nach seinen Freunden fragen würde, um sich reumütig und verzweifelt an die Fersen der Vorangezogenen zu heften. Er wusste immer noch nicht, wann genau es denn nun eigentlich begonnen hatte, dass er anderen Menschen zur Last gefallen war.

Er wusste lediglich, dass es jetzt und an diesem Abend enden würde.
 

„Das war wirklich gemein! Wir hätten nicht einfach so gehen dürfen…“ Hoshi senkte schuldbewusst ihren Blick, während sie die weiße Steintreppe zu dem Zimmer ihrer Herberge hinaufstiegen.

„Ach komm, der wird sich doch wohl denken können, dass wir nicht einfach ohne ihn abhauen!“ Shinya winkte ab. „Ich kann ja wohl nix dafür, wenn er da irgendwo vor sich hinschmollt, und ich hab schon gar keine Lust, währenddessen hier zu hocken und zu verhungern.“

„Ja, aber… ich weiß nicht…“

„Hoshi – wir haben wirklich lange auf ihn gewartet. Keine Ahnung, wie’s dir ging, aber ich musste echt was essen! Und außerdem…“ Die Lippen des Katzenjungen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Wahrscheinlich hockt er grad auf seinem Bettchen und schmollt vor sich hin, und auf den Anblick kann ich echt gut verzichten!“

„Wahrscheinlich hast du Recht“, seufzte die Lichtmagierin und gestattete sich endlich wieder ein Lächeln, während sie nach vorne trat und die Türe zu ihrem Gruppenzimmer öffnete.

Im nächsten Moment wurde die übliche verschlafene Ruhe ihrer kleinen Herberge brutal von einem gellenden Schrei zerrissen. Shinya sah, wie Hoshi sich beide Hände vor den Mund schlug und konnte schon an dem kleinen für ihn sichtbaren Teil ihrer Wange erkennen, dass schlagartig jegliche Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Ihr Körper bebte, aber sonst bewegte sie sich keinen einzigen Zentimeter mehr nach vorne oder hinten.

„Hoshi? Hoshi was ist denn…“

Shinya trat hinter seine Freundin, um einen besorgten Blick über ihre Schulter zu werfen – und bereute es noch in derselben Sekunde, in der ihn jene durchaus verständliche Neugierde überwältigt hatte. Der Anblick des dämmrigen Raumes erfüllte ihn nämlich etliche eisige Sekunden lang mit der grauenvollen Gewissheit, dass sein Herz ganz einfach aufgehört haben musste, zu schlagen. Da war Rayo und er lag auf seinem Bett, die Augen geschlossen und den Kopf irgendwie merkwürdig zur Seite weggekippt, und groteskerweise hätte Shinya schwören können, dass auf seinen bleichen Lippen tatsächlich ein Lächeln lag. Seine rechte Hand hing leblos von der Matratze hinab, und über die blasse Haut seiner Finger rann in dünnen Fäden tiefrotes Blut, das sich schließlich in einer kreisrunden Pfütze auf dem hellen Boden sammelte.

„Oh bei den Göttern, Rayo… Rayo!!“ Mit einem entsetzten Keuchen stürzte der Halbdämon zu dem Jungen hin, packte ihn bei den Schultern und schüttelte seinen Körper, obwohl er im Grunde genommen wusste, dass er damit nichts mehr erreichen konnte und auch nichts mehr erreichen würde. Aber seine Gedanken schlugen wilde Purzelbäume und er war beinahe froh, als Noctan ihn am Oberarm packte und mit einem brutalen Ruck von dem jungen Adligen wegriss.

„Idiot!“, stieß der Weißhaarige leise hervor, und Shinya war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, an wen diese (in jedem Fall aber gerechtfertigte!) Beleidigung nun eigentlich gerichtet sein sollte. „Wir dürfen jetzt bloß nicht in Panik geraten, das nützt uns nämlich rein gar nichts. Wir sollten lieber… ah, genau…“

Mit einer raschen und sicheren Bewegung, die den Katzenjungen aus irgendeinem Grund ganz fürchterlich erschreckte, griff Noctan nach seinem Kissen und schnitt den weißen Stoff in breite Streifen, während Misty lautstark in Tränen ausbrach.

„Rayo, nein… nicht sterben!“ Die Stimme des Mädchens wurde beinahe von heftigem Schluchzen erstickt. „Es tut Misty leid, hörst du! Misty… Misty war gemein! Nicht… nicht einschlafen, bitte nicht einschlafen!“

„Niemand stirbt hier, verstanden? Und jetzt sei um Gottes Willen endlich still!“ Erst als Noctan endlich begann, die Stoffstreifen fest um die tiefen, heftig blutenden Schnitte zu wickeln, die sich quer über Rayos Handgelenke zogen, bemerkte Shinya überhaupt, wie heftig die Hände des Weißhaarigen tatsächlich zitterten.

„Ich… ich kann jetzt versuchen, die Blutung zu stoppen!“ Hoshi kniete sich neben den blonden Jungen, den Blick auf die improvisierten Verbände oder auch mitten durch sie hindurch gerichtet, das konnte der Halbdämon nicht mehr so genau erkennen. Sie legte ihre Hände um die notdürftig versorgten Wunden und schloss die Augen. Shinya sah auf ihrem totenbleichen Gesicht, wie sie um Konzentration rang, doch nur ein sehr schwaches Leuchten legte sich um ihre bebenden Finger. „Es… es tut mir leid. Ich schaffe einfach nicht mehr…“ Als sie ihren Kopf dem Boden zuwandte, lag ein unendlich müder Ausdruck in ihren dunklen Augen. „Jetzt können wir nur noch warten… dass er… bis er aufwacht.“

Nach allem, was Shinya in den vergangenen Wochen erlebt hatte, war er sich doch niemals ganz im Klaren darüber gewesen, wie unendlich langsam die Zeit eigentlich vergehen konnte. Schweigend, fast wie versteinert saßen die vier jungen Estrella an Rayos Bett, während sich draußen auf dem Marktplatz das Zwielicht der Abenddämmerung ausbreitete. Der Katzenjunge hielt Hoshi im Arm, die wiederum hatte die dann und wann leise vor sich hinschluchzende Misty bei der Hand genommen. Noctan saß auf einem anderen Bett und starrte mit ausdrucksloser Miene auf die reglos daliegende Gestalt des jungen Adligen.

„Lebt er… überhaupt noch?“, fragte Hoshi irgendwann mit tonloser Stimme.

„Solltest nicht ausgerechnet du mit deinen großartigen Heilkräften für genau das sorgen?“, fuhr Noctan das Mädchen in einem derart scharfen Tonfall an, dass Shinya ihren Körper wie unter einem Schlag zusammenzucken spürte.

„Mann, Noctan… das hier is doch nich Hoshis Schuld, also lass es gefälligst nich an ihr aus!“ Shinya zog seine Freundin noch ein bisschen enger an sich und zwang sich dazu, Noctan strafend in die merkwürdig flackernden Augen zu sehen.

„Nicht streiten!“ Misty schüttelte heftig ihren Kopf. Wieder lief ein Beben durch ihre Unterlippe, und Shinya beeilte sich, beschwichtigend in ihre Richtung zu nicken.

„Ich weiß. Wir… wir sollten wirklich nicht streiten… nicht ausgerechnet jetzt…“

„Dann hört um Gottes Willen endlich auf, andauernd vom Sterben zu reden!“

„Aber wir machen uns doch auch nur Sorgen, Noctan.“ Hoshi senkte ihren Blick. „Ich wünschte, wir könnten noch irgendetwas tun…“

„Misty will aber nicht, dass Rayo stirbt!“ Wieder erzitterte der Körper der Kleinen von unterdrücktem Schluchzen und einige dicke Tränen kullerten über ihre fleckig roten Wangen.

„Jetzt fang doch nicht schon wieder damit an!“

„Und du hör auf, Misty anzuschreien!“, entgegnete Shinya in nicht unbedingt viel leiserem und ruhigerem Tonfall. „Sie kann ja wohl am wenigsten dafür!“

„Ach? Was soll denn das nun wieder heißen?“ Noctan erhob sich mit einem Ruck und trat mit einem durchaus bedrohlichen Glühen in den Augen auf den Katzenjungen zu. Trotzdem oder gerade deswegen verspürte dieser keinerlei Angst mehr vor dem Weißhaarigen, als er nämlich begriff, dass er Noctan noch niemals so kurz davor erlebt hatte, vollkommen seine Fassung zu verlieren. „Lasst mich raten, ihr meint wieder einmal, dass…“

„Wo… wo bin ich?“

Der Weißhaarige verstummte schlagartig, als sich eine leise, kraftlose Stimme in das langsam aber sicher eskalierende Wortgefecht der wartenden Estrella mischte. Und auch Shinya wandte sich beinahe augenblicklich von dem jungen Krieger ab und stattdessen dem rot befleckten Bett zu, auf dem Rayos blasse Gestalt unter einer dicken weißen Decke ruhte.

„Rayo?!“

Der blonde Junge hob seinen Kopf ein Stück weit an und blinzelte müde und sichtlich verwirrt in seine ungefähre Richtung.

„Du… du bist wach! Endlich!“ Shinya spürte, wie sich Hoshis Brust in einem tiefen, erleichterten Atemzug hob und wieder senkte. „Du bist…“

„Du bist ein verdammter Feigling, weißt du das eigentlich? Solch eine unbeschreiblich… absurde Idee hätte ich wohl nicht einmal mehr dir zugetraut, und das möchte schon etwas heißen!“ Noctans Stimme hatte wohl herablassend und vorwurfsvoll klingen sollen, und auf eine gewisse Weise tat sie das sogar, aber irgendwo dahinter lag noch etwas anderes, das Shinya nicht so richtig einordnen konnte und wollte. Ob Rayo dieses Etwas nun bemerkte, wusste er nicht, jedenfalls zuckte der junge Adlige lediglich kurz zusammen und rappelte sich dann reichlich unbeholfen auf.

„Ich… es tut mir so leid“, murmelte er, ohne dabei aufzublicken. „Ich wollte doch nicht… ich dachte… ich… wollte euch einfach nicht mehr länger… zur Last fallen…“

„Eine wahrhaft grandiose Idee. Das nenne ich konsequent!“ Der weißhaarige Junge schüttelte den Kopf und warf sich sein langes, lose zusammengebundenes Haar über die Schulter. „Aber du musst längs schneiden, Rayo, nicht quer… der übliche Anfängerfehler.“

„Noctan!“ Hoshis Stimme glich einem entsetzten Keuchen. „Das… das finde ich wirklich nicht lustig!“

„Lustig? Nein, so war es eigentlich auch nicht gemeint.“ Noctan fand tatsächlich langsam wieder zu seinem üblichen kalten Tonfall zurück, während seine violetten Augen weiterhin rastlos durch das Halbdunkel ihres kleinen Zimmers streiften. „Ich versuche lediglich, die Beweggründe unseres ach so ehrenhaft adligen Meisters des Feuers zu begreifen, die ihn zu dieser durch und durch widersinnigen, wenn auch zugegebenermaßen reichlich unerwarteten Tat getrieben haben.“

„Das… das müsstest du doch am Besten wissen, oder?“, antwortete der junge Adelige leise und nach wie vor mit gesenktem Blick.

„Ach ja? Müsste ich das?“ Noctan senkte lauernd seinen Kopf. „Aber natürlich. Ich verstehe. Du teilst also auch die allgemeine Ansicht, dass das alles hier wieder einmal meine Schuld ist?“

„Noctan!“, zischte Hoshi den Weißhaarigen an. „Kannst du nicht ein einziges Mal in deinem Leben an etwas anderes denken als an dich?!“

„So… so habe ich das doch nicht gemeint!“ Rayo hob beschwichtigend die Hände, aber der Weißhaarige schien auf einlenkende Diplomatie offensichtlich keine große Lust zu verspüren und durchbohrte den Blondschopf lediglich mit einem ganz besonders kalten Blick.

„Ach nein? Und woher dieser plötzliche Sinneswandel? Nur zu, sprich aus, was du… was alle hier denken! Es ist doch immer meine Schuld, egal was passiert, oder? Dieser ganze verdammte Planet könnte im Meer versinken und auseinander brechen und ich bin mir sicher, irgendwo stünde eine Hoshi mit diesen großen vorwurfsvollen Augen und wer wär dann im Endeffekt Schuld an dem ganzen Unglück? Genau. Aber von mir aus – ich hatte es natürlich darauf angelegt, dich umzubringen, Rayo, dass du es nicht schon längst gemerkt hast! Ich…“ Er stockte. Die Brust des jungen Weißhaarigen hob und senkte sich rasch, während sich irgendetwas in seinem Blick auf eine seltsame Art und Weise veränderte, die Shinya vielleicht sogar noch mehr als alles Zurückliegende verwirrte. „Verzeiht, dass ich wieder einmal die ganze Zeit über nur an mich gedacht habe, während ihr unfassbar ehrbaren Geschöpfe damit beschäftigt wart, euch Sorgen zu machen!“

Mit einer ruckartigen Bewegung wandte Noctan den Kopf ab und stapfte aus dem grauen Halbdunkel des schmucklosen Herbergszimmers. Wäre Shinya nicht sowieso schon mehrere Minuten lang sprachlos gewesen, so hätte es ihm spätestens jetzt endgültig die Sprache verschlagen, und er sah sich zu nichts anderem mehr imstande, als starr auf die zitternde Türe zu blicken, die soeben mit einem lauten Knall hinter dem Weißhaarigen ins Schloss gefallen war.

„Noctan…“

„Hey, Rayo, mach dir wegen ihm mal keine Gedanken. Sag lieber, wie fühlst du dich?“

Rayo beantwortete Hoshis Frage mit einem kraftlosen Schulterzucken.

„Ich… bin müde…“ Er schloss die Augen und ließ sich zurück in die zerwühlte Masse seines Kissens sinken. „Was müsst ihr jetzt nur von mir denken…“

„Hör auf!“ Shinya nahm all seinen Mut zusammen und löste sich vorsichtig und nicht ohne einen kurzen Moment des Bedauerns von Hoshi, um stattdessen auf der Bettkante neben dem jungen Adligen Platz zu nehmen. Er hasste Situation wie diese, und vielleicht lag es nur an dem lähmenden Schrecken, der immer noch von jeder Faser seines Körper Besitz ergriffen hatte, dass er es jetzt tatsächlich fertig brachte, eine Hand auf Rayos Schulter zu platzieren und auf mehr oder minder aufmunternde Weise seine Lippen zu verziehen. „Wir waren ja auch irgendwie blöd, vorhin… ich meine… das war doch nur ein dummer Streit und das passiert halt mal und… lass so was in Zukunft einfach bleiben, ja?“

„Ich habe schon verstanden.“ Der junge Adelige rang sich ein vorsichtiges Lächeln ab und nickte langsam, die dunkelblauen Augen halb geschlossen. „Es… lag auch nicht nur an euch… denkt… einfach nicht mehr darüber nach. Es ist in Ordnung, ich… es lag nicht an euch. Belassen wir es dabei.“

„Ist… ist gut…“ Hoshi nickte, obwohl Shinya in ihren dunklen Augen einen deutlichen Widerwillen lesen konnte. Die Reaktion des Mädchens überraschte ihn, und erst wenige stumme Sekunden später begriff er, dass Hoshi nicht einfach nur wieder einmal besonders diplomatisch sein wollte, sondern dass in dieser Situation selbst ihr die richtigen Worte fehlten. „Aber… sagt mal… vielleicht sollten wir ja doch mal sehen, was… was Noctan macht… ich meine, er… er…“

„Er war merkwürdig“, stellte Shinya an Stelle der Lichtmagierin fest. „Ja, das fand ich auch.“

„Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich ja sagen, er… er macht sich… Vorwürfe. Und eigentlich… eigentlich… weiß ich’s auch gar nicht besser.“ Die Dunkelhaarige nahm einen tiefen Atemzug von der staubigen Zimmerluft. „Ich finde, wir sollten ihn suchen gehen.“

„Ich weiß nicht…“ Shinyas Finger zeichneten zusammenhangslose Wellenlinien auf den glatten Stoff der Bettdecke. „Meinst du nicht, er will jetzt lieber allein sein? Sonst wär er ja wohl nicht gegangen!“

„Ach, da wäre ich mir gar nicht mal so sicher…“ Hoshi legte ihren Kopf ein bisschen schräg, was ihr Lächeln auf wundersame Weise sogar noch ein wenig sanfter erscheinen ließ. „Rayo, du musst dich jetzt aber auf jeden Fall ausruhen. Schau nicht so besorgt… wir machen das schon. Immerhin wollen wir Noctan ja nicht gleich wieder an seinen hübschen Haaren zurück aufs Zimmer zerren. Wir muntern ihn nur ein wenig auf, so ganz dezent und unaufdringlich, und dann verschwinden wir wieder.“ Sie lachte. „Das ist doch halb so wild – wir müssen eben nur ein bisschen einfühlsam sein!“
 

Angespanntes Schweigen lag über dem milchig warmen Licht der weißen Kerzen, die mit einfachen Messinghaltern an der Wand des Treppenhauses befestigt waren. Shinya ging voran, obwohl er nicht zum ersten Mal seit Beginn seiner Reise von dem unangenehmen Gefühl erfüllt war, den richtigen Weg von ihnen allen am wenigsten zu erahnen. Er strich sich durch sein braunes Haar und trat dann durch die niedrige Türe aus dem Duftgemisch der Gaststube in die drückend schwere Abendwärme der schmalen Gassen Midras’ hinaus.

„Wo sollen wir jetzt eigentlich hingehen?“, seufzte der Katzenjunge und warf einen kurzen Blick über die Schulter zu Hoshi und Misty zurück, während seine Füße wie von selbst den Weg zum großen Marktplatz hin einschlugen.

„Ach, am besten schauen wir uns erst mal hier in der Gegend um, bevor wir uns darüber große Sorgen machen!“, entgegnete Hoshi mit einem Schulterzucken.

„Ganz so genau wollte ich es dann doch nicht wissen…“ Shinyas Laune sank mit jedem Schritt, der ihn durch das blaugraue Halbdunkel und schließlich auf den immer noch erstaunlich belebten Platz hinausführte. Seine Finger waren in ein nervöses Spiel vertieft. „Das bringt doch alles nichts! Bestimmt verkriecht er sich irgendwo im hinterletzten Winkel dieser verflucht überfüllten Stadt und bei unserem Glück sind wir dann Morgen noch am Suchen, oder noch besser, wir latschen hier solange rum, bis die vierte Vollmondnacht vorbei ist und dann sitzen wir noch einen ganzen Monat in…“

„Schaut mal, da vorne ist er!“, lachte Hoshi vollkommen ehrlich und fröhlich, was Shinya unbegreiflich war, und deutete mit einem vergnügten Blitzen in den dunklen Augen auf eine Gestalt, die sich etwa zwei oder drei Meter vom Platz entfernt in einer ganz besonders dunklen Gasse niedergelassen hatte und so beinahe mit dem bleichen Schattennetz verschwamm. Sie hatte die Beine an den Körper gezogen und den Kopf auf den Knien platziert, und aus irgendeinem Grund weckte dieser Anblick im Inneren des Katzenjungen schlagartig das beinahe unwiderstehliche Bedürfnis, auf dem Absatz kehrt zu machen und davonzulaufen, irgendwohin und zwar möglichst weit weg. Shinya seufzte ergeben und folgte nur äußerst zögerlich dem braunhaarigen Mädchen, das mittlerweile in ungetrübter Zielstrebigkeit an ihm vorbeigezogen war.

„Noctan?“ Hoshis Stimme war ebenso sanft wie das Lächeln auf ihren Lippen. „Wir… wollen gar nicht lange stören, aber wir haben nach dir gesucht, weil…“

„Noctan, sag mal, heulst du?“, fiel Misty der Dunkelhaarigen lautstark krähend ins Wort und schloss mit enthusiastisch blitzenden Augen eilig zu ihr auf. Shinya las in Hoshis Gesicht überdeutlich den nur wohl mühsam unterdrückten Impuls, das kleine Mädchen mit einem gezielten Tritt postwendend wieder zurück auf ihr Hotelzimmer zu befördern, und plötzlich konnte auch er sich ein sogar überaus breites Grinsen nicht mehr verkneifen. Schon weitaus entspannter als noch vor wenigen Augenblicken trat er an die Seite seiner Freundin, die sich mittlerweile neben Noctan auf dem staubig grauen Kopfsteinpflaster niedergelassen hatte.

„Was ich vorhin gesagt habe, tut mir leid“, erklärte sie versöhnlichem, fast schon ein wenig beschämtem Tonfall. „Die Situation war einfach total angespannt, weil wir uns alle Sorgen gemacht haben, und… ich hab wohl irgendwie die Nerven verloren.“

„Würdet ihr mich dann eventuell auch wieder in Ruhe lassen?“, grummelte Noctan zwischen seinen verschränkten Armen hervor und rutschte demonstrativ ein paar Zentimeter zur Seite.

„Keine Angst – wir hauen gleich wieder ab!“ Hoshi lächelte. „Ich wollte dir nur noch sagen, dass keiner von uns dir irgendwelche Vorwürfe macht. Keine Ahnung, ob’s dich interessiert, aber du solltest das trotzdem wissen.“

„Na, grandios…“

„Find ich nämlich auch! So, und das war dann auch schon alles und wir sind sofort wieder weg. Du wirst es dir ja denken können, aber wir warten dann einfach im Herbergszimmer auf dich. Wir müssen morgen sowieso nicht früh aufstehen, also lass dir ruhig Zeit.“ Sie erhob sich mit einer lautlosen Bewegung. „Dann also spätestens bis morgen, Noctan!“

Mit zufriedener Miene schlenderte das Mädchen an Shinya vorbei, der ihr mit großen Augen und offenem Mund hinterher blickte.

„Mann, Hoshi, du hast ja echt mal Talent für so was!“, stellte der Katzenjunge schließlich fest, nachdem er einen angemessenen Sicherheitsabstand zu dem Weißhaarigen eingenommen hatte, und stieß ein perplexes Lachen aus. „Er hat dir ja doch nicht den Kopf abgerissen. Nicht einmal einen Arm!“ Der Katzenjunge zwinkerte Hoshi grinsend zu. „Weißt du was? Du solltest Erzieherin werden! Oder Mutter.“

Die Dunkelhaarige errötete leicht und wandte sich hastig wieder an Misty.

„Ähm, übrigens: Wenn du das nächste Mal unsensibel sein möchtest, solltest du vielleicht noch ein klein wenig lauter schreien. Ich glaube, die fahrenden Händler bei den Pferdetränken dort hinten haben dich noch nicht verstanden.“

Wie nicht anders zu erwarten sprachen Mistys weit aufgerissene Augen Bände davon, dass sie wieder einmal überhaupt nichts verstand, und obwohl Shinya das noch vor wenigen Minuten auf gar keinen Fall für möglich gehalten hätte, erheiterte ihn dieser Anblick doch ungemein.

„Hat Misty etwas Falsches gesagt? Ist Hoshi jetzt böse mit ihr?“

Die Lichtmagierin musste lachen.

„Keine Angst, Misty, das bin ich nicht. Aber von Noctan solltest du dich in nächster Zeit wohl lieber fernhalten…“

Natürlich war Misty nach diesen Wort nicht weniger ratlos als zuvor, folgte Shinya und Hoshi aber dennoch bereitwillig in ihre bescheidene kleine Unterkunft zurück. Der Katzenjunge war überrascht zu sehen, dass sich die Gaststube mittlerweile sogar einigermaßen gefüllt hatte, doch ausnahmsweise empfand er den Anblick der zahlreichen Menschen sogar als überaus beruhigend. Das Klirren von Humpen, vermischt mit vielstimmigem Gemurmel und ungeniert lautem Lachen durchdrang die stickig warme Luft, und plötzlich spürte Shinya, wie müde er eigentlich war.

Die Aufregung der vergangenen Stunden war keineswegs spurlos an ihm vorübergegangen. Er war sogar beinahe noch erschöpfter als nach ihrem langen Marsch in der vergangenen Nacht, und trotz der Wärme kuschelte er sich nur allzu gerne unter die wohlige Schwere seiner schneeweißen Daunendecke. Rayo schlief bereits und Hoshi löschte das Licht, kaum dass er und Misty in ihren Betten lagen. Danach wurde es still. Keiner sprach mehr ein Wort und Shinya war sich sicher, bereits nach wenigen Sekunden in einen tiefen Schlaf zu fallen.

Gute zweieinhalb Stunden später musste er sich dann schließlich eingestehen, dass es sich dabei wohl doch eher um einen Irrtum gehandelt hatte. Denn obwohl der Körper des Katzenjungen unendlich erschöpft war, viel zu erschöpft, um auch nur einen einzigen Finger zu rühren, war sein Geist doch hellwach und obendrein auch eifrigst mit zahlreichen überflüssigen Dingen beschäftigt. Beispielsweise, sich auf etwa fünfhundertsiebenunddreißig verschiedene Arten vorzustellen, was Shinya denn alles tun und sagen beziehungsweise nicht tun und nicht sagen können, um genau das zu vermeiden, was doch längst schon geschehen und folglich sowieso nicht mehr rückgängig zu machen war.

Außerdem zeigte er ihm wieder und wieder dieselben Bilder, die er eigentlich nicht ein einziges Mal hatte sehen wollen, Bilder aus Rot und Weiß und noch mehr Rot, und der Katzenjunge hätte seine Gedanken wohl tatsächlich zu hassen begonnen, wären sie ihm nicht schließlich doch noch auf eine vollkommen unerwartete Weise von Nutzen gewesen. Immerhin machten sie ihn zum Zeugen eines kurzen und merkwürdigen Schauspiels, das zwar eigentlich vollkommen unspektakulär vonstatten ging, ihm aber trotzdem überaus gut im Gedächtnis haften bleiben sollte.

Irgendwann hörte Shinya nämlich, wie sich die Türe öffnete, und da er ja wusste, um wen es sich bei dem nächtlichen Eindringling handeln musste, beließ er es bei einem unauffälligen, verstohlenen Blick in Richtung des niedrigen Eingangs. Er konnte Noctans Gesicht im silbrigen Spiel aus Mondschein und Schatten nicht genau erkennen, da er den Kopf leicht gesenkt hielt. Er bewegte sich vollkommen lautlos, und der Katzenjunge erkannte sofort, dass er im Schleichen sogar sehr geübt sein musste. Das nächtliche Blau zerfloss in einem ganz eigentümlichen Schimmer auf den langen Strähnen seines weißen Haares.

Neben Hoshis Bett kam Noctan plötzlich zum Stehen und blickte auf eine Weise darauf hinab, die Shinya unmissverständlich klarmachte, dass auch die Dunkelhaarige noch wach sein musste. Er verharrte kurz und reglos in dieser Position, dann bewegten sich seine Lippen kaum merklich und formten ein einziges Wort, das der Halbdämon allerdings nicht verstehen konnte. Hoshi nickte, und im nächsten Moment setzte sich auch Noctan wieder in Bewegung und schlich auf seine eigene Schlafstätte zu.

„Schlaft gut, Noctan“, flüsterte das Mädchen, dann drehte sie sich auf die andere Seite und Shinya sah, dass sie lächelte. Hastig schloss er die Augen, bevor Hoshi seine Blicke bemerken konnte, und stellte sich schlafend. Wieder war und blieb es still, und diesmal sollten kaum mehr fünfzehn Minuten vergehen, bis der Katzenjunge endlich eingeschlafen war.
 

Der formlose Sonnenball verschmolz am Horizont langsam mit dem rotgoldenen Flickenteppich der weiten Ebene. Ein sanfter, kaum spürbarer Wind bewegte die flammenden Spitzen der Grashalme und wiegte sie in den Schlaf, bevor ein weiteres Mal die Nacht über das Land hereinbrechen würde. Shinya seufzte leise und zufrieden. Er liebte diese Sonnenuntergänge und es faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue, wie ruhig und verträumt die Natur doch wirken konnte. Diese Momente zwischen Tag und Nacht erinnerten ihn an den nahenden Herbst und doch gleichzeitig auch an den vergehenden Sommer, und beides zusammen war ganz unbeschreiblich wunderbar. Doch wie immer gingen diese verzauberten Augenblicke auch an diesem Abend viel zu schnell wieder vorbei, und ehe sich der Katzenjunge versah, war die Dämmerung über das Land gekrochen und das warme Glühen im fahlen Licht des Mondes verblasst.

„Sagt mal, Leute…“, murmelte er, um sich von dem leise in ihm aufflackernden Anflug von Melancholie abzulenken, „glaubt ihr eigentlich, da kommt dann wirklich so ein Geisterschiff angefahren und nimmt uns mit?“

„Uns bleibt wohl keine andere Wahl, als es zu versuchen, oder?“ Rayo hob die Schultern. „Sonst hätten wir uns diesen Weg im Übrigen auch sparen können.“

„Also, ich fand diese Seherin doch ziemlich überzeugend“, lächelte Hoshi in altgewohnter Zuversicht. Shinya glaubte zwar eigentlich nicht einmal, dass es ihr damit wirklich ernst war, fühlte sich aber trotzdem irgendwie aufgemuntert. „Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich bei ihr das Gefühl, die Frau weiß, wovon sie spricht!“

„Selbstverständlich!“ Noctan legte seinen Kopf in den Nacken. „Wenn sich solch eine abgehalfterte Zauberin die Augen verbindet, mit ihrem reizenden Kinderstimmchen herumorakelt, dann irgendwie die Luft gefrieren lässt und überhaupt eine wundervoll dramatische Show abliefert, hey, die ist natürlich nicht verrückt – die hat Ahnung von ihrem Fach!“

„Halt! Wir wollen doch nicht gleich wieder mit Schwarzsehen anfangen!“ Hoshi hob lachend ihren Zeigefinger.

„Wieso Schwarzsehen?“ Der junge Weißhaarige machte eine abwehrende Geste. „Ich sagte, die Frau hat Ahnung von ihrem Fach, und das meinte ich auch so. Vorausgesetzt, wir gehen davon aus, dass sie hauptberuflich damit beschäftigt ist, Heil suchenden Pilgern das Geld aus der Tasche zu ziehen.“

„Von uns hat sie jedenfalls keine Bezahlung verlangt“, beharrte das Mädchen, nicht ohne einen Anflug von Trotz in der Stimme. „Ich zumindest glaube ihr… und vor allem würde ich zu gerne wissen, was passiert, wenn man während der Fahrt dann doch mal aus dem Fester kuckt…“

„Erstens heißt das Bullauge und zweitens… was soll denn schon passieren? Kommt der große böse Wassergeist und frisst uns auf?“ Noctans Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Für mich klingt das alles stark nach einem Schauermärchen, mit dem man vielleicht kleinen Kindern Angst einjagen kann…“ Sein Blick wanderte zu Misty hin, die sich am Wegesrand hingekniet hatte, um einige Blümchen auszurupfen. „…aber nicht mir. Wenn ihr mich fragt… jedes alte Schloss braucht sein Gespenst, so wie jedes Meer sein Geisterschiff braucht. Das verleiht ihm eben einen gewissen… Status.“

„Hey, wir werden ja bald sehen, was passiert!“, grinste Shinya, obwohl ihm immer noch etwas wehmütig zumute war. „Und selbst wenn das alles nur ein schlechter Witz oder eine nette Gruselgeschichte ist, dann haben wir wenigstens einen hübschen Spaziergang hinter…“

„Daaaaaa! Da, da, da, da! Die Steine!! Und das Meer und die Bucht!“, fiel Misty dem Katzenjungen aufgeregt kreischend ins Wort und stürmte übermütig und ohne zu zögern den überaus steilen, felsigen Abhang hinunter, der sich zu ihrer Rechten aufgetan hatte. An dessen Ende verbarg sich eine jener kleinen Buchten, wie sie sich mit weißem Sand und hellen Felsen hundertfach und doch immer wieder einzigartig schön an die Küste der silvanischen Flatlands reihten.

„Grüß die Totengöttin von mir, wenn du dir das Genick brichst!“, rief Noctan dem Mädchen kopfschüttelnd hinterher und verdrehte die Augen. Hoshi lächelte nur.

„Na? Hab ich’s nicht gleich gesagt? Eine Bucht hätten wir schon mal gefunden!“

Shinya nickte versunken und ließ seinen Blick zu der mit kurzem, bräunlichem Gras bewachsenen Anhöhe hinüberwandern, die sich wie ein felsiger Finger dem schweren Nachthimmel entgegenstreckte. Drei beinahe gleich große Steinnadeln ragten aus dem kargen Flecken Land hervor, und obwohl der kreisrunde Mond dann und wann seine liebe Mühe hatte, den zerrissenen Wolkenschleier mit seinem bleichen Licht zu durchdringen, zeichneten sich die Drillingsschatten doch deutlich von dem schneefarbenen Sandbett ab.

„Langsam entartet dies hier wirklich zu einer sehr, sehr schlechten Geistergeschichte!“ Noctan bedeckte einen Augenblick lang das Gesicht mit seinen Händen. „Aber mal abgesehen von der… absurden Geschmacklosigkeit dieser Situation… was tun wir jetzt?“

„Jetzt machen wir’s Misty nach und gehen alle brav zum Wasser hinunter und warten!“, strahlte Hoshi und nahm – weitaus vorsichtiger als ihre kleine Freundin – den sogar überaus rutschigen Abstieg in Angriff. Shinya seufzte leise und folgte der Lichtmagierin mit mäßiger Begeisterung.

Der Weg in die Tiefe erforderte seine ganze Konzentration, denn obwohl der Katzenjunge alles andere als ungeschickt war, offenbarte der unbewachsene Abhang mit all seinen losen Steinen und bröckelnden Erdmassen eine derartige Vielzahl an Stolper- und Rutschfallen, dass Shinya seine liebe Mühe hatte, heil und auf beiden Füßen in der schmalen Bucht anzukommen. Er war heilfroh, als er endlich den weichen und vor allem herrlich ebenerdigen Sand unter seinen Füßen spürte – wandte seinen Blick dann aber beinahe sofort wieder zu den drei alles überragenden Steinsäulen hin, deren pechschwarze Ebenbilder langsam über den Strand zum Meer hin krochen.

„Was sollen das überhaupt für Felsen sein?“, murmelte er und legte sich eine Hand ans Kinn. „Die sehn irgendwie auch nicht aus, als ob die zufällig da oben stehn würden…“

„Ich denke, das ist eine Art… Opferstätte“, entgegnete Noctan ungerührt. „Wahrscheinlich irgendein verbotener Kult, der sich von unseren dreizehn feinen Göttern abgewandt hatte. Ein idealer Platz für Rituale und Zeremonien. So etwas ist den einfachen Menschen doch prinzipiell schon mal suspekt – wahrscheinlich kommen aus diesen Tagen auch die ganzen Schauermärchen von wegen Totenschiff und so weiter…“

„Ist doch egal! Hier ist es jedenfalls… wunderschön…“ Hoshi seufzte verzückt und begutachtete ihre Umgebung mit leuchtenden Augen. Auch Shinya bemerkte nun zum ersten Mal wirklich, wie unglaublich idyllisch der gut verborgene Ort tatsächlich war. Auf dem weißen Sand hatte das Mondlicht silbernen Staub ausgebreitet, in den das Wasser mit sanften Wellen schimmernde Muster zeichnete. Die weißen Felsen, die den Zugang zur Bucht so unangenehm erschwert hatten, rahmten das kleine Stück Paradies nun wie hohe Schutzwälle ein und vermittelten unwillkürlich ein Gefühl von unendlich beruhigender Sicherheit.

„Wenn wir aus Lluvia wieder da sind, dann will Misty hier uuuunbedingt baden gehen!“ lachte das Mädchen und ließ sich vergnügt jauchzend in den weichen Sand fallen.

„Na, das nenn ich ein Angebot!“, erwiderte Shinya grinsend. „Hier komm ich jedenfalls gern mal wieder her, is ja immerhin schön ruhig und…“

„Es ist hier.“

In Rayos Stimme lag ein unterschwelliges Flackern, ein kalter Hauch von Angst, der Shinya augenblicklich verstummen und aufblicken ließ. Beinahe noch im selben Moment verblasste auch jegliches Gefühl von Geborgenheit und Idylle und wich einem unangenehm beklemmenden Nebel leisen Grauens. Und das, obwohl der Katzenjunge natürlich eigentlich damit gerechnet, ja sogar gehofft hatte, genau das zu sehen, was er jetzt sah, auf der anderen Seite aber irgendwie auch nicht, in jedem Fall fühlte er sich nun derart überrumpelt davon, dass es ihm schier den Atem raubte.

Hinter der grauweißen Felsenwand schob sich langsam der pechschwarze Bug einer großen Barke hervor. Die wohl ehemals überaus prächtige Galionsfigur starrte nunmehr aus leeren, weit aufgerissenen Augen in die Nacht hinaus, entstellt und halb verwest wie die hölzerne Leiche einer bösartigen kleinen Meerjungfrau. Ein trüber, feuchtklebriger Nebel umhüllte die morschen Holzplanken, und dort, wo sie durch die Wasseroberfläche durchschnitten, breiteten sich schwarze Schlieren in den stummen Wellen aus.

Shinya spürte, wie ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken lief, fast so, als ob sich ein paar Tropfen des nächtlichen Meerwassers unter den Stoff seines Oberteiles gestohlen hätten. Erst jetzt, als der Schrecken über das plötzliche Auftauchen des finsteren Schiffes sich zumindest wieder ans Abklingen machte, fiel ihm überhaupt erst der eigentliche und wohl größte Fehler an der ganzen Sache auf: Der mächtige Bug schlug keine Wogen im nachtschwarzen Ozean. Präzise wie ein hölzernes Beil zertrennte die Barke die schlafenden Fluten, ohne Bewegung in den dunklen, weiten Wasserspiegel zu bringen.

Der Halbdämon schluckte schwer.

„Das… das ist doch…“, murmelte er und brach dann ab, weil ihm sowieso keine sinnvollen Worte mehr einfallen wollten.

„Jetzt müssen wir also… warten bis es anlegt“, flüsterte Hoshi atemlos, während ihre Finger nach Shinyas Hand tasteten. Der Katzenjunge nahm den Halt bereitwillig an und brachte als Antwort nicht mehr als ein stummes Nicken zustande. Allerdings hüllte sich in diesem Moment selbst Noctan in Schweigen, die kalten Augen ein Stückchen größer als gewohnt, und das tröstete Shinya doch ungemein.

Leider änderte die kollektive Sprachlosigkeit nicht unbedingt sonderlich viel daran, dass die folgenden Sekunden wie in Zeitlupe verstrichen, während sich das Geisterschiff mit grotesk majestätischer Bedächtigkeit der weißen Küste näherte. Es dauerte unbeschreiblich lange, bis die Barke endlich den verschlafenen Strand erreicht hatte, und Shinya ertappte sich einen Moment lang bei dem Gedanken, warum das große Schiff eigentlich nicht auf dem niedrigen Grund auflief. Doch natürlich musste sich ein Geisterschiff nicht an gleich welche Naturgesetze halten, und so ruhte das schwarze Holz nur wenige Zentimeter über dem silbrigen Sand und vergiftete das schimmernde Wasser, ohne jedoch selbst einen Schatten darauf zu werfen.

Ein ganz anderer Schatten hatte dafür mittlerweile die kalten Fluten erreicht – die finsteren Abbilder der Drillingssteine, deren Konturen aber nicht am Rande der Wellen abbrachen, sondern sich dort vielmehr zu… festigen schienen. Im ersten Augenblick konnte Shinya diesen merkwürdigen Vorgang nur undeutlich erkennen, dann jedoch endlich begriff er, welch vergleichsweise simple Wahrheit eigentlich hinter den so rätselhaften Worten der Seherin gesteckt hatte.

Der Mondschatten bildete einen Steg aus grauschwarzem Holz. Er führte direkt in das Innere des Schiffes, geradewegs auf ein mannshohes Loch zu, das wie eine Wunde blutenden Schattens in der Seite der Barke aufklaffte. Der Anblick ließ ein diffuses Gefühl von Übelkeit in ihm aufsteigen, aber Shinya unterdrückte diese tiefe Abscheu und trat einen Schritt auf die schmale Planke zu.

„Ich… ich sag’s nicht gern, aber… wir haben wohl keine Wahl!“ Der Halbdämon zwang eine entschlossene Festigkeit in seine Stimme, atmete so tief durch, dass die abkühlende Nachtluft beinahe schon in seinen Lungen schmerzte, und setzte dann rasch, bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, seinen linken Fuß auf die etwas morsch wirkende Brücke.

In den wenigen Sekundenbruchteilen bevor seine Stiefelsohle auf dem schattenfarbenen Holz auftraf, sah Shinya eine wirre Sequenz düsterer Bilder wie eine letzte prophezeiende Vision vor seinem inneren Auge ablaufen. Er sah, wie die Planke sich unter der Berührung auflöste, ebenso plötzlich, wie sie erschienen war. Genau genommen hätte es ihn nicht einmal mehr gewundert, wenn sich statt des mehr oder minder festen Holzbodens ein endloser Höllenschlund unter ihm aufgetan und ihn verschlungen hätte, um ihn in eine Welt aus Schmerz, aus Leid und ewiger Verdammnis hinabzureißen.

Stattdessen ertönte aber lediglich ein erschrockenes Quietschen und die hölzernen Planken schwankten leicht unter der ungewohnten Belastung, ließen sich darüber hinaus jedoch bereitwillig beschreiten und überqueren. Shinya atmete auf, obgleich ein Gefühl von wahrer Erleichterung ausblieb, und trat dann eilig in das Innere des Schiffes. Zwar wusste er jetzt, dass ihr ungewöhnliches Gefährt zumindest so weit materieller Natur zu sein schien, um sein Gewicht zu tragen, dennoch wollte er die Geduld des morschen Holzsteges nicht überstrapazieren.

Das Erste, was den Katzenjunge nach seinem übereilten Eintritt in der Barke erwartete, war ein Vorhang dichter, vollkommener Dunkelheit, die jedoch rasch zu einem langen, niedrigen Gang zerfloss, der sich nach beiden Seiten hin erstreckte. An dem Ende zu Shinyas Linken und an der ihm gegenüberliegenden Wand führten etliche Türen ein wenig ansehnliches Dasein, während am anderen Ende eine Wendeltreppe nach oben führte. An Deck? Oder lediglich auf einen weiteren, vielleicht sogar noch bedrückenderen Korridor? Shinya wollte es eigentlich gar nicht wissen, fast genauso wenig, wie er hinter die rostigen Metalltüren blicken wollte, die zwischen all dem schwarzen Holz doch reichlich deplaziert wirkten.

Noctan war der Letzte, der über die knarrenden Planken in das geisterhafte Schiffsinnere trat. Er hatte kaum die schwarz blutende Öffnung in der Seitenwand durchschritten, als sich diese auch schon wieder verschloss – oder besser gesagt, einfach verschwand. Von einer Sekunde auf die andere war das zerfetzte Holzgerippe wieder zu einem nahtlosen Ganzen verschmolzen, und obwohl nicht einmal die Ahnung eines Bebens durch ihr finsteres Gefährt lief, wusste Shinya, dass ihre Reise nun begonnen hatte.

Der Katzenjunge ließ sich an einer der schwarzen Wände herabsinken, zog die Knie an den Körper und starrte auf die verästelte Musterung des hölzernen Bodens. Ein türkisblaues, nebliges Licht erfüllte den Gang, durchzogen von silbrigen Fäden des Mondlichts, das sich verstohlen durch die kreisrunden Glasaugen des Schiffes in sein Inneres schlich.

„Jetzt heißt’s dann wohl warten, Leute“, seufzte er und zeichnete mit einem Finger unsichtbare Muster auf die nachtfarbenen Planken. „Wer möchte… und wer sich das zutraut, kann von mir aus gerne schlafen. Ich weck ihn dann, wenn wir angelegt haben.“

Ein kurzer Blick an die kahle, dunkle Decke, die auch von seiner sitzenden Position aus noch beunruhigend nahe wirkte, gab Shinya augenblicklich die Gewissheit, dass er in dieser Nacht gewiss kein Auge zumachen würde. Schuld daran war nicht einmal unbedingt nur die Tatsache, dass er gerade eben in einem Geisterschiff saß und mit etwas Glück nicht einfach seinem Tod und Verderben, sondern – viel besser noch – einer verfluchten alten Mörderstadt entgegenfuhr. Der Katzenjunge mochte nun einmal keine Schiffe, und noch viel weniger mochte er enge, schmale Gänge wie jenen, in dem er genau in diesem Augenblick sitzen und warten musste. Aber was sollte er denn auch tun? Dies war vielleicht nicht der richtige, dafür aber leider doch der einzige Weg.

Und vor allem gab es schon lange kein Zurück mehr.
 

Das Warten zwischen schwarzem Holz, blauem Nebel und silbern beschlagenen Bullaugen entwickelte sich zu einer ungeahnten Qual. Immer noch drang von draußen nur blasses Mondlicht herein, obwohl mittlerweile zweifellos schon mehrere Stunden vergangen waren und der Tag somit ja eigentlich längst wieder angebrochen sein musste. Aber die Morgendämmerung ließ anscheinend nur allzu gerne auf sich warten und die Reise des Schiffes dauerte an.

„Irgendwie ist es hier…“ Rayo blickte sich in seiner düsteren Umgebung um und rang nach den richtigen Worten. „… langweilig.“

„Hey, macht es doch einfach wie Misty – die schläft…“ Hoshi musterte die kleine Blauhaarige lächelnd. „Ich habe es ja immer geahnt: Sie ist tapferer als wir alle zusammen.“

„Schlafen? Hier? Bestimmt nicht!“ Shinya verzog das Gesicht. „Aber Rayo hat Recht – es ist einfach tödlich! Ich meine… erst dachte ich: Wow, genau so hast du dir ein Geisterschiff immer vorgestellt. Ich hab da als Kind nämlich mal so ne Geschichte darüber gehört und… na ja… ich dachte immer, so ein Geisterschiff ist total unheimlich und böse und gefährlich und… und… ihr wisst was ich meine.“

„Oh ja!“ Der junge Adlige stieß einen tiefen Seufzer aus. „Offen gesagt, ich habe mir auch mehr von diesem verfluchten Gefährt versprochen. Aber wir sitzen nur hier und es geschieht überhaupt nichts – genauso gut könnten wir uns noch am Strand befinden! Dabei sollten wir doch eigentlich froh darüber sein, oder?“

„Warum eigentlich nur eigentlich?“ Noctan verdrehte die Augen. „Euch scheint es da ja offensichtlich anders zu gehen, aber ich für meinen Teil lege nur äußerst begrenzten Wert auf ein unterhaltsames kleines Geistertheater, wie es Hochwohlgeboren sich vielleicht erhofft hat. Mir würde es nämlich eigentlich schon voll und ganz ausreichen, wenn dieses Schiff seinen zweifelhaften Zweck erfüllen würde – uns nach Lluvia zu bringen, beispielsweise.“

„Ja, aber dann könnte es sich bitte auch mal damit beeilen!“ In Hoshis Blick lag ein Ausdruck wehmütiger Enttäuschung. „Irgendwie hatte ich ja auch Angst, als das Schiff da so eindrucksvoll angefahren kam, aber jetzt… nennt es ruhig kindisch, aber ich hab mir so eine verfluchte Barke irgendwie… romantischer ausgemalt. Aber jetzt… man kann ja nicht einmal aus dem Fenster kucken!“

„Ich bezweifle, dass der Anblick von Wasser, Wasser und nochmals Wasser überall und in allen Richtungen langfristig zu unserer Unterhaltung beitragen würde!“ Noctan stieß ein kurzes, abfälliges Lachen aus. „Außerdem… schön und gut, dieses Schiff mag es geben, aus welchen Gründen auch immer, das bestreite ich ja auch gar nicht. Aber ihr fürchtet euch doch wohl hoffentlich nicht allen Ernstes vor diesen ach so schaurigen Warnungen einer hysterischen alten Frau?“

„Was heißt hier fürchten? Ich sehe nur, dass wir mit einem Schiff reisen, das vor wenigen Stunden deiner Meinung nach auch noch ins Reich der Gruselmärchen gehört hat!“ Hoshi strich sich langsam eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Und außerdem… wenn du nicht an diese… schaurigen Warnungen glaubst, wieso schaust du denn dann nicht selber raus? Verrat mir das doch bitte mal!“

Der Weißhaarige machte eine abfällige Handbewegung in Richtung der jungen Lichtmagierin.

„Weil… ich meine, ihr seid ja so versessen darauf, dass diese lachhaften Prophezeiungen wahr sind, und… natürlich würde ich aus dem Fenster sehen! Das ist doch lächerlich! Ich habe lediglich keine Lust dazu, wieder einmal als Sündenbock der Nation dazustehen, falls dann zufällig doch irgendetwas schief läuft.“

„Siehst du?“ Hoshi grinste. „Jetzt sagst du selber, dass etwas schief laufen wird, wenn du rauskuckst!“

„Das habe ich nicht gesagt!“ entgegnete Noctan unwirsch. „Aber ich sehe es schon kommen – dieses Schiff fährt in die falsche Richtung, Lluvia ist nur eine… eine hässliche, heruntergekommene Ansammlung von alten, verfallenen Ruinen… Shinya stößt sich beim Aussteigen das Schienbein an… und wie heißt es dann? – Hättest du nur nicht aus dem Fenster gesehen, Noctan! – Wir werden überfallen? – Das Fenster! – Der Planet geht unter? – Das Fenster!“ Er atmete geräuschvoll aus. „Wie soll ich sagen? Es gibt Dinge, auf die ich verzichten kann, und dies gehört ganz definitiv dazu. Ansonsten… nennt mir einen anderen Grund, nicht auf die weite, langweilige See hinauszublicken… außer vielleicht, dass sie weit und… langweilig ist.“

„Gute Ausrede!“ Shinya bleckte die Zähne. „Als ob dich das kümmern würde, was wir dir eventuell in hundert Jahren irgendwann mal vorhalten könnten! Wenn du uns unbedingt beweisen willst, dass du dich traust, da rauszuschaun, dann mach’s halt einfach! Ich hab jetzt wirklich keinen Bock auf ne Diskussion, so von wegen was wäre, wenn…“

„Also schön, warum eigentlich nicht?“ Der junge Weißhaarige erhob sich mit einem Ruck. „Oder denkt ihr etwa wirklich, ich habe Angst davor? Das ist ja direkt schon wieder amüsant…“

Mit einem gewohnt kalten Lächeln auf den Lippen trat er auf eines der von einem Ring aus rostigem Stahl eingefassten Bullaugen zu und fixierte mit seinen violetten Augen das silbrig glänzende, staubige Rund.

„Ich… ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist…“ Rayos Stimme zitterte leicht.

„Ach nein? Und wieso? Es passiert doch gar nichts!“ Noctan stieß ein wenig humorvolles, dafür sogar ungemein überlegenes Lachen hervor. „Was sagt ihr jetzt? Ist das Schiff oder gleich der ganze Planet untergegangen? Wurden wir von bösen Geistern gefressen? Wurden wi…“

Der Weißhaarige stockte. Sein Blick ruhte immer noch auf dem von einem feinen Netz aus Spinnweben überzogenen Stück Glas, doch irgendetwas in seinen Augen hatte sich… verändert, und obwohl die Veränderung nur minimal und eigentlich kaum zu bestimmen war, versetzte sie Shinya doch schlagartig in einen Zustand höchster Alarmbereitschaft und in seiner Kehle breitete sich eine unangenehme Trockenheit aus.

„Noctan?“ Hoshi stieß Noctan in die Seite, doch dieser zeigte keinerlei Reaktion. Das Lächeln auf den Lippen der Lichtmagierin wurde ein wenig unsicher. „Hey, Noctan! Jetzt hör schon auf damit!“

„Noctan, das is echt nicht komisch!“ Shinya betrachtete den jungen Estrella, der wie in der Bewegung erstarrt im bleichen Kegel des Mondlichtes stand, mit stetig wachsender Beunruhigung. Natürlich traute er es Noctan voll und ganz zu, einfach nur irgendein boshaftes, wenig komisches Spielchen mit ihnen zu treiben. Er hätte auch zu gerne daran geglaubt, dass es so und nicht anders war, aber ein unendlich beklemmendes Gefühl in seiner Brust war da gänzlich anderer Meinung.

Dann löste sich die Starre von Noctans Körper und, begleitet von einem leisen Zucken, schien endlich das Leben in seine Adern zurückzukehren. Langsam wandte er seinen Kopf von der Scheibe ab, hob dann wie mechanisch seine seltsam verkrampften Hände und verbarg das Gesicht darin. Wiederum verharrte er etliche Sekunden lang in dieser Position, und nur ab und an verriet ein Zittern seines Rückens, dass Noctan nicht einfach im kalten Schein des Mondes eingefroren war.

Dann hob er mit einem Ruck den Kopf und starrte Shinya geradewegs in das Gesicht – so weit sich das überhaupt noch bestimmen ließ, denn die ehemals violetten Augen waren nunmehr grauweiß und wie von einem milchigen Film überzogen. Umso intensiver stach das pulsierende Rot der schwellenden Äderchen daraus hervor, die sich als grauenvoll lebendiges Netz durch die farblos trübe Masse zogen. Die Lippen des Weißhaarigen waren zu einem bebenden Grinsen verzerrt.

Irgendetwas musste sich in Shinyas Hals festgesetzt und diesen gänzlich verschlossen haben, jedenfalls konnte nicht einmal mehr der Hauch eines staubigen Lüftchens in seine Lungen vordringen und ein hilfloses Keuchen entwich aus seinem Mund. Bewegen konnte er sich übrigens auch nicht mehr, nicht einmal seine Augen, und so blieb ihm nicht viel Anderes übrig als hilflos mit anzusehen, wie Noctans schneeweiße Finger heftig zu zucken begannen und wie er seine bebenden Lider mit scheinbar unermesslicher Anstrengung wieder über seine leeren Augen quälte.

„Tu-tut doch… irgend… irgendetwas…“

Dann riss er die pochend weißen Höhlen nur umso weiter wieder auf, taumelte wie unter einem heftigen Schlag nach hinten und gab ein hysterisches, schrilles Lachen von sich. Seine Haut wirkte mittlerweile beinahe schon durchsichtig, wie von totenfarbenem Wachs überzogen, und irgendwo in seinen Augen platzte eine der heftig pulsierenden Adern auf und ergoss einen Schwall blutig roter Tränen über die bläulich schimmernden Wangen.

„Noctan!“ Hoshi stieß einen seltsam tonlosen Schrei aus und sprang auf, der wankenden Gestalt entgegen. Die reagierte blitzschnell – und vollführte eine abgehackte Handbewegung in Richtung des Mädchens, begleitet von einem erneuten Lachen, das Shinya eine widerwärtig kalte Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Hoshi wich einen Schritt zurück. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe entschwunden und ihre Finger zitterten. Über den Handrücken der Lichtmagierin zog sich ein tiefer Schnitt, aus dem langsam und behäbig ein dicker roter Faden hervorsickerte.

„Ihr… werdet sterben…“, kicherte Noctan, bevor er sich ungelenk umwandte und schwankend wie ein Betrunkener auf die pechschwarze Wendeltreppe zustürzte, die sich in die bläulich nebligen Schatten des Schiffskorridors duckte. „Ihr… ihr werdet alle sterben!!“
 

Ende des siebten Kapitels

Kapitel VIII - Der Wille zu Leben

Wieder einmal ist viel Zeit ins Land gezogen, Ferien, die eigentlich gar keine waren, kamen und gingen, ich bin im zweiten Semester... und ich hoffe und bete, jetzt endlich mal ein wenig mehr Freizeit zu haben. Ich weiß langsam nicht mehr, wo mir der Kopf steht... whatever, ich lade dieses Kapitel vor allem deshalb jetzt hoch, weil mein liebes Katerchen schon so weit mit Lesen ist, und ich ja weiter Kommentare von ihm bekommen möchte. ^_^ Trotzdem wünsche ich natürlich auch allen anderen viel Spaß damit!
 

„Noctan!!“ Der lähmende Bann, der tonnenschwer auf Shinyas Körper gelastet, ihm den Atem zum Sprechen und die Kraft zu jeglicher Bewegung genommen hatte, schien urplötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wieder von ihm abzufallen. Der Katzenjunge sprang auf, und bevor sich auch nur irgendein klarer Gedanke in die beklemmende Panik in seinem Inneren stehlen konnte, stürzte er auch schon den schwarzen Korridor hinab, folgte blindlings dem weißhaarigen Jungen, der kichernd und taumelnd in den Schatten der nachtfarbenen Wendeltreppe verschwunden war.

Er kam nicht weit, denn schon nach wenigen übereilten Metern schloss sich eine Hand um seinen Arm und riss ihn mit einer unerwartet heftigen Bewegung zurück. Shinyas eigener Schwung brachte ihn beinahe augenblicklich wieder zu Fall, und er verdankte es allein seinen guten Reflexen und einer gehörigen Portion Glück, dass er sich gerade noch an dem rauen, kalten Holz der Schiffswand abfangen und sein Gleichgewicht zurückgewinnen konnte.

„Bist du wahnsinnig geworden?!“ Der aufgebrachte Tonfall in Hoshis Stimme wurde von dem flehenden, seltsam verstörten Ausdruck in ihren warmen braunen Augen Lügen gestraft. Ihre Finger zitterten, doch ihr Griff blieb fest und sicher um Shinyas Handgelenk gelegt. „Was bringt es dir, wenn du ihm jetzt nachrennst? Willst du etwa auch noch… verflucht… besessen… was auch immer werden?! Ich habe keine Ahnung, was da gerade eben mit Noctan passiert ist, aber… so hilfst du ihm ganz bestimmt nicht!“

„Was bitte sollen wir denn sonst tun?“ Der Katzenjunge befreite sich mit einem Ruck aus der Gewalt des Mädchens und fixierte sie mit argwöhnisch blitzenden Augen. „Ich werde jedenfalls nicht hier unten in diesem verrotteten Stück Holz sitzen und darauf warten, bis… bis… ach, ist doch auch egal! Was auch immer dieses… dieses Ding mit Noctan gemacht hat, er sah nicht unbedingt so aus, als hätte er großen Spaß dabei!“

„Ja, aber…“

„Was… was ist denn los?“ Ein kindliches und obendrein noch reichlich verschlafenes Stimmchen mischte sich mit argloser Unwissenheit in das aufgeregte Gespräch und brachte es augenblicklich zum Verstummen. Das dazugehörige kleine Mädchen hob langsam seinen verstrubbelten hellblauen Haarschopf an und blinzelte ihren Freunden halb ratlos, halb empört über ihr unsanftes Erwachen entgegen.

Hoshi biss sich auf die Lippe und wich dem Blick ihrer jungen Freundin aus.

„Misty, es… es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Vielleicht solltest du weiterschlafen… ich… ich will auch ganz bestimmt nicht mehr so laut sein, und Shinya… der schon gar nicht.“

„Warum kuckt ihr denn alle so komisch?“ Die Blauhaarige rieb sich ihre großen Augen, dann stemmte sie sich erstaunlich schnell auf die Füße, gähnte und streckte sich erst einmal ausgiebig, bevor sie sich wieder mit prüfend strenger Miene ihren schweigenden Gefährten zuwandte. „Seid ihr böse mit Misty? Warum sagt ihr denn gar nichts? Und…“ Der Blick der Kleinen nahm eine derart analytische Eindringlichkeit an, dass Shinya unweigerlich einen Schritt vor ihr zurückwich. „Wo ist eigentlich Noctan?!“

„Misty, das… das ist nicht ganz so einfach…“ Hoshis Gesichtsausdruck wurde schlagartig noch ein bisschen betretener. „Er… ich meine… er ist…“

„Er ist hier.“

Shinya wandte so plötzlich seinen Kopf von dem dunkelhaarigen Mädchen ab und zum Ende des Korridors hin, dass ein leiser Schmerz durch seinen derart unvermutet strapazierten Nacken zuckte. Und obwohl er sich noch in dieser einen einzigen Schrecksekunde tief in seinem Inneren ja eigentlich schon darauf vorbereitet hatte, wer ihn nun grinsend und wankend wie eh und je am Ende des Ganges erwarten musste, ließ ihn der Anblick der totenbleichen Gestalt ganz unweigerlich aufs Neue erstarren.

„Aber warum guckt ihr denn so? Warum diese weiten Augen, diese fahlen Gesichter? Man könnte glatt meinen, ihr hättet einen Geist gesehen!“ Die weißen Lippen des Jungens verzogen sich zu einer boshaften Grimasse, die nur noch sehr entfernt an ein Grinsen erinnern konnte. „Ihr. Seid. Am. Ende. Wie gefällt euch das?“

„Noctan, bitte… nein…“ Rayos Stimme klang so leise und brüchig, dass sie kaum das Echo von Shinyas eigenem Herzschlag übertönen konnte. Dennoch versetzte das umso eindringlichere Flehen dem Katzenjungen selbst in der kalten Erstarrung seiner Angst noch einen schmerzhaften Stich mitten in der Brust. Noctan hingegen schien die Worte des jungen Adligen gar nicht zu bemerken, jedenfalls blieb sein leerer Blick ziellos im neblig blauen Nichts des Ganges hängen.

„Noctan! Wir wollen dir doch nur helfen!“ Hoshi sprach weitaus lauter, doch obwohl sie sich um einen sicheren, eindringlichen Tonfall bemühte, konnte sie ein letztes Beben nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Verdammt noch mal, du musst uns doch erkennen! Wir… wir sind doch deine Freunde!“

Die blutigen Augen Noctans – oder jener Kreatur, die einmal Noctan gewesen war – blitzen bei den Worten des Mädchens bedrohlich auf.

„Freunde?“, stieß er abfällig hervor, beinahe so, als ekelte ihn davor, das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. „Natürlich… meine Freunde seid ihr! Ihr wollt mich also retten? Dann kommt und holt mich!“

Mit einem letzten irrsinnigen Lachen rannte er taumelnd aber doch erstaunlich schnell auf eine der dunklen Türen zu, stürzte hinein und warf sie dann wieder hinter sich in die Angeln, bevor Shinya auch nur zu einer Reaktion ansetzen konnte. Das rostige Metall kreischte erschrocken und empört auf, doch gerade dieser schmerzhaft schrille, auf eine grausige Art und Weise menschlich anmutende Misston war es, der Rayo endlich aus seiner Erstarrung erwachen und nun nur umso schneller auf die Füße kommen ließ.

„Noctan!“ Der junge Adlige starrte sichtlich verwirrt und mit einem panischen Flackern in den tiefblauen Augen auf das immer noch leicht bebende schwarzrote Portal, in dem soeben jenes hysterisch kichernde Wesen verschwunden war. „Nein! Ich… ich… worauf wartet ihr denn noch? Wir müssen hinterher!“ Seine Stimme, die noch vor wenigen Augenblicken beinahe schon beängstigend ruhig geklungen hatte, überschlug sich nun nahezu bei jeder zweiten Silbe.

„Natürlich müssen wir das!“, entgegnete Shinya und hob beschwichtigend seine zitternden Hände. „Wir… werden ihm helfen, das ist doch wohl klar!“

Obwohl sein klägliches Ringen um einen ruhigen, besänftigenden Tonfall gnadenlos scheiterte, atmete der blonde Junge auf diese Worte hin tief durch und senkte den Kopf.

„Aber zuvor brauchen wir irgendeinen Plan, nicht wahr?“

Shinya nickte.

„Genau, ein Plan. Schönes Wort. Nur leider hab ich im Augenblick… noch viel weniger als den Hauch von ner Ahnung, wie dieser tolle Plan aussehen soll… ach, verdammt!“ Shinya hatte eigentlich ruhig bleiben wollen, doch eine Woge heißer Wut brach über seinen Körper herein und verzerrte seine letzten Worte zu einem bebenden Aufschrei, der merkwürdig dumpf in seinen Ohren widerhallte. Seine Hände krampften sich zu Fäusten zusammen, und noch im nächsten Augenblick hatte der Katzenjunge selbige auch schon hochgerissen und schlug mit aller Kraft gegen die schwarze Wand des Geisterschiffes.

„Shinya!“

„Das is nich fair!“ Der Halbdämon fühlte kaum, wie ein glühender Schmerz durch seine Fingerknöchel zuckte, viel zu sehr wütete da ein vollkommen unbestimmtes, dafür aber umso quälenderes Gefühl in seinem Inneren und schnürte ihm fast die Kehle zu. „Ich weiß doch genau, was für ein abartiger Vollidiot der is, aber nein, ich kann natürlich wieder mal nich die Klappe halten und jetzt… jetzt… ach, verdammt!“

„Hör auf so zu reden!“ Shinya spürte, wie sich ihm langsam, fast ein bisschen zögerlich zwei Arme um die Schultern legten. Eine sanfte Stimme, begleitet von angenehm warmem Atem, drang nun unmittelbar an sein Ohr. „Ich hab doch mit dieser ganzen Sache angefangen, nicht du. Und vor allem, rausgeschaut hat er immer noch selbst! Aber mal ganz abgesehen davon…“ Hoshi holte tief Luft und fuhr mit deutlich festerer Stimme fort, beinahe so, als müsse sie sich selbst erst noch von ihren eigenen Worten überzeugen. „Diese ganzen Schuldzuweisungen helfen doch jetzt keinem mehr, am allerwenigsten Noctan. Anstatt unsere Zeit mit Grübeleien und Selbstvorwürfen zu verbringen, sollten wir lieber irgendetwas machen!“

Das irgendetwas gab ihrem Satz ungewollterweise einen reichlich hilflosen, fast schon verzweifelten Unterton, den Shinya aber so gut es eben ging zu überhören versuchte. Stattdessen zwang er sich zu einem unbeschreiblich missglückten und ganz bestimmt nicht aufmunternden Lächeln.

„Gratulation – da hast du wieder einmal Recht. Und hey, wie wäre es denn, wenn wir ihm erst einmal nachgehen, bevor wir jetzt noch stunden- oder tagelang in diesem bescheuerten Gang hier stehen und uns den Kopf über irgendwelche tollen Strategien oder so was zerbrechen?“

„Eigentlich… ist das gar nicht mal so ne schlechte Idee.“ Hoshi grinste schief. „Ich weiß zwar nicht was passiert, wenn wir grad irgendwo mitten im Schiff sind, während es anlegt, aber…“

„Aber darüber wollen wir uns erst mal noch gar keine Sorgen machen, meine liebe Hoshi – das wird schon nicht passieren.“ Der Katzenjunge warf einen raschen entwarnenden Blick in Richtung Misty, deren Unterlippe gefährlich zu zittern begonnen hatte. „Ich würde aber auf jeden Fall sagen, wir halten uns alle ganz, ganz fest bei den Händen, wenn wir jetzt durch diese tolle… einladende… sicher auch vollkommen ungefährliche Türe gehen – nein Misty, du musst keine Angst davor haben. Es ist nur so… ich habe bei diesem Schiff irgendwie so ganz allgemein kein gutes Gefühl. Und bevor wir uns noch verlieren…“

„Shinya, wir werden uns nicht verlieren!“ Hoshi blickte ihrem Freund eindringlich und tadelnd in die grünen Augen. „Schön, dies ist ein Geisterschiff. Aber es ist und bleibt nun mal ein Schiff, verstehst du? So viel Platz, um sich zu verlieren, hat’s da nämlich gar nicht.“

„Das mag sein, aber Shinya hat trotzdem Recht“, bekräftigte Rayo, immer noch mit einem schwachen Zittern in seiner Stimme. „Du darfst nicht vergessen, dass auf diesem Schiff ein Fluch liegt, und außerdem…“

„Keine Sorge, das hätte ich schon nicht vergessen!“ Die Dunkelhaarige verdrehte die Augen und fuhr dann in weitaus gedämpfterem Tonfall fort. „…aber das muss unsere Kleine ja nicht unbedingt wissen!“

„Trotzdem – sicher ist sicher. Misty hat doch eh schon eine Heidenangst vor dem Schiff und dem Ganzen hier, da ist ihr so ein bisschen Händchenhalten doch bestimmt ganz recht.“

„Ich habe ja auch gar nicht gesagt, dass wir uns nicht bei den Händen halten sollen!“, raunte Hoshi in mittlerweile deutlich genervtem Tonfall zurück, der Shinya mehr als andere klar machte, wie gespannt ihre Nerven tatsächlich sein mussten. „Wir müssen ja sowieso in erster Linie darauf aufpassen, dass der Kleinen…“

Die Lichtmagierin stockte – und riss im nächsten Moment ihre dunklen Augen erschreckend weit auf. Die Lippen des Mädchens begannen zu beben, und als Shinya sich langsam umwandte, um ihrem entgeisterten Blick zu folgen, da fühlte auch er sich wie mit einem Eimer halb gefrorenen Wassers übergossen. Der Gang hinter ihm erstreckte sich neblig blau und menschenleer bis zu dem pechschwarzen Schneckenhaus der Wendeltreppe hin. Von dem blauhaarigen Mädchen aber, das sich noch bis vor wenigen Augenblicken sichtbar verängstigt und den Tränen gefährlich nahe an die nachtfarbene Wand gedrängt hatte, fehlte jede Spur.

„Misty!“ Hoshis Schrei glich fast schon einem unterdrückten Schluchzen. „Nein… bitte… bitte sagt mir jetzt, dass das nicht wahr ist! Sie… ich meine… die Kleine ist nicht…“

„…ganz allein hinter Noctan hergelaufen?“ Shinya stieß einen hilflosen Seufzer aus. „Ich fürchte schon… oh Mann, dieses dummes kleine Ding!“

„Nein, wir sind dumm! Wir hätten doch auf sie aufpassen müssen!“ Das dunkelhaarige Mädchen biss sich kurz und heftig auf ihre Unterlippe. „Aber nein, stattdessen diskutieren wir übers Händchenhalten und über Sicherheit, und das alles nur, weil wir Misty auch ja nicht irgendwie verängstigen wollten…“

„Aber wie ist denn das möglich?“ Rayo schüttelte ein ums andere Mal den Kopf und auf seinem Gesicht stand einmal mehr ein Ausdruck blanker Fassungslosigkeit geschrieben. „Es kann doch einfach nicht sein, dass… dass sie sich an uns vorbei schleicht, ganz unbemerkt, und durch diese schwere Türe hindurch…“

„Offensichtlich schon.“ Hoshi strich sich nervös durch ihr langes braunes Haar. „Eigentlich hätten wir es uns ja denken können – unsere tatkräftige kleine Misty wartet eben keine langen Verhandlungen ab, wenn es darum geht, einen ihrer Freunde zu retten…“

„Und jetzt…“ Shinya starrte auf die verschwommenen Linien der schwarzen Holzplanken und schluckte schwer. „Jetzt is die Kleine auch noch in Gefahr…“
 

Das Herz des Katzenjungen schlug misstönend laut und heftig, als er langsam und angespannt durch die hässliche Türe trat, in deren rauen schwarzen Stahl der Rost bereits zahlreiche tiefe, blutige Wunden gefressen hatte. Das Bullauge fixierte ihn wie ein einziges boshaft funkelndes Auge in der grausam entstellten Fratze eines Zyklopen. Aus der dumpf verstaubten, gesprungenen Oberfläche glotzte ihm sein eigenes erschrockenes Spiegelbild entgegen, blass und verzerrt zu einer höhnisch grinsenden Grimasse, deren Anblick ihn frieren ließ.

Dennoch wagte er den Schritt durch das deformierte Portal, Hoshis lebendig warme Hand fest von seiner eigenen umschlossen, und trat in einen Raum, dessen Anblick ihn eine Sekunde lang perplex innehalten ließ. Das hölzerne Zimmerchen war schwarz, geduckt und kahl – alles in allem jedoch ein vollkommen normaler Schiffsraum, wie er in jeder größeren Barke wohl zwanzigfach zu finden war und auf den ersten Blick in etwa so unheimlich wie der kleine Obst- und Gemüsegarten hinter Shinyas Heim in den Wäldern. Doch gerade diese vollkommen deplaziert wirkende Harmlosigkeit weckte tiefes Misstrauen in dem Halbdämon, und so ließ er seine grünen Augen lauernd über die nachtfarbenen Wände streifen, deren Beschaffenheit sich eigentlich nicht im Geringsten von jenen unterschied, die Shinya und seine Freunde noch auf dem niedrigen, nebelverhangenen Korridor eingeschlossen hatten.

Trotzdem war irgendetwas anders.

Der Katzenjunge vermochte beim besten Willen nicht zu sagen, was ihn an diesem kleinen Zimmer derart störte und beunruhigte, aber die stete Bedrohung schien ihn wie ein blutrünstiges Raubtier zu umschleichen, körperlos und doch erschreckend real. Ihm war, als ob irgendeine bösartige Macht den staubigen Schatten ein grausames, zerstörerisches Leben eingehaucht hätte, um nun ein sadistisches Spiel mit ihnen zu treiben. Aber auch das war noch nicht alles, was Shinya mit einer derart zähen und lähmenden Dunkelheit erfüllte.

Der Raum besaß trotz seiner bescheidenen Ausmaße ganze vier Türen. Jene, durch die sie gerade eben getreten waren, starrte ihnen nun mit dem halb erblindeten Zyklopenauge feindselig in den Rücken. Eine weitere fügte sich stumm in die Wand zu ihrer Linken ein. Im Gegensatz zu ihren reichlich heruntergekommenen halbtoten Brüdern und Schwestern in den Schiffsgängen bestand sie jedoch nicht aus Stahl, sondern vielmehr aus edlem, in Anbetracht der sonstigen Umgebung beinahe schon grotesk anmutendem Ebenholz, das über und über mit einer Fülle von zarten Verzierungen und kostbaren Intarsien geschmückt war. Ihr matter, schwerer Glanz blickte direkt in das Antlitz einer dritten Türe – oder zumindest etwas, das wohl irgendwann einmal eine Türe hatte werden sollen und zu dem noblen Kunstwerk in etwa so gut passte wie eine Faust mitten in die Magengrube.

Das durch und durch hässliche, von Rost nahezu zerfetzte Monstrum trug die Farbe von dreckigem Rotbraun und schien in seiner ganzen Abscheulichkeit geradewegs in eine grauenhafte Unterwelt zu führen. Passend dazu glomm hinter dem gelblich grauen Bullauge ein tiefrotes Licht wie von weit entfernter Feuersglut hinauf. Shinya spürte, wie sich spontan alle Härchen an seinem Körper zu sträuben begannen, und wandte hastig seinen Blick von der abstoßenden Karikatur einer Schiffstüre ab.

Und was er dann sah, übertraf selbst seine schlimmsten und finstersten Erwartungen.

Die letzte Türe direkt gegenüber dem Eingang war an und für sich alles andere als besonders und auffällig – ganz im Gegenteil. Sie bestand aus exakt demselben schwarzen Holz wie die Schiffswände und stach eigentlich auch nicht weiter ins Auge, weshalb Shinya ihr angesichts der doch überaus exzentrischen Nachbarn zuvor noch keine größere Beachtung geschenkt hatte. Aber nun, da er sie eingehender betrachtete, ihr endlich ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, fiel es dem Katzenjungen wie Schuppen von den Augen, was ihn die ganze Zeit über an dem scheinbar so harmlosen Kämmerchen mit all seinem Staub und all seinen Schatten gestört hatte.

Hinter der kleinen Türe lag ein Raum.

Shinya konnte es klar und deutlich erkennen, denn das runde, von schlichtem grauem Metall eingefasste Fenster war trotz seines langjährigen Daseins auf einem verfluchten Schiff noch verhältnismäßig klar und sauber geblieben. Der Halbdämon schüttelte den Kopf, schloss die Augen, rieb sie ein ums andere Mal, aber das Bild hinter dem dicken Glas veränderte sich nicht – die niedrige schwarze Türe führte ganz eindeutig in ein weiteres nachtfarbenes Zimmer. Diese Tatsache allein war natürlich noch nicht der Grund dafür, dass Shinya ganze Armeen von eisig kalten Insektenbeinen über den Rücken krochen; vielmehr war es der Anblick der beiden weiteren Bullaugen in ebendieser Schiffswand, der ihn vielleicht mehr alles andere entsetze. Hinter ihrem spinnwebenverhangenen Glas waren in unveränderter Dunkelheit das düstere Gemälde des Nachthimmel und ein kleiner, wütender Fetzen der pechfarbenen, windgepeitschten See zu erkennen. Eigentlich bestand kein Zweifel daran, dass das Schiff mit diesem Zimmer endete.

Und trotzdem lag hinter der kleinen Türe ein Raum.

„Ich sag’s echt nicht, gern, Leute, aber wir… wir… sollten uns dann wohl aufteilen…“, sprach er hastig, wie um sich von dem lähmenden Entsetzen loszureißen, das sich mit kalten, klammen Tauen um seinen Körper gewunden hatte. Sein Fluchtinstinkt hatte schrill und ohrenbetäubend Alarm geschlagen, schon seit er durch die Zyklopentüre geschritten war. Genau drei Türen erwarteten sie hier, und selbst in seiner bedrückenden Angst war sich Shinya noch viel zu sicher, dass dies schlicht und ergreifend kein Zufall mehr sein konnte. Aber gerade deshalb begriff er doch auch, dass ihre einzige Chance, Noctan jemals wiederzufinden, in einer Trennung lag, so wenig ihm dieser Gedanke auch gefallen mochte.

Und vor allem konnte der Katzenjunge beim besten Willen nicht sagen, welche der drei Türen ihn nun am meisten abstieß.

„Weißt du was? Genau das Gleiche hab ich auch gerade gedacht! Und ich weiß sogar schon, welche Türe ich nehmen will!“ Hoshi stapfte ohne zu zögern und mit einem zielstrebigen Lächeln auf den Lippen auf das rostzerfressene Höllentor zu.

„Ähm… bist du dir da ganz sicher?“ Shinya sah seine Freundin zweifelnd an. Der Gedanke, dass ausgerechnet sie durch dieses gefräßige, bösartige Stahlgebilde treten wollte, gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Aber sicher bin ich da sicher! Jedenfalls… wenn ich Noctan und obendrein noch verflucht wäre, dann… na ja… dann würde ich ganz bestimmt durch diese Türe gehen. Sieht doch auch richtig unheimlich aus, oder?“

Die vage Angst in ihren Augen passte nicht so recht zu dem erzwungen fröhlichen Klang ihrer Stimme. Trotzdem verzichtete Shinya auf jeden weiteren Versuch, das Mädchen von ihrem Vorhaben abzubringen– und zwar gerade deshalb, weil er fürchtete, mit ebendiesem Unterfangen womöglich auch noch Erfolg zu haben. Er hätte sich dafür treten können, aber tief in seinem Inneren war er doch heilfroh, nicht ausgerechnet durch diese Türe gehen… ja sie überhaupt nur ein einziges Mal berühren zu müssen. Und außerdem wusste er nur zu gut, dass gerade Hoshi sich im Notfall ja sehr wohl auch verteidigen konnte, denn immerhin beherrschte seine Freundin ihr Element so gut wie kaum ein Anderer von ihnen.

„Nun… dann denke ich, dass ich diesen Weg hier nehmen werde“, meinte Rayo in mehr oder minder überzeugtem Tonfall und trat äußert langsam auf die prachtvoll verzierte Holztüre zu. „Sie sieht doch ein wenig so aus wie die Türen in unserem Schloss, meint ihr nicht?“

Shinya hatte zwar noch niemals in seinem Leben Rayos oder überhaupt irgendein Schloss aus nächster Nähe, geschweige denn von Innen betrachten können, aber das dunkle, in Anbetracht der verfallenen Umgebung seltsam melancholisch wirkende Kunstwerk erinnerte tatsächlich an den verschwenderischen Prunk längst vergangener Zeiten. Er konnte nicht genau sagen warum, aber irgendwie passte es auf diese Weise sogar überaus gut zu dem jungen Adligen.

Der Katzenjunge nickte schwach und versunken, doch noch während er diese Bewegung mehr automatisch als willentlich ausführte, wurde ihm langsam und schmerzlich bewusst, welche Türe ihm somit geblieben war. Und wie hätte es auch anders sein können?! Obwohl Shinya immer noch nicht an eine alles beherrschende Macht glauben wollte, die unaufhörlich an irgendeinem Rad des Schicksals drehte oder Fäden spann oder vielleicht auch nur die Seiten eines goldenen Buches füllte, drängten sich ihm nun an diesem Platz zwischen schwarzem Holz und blauem Nebel doch ernsthafte Zweifel an… an eigentlich allem auf.

Er wusste nicht mehr, woran er angesichts einer derartigen Unmöglichkeit überhaupt noch glauben sollte, und noch während er entgegen eines stetig wachsenden inneren Widerstandes langsam auf den kleinen Durchgang zuschritt, da sehnte er sich beinahe schon wieder nach einer Einladung in einen gewissen rostigen Höllenschlund. Er spürte, dass mit dem Raum hinter dem schwarzen Holz etwas ganz und gar nicht stimmte, so deutlich, wie er selten zuvor in seinem Leben etwas gespürt hatte. Ganz abgesehen davon, dass es dieses Zimmer ja eigentlich überhaupt nicht geben durfte…

„Gut“, hörte er sich merkwürdig fremdartig, fast schon erschreckend ruhig zu seinen Freunden sagen, den Blick hilfesuchend über seine Schulter gewandt. „Wir sollten halt nicht zu lange wegbleiben. Jetzt, wo wir unter uns sind, kann ich’s ja sagen – ich glaub nämlich auch nich, dass es sonderlich gesund sein wird, wenn wir grad irgendwo unten im Schiff rumirren und dann legen wir an…“ Er holte tief Luft, und ganz langsam wurde ihm seine eigene Stimme wieder ein bisschen vertrauter. „Trotzdem sollten wir echt alles tun, um die Beiden zu finden! Klar?“

Hoshi nickte und auch Rayo deutete eine dem zumindest sehr ähnliche Kopfbewegung an, die Shinya kurzerhand als Zustimmung auffasste. Er sah noch einmal in die ängstlichen Augen der Lichtmagierin und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.

Dann wandte er sich seiner Türe zu, öffnete sie und trat ein.
 

Das erdrückende Gefühl des Widerwillens wurde mit jeder Sekunde stärker in ihm, aber Shinya biss sich tapfer auf die Lippe und ignorierte seinen sinnlos protestierenden Fluchtinstinkt. Es gab doch schon längst kein Zurück mehr! Er schloss seine Augen so fest er nur konnte, während er langsam und vorsichtig in den Raum hinter der Holztüre trat. Noch im selben Moment schlug die Furcht in seinem Inneren in Panik um. Was, wenn er tatsächlich nur einer Illusion zum Opfer gefallen war? Wenn sein Fuß ins Leere treten würde, wenn die brüllenden, ölig schwarzen Wellen nur darauf warteten, dass er endlich das Gleichgewicht verlor und sie ihn mit gierigen Schlünden verschlingen konnten?

Shinya wusste beim besten Willen nicht, ob er erleichtert sein sollte, als er doch einmal mehr nur den gewohnt festen Holzboden unter seinen Füßen spürte. Der metallische Geschmack von Blut hatte sich in seinem Mund ausgebreitet, das warm aus seiner aufgebissenen Unterlippe sickerte. Erst jetzt, da der erste Angstmoment verstrichen war, bemerkte der Katzenjunge, dass er das Tosen des Meeres nicht mehr hören konnte.

„Ganz ruhig, Shinya!“, murmelte er so leise, dass er das Zittern in seiner Stimme gerade noch unterdrücken konnte. Trotz seiner verzweifelten Selbstaufheiterung sträubte sich immer noch alles in ihm, die Augen überhaupt jemals wieder aufzuschlagen, und er musste all seinen Mut und all seine Willenskraft zusammennehmen, um die Lider zu heben und einen Blick auf seine Umgebung zu werfen.

Woraufhin er sich ein doch recht hysterisches Lachen allerdings nicht mehr verkneifen konnte, das von den unzähligen Staubkörnern verschluckt, ja regelrecht aufgesogen wurde wie ein winziger Regentropfen, dessen lange Reise vom Himmel hinab ausgerechnet im Meer geendet hatte. Er stand in einem ganz gewöhnlichen Schiffsraum, der sich von dem Kämmerchen, aus dem er gerade eben getreten war, nur äußerst geringfügig unterschied. Im Grunde genommen lag die einzig auffällige Abweichung in den vier Türen, die hier nämlich allesamt klein, unbedeutend und schwarz waren, ganz so wie auch die Wände des Schiffes.

Mit einem letzten nervösen Beben in den Fingern strich sich Shinya über die Stirn und lächelte gequält in das staubige Halbdunkel hinein. Wie dumm war er eigentlich, sich derart vor dem bloßen Durchqueren einer Türe zu fürchten? Natürlich durfte dieser Raum allen Gesetzen der Logik nach nicht existieren. Aber wenn man es nun tatsächlich nur rein logisch betrachtete, durfte es denn dann überhaupt Geisterschiffe geben? Und was sagte die blanke Vernunft eigentlich zu seinen wirren Traumprophezeiungen, zu Weltenwagen und den kindlichen Worten einer blinden Seherin? Trotzdem bewiesen diese Gedanken Shinya gleichzeitig auch, dass er sich eben doch noch nicht ganz an absurde Ereignisse gleich welcher Art gewöhnt hatte, und diese Erkenntnis beruhigte ihn ungemein.

Ein bisschen ruhiger als zuvor zwang der Halbdämon sich ein Lächeln auf die Lippen. Er mochte nicht sonderlich weit gegangen sein – konnte aber bereits jetzt mit vollkommener Gewissheit ausschließen, dass Noctan oder Misty diesen Raum auch nur betreten, geschweige denn durchquert hatten. Der dunkle Boden war von einer mehrere Zentimeter dicken Staubschicht bedeckt und jeder seiner vorsichtigen Fußabdrücke zeichnete sich scharf konturiert und nur allzu deutlich auf den schmutzigen Holzplanken ab.

Shinya atmete auf und fühlte tatsächlich so etwas ähnliches wie Befreiung in seiner gefesselten Brust. Wenigstens würde er sich in Kürze nicht mehr allein durch die Schrecken der verfluchten Barke kämpfen müssen, denn wenn er sich nun nur ein bisschen beeilte, würde er Hoshi gewiss noch einholen können. Irgendetwas sagte ihm, dass sie auf ihrem Weg durch die Hölle aus glühendem Licht und blutigem Rost ein bisschen Unterstützung auch sicherlich gut gebrauchen konnte, und so machte er auf dem Absatz kehrt und lief eilig durch die schwarze Türe zurück in jene neblige Kammer, in der sich kurz zuvor ihre Wege getrennt hatten.

Der Raum war nicht mehr da.

Er hatte sich nicht etwa Luft aufgelöst, seine zweifelhafte Existenz kurzerhand aufgegeben und war endlich in jene verlorene Finsternis zurückgekehrt, der er irgendwann einmal entstiegen war. Vielmehr war mit dem ohnehin nicht sonderlich auffälligen oder bedrohlichen Zimmerchen eine Veränderung vonstatten gegangen, die es nun noch ungleich blasser und eintöniger erscheinen ließ. Und eigentlich betraf diese stille Mutation auch nicht die Kammer selber, sondern lediglich die vier Türen, die nunmehr allesamt der niedrigen Holztüre glichen, durch die er nun schon zum zweiten Mal unversehrt getreten war.

Einige Augenblicke lang stand Shinya vollkommen ratlos an seinem Platz im Staub und starrte auf seine verwandelte Umgebung. Was zum Henker ging hier eigentlich vor sich? Warum gaukelte ihm dieses wahrhaft verfluchte Schiff urplötzlich ein Bild von solch grotesker Normalität vor, wo eben noch traurige Schlosstüren und blutiger Rost und blankes Grauen geherrscht hatten? Oder war dies etwa das wahre Gesicht ihrer schwarzen Barke – ein ganz gewöhnliches Schiff, monoton und eigentlich doch viel eher grau, begraben unter dem Staub der Jahrzehnte?

Der Katzenjunge schüttelte so heftig seinen Kopf, dass ihm einen Moment lang schwindlig wurde. So sehr er auch an dieser zweifelhaften Fähigkeit hing, er wollte sich langsam nicht mehr wundern, nicht an diesem unberechenbaren Ort, an dem eine Illusion die Nächste jagte. Immerhin wusste er ja noch, durch welche der Türen Hoshi verschwunden war, also konnte es sogar in seinem Zustand doch nicht allzu schwer sein, der Lichtmagierin zu folgen. Shinya sammelte sich mit einem tiefen Atemzug, dann wandte er sich nach links und trat durch die einstmalige Schreckenspforte.

Im nächsten Moment entwischte ein entsetzter Aufschrei seiner Kehle, den er beim besten Willen nicht mehr zurückhalten konnte. Der Halbdämon stand erneut in einem viereckigen kleinen und vor allem ungemein staubigen Zimmer, das sich nicht einmal durch ein winziges Detail von seinen beiden Vorgängern hätte unterscheiden lassen. Und während das Pochen seines Herzens sich zu einem hysterischen Rasen steigerte, begriff der Katzenjunge ganz langsam, dass er ein Problem hatte.

Shinya wusste selber nicht, wie es ihm gelang, sich irgendwie noch einmal zur Ruhe zu zwingen, auch wenn es nur die kalte Ruhe im Angesicht einer möglicherweise ausweglosen Situation sein mochte. Er war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er noch ganz genau eine Chance besaß, eine letzte Planke, die unter seinem hilfesuchenden Griff wie brüchiges Pergament zu zerbröckeln drohte. Diese einzige noch mögliche Rettung war der Gang, jener Gang aus blauem Nebel und verbotenen Bullaugen, aus Metalltüren und schwarzen Wendeltreppen, auf dem ihre Reise ins Verderben begonnen hatte. Shinya durchquerte rasch und ohne noch einmal zögern den Raum, in dem er sich zuvor von seinen Gefährten getrennt hatte, und riss mit einer ebenso heftigen Bewegung die einstmalige und nun so radikal angeglichene Zyklopentüre auf.

Was er dort sah, überraschte ihn nicht einmal mehr – raubte ihm aber dennoch mehrere Sekunden lang den Atem und ließ ihn rückwärts taumeln, bis er schließlich gegen eine der niedrigen hölzernen Wände prallte. Natürlich war auch an die Stelle des tristen Korridors ein ihm mittlerweile schon etwas zu gut bekannter Raum getreten, ein Raum aus schwarzgrauem Holz und vermeintlich unberührten Staubschichten, ein vollkommen anonymer und gesichtsloser Raum, dessen Anblick ihn schon jetzt beinahe um den Verstand brachte. Shinya wusste, dass er mit offenen Augen in die Falle dieses unvorstellbar grausamen, bösartigen Schiffes gegangen war – und mit ihm all seine Freunde. Sie hatten ihr Todesurteil genau in jenem Moment unterzeichnet, in dem sie sich getrennt und die Anweisungen der blinden Wahrsagerin so leichtfertig missachtet hatten.

Sie hatten einen unverzeihlichen Fehler begangen und dies war das Ende.

„Nein!“ Shinya schrie wütend auf, wie um seine eigenen Gedanken zu verängstigen und in die Flucht zu schlagen. Hatte er denn immer noch nicht gelernt, dass er nicht so einfach aufgeben durfte? In den Stunden seiner Prüfung, gefangen zwischen Spiegeln und mörderischen Trugbildern, war da sein Todesurteil nicht eigentlich jener verhängnisvolle Moment gewesen, in dem er all seine schwindenden Hoffnung begraben und sich der süßen, verlockend einfachen Resignation hingegeben hatte?

„Ich… ich finde meine Freunde und… ich komme hier heraus!“ Verzweifelt versuchte Shinya, sich die rettenden Worte zurück in sein angstumnebeltes Gedächtnis zu rufen, die er einst jener höhnisch kalten Felswand in der prüfenden Höhle entgegengeschrien hatte. War ihm seine Situation damals nicht ebenso ausweglos, ebenso endgültig erschienen? Verdammt noch mal, er war ein Estrella und er durfte sich doch von einem Schiff nicht einfach so unterkriegen lassen! „Ich weiß, dass ich… dass ich hier irgendwie wieder rauskomme, ja? Verdammt noch mal, ich weiß das! Hörst du nicht? Ich weiß es!“

Die tanzenden Staubkörner, die bei jedem seiner Schritte erschrocken aufwirbelten, schluckten gierig jedes einzelne seiner Worte, verschlangen jeden Ruf, jeden Schrei wie ein alles erstickender Schwamm, kaum dass die Töne Shinyas Lippen entflohen waren.

„Das ist doch alles gar nicht echt! Wie oft muss ich’s denn noch sagen? Ich glaube nicht an irgendwelche… irgendwelche Illusionen… und… das ist nicht echt! Das ist nicht echt, hörst du?!“

Ein heftiges Zittern lief durch Shinyas Hände, während sein Verstand mit grausamer Klarheit einsah, dass er schreien konnte, so viel, so laut und so lange er wollte, und es würde ihn doch niemals jemand hören können, irgendwann vielleicht nicht einmal mehr er selbst. Dies war schon längst keine Prüfung mehr, kein Test an irgendeiner inneren Stärke, an dessen Ende ein hübscher Preis auf die siegreichen Helden wartete. Im Grunde genommen war es auch gar kein boshaftes, tödliches Spielchen mehr.

Dieses Schiff war der Tod.

„Hoshi! Rayo! Ha-hallo? Warum hört ihr mich nicht, verdammt noch mal?! Hilfe!!”

Die Panik brach wie eine alles verschlingende Welle eisigen Wassers über ihn herein und riss alles mit, was zuvor noch an ihrer Stelle gewesen war. Obgleich Shinya aus voller Kehle schrie, sodass ihm jeder Ton wie Feuer in seinem rauen Hals brannte, drangen doch nur leise, scheinbar unendlich weit entfernte Misslaute an seine Ohren.

„Hilfe!“

Mit einem letzten erstickten Aufschrei fuhr der Katzenjunge herum und begann zu rennen. Er rannte und rannte, riss blindlings jede pechschwarze Türe auf, die sich ihm in den immer gleichen Weg stellte und stürzte in kopfloser Panik durch sie hindurch. Er achtete nicht mehr auf seinen Weg (wozu auch?), nicht mehr auf seine Schritte oder auf sonst irgendetwas um ihn herum. Unfähig, überhaupt noch irgendeinen Gedanken zu fassen, stürzte er durch das endlose staubige Labyrinth, bis ihm irgendwann die Luft in den Lungen brannte und die Kraft in den Beinen versagte und er keuchend und zitternd auf die Knie brach. Er wollte schreien, aber er brachte keinen einzigen Laut mehr zustande. Die Welt um ihn herum drehte sich, verwandelte sich in ein wirbelndes Meer aus Schmerz und Übelkeit, das sein Bewusstsein in ein bodenloses schwarzes Loch hinabriss.

Shinya kippte haltlos vornüber und blieb dann regungslos auf dem staubigen, kalten Boden liegen.
 

Das Erste, was Hoshi mit unverminderter Gewalt entgegenschlug, als sie die hässliche, rostige Türe öffnete, war eine schier unerträgliche Hitze, die ihr für einen Moment den Atem nahm und sie beinahe postwendend wieder zurückgeschleudert hätte. Der widerwärtige Brodem trieb ihr Tränen in die Augen und raubte ihr die klare Sicht, und gleichzeitig erfüllte sich jenes abscheuliche zerfressene Gebilde, das man nur mit sehr viel gutem Willen noch als Türgriff bezeichnen konnte, mit einer plötzlichen Wärme, schien unter ihren Fingern regelrecht zu pulsieren wie nacktes, warmes Fleisch. Mit einem Aufschrei zog die Lichtmagierin ihre Hand zurück und unterdrückte nur mit all ihrer Willenskraft den Impuls, sich einfach umzudrehen und wieder auf den blauschwarzen Gang hinauszulaufen.

Vor allem anderen ging es jetzt doch darum, Misty und Noctan möglichst wohlbehalten wiederzufinden. Und außerdem – wer war sie denn eigentlich? Ein erbärmlicher Feigling, der bei jedem kleinen Spuk die Nerven verlor und panisch das Weite suchte? Nein, sie konnte sich wehren, sie war stark und sie würde ganz bestimmt nicht davonlaufen.

Die Dunkelhaarige versuchte vergeblich, die schwere Dunkelheit, die sich vor ihr ausgebreitet hatte, mit ihren Blicken zu durchdringen. Beinahe schien es dem Mädchen so, als blickte sie nicht einfach in einen gewöhnlichen finsteren Gang, sondern vielmehr auf eine lebendige, dichte Masse, die ihr unerbittlich die Sicht auf alles verwehrte, was hinter ihr verborgen lag – oder in ihr… Hoshi schüttelte heftig ihren Kopf, um das schwarze, lähmende Gift aus ihren Gedanken zu verscheuchen, und tauchte dann mit festen Schritten in das Netz aus Schatten ein.

Sie kam genau zwei Meter weit, dann tat sich urplötzlich ein Nichts unter ihren Füßen auf und riss sie gewaltsam vornüber. Mit einem erschrockenen Kreischen sah das Mädchen ihr Gleichgewicht entschwinden, ruderte panisch mit den Armen, um sich wieder zu fangen, um nicht in den widerwärtigen Brei aus Leere und Schatten stürzen zu müssen – nur, um am Ende doch zu fallen. Schreiend schlug sie auf einem harten, kalten Etwas ungefähr einen halben Meter weit unter ihr auf und rollte haltlos nach vorne, einem nicht weniger tiefen Fall entgegen. Treppenstufen aus vereistem, von gierigem Rost zerfleischtem Metall schlugen wieder und wieder gegen ihren Körper, ohne jedoch ihre blinde Rutschpartie zu bremsen.

Und dann endlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, prallte die Dunkelhaarige auf einer rauen aber nicht minder harten Fläche auf und kam mit einem letzten kraftlosen Stöhnen zum Liegen.

Reglos, die dunklen Augen krampfhaft geschlossen, wartete Hoshi darauf, dass die Schmerzen in ihren Gliedern und vor allem in ihrem Kopf und dem Rücken wenigstens ein kleines bisschen nachlassen würden, doch auch diese qualvolle Zeitspanne verstrich noch ungleich langsamer, als es dem Mädchen lieb war. Sie zählte ihre Atemzüge, nur um an etwas anderes zu denken als an die unaufhörliche und überaus grausame Folter, die in ihrem geschundenen Körper tobte, und irgendwann wagte sie es, ihre Augen ganz langsam wieder aufzuschlagen.

Direkt über ihr flackerte ein Licht, baumelte nervös von einer Seite auf die andere, stumm und rastlos. Hoshi rieb sich mit einiger Mühe die Augen und blinzelte verwirrt in den bewegten, matten Funken hinein, der wie ein Irrlicht über ihrem Kopf umhertanzte. Wiederum vergingen mehrere Sekunden, bis sich der Blick der Dunkelhaarigen so weit geklärt hatte, dass sie tatsächlich eine kleine, halb heruntergebrannte Kerze ausmachen konnte, die nur an einem Metallkettchen befestigt an der hölzernen Decke aufgehängt worden war und ein schwaches, blässliches Licht verbreitete. Und trotzdem war sich Hoshi vollkommen sicher, dass sie das Leuchten von der Türe aus hätte sehen müssen.

Ebenso wie die Treppe, deren steile, rostige Stufen sie gerade eben auf so überaus unelegante Weise hinabgestürzt war.

Mit einem Mal war Hoshi doch heilfroh, dass Shinya nicht mit ihr gekommen war – schon allein die bloße Vorstellung ihres kopflosen Falls trieb ihr das Blut in die Wangen. Besser hätte ihr ganz persönliches Abenteuer aber auch wirklich nicht beginnen können! Da wollte sie sich ein einziges Mal beweisen, wie heldenhaft und mutig sie doch war, dass auch sie allein sich bewähren und durchsetzten konnte… doch von einer latenten Übelkeit und einer beachtlichen Menge an Schmerzen einmal abgesehen hielt sich ihr Erfolg bislang leider stark in Grenzen.

Mit hochrotem, pochendem Kopf und zittrigen Knien rappelte sie sich auf und humpelte den verschwommen konturierten Gang hinab, der sich im gedämpften Licht der flackernden Kerzenflammen vor ihr erstreckte. Irgendetwas an diesem Korridor irritierte sie, doch erst auf den zweiten Blick begriff ihr reichlich durchgeschüttelter Verstand, dass dessen bloße Ausmaße, all die Windungen und nicht zuletzt die beachtliche Länge in krassestem Gegensatz zu der eigentlich Größe der Barke standen. Sicher, das Schiff war alles andere als klein, aber ein derart ausgedehntes Innenleben hatte die junge Lichtmagierin trotzdem nicht erwartet. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl stieg in ihr hoch.

Ich sollte nicht hier sein.

Hoshi riss ihre dunklen Augen weit auf. Der Satz brach so plötzlich in ihre Gedanken hinein, dass sie es im ersten Moment noch gar nicht recht begreifen konnte. Dann jedoch wurde ihr beinahe ebenso schlagartig bewusst, dass diese simplen Worte ganz genau das ausdrückten, was sie schon beim ersten Schritt in die erdrückende Finsternis gefühlt hatte und nun immer deutlicher wahrnahm. Sie sollte, nein, sie durfte sich eigentlich gar nicht in diesem Gang befinden! Sie musste umdrehen, davonlaufen, rennen und rennen so schnell sie nur konnte, bevor es endgültig zu spät war…

Die Weißmagierin schüttelte erneut den Kopf und zwang sich mühsam Beherrschung auf. Hatte sie denn noch gar nichts begriffen? Sie selbst und niemand anderes hatte diesen Weg für sie gewählt! Es war längst schon zu spät, um noch umzukehren.

Dummerweise erschien ihr genau dieser Gedanke in ihrer gegenwärtigen Lage alles andere als tröstlich, aufmunternd oder wenigstens noch motivierend. Es war vielmehr so, als hätte sie mit genau dieser Erkenntnis eine Türe hinter sich zugeschlagen, die sie nun nicht mehr öffnen konnte. Ob es ihr nun gefiel oder nicht – sie hatte Recht. Feigheit und Mut hin oder her, sie konnte ganz einfach nicht mehr zurück.

Unbewusst hatte Hoshi ihre Schritte beschleunigt, den Blick starr auf den dunklen hölzernen Boden zu ihren Füßen gerichtet, ohne ihrer bedrückend finsteren Umgebung noch weiter Beachtung zu schenken. Die Enge und die immer weiter zunehmende Wärme des Korridors legten sich wie ein klammer Ring um ihren Hals und schnürten ihr wie ein feuchtkaltes Tau die Brust zusammen. Ein unruhiges, lauerndes Angstgefühl verfolgte sie, kroch in ihren Körper und schwoll mit jedem zähen Meter an, den sie sich tiefer in ihr düsteres Grab hineinbewegte. Die wachsende innere Beklemmung drückte schwer auf den Atmen des Mädchens. Ihr Herz schlug so heftig und so laut, dass sie fast schon meinte, den dumpfen Laut in ihren Ohren dröhnen zu hören, grauenvoll gedämpft von den niedrigen Wänden zurückgeworfen.

Die Dunkelhaarige blieb abrupt stehen. Sie spürte, wie die Panik mit eisigen Knochenfingern nach ihr griff, sie packte, würgte und ihr den kalten Schweiß über den Rücken trieb. Die finstere Umgebung hatte ihre Gedanken nicht etwa umnebelt, verwirrt, einem angstdurchtränkten Wahn als Opfer dargeboten. Ihre überreizten Sinne hatten ihr nicht einfach nur einen boshaften Streich gespielt, denn es war gar nicht ihr eigener Herzschlag, den sie da hörte.

Der Gang lebte.

Hoshi stieß einen tonlosen Schrei aus. Sie hatte der grauenvollen Veränderung, die langsam und tückisch schleichend mit ihrer Umgebung vonstatten gegangen war, viel zu lange keinerlei Beachtung geschenkt – und wünschte sich jetzt, dieses Versäumnis auch niemals nachgeholt zu haben. Die Wände waren nicht mehr schwarz und kühl und staubig, vielmehr war die teerfarbene, wabernde Masse von roten, heftig pulsierenden Adern durchzogen und pochte selbst wie im gleichmäßigen Takt eines gewaltigen Herzens. Mehr als alles andere fühlte Hoshi jedoch die tiefe, alles durchsickernde Bosheit, die der abstoßende, zuckende Organismus wie ein tödliches Gas auszustoßen schien. Ihr war, als ob allein die bloße Anwesenheit in der Nähe dieser abartigen Lebensform genügen würde, um ihr eigenes Herz durch und durch zu vergiften. Und die Lichtmagierin befand schon längst nicht mehr nur in der näheren Umgebung dieses stinkenden Fleischklumpens.

Sie war in ihm.

Das Mädchen keuchte. Trotz des abgrundtief widerwärtigen Anblicks, der sie umfing, war Hoshi aus irgendeinem Grund nicht mehr in der Lage dazu, einfach kehrt zu machen und davonzulaufen, aus dieser pochenden Abart zu fliehen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Wie in Trance schritt sie immer weiter geradeaus, tiefer und tiefer in ihr grausames, endgültiges Verderben hinein. Ihr eigener Körper wollte ihr nicht mehr gehorchen, hatte ein ebenso boshaftes Eigenleben entwickelt wie jenes pechschwarze Herz des Todesschiffes.

Und da wurden ihre starr aufgerissenen Augen mit einem Mal einer finsteren, diffusen Bewegung gewahr.

Auch in ihrem traumwandlerisch benommenen Zustand hatte Hoshi schon lange jene leisen, unruhigen Geräusche wahrgenommen, die sich über den dröhnend bebenden Puls des Adernetzes gelegt hatten. Doch erst jetzt, da sie es endlich auch sehen konnte, wurde der Lichtmagierin wirklich bewusst, was ihr umnebelter Verstand schon etliche Minuten zuvor registriert hatte. Sie sah einen Schemen, der sich ihr hinter einer nervös zuckenden Biegung des Ganges rasch und flackernd näherte. Nun begriff sie auch, dass es schnelle, keuchende Schritte waren, die in die schwarze Sinfonie des bösartigen Herzens mit eingestimmt hatten. Beinahe noch im selben Augenblick, da die Kenntnis des rasenden Schattens wie eisiges Wasser über sie hereinbrach, verstand die Dunkelhaarige auch, dass dieser sie ebenfalls längst schon gesehen haben musste. Und nun rannte er nicht etwa blindlings geradeaus – er kam geradewegs auf sie zu.

Hoshi legte all ihre Panik in einen einzigen, befreienden Schrei. Die schlagartig in ihr hochkochende Todesangst war stärker als der unsichtbare, klebrige Sog, der sie wie eine blinde Marionette in das Innere ihres pochenden Grabes gezogen hatte. Die Lichtmagierin fuhr herum und stürzte zurück durch das schwarzrote Glühen, vorbei an den wogenden Wänden, deren blutige Adern vor ihren Augen verschwammen und als tödlicher, irrwitziger Farbenrausch an ihr vorbeirasten. Ein heftiger Schwindel drehte sich im Kopf des Mädchens und nahm ihr jegliche Orientierung.

Bis ganz plötzlich, schlagartig und abgehackt eine Wand in ihrem kopflosen Weg auftauchte.

Die Lichtmagierin wollte ausweichen, in letzter Sekunde zur Seite springen, aber ihre Reflexe waren nicht gut genug, um auf das unerwartete Hindernis noch irgendwie zu reagieren. Hoshi spürte, wie sie das Gleichgewicht verlor, musste hilflos in eisigem Schrecken erstarrt mit ansehen, wie der schwarze Boden in groteskem Zeitlupentempo näher und näher auf sie zukam. Dann wurden ihre rasenden Sinne durch einen heftigen Schmerz benebelt, der ihren Körper durchzuckte, als sie mit dem Kopf voran auf dem harten, rauen Holz aufschlug.

Nicht aufgeben, jagte es durch ihre Gedanken, nur nicht liegen bleiben! Der sichere Tod war ihr unmittelbar auf den Fersen, näherte sich mit unverändert schnellen, leisen Schritten, deren Echo dumpf und schwer durch den lebenden Gang vorauseilte. Doch trotz des beängstigend klaren Wissens um ihr nahendes Ende war Hoshi nicht mehr in der Lage dazu, ihren Körper noch irgendwie zu bewegen, geschweige denn aufzustehen und weiterzulaufen. Ihre schwindenden Kräfte konzentrierten sich einzig und allein noch darauf, ihr Bewusstsein wach und gespannt zu halten, um den nahenden Verfolger unaufhaltsam heranjagen zu hören. Ihr war vollkommen klar, dass ihr Abenteuer an genau dieser Stelle enden würde, doch ein kleiner Teil in ihr wollte sich nicht mit dieser Erkenntnis abfinden, nicht mit solch einem einsamen, unehrenhaften Tod, ohne ein letztes Mal einen Blick in Shinyas Augen geworfen zu haben…

Und als sie die schwarze Gestalt schon aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte, da stieß das Mädchen einen letzten, verzweifelten Schrei aus, der von dem lauten Pochen des grauenhaften Herzens verschluckt wurde.
 

Er wusste nicht, was in diesem Moment wohl lauter sein musste – sein rasender Herzschlag oder sein keuchender Atem, der sich bedrückend schwer über seine Lippen presste. Dabei wirkte die prachtvolle hölzerne Türe nicht einmal wirklich bedrohlich auf ihn, nein, ihn erschreckte auch nicht der Gedanke, durch dieses einsame edle Portal zu treten. Er wollte nur nicht alleine gehen. Er wollte sich nicht von seinen Freunden trennen.

Aber er musste doch Noctan finden!

Vorsichtig öffnete Rayo die Türe gerade so weit, dass er sich durch den finsteren Spalt in den dahinter liegenden Raum zwängen konnte.

Es war, als ob er geradewegs in eine andere Welt getreten wäre. Ihn erwartete kein Zimmer, sondern vielmehr ein Saal von beeindruckenden Ausmaßen. Die Wände waren mit einer Tapete verziert, die wohl vor langer Zeit einmal jenen sanften, blassen Grünton gehabt haben musste, der auch noch den einfachsten Räumen diesen gewissen Hauch von Luxus und Adel verlieh. Rayo kannte solch edle Tapeten aus dem Schloss von Hoshiyama, in dem er aufgewachsen war.

Auch sonst erinnerte der Saal vielmehr an einen jener prunkvollen Salons auf den teuren Edelschiffen, deren angenehme, vergnügliche Überfahrt sich nur die Reichsten der Bevölkerung, allen voran natürlich Silvanias Adlige zu leisten pflegten. Dabei war die äußere Gestalt ihrer schwarzen Barke ja nun wirklich alles andere als luxuriös! Außerdem – das Schiff mochte unzweifelhaft groß sein, aber es grenzte beinahe schon an Blasphemie, einen derart ausgedehnten Raum allein der Zerstreuung wohlhabender Passagiere zur Verfügung zu stellen.

An ebendieser Unterhaltung konnte es jedoch einst, als die Seele des Schiffes noch nicht in ihren tödlichen Wahn hinabgeglitten war, beim besten Willen nicht gemangelt haben. Die Ausstattung des Ballsaales war ebenso stilvoll und prächtig wie sein kostbares Portal. In einer Ecke war eine niedrige Holzbühne, deren edler schwarzer Lack sich größtenteils schon abgeschält hatte. Von dem ewig gut gelaunten Orchester, das die feinen Herren und Damen vor sehr langer Zeit mit seichter Tanzmusik durch den Rausch eines weltvergessenen Abends geführt hatte, war nur ein einziger alter Flügel übrig geblieben. Einsam und verlassen stand er da in der staubigen Leere, wie ein letztes trauriges Erinnerungsstück an längst vergangene Tage.

Auch das dunkelbraune Holz des Bodens und der Wandverkleidungen, das dem der Türe an Kostbarkeit in nichts nachstand, war in den langen Jahren der Vergessenheit stumpf und glanzlos geworden, hier und dort auch abgesplittert und zerbrochen. Die edle blassgrüne Tapete, die auf den ersten Blick fast schon Heimatgefühle in ihm geweckt hatte, war an vielen Stellen von der Wand abgeblättert und hing nun in geisterhaften Fetzen hinab, verhangen mit einem Baldachin pelzig grauer Spinnweben. An der Decke baumelte schief und leicht verbogen ein großer Kristalllüster, dessen Kerzen jedoch sicherlich schon vor mehreren Ewigkeiten das letzte Mal hatten brennen dürfen. Jetzt wurde der Raum nur mehr durch ein staubig blaues Licht erfüllt, das einerseits kalt und unheimlich zwischen den zerfetzten Wänden lag, gleichzeitig aber auch von einer unbeschreiblich tiefen, schwermütigen Melancholie erfüllt war, so als trauere der sterbende Saal den besseren, aber unwiederbringlich verlorenen Zeiten nach.

Rayo seufzte tief. Die verfallene Schönheit seiner Umgebung stimmte ihn traurig. Wie prachtvoll, wie strahlend musste dieser Ballsaal einst gewesen sein, erfüllt von Leben, Licht und ausgelassener Freude! Fast war ihm, als läge das beschwingte Spiel der Musiker noch in der schweren Luft, als umfingen ihn immer noch das Lachen und die belanglosen Unterhaltungen der sorglosen Menschen, eingebettet von den steten Schritten der tanzenden Paare, die sich im Takt der Musik und der Wellen durch den Raum drehten. Ja, wenn er ganz genau hinsah, dann schien es ihm sogar beinahe so, als würde der Glanz jener herrlichen Tage noch wie ein Schleier durch den toten Raum gleiten, Wände, Holz, Tapeten und auch den zerbrochenen Flügel, dessen Tasten wie die Zähne eines grausigen Gebisses schief und dreckig gelb in alle Richtungen abstanden, noch ein letztes Mal zum Leben erwecken. Und auch der prächtige Leuchter erhob sich zu einem letzten Funkeln und Strahlen, um den ganzen Raum in sein goldenes Licht zu tauchen.

Ein bebendes Schaudern, kalt und lähmend wie Eis, kroch langsam durch Rayos ganzen Körper. Seine Augen jagten gehetzt über sein trostloses Umfeld, doch je mehr er sich anstrengte, irgendetwas klar und deutlich zu erkennen, desto mehr entzog sich das Bild seinen Blicken. War da nicht ein leises Huschen, ein leichtfüßiges Wirbeln, bewegte sich da nicht ein tanzender Schatten, lachend, nur kurz im Augenwinkel wahrzunehmen? Der junge Adlige schüttelte heftig seinen Kopf. Das war nicht möglich! Dieser Saal war leer, verlassen, heruntergekommen, und er konnte ganz bestimmt nicht einfach wieder auferstehen, wann es ihm gerade so beliebte. Es gab keine Tänzer, es gab kein Licht und es gab keine Musik. Er war allein.

Aber warum spürte er dann fremde Leiber, die sich eng um seinen eigenen drängten? Zog da nicht ein Atemhauch an seinem Nacken vorbei? Stieß ihm da nicht ein unachtsamer Tänzer in den Rücken, entschuldigte sich rasch und verlegen, nur um dann wieder mit seiner Partnerin in den Strudel wirbelnder Körper einzutauchen?

Rayo schluckte etliche Male und beschleunigte dann seine Schritte. Er zwang sich dazu, nicht mehr auf seine Umgebung zu achten und fixierte starr die kleine, ebenholzfarbene Türe, die sich am Ende des Saales in das blasse Grün der Wand fügte. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, ohne den Verstand zu verlieren oder sich einzugestehen, dass ebendies schon längst geschehen war. Die Musik des Orchesters tönte lauter und lauter in seinen Ohren, verlor jedoch ihre heitere Leichtigkeit, je mehr er sich dem Ausgang des vergessenen Ballsaales näherte. Die Töne wurden schrill, hektisch, glichen mehr und mehr einem unmenschlichen Kreischen, und im gleichen Maße veränderte sich auch der körperlose Todesreigen der verlorenen Festgesellschaft. Rayo wollte rennen, doch die dichte Menge der Tanzenden hielt ihn zurück, nahm ihn mit unzähligen drehenden und wogenden Leibern gefangen. Der junge Adlige spürte, wie ihm die erdrückende Enge den Atem nahm, wie sich seine Hände feucht von kaltem Schweiß zu Fäusten verkrampften.

Was, wenn sie ihn nicht gehen ließen?

Nein – das war nicht möglich und das konnte er ihnen auch nicht gestatten, das sollte er ja nicht einmal nur denken. Er musste doch Noctan helfen! Mit aller Willenskraft, die Rayo noch irgendwie aufbringen konnte, drängte er sich durch die unsichtbaren Massen hindurch, schob und rempelte gegen den reißenden Strom an, der ihn in seinen rasenden Wellen gefangen nehmen wollte, kämpfte sich Meter um Meter auf die kleine Türe zu. Das ohrenbetäubend schrille Geschrei der Violinen ließ das Glas des flackernden Lüsters beben.

Rayo schrie auf. Sein rettender Ausgang schien zum Greifen nahe und dennoch unerreichbar weit von ihm entfernt, denn der Widerstand wurde mit jeder Sekunde erbitterter, panischer, während die Kraft im Körper des Blondschopfes mehr und mehr nachließ. Mit einem verzweifelten Satz sprang der junge Adlige auf den hölzernen Durchgang zu, packte die angelaufene Türklinke, drückte sie noch in derselben Bewegung herunter und warf sich in den dahinerliegenden Raum. Er fühlte unzählige eiskalte Skelettfinger, die sich um sein Bein legen wollten um ihn festzuhalten, ihn zurück in den geisterhaften, todbringenden Ballsaal der lebenden Leichen zu zerren und ihn niemals wieder gehen zu lassen.

Sie kamen zu spät. Rayo wurde von seinem eigenen Schwung geradewegs durch den dunklen Türrahmen hindurchgeschleudert. Mit einem lauten Knall fiel das erstaunlich schwere hölzerne Portal hinter ihm ins Schloss, noch bevor der Blondschopf auf dem Teppichboden aufprallte, sich dreimal überschlug und dann reglos und zitternd liegen blieb. Das hysterische Kreischen der Violinen tönte immer noch schmerzhaft in seinen Ohren, jagte ihm ein ums andere Mal kalte Schauder über den Rücken hinab. Rayo schloss die Augen und atmete tief durch, um sich wenigstens wieder ein bisschen zu beruhigen. Dann rappelte er sich langsam und unsicher auf, hob seinen Kopf und sah sich in dem kleinen Raum um, den er auf solch ungewöhnliche Art und Weise betreten hatte.

Er wirkte ein bisschen wie eine verspielte Miniaturausgabe des Saales, aus dem er sich eben noch hatte retten müssen, nur dass Teppich und Wände in diesem Zimmerchen intensiv blutrot leuchteten. Ein kleines, kunstvoll verziertes Schränkchen aus glänzend poliertem dunklem Holz stand an der gegenüberliegenden Wand, daneben ein niedriges Tischchen, auf dem ein goldener Kerzenleuchter mit drei scharlachroten Kerzen stand. Ansonsten war der Raum leer. Rayo presste einen letzten tiefen Atemzug zwischen den Lippen hervor und wandte sich dann erst einmal dem zwar kleinen, dafür aber umso verschnörkelteren Möbelstück zu. Er wollte gerade darauf zugehen, um ihn nach irgendetwas Brauchbarem zu durchsuchen, als er plötzlich hörte, wie sich hinter ihm die Türe öffnete. Ein leises Kichern erfüllte das Halbdunkel des Zimmerchens.

„Hallo, Rayo!“
 

Hoshi kniff ihre Augen fest zusammen, während die schwarze Gestalt in einem wahrhaft irrsinnigem Tempo näher kam und sich schließlich mit einem einzigen Satz auf sie stürzte. Das Mädchen hielt den Atem an und krampfte ihre eisigen Hände ruckartig zusammen, als sie fühlte, wie sich kleine, dünne Finger um ihren Arm legten und mit erbarmungsloser Härte zupackten.

Und dann begann der Schatten zu schreien.

„Hoshi! Hoshi, Hoshi, Hoshi, Hoshiii!!!“

Die Lichtmagierin riss ihre dunklen Augen weit auf und vergaß einige Momente lang zu atmen. Natürlich kannte sie diese Stimme! Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie endlich begriff, vor wem sie da die ganze Zeit über so verzweifelt davongelaufen war.

„Misty!“ Tiefe Erleichterung mischte sich in die Scham des Mädchens. Sie drehte sich langsam auf den Rücken und schloss den zitternden Körper ihrer kleinen Freundin fest in die Arme. Die Blauhaarige klammerte sich an Hoshis Arm und schüttelte dann wie wild ihren Kopf.

„Wir müssen ganz, ganz, ganz schnell weg von hier!“, schluchzte Misty und presste ihr Gesicht in den Stoff von Hoshis Oberteil. „Noctan ist nicht hier! Niemand ist hier und wir dürfen auch gar nicht hier sein! Misty… Misty mag diesen Ort nicht!“

Hoshi strich der Kleinen beruhigend über die hellblauen Haare.

„Ist gut, Misty!“, flüsterte sie dem Mädchen zu. „Ich will ja auch nicht hier bleiben. Hier ist es wirklich nicht schön. Aber du musst dich nicht mehr fürchten, hörst du? Ich bin ja jetzt da und passe auf dich auf!“

Hoshis Worte hallten höhnisch zischend in ihren eigenen Ohren wieder. Glaubte sie denn wirklich an das, was sie der kleinen Blauhaarigen da so heuchlerisch versprach? Die Lichtmagierin war zu müde, um noch weiter darüber nachzudenken, um mehr Gefühl und Ehrlichkeit in ihre leeren Worte zu legen, die ja nicht einmal mehr sie selbst überzeugen konnten. Die drückende Hitze und der immerwährende, boshafte Herzschlag raubten ihr langsam aber sicher die Fähigkeit, überhaupt noch irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Trotzdem war sie unendlich froh darüber, nicht mehr allein durch diesen Alptraum wandeln zu müssen – und vor allem jemanden an ihrer Seite zu haben, der sogar noch ungleich mehr Angst hatte als sie selbst.

„Komm mit!“ Hoshi kämpfte sich auf die immer noch äußerst unsicheren Beine, löste sich sanft aus Mistys Klammergriff und nahm die Kleine bei der Hand. Dann wandte sie sich etwas zu eilig um und steuerte mit raschen Schritten jener widerwärtigen, bösartigen Türe entgegen, durch die sie diesen abscheulichen Organismus überhaupt erst betreten hatte. Die Lichtmagierin konnte weder mit Worten noch in Gedanken ausdrücken, wie sehr sie sich nach der ehemals so bedrohlich wirkenden Dunkelheit des seltsamen und überaus tückischen Treppenhauses sehnte. Der Anblick der immerfort pulsierenden Adern, die jene rot glühende, dickflüssige Masse durch das stinkende, pechschwarze Fleisch pumpten, wurde mit jeder Sekunde unerträglicher.

„Dieses Schiff hat ein Herz“, hauchte eine zittrige Stimme hinter ihr so gedämpft und leise, dass sie beinahe vom Dröhnen des Pulses verschlungen wurde. „Misty… Misty hat es gesehen.“

Hoshi spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief und langsam und gründlich jedes einzelne ihrer Nackenhaare wie elektrisiert zum Beben brachte. So abartig und grauenhaft dieser Gang auch war, um wie vieles schlimmer musste erst jener unvorstellbar grässliche Klumpen Bosheit sein, jener schwarze Motor, der das verdammte Schiff unaufhörlich durch die nächtliche See trieb, gierig nach neuen Opfern für sein todbringendes Spiel?

„Wir… wir kommen bestimmt bald aus diesem furchtbaren Schiff heraus!“, versicherte Hoshi schnell. Sie wusste nicht, ob sie damit sich selbst oder das kleine Mädchen beruhigen wollte, sie wusste lediglich, dass ihr zumindest Ersteres beim besten Willen nicht gelang.

Als die Lichtmagierin dann endlich den schwachen Schein der ersten Kerzen an der immer noch schwarzen, aber nunmehr eindeutig hölzernen Decke erkennen konnte, schien ein ganzes Gebirgsmassiv von ihrem heftig pochenden Herzen abzufallen. So eilig wie es mit der überaus anhänglichen Misty am Handgelenk eben möglich war, erklomm das Mädchen die finsteren, viel zu hohen Stufen und durchquerte die triefende Dunkelheit, bis sie schließlich mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung die rostige Türe aufstoßen konnte. Das abscheuliche zerfressene Metall kreischte schrill und höhnisch, als die beiden Mädchen keuchend aus der Hitze der lebendigen Hölle in das blaue Nachtlicht hinaustaumelten.

Hoshi achtete nicht mehr auf den schmerzenden Misslaut des schadenfrohen Portals, viel zu sehr war ihr erschöpfter Körper erfüllt von einem Gefühl tiefster Befreiung. Die Dunkelhaarige ließ sich gegen eine der angenehm kühlen Wände sinken, rutschte langsam und genüsslich daran hinab und lehnte ihren merkwürdig hohlen Kopf an das nachtfarbene Holz zurück.

„Wo sind eigentlich Rayo und Shinya?“, fragte Misty nicht ohne gewisse Ungeduld in der zittrigen Stimme und sah sich demonstrativ in dem kleinen Raum um. „Verstecken die sich?“

„Hm… ich glaube eher nicht, dass ihnen jetzt zum Spielen zumute ist, Misty. Sie sind in die anderen Türen gegangen und suchen Noctan. Und dich.“

„Aber Misty ist doch hier!“, lachte die Kleine derart unbefangen, dass es Hoshi beinahe schon wieder unheimlich war. „Und Noctan ist aber auch dumm! Wenn Misty nämlich irgendwie so komisch wäre und sich verstecken wollte, dann würde sie doch in diese gaaaaanz, ganz unheimliche Türe da gehen. Nicht in so eine Schöne. Da traut sich doch jeder gleich, nach ihm zu suchen!“

„Na, wenn du meinst…“ Die Lichtmagierin legte ihren Kopf schräg und verharrte einige Sekunden lang in tiefem Nachdenken. Dann nickte sie, rappelte sich wiederum auf und steuerte mehr oder minder entschlossen auf die unscheinbarste der drei Türe zu. „Komm, Misty! Wir gehen jetzt und helfen Shinya! Einverstanden?“

„Einverstanden!“, rief die Blauhaarige und grinste über das ganze Gesicht. „Aber warum denn Shinya? Shinya ist doch viel, viel mutiger als Rayo, ooooder?“

„Ach, weißt du…“ Hoshi zuckte mit den Schultern und versuchte irgendwie das schlechte Gewissen niederzukämpfen, das die unbedachten Worte des kleinen Mädchens in ihr geweckt hatten. „Ich habe irgendwie so ein Gefühl… als könnte er das jetzt ganz gut gebrauchen.“

Sie öffnete vorsichtig die schwarze, hölzerne Türe und spähte in den dahinterliegenden Raum. Das flirrende Gemisch aus Staub und blauer Dunkelheit machte es ihr schwer, überhaupt irgendetwas zu erkennen. Und auch als ihre müden Augen sich langsam an das trübe Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie zunächst einmal noch niemanden in dem einfachen Kämmerchen stehen.

Als Hoshi dann endlichen ihren Fehler bemerkte, lief eine eisige Starre durch ihren Körper. Natürlich hatte sie niemanden in dem Raum stehen sehen! Was aber keineswegs bedeutete, dass er deshalb auch wirklich leer war, denn mitten auf dem staubigen Boden lag Shinya, regungslos… wie tot. Wiederum vergingen etliche lähmende Sekunden, bis die Lichtmagierin begriff, was an diesem Anblick nicht stimmen konnte. Die Haltung des Katzenjungen war vollkommen unnatürlich, so als wäre er in sehr schnellem Laufen zusammengebrochen, als hätten ihm mitten in der Bewegung die Beine versagt… aus Erschöpfung? Aber das war absurd, oder noch besser gesagt, unmöglich!

Der Raum besaß nämlich nur diese einzige Türe.

Hoshi schob rasch ihre letzten logischen Überlegungen beiseite – was brachte sie denn eigentlich auf die Idee, auf einem Geisterschiff logisch denken zu wollen? – und stürzte zu dem bewusstlosen Katzenjungen hin.

Oder zumindest hoffte sie, dass er nur bewusstlos war.

Hoshi schüttelte energisch ihren Kopf, obgleich die allzu heftige Bewegung ihre düstere Umgebung vor ihren Augen verschwimmen und sogar noch die letzten spärlichen Formen und Konturen verlieren ließ. So etwas durfte sie nicht einmal denken! Hastig, mit schuldbewusst geröteten Wangen, kniete sie sich zu dem leblosen Körper hinab und nahm ihn vorsichtig in ihre Arme.

„Shinya?“ Hoshi wollte nach ihrem Freund rufen, wollte schreien, aber sie brachte nicht mehr als ein brüchiges Flüstern über die Lippen. „Shinya!“ Der Katzenjunge reagierte nicht. Kein Zucken, kein Blinzeln lief über sein Gesicht und verriet auch nur das geringste Lebenszeichen. „Shinya? Shinya, verdammt noch mal, sag irgendwas! Hörst du mich? Shinya!“

Panik kroch in dem Mädchen hoch und legte sich wie eine dünne, starre Eisschicht über ihren gesamten Körper. Was, wenn sie zu spät kam? Hoshi wusste nicht, was in diesem scheinbar vollkommen leeren kleinen Kämmerchen geschehen war, aber sie hatte den Hauch des Verderbens am eigenen Leibe gespürt, den das Schiff wie giftigen Atem ausstieß. Und wenn Shinya diesem Gift nun zu nahe gekommen, ihm vielleicht sogar erlegen war?

Nein! Das konnte, das durfte einfach nicht sein! Hoshi wollte diesen Gedanken nicht akzeptieren, obgleich er wie eine Herde panischer Wildpferde ein ums andere Mal durch ihren Kopf raste. Sie packte die Schultern des Jungen und schüttelte ihn.

„Shinya!!“

„Ho… Hoshi?“

Durch die Lider des Katzenjungen lief ein leises Zittern. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich, während er unendlich langsam seine grünen Augen aufschlug.

„Shinya? Oh Gott… Shinya!!“ Mit einem einzigen erleichterten Schluchzen fiel das Mädchen ihrem Freund um den Hals und drückte ihn an sich, so fest sie nur irgendwie konnte. „Ich… ich bin so froh, du… du bist in Ordnung!“

„Ja… mir… mir geht’s prächtig… falls… falls du mich jetzt nicht erwürgst… dann geht’s mir nämlich nicht mehr so prächtig, glaube ich.“

„Ist mir egal!“

Hoshi presste ihren Kopf an Shinyas Hals und vergrub ihre Finger im Stoff seines Oberteiles. So verharrte sie mehrere Minuten lang, und spätestens, als sie die Hand des Katzenjungen vorsichtig über ihren Rücken streichen fühlte, vergaß sie auch vollkommen, dass sie ja immer noch auf einem nach wie vor verfluchten Geisterschiff ins Ungewisse segelten, umgeben von Staub und bläulichen Schatten. Shinya lebte und das war eigentlich auch schon der einzige Gedanke, der noch Platz in ihrem Kopf finden konnte – wenn überhaupt. Im Grunde genommen dachte sie nämlich überhaupt nicht mehr nach und verlor sich dankbar in der tiefen, aufrichtigen Erleichterung, die sich wohlig warm in ihrem Körper ausgebreitet hatte.

Dann jedoch verließen sie irgendwann die Kräfte zu einer derart festen Umarmung und auch ihr Geist kehrte langsam wieder in die düstere Realität zurück. Hoshi holte sie tief Luft, dann löste sie sich vorsichtig aus Shinyas Armen und legte ihm stattdessen beide Hände auf die Schultern. Ihre dunklen Augen suchten ernst und besorgt die seinen, und das stete Flackern, das sie dort entdeckte, gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Was… was war denn eigentlich los hier? Warum…“ Sie brach ab und beließ es bei einem fragenden Blick, den der Katzenjunge auch sehr wohl zu verstehen schien.

„Ich… wie kommst du hier… wir…“ Shinyas Augen weiteten sich, was sie spontan sogar noch ein bisschen panischer aussehen ließ. „Du darfst nicht hier sein! Du… du musst hier weg, schnell! Verdammt, wir… wir kommen hier nie mehr raus! Wir werden…“

„Shhh…“ Hoshi legte ihm beruhigend einen Finger auf die Lippen. „Ist ja gut. Du musst nicht darüber reden, was passiert ist, aber jetzt ist es jedenfalls vorbei. Ich denke…“ Sie ließ ihren Blick nachdenklich durch die offen stehende Tür in den schwarzen Raum schweifen, aus dem Misty die beiden jungen Estrella mit großen, ängstlichen Augen beobachtete. „Dieses Schiff ist Schuld daran… das ist irgendwie Schuld an allem hier. Es raubt einem den Verstand… irgendwie. Wir müssen schaun, dass wir Noctan finden, und dann… so schnell wie möglich von hier wegkommen…“

„Du hast Noctan also auch nich gefunden?“, fragte Shinya leise, nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte. Hoshi schüttelte langsam den Kopf.

„Nein. In diesem Gang…“ Sie erschauderte unweigerlich bei dem Gedanken an jenen pochenden, von blutig roten Adern durchzogenen Organismus. „In diesem Gang war er nicht. Dafür aber Misty.“

Shinya atmete geräuschvoll aus und wischte sich immer noch reichlich unsicher über die Stirn.

„Das is gut. Sehr gut.“

„Immerhin, unsere Kleine haben wir wieder! Und Noctan, den finden wir… Moment mal…“ Hoshi schluckte schwer. Das aufgeregte Rot, das die ganze Zeit über ihr Gesicht bedeckte hatte, wich nun schlagartig aus ihren Wangen. „Wenn ich ihn nicht gefunden habe. Und wenn du ihn nicht gefunden hast. Dann…“

Obwohl Hoshi das gar nicht mehr für möglich gehalten hatte, wurde Shinyas Blick schlagartig sogar noch viel entsetzter.

„Dann heißt es, dass… Rayo!!“
 

„Na, wie fühlt man sich… so… so…“ Die schwankende Gestalt stieß ein schrilles, gehässiges Lachen hervor. „In die Falle gedrängt… wie ein Tier… ein kleines, hilfloses Mäuschen… ist das nicht wirklich komisch?“

Er schüttelte kichernd seinen Kopf.

„Noctan… bitte… nein…“ Rayo war wie gelähmt vor Angst und einer ganzen Menge anderer Gefühle, die er nicht beschreiben konnte und am liebsten auch niemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hätte. Er stand mit dem Rücken dicht an die Wand gepresst, und nur diese Tatsache hielt ihn noch auf den Füßen. Er spürte, wie ihm eisig kalter Schweiß über das Gesicht lief, wie sein Körper heftig zitterte. Aus irgendeinem Grund hatte er längst schon begriffen, dass Noctan ihn töten würde.

Ausgerechnet Noctan.

„Oh, hat das reiche Kindchen etwa Angst? Will es wieder zurück zu seiner Mami?!“ Noctans Stimme sollte wohl gehässig klingen, doch sie überschlug sich bei jedem zweiten Wort und schien nicht mehr als das sinnlose Gekicher eines Wahnsinnigen zu sein. Trotzdem verletzte er Rayo mit jedem seiner Worte wie mit glühenden Messerstichen.

„Ich… ich hab dir gesagt, dass du nicht von meinen Eltern reden sollst!!“ Der junge Adlige keuchte.

„Aber warum denn nicht? Freu dich, Rayo, freu dich, wenn ich noch einmal von ihnen rede, du wirst sie ohnehin nie wieder sehen können!“ Noctans zuckende Mundwinkel verzogen sich zu einem reichlich missglückten, aber dennoch unbeschreiblich boshaften Grinsen. „Na, mein kleiner Rayo, was sagst du nun? Was helfen sie dir jetzt, dein wundervoller Adelstitel, deine großartige, reine Blutlinie… all dein Geld… du wirst sterben, ganz einsam und alleine und alle, alle Welt wird dich vergessen!“

„Bitte… hör auf, Noctan, hör auf damit! Du kannst es!“ Die tiefblauen Augen des Jungen waren starr und panisch aufgerissen. Aus seinem ohnehin schon recht blassen Gesicht war jegliche Farbe gewichen.

„Ach so?“ Die weißhaarige Gestalt legte den Kopf schief und blinzelte einige Male mit seinen milchig weißen Augen. „Ja, ich kann… ich kann jetzt eine ganze Menge, weißt du? Schau nur her, Rayo, ich zeige dir, was ich kann!“ Er vollführte eine rasche, abgehackte Handbewegung in Richtung des kleinen Tischchens, das daraufhin mit einem erschrockenen Krächzen exakt und sauber in der Mitte durchbrach. „Ist das nicht toll, Rayo?“ Er kicherte erneut, und wieder schien seine Stimme ein Stück Menschlichkeit verloren zu haben. „Und das…“ Er trat einige Schritte auf den blonden Jungen zu. „Das mache ich nun mit deinem hübschen Hälschen, ist das nicht toll?“

Schwankend riss Noctan seinen Arm in die Höhe und holte weit aus.

„Noctan… nein…“ Gegen seinen Willen füllten sich Rayos große blaue Augen mit Tränen. Seine bleichen Lippen begannen zu beben. „Bitte nicht… Noctan…“

Auf das kalte transparente Gesicht des Weißhaarigen stahl sich ein teuflisches Lächeln.

„Sag Goodbye, Rayo!”

Er hob den Arm noch ein Stückchen weiter, wie um Schwung zu holen, und obwohl (oder vielleicht auch weil) Rayo ganz genau wusste, was nun unweigerlich folgen musste, schloss er seine Augen und senkte den Kopf. Er schluchzte leise. Dies sollte also sein Ende sein.

Und ausgerechnet Noctan…

Rayo versuchte nicht einmal mehr, sich zu wehren oder gar davonzulaufen. Er hörte die Bewegung von Noctans Hand, wie sie die staubige Luft zerschnitt und auf seinen Hals zuschnellte. Was in Wirklichkeit nur den Bruchteil einer einzigen Sekunde andauern musste, schien zu einer qualvollen Ewigkeit zu werden, der letzten Ewigkeit seines jungen Lebens. Er war innerlich fest vorbereitet auf den finalen, den endgültigen Schmerz, der alles andere durchdringen und wegwischen würde… auf den erlösenden Todesstoß…

Der allerdings nicht kam, ebenso wenig wie die darauf folgende blutige Dunkelheit. Es vergingen etliche Sekunden, bis Rayo endlich begriff, dass die verstrichene Zeit ihm nicht nur in seinem gelähmten Bewusstsein so unendlich lange erschienen war.

Es war ganz einfach nichts geschehen.

Zögerlich schlug der junge Adlige seine Augen wieder auf. Einen Moment lang glaubte er, dass die Minuten und Stunden still stehen mussten, versunken in tiefem Todesschlaf, und mit ihnen auch seine finstere Umgebung. Samt Noctan, der in der Bewegung erstarrt war, ohne seinen Schlag zu Ende geführt zu haben. Seine Hand hatte nur wenige Zentimeter vor Rayos Hals schlicht und ergreifend angehalten, wie mitten im tödlichen Angriff eingefroren.

Dann sah Rayo, dass Noctans Unterlippe zitterte.

„Noctan?“ In Rayos leere Augen kehrte ein dumpfes, vorsichtiges Leuchten zurück. Über die totenbleiche Wange des Weißhaarigen rollte eine dicke blutrote Träne. Der Blondschopf spürte, wie sein Herz wieder schneller und lebendiger zu schlagen begann und die eisige Starre seines Körpers durchbrach. Aber er wusste, dass es nun keine Furcht mehr war, die seinen Puls derart beschleunigen ließ. Ein zögerliches, aber umso sanfteres Lächeln stahl sich auf sein blasses Gesicht. Langsam, aber ohne eine Spur von Angst streckte er eine Hand nach dem Gesicht seines Freundes aus. „Oh Noctan, ich…“

Die zitternden Finger des jungen Adligen erreichten ihr Ziel nicht mehr, denn urplötzlich lief ein Ruck durch das ganze Schiff. Noch im nächsten Augenblick bäumte es sich auf, wild und verzweifelt wie ein Tier im Todeskampf, der schließlich mit einem letzten Beben erstarb. Rayo taumelte nach vorne und wäre beinahe auf Noctan gestürzt, aber der machte einen schnellen Satz rückwärts, fuhr herum und stürzte wie von blinder Panik ergriffen durch die Ebenholztüre hinaus in den Tanzsaal.

„Nicht!“ Rayos Kehle fühlte sich rau und trocken an, hatte kaum noch die Kraft zum Schreien. Der Blondschopf stolperte dem Jungen so schnell er nur konnte hinterher, denn er wusste, dass die letzte Chance, Noctan noch retten zu können, mit rasender Geschwindigkeit zwischen seinen Fingern hindurchglitt, um vom schwarzen Spiegel des Meeres verschluckt zu werden. Er ahnte, was geschehen war, doch die erwartete Erleichterung über diesen Augenblick blieb aus.

Das Schiff hatte angelegt.
 

Shinya war gerade erst durch die schwarze Türe der staubigen kleinen Kammer getreten, als der gewaltige Ruck durch die verfluchte Barke lief. Der Katzenjunge verlor das Gleichgewicht, taumelte, griff in letzter Sekunde nach dem Türrahmen und krallte sich in dem dunklen Holz fest. Ein glühender Schmerz raste durch seine ohnehin erst frisch verheilten Fingerkuppen und er spürte, wie ein warmer, feuchter Film zwischen seine Haut und den kalten Rahmen trat. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust, vertrieb so gut es ging das brennende Pochen und machte einer äußerst kurzlebigen Erleichterung Platz.

Immerhin hatte er sein Gleichgewicht wieder gefunden.

Der Halbdämon löste sich von der Türe und wischte seine Hände am mittlerweile reichlich dreckigen Stoff seines Oberteiles ab. Jetzt war es also soweit! Sie waren am Ziel ihrer langen Reise angekommen und…

Shinya hatte seinen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da trieb sich ein lauter Knall der prächtigen Ebenholztüre wie ein hölzerner Keil tief in seine wirbelnden Emotionen. Der Katzenjunge hob erschrocken den Blick – und ein Gefühl von Schrecken brach über ihn herein, das in seiner Kälte einem inneren Schneesturm glich. Durch die Türe trat nämlich nicht etwa Rayo, sondern eine lebende Leiche, taumelnd und in einem fort hysterisch kichernd. Ihr milchig trüber Blick glitt rastlos durch das staubige Blau des Zimmers, ohne jedoch Shinya oder überhaupt irgendjemanden auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Die wachsartig bleichen Wangen waren befleckt von tiefroten Spuren, über die sich ein ums andere Mal blutige Tränen ergossen.

„Oh Gott… wir… wir müssen hier raus!“, schrie der Katzenjunge heiser, die grünen Augen flehend auf Noctans zuckendes Gesicht gerichtet, was dieser jedoch immer noch nicht zu bemerken schien. „Wo… wo ist Rayo? Und… und…“

Er brach ab, als das Schiff ein zweites Mal erzitterte. Durch die bläulich finsteren Gänge wälzte sich ein grollendes, zorniges Brüllen. Und in diesem Augenblick wurde schlagartig klar, dass sie alle miteinander verloren waren, wenn sie jetzt nicht flohen und die schwarze Barke mit all ihrem Grauen hinter sich ließen.

„Kommt, verdammt noch mal, kommt!“ Shinyas Gedanken sprangen wie unter einem finsteren Blitzschlag aus ihren gewohnten Bahnen, wurden verdrängt und vernichtet von einem längst vergessenen Teil seines tiefsten Unterbewusstseins. Er handelte nicht mehr nach Vernunft oder Logik, vielmehr schien sein Körper beherrscht von Instinkten, die er selber nicht mehr verstehen konnte.

Allerdings blieb dazu auch gar keine Zeit mehr.

Der Katzenjunge packte Hoshi und Misty bei den Händen, stürmte kurzerhand an der schwankenden Gestalt vorbei, stieß die rostige Zyklopentüre mit einem einzigen heftigen Fußtritt auf und stürzte auf den nebligen Gang hinaus. Und tatsächlich – wieder klaffte in dem pechschwarzen Holz der Schiffswand eine tiefe Wunde, aus der teerfarbenes Blut in das finstere Wasser des Meeres sickerte. Inmitten des unförmigen Loches hatten sich die Schatten zu einem schmalen, hölzernen Steg formiert.

Ohne lange zu zögern, stieß Shinya die beiden Mädchen hinaus an Land.

„Dreht euch nicht um!“, schrie er.

„Aber…“

„Nein!“, unterbrach er Hoshis Worte und vertrieb so schnell wie nur irgendwie möglich den flehenden, schmerzhaft panischen Tonfall ihrer Stimme aus seinen Ohren. „Ihr dürft nicht zurückschauen, hört ihr?! Auf gar keinen Fall, sonst war alles umsonst!“

Er wartete keine Antwort mehr ab, sondern wandte sich erneut der einäugigen Metalltüre zu, stieß sie auf und blickte keuchend in den Raum, in dem Noctan immer noch taumelnd und irrsinnig lachend umherwankte.

„Rayo!“ Der Katzenjunge schrie, so laut er es noch irgendwie fertig bringen konnte, obwohl ihm jedes Wort in den Lungen brannte. „Rayo, bitte… bitte komm doch… Rayo!!“

Mit einem Mal fühlte Shinya sich vollkommen hilflos. Wo blieb der junge Adelige denn? War er überhaupt noch am Leben? Und außerdem, was sollte er denn nur mit Noctan machen? Er konnte ihn doch nicht einfach hier sterben lassen! Ihm lief die Zeit mit gigantischen Schritten davon und er wusste, dass er irgendetwas tun musste, irgendetwas, aber er konnte nicht einmal mehr darüber nachdenken, was dieses irgendetwas denn nun eigentlich sein sollte. Er war am Ende seiner geistigen und körperlichen Kräfte, und um ein Haar wäre ihm genau diese lähmende Verzweiflung zum Verhängnis geworden.

Shinya war in eine Situation geraten, die ihn derart überforderte, dass er sich aus eigenem Antrieb niemals mehr daraus hätte befreien können – was er aber glücklicherweise auch gar nicht musste, denn seine Gedanken wurden abrupt von dem Geräusch der Ballsaaltüre zerrissen, die erneut mit einem ohrenbetäubend lauten Schlag gegen das schwarze Holz der Schiffswand prallte. Rayo stürzte hinaus, doch die aufkeimende Freude und Erleichterung des Katzenjungen wurde sogar überaus schnell wieder erstickt, als er in die Augen des blonden Jungen blickte.

Irgendetwas an der tiefen, endgültigen Entschlossenheit darin gefiel ihm nämlich ganz und gar nicht.

„Lauf, Shinya!“, schrie der junge Adlige.

„Aber Rayo…“

„Du sollst den Mund halten und mir aus dem Weg gehen, hörst du nicht? Lauf, Shinya, lauf endlich!!“

Und da, ganz plötzlich und zudem aus einem Grund, den er selber wohl am wenigsten verstehen konnte, wusste der junge Halbdämon, dass dies sein einziger Ausweg war. Er konnte Rayo und Noctan schon längst nicht mehr helfen, und schon gar nicht, indem er die Türe blockierte und verloren in die Finsternis des Zimmers hineinstarrte.

Shinya fuhr herum und stürzte wie in Trance durch den staubigen Gang und über die heftig schwankenden und empört quietschenden Planken des viel zu schmalen Steges hinweg. Erst, als er endlich das lebendig kühle Festland unter seinen Füßen spürte, sank er neben Hoshi und Misty zu Boden, die Hände fest zu Fäusten geballt. Der bittere Beigeschmack einer ganz unbeschreiblich vernichtenden Niederlage erfüllte seinen Mund, aber das war nicht einmal das Schlimmste an der ganzen Situation. Der Gedanke brachte ihn beinahe um den Verstand, und doch wusste Shinya ganz genau, dass er sich jetzt nicht mehr umdrehen durfte und eigentlich auch gar nicht mehr umdrehen musste.

Was nun geschah, lag nicht mehr länger in seiner Hand.
 

Auch Rayo wusste sogar erschreckend genau, was er zu tun hatte, und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben war er vollkommen überzeugt davon, richtig zu handeln. Eine nie gekannte Kraft und Entschlossenheit hatte sich in seinen Adern entzündet und rann nun glühend heiß durch seinen angespannten Körper. Er rannte auf Noctan zu, packte dessen Arm und zog ihn mit all seiner noch verbleibenden Kraft auf die Zyklopentüre zu.

Der Weißhaarige folgte ihm nicht. Er stemmte sich Rayos Griff entgegen, zerrte und wand sich, und trotz seines immerwährenden Taumelns wohnte jeder seiner Bewegungen die panische Stärke eines eingekreisten Tieres inne.

„Rayo, lass… lass mich los!”, stieß er keuchend hervor. „Ich werde sterben und das weißt du, also hau… hau ab, bevor ich dich auch noch töte!!“

Sein Kichern klang mehr und mehr wie ein vergeblich unterdrücktes Schluchzen, doch Rayo hörte kaum mehr darauf, ebenso wenig wie auf seine mühsam hervorgepressten Worte. Er schüttelte nur stumm seinen Kopf, umfasste dann kurzentschlossen den Körper seines Freundes und lief los. Noctan wollte sich wehren, sich aus dem Griff des jungen Adligen befreien, doch seine Bewegungen wurden schwächer und erstarben mehr und mehr, je näher der blonde Junge ihn auf den rettenden Ausgang zuschleifte.

Dafür stellte sich Rayo ganz plötzlich und unvermutet ein vollkommen anderes Hindernis in den scheinbar so kurzen Weg. Das schwarze Todesschiff forderte seinen Tribut, wollte sein sicher geglaubtes Opfer nicht einfach wieder gehen lassen. Die Schiffsplanken erbebten unter einem kreischenden Ächzen, vibrierten und zuckten wie ein Schwarm pechfarbener Käfer. Rayo geriet ins Taumeln, kämpfte einige Augenblicke lang um sein Gleichgewicht und legte dann noch an Geschwindigkeit zu. Er wusste, dass er stürzten würde, wenn er nur ein klein wenig langsamer wurde, wenn er stehen blieb…

Und doch brachte ihn das grausige Schauspiel, das ihm ein kurzer Blick über die Schulter zurück gewährte, beinahe zum Erstarren. Entsetzt musste Rayo mit ansehen, wie die scheußliche rostige Türe im Raum hinter ihm aus den Angeln flog, mit einem grässlichen Kreischen über den Holzboden schlitterte und dann auf abstoßende Art und Weise verformt in einer der staubigen Ecken zum Liegen kam. Wie auf ein misstönendes Kommando hin begannen die gesamten Wände der Barke wie ein gigantisches Herz zu pulsieren. Blutrote, ekelhaft pochende Äderchen zogen sich durch diese widerwärtige Masse wie ein lebendiges Spinnennetz, das sich in einem irrwitzigen Tempo um seine Opfer legte, nur um sie dann langsam und vor allem überaus qualvoll zu vernichten.

Rayo schrie auf. Er presste Noctans Körper, der mittlerweile leblos wie eine eiskalte Puppe in seinen Armen hing, fester an sich und schloss die Augen, um den abstoßenden Anblick jener tödlichen, grauenhaften Metamorphose des Geisterschiffes nicht mehr länger ertragen zu müssen.

Dann begann er zu rennen. Er wusste, dass der Ausgang unmittelbar vor ihm liegen musste, aber wie weit genau vermochte er nicht mehr zu sagen. Irgendetwas griff nach seinen Beinen, widerlich warm und zuckend in einem rasenden Pulsschlag, und der junge Adlige stieß ein panisches Keuchen aus, als ihm klar wurde, dass es die blutigen Adern waren, die ihn festhalten, ihn zu Fall bringen wollten.

Er würde es nicht mehr schaffen.

Ihm war klar, dass er nur noch eine letzte, winzige Chance hatte, und er musste nun alles auf diese eine Karte setzen. War er auch nur noch ein kleines Stückchen zu weit vom Ausgang entfernt, dann würde dies sein sicheres, abscheuliches Todesurteil sein. Er würde auf die gierigen Planken stürzen, wo ihn der furchtbare Organismus verschlingen würde, ihn und Noctan… und dennoch hatte er keine Wahl. Mit einem letzten Schrei sammelte er alle noch verbleibende Kraft in seinem Körper.

Dann sprang er.
 

Ende des achten Kapitels

Kapitel IX - Kein Schatten ohne Licht

I've got to take it on the otherside... in diesem Kapitel stehen die Estrella im Mittelpunkt, die sonst immer ein bisschen zu kurz kommen. Ich habe sie trotzdem sehr ins Herz geschlossen und gönne ihnen jede einzelne dieser Zeilen. Enjoy!
 

Die Sonne hob sich nur langsam und träge über die Gebirgskette am Horizont. Eine seltsame Aura der Stagnation hatte sich über das Panorama gesenkt, zog sich in rötlich violettem Sirup über die schweren, tief hängenden Wolken und hinterließ einen drückenden Grauschleier auf den weiten Ebenen. Selbst der kühle Morgenwind, der ansonsten in steter Hast über das Land jagte, schien im Zwielicht jener frühen Stunden merkwürdig getragen und gebremst. Irgendetwas Unheilvolles lag in diesem sachten Luftstrom, ohne dass er jedoch hätte sagen können, was genau das war und woher er überhaupt diese Gewissheit nahm. Aber das vereinzelte Rauschen der Blätter und des Grasmeeres, das kaum wahrnehmbare Pfeifen des Windes, das Scharren der flüchtigen Verwehungen im Sand, all das zusammen klang in seinen Ohren wie ein düsterer Triumphgesang.

Er schüttelte den Kopf und musste lachen. Wovor sollte er sich denn schon fürchten?

Die träge wiegenden Schilfgräser und das immerfort glucksende Wasser des kleinen Flüsschens, an dessen Ufer sie sich zur Rast gelegt hatten, stimmten ein leises Trauerlied an. Irgendetwas war geschehen, soviel stand fest. Aber was auch immer das nun sein mochte, aus irgendeinem Grund war er sich beinahe vollkommen sicher, dass dieses rätselhafte ferne Ereignis alles andere als nachteilig für sie war – im Gegenteil.

„Hey, Phil, du bist schon wach?“

Es war Wills Stimme, die ihn aus seinen Gedanken, aus seinem stummen Zwiegespräch mit der getrübten Umwelt riss. Doch obwohl ihm der stets gut gelaunte Tonfall des jungen Kriegers mittlerweile durchaus vertraut war, fuhr im ersten Augenblick ein instinktives Erschrecken durch Phils Körper, das ihn ruckartig herumfahren ließ und seinen Puls von einer Sekunde auf die andere in Geschwindigkeiten beschleunigte, auf die er am derart frühen Morgen gut und gern hätte verzichten können.

„Ach was!“ Der Blondschopf wählte den genervtesten Tonfall, den er im Angesicht jener ersten Schrecksekunde über die Lippen bringen konnte, und strich sich einige Male durch sein kurzes, strubbeliges Haar, um eine vorwurfsvolle Ruhe zurückzugewinnen. Will lächelte nur (was Phil nicht weiter überraschte, denn eigentlich hatte er noch niemals einen anderen Ausdruck auf dem schönen Gesicht des Schwarzhaarigen gesehen) und machte sich dann wieder daran, aus den ärmlichen Resten ihres Proviants ein Frühstück zu zaubern.

„Sag mal, Phil, täusche ich mich oder siehst du wirklich so ernst aus heute…“, meinte er in fast beiläufigem Tonfall, während er mit einiger Mühe und scheinbar höchster Konzentration von einem mittlerweile hart gewordenen Brotlaib etliche unregelmäßige Stücke abhackte.

„Keine Ahnung…“ Phil zuckte mit den Schultern und ließ seinen Blick über die bräunlich grüne Ebene schweifen. „Irgendwas ist passiert.“

„Häh?“ Will wandte sich von seinem zähen kleinen Feind ab und sah den blonden Jungen fragend an. „Wie kommst du jetzt da drauf?“

„Hörst du nicht den Wind? Das Wasser?“ Phil schloss seine hellblauen Augen. „Aber nein, wie auch? Ich hatte fast vergessen – du kannst sie ja nicht verstehen.“

Er grinste, und Will schnitt eine Grimasse.

„Du bist ja nur eifersüchtig, weil die freundlichen Stimmen nicht zu dir sprechen!“, ahmte Will den Tonfall des Blondschopfes nach, dann lachte er und warf einen kleinen Stein nach der schlanken Gestalt des Jungen. „Idiot. Red du nur weiter mit deinen spirituellen Freunden, aber hör bitte auf, einem armen, alten, hilflosen Estrella schon in den frühen Morgenstunden auf die Nerven zu fallen!“

Phil wich dem Geschoss mit einer beiläufigen Kopfbewegung aus, bevor er sich mit einem Lächeln auf den Lippen von dem glucksenden Strom abwandte und an dem Schwarzhaarigen vorbeischlenderte.

„Und was ist, wenn ich dich doch weiter nerve?“ Der Blondschopf bleckte die Zähne. „Willst du mich dann mit deinen übermächtigen magischen Fähigkeiten bestrafen?“

Lachend stapfte er zu ihrer müde glimmenden Feuerstelle zurück und ließ sich auf dem sandigen Boden nieder, ohne auf den leisen, resignierten Seufzer zu achten, den Will über die Lippen brachte, während er wortlos weiter Brot- und Fleischreste zusammensuchte.
 

Die Morgenstunden waren schnell vorangeschritten, der schlafende Rest der jungen Estrella erwacht, und nun, da sie ihr mehr oder weniger ergiebiges Frühstück genießen konnten, war wieder einmal die Zeit für eine Lagebesprechung gekommen.

„Okay. Wir haben Shinya und seine Anhänger jetzt wohl endgültig aus den Augen verloren“, ergriff Phil mit wichtiger Miene und lauter Stimme das Wort, während er auf einem mehligen Stück Apfel herumkaute.

„Ach nee! Jetzt sag aber nicht, dass unser große Anführer doch tatsächlich nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll…“ Will riss seine grauen Augen in gespieltem Entsetzen weit auf und wandte dann seinen Blick zu Cascada hinüber. Die junge Frau saß sichtlich gedankenverloren und ein wenig abseits von der Runde auf einem kahlen graubraunen Fleck des zerklüfteten Bodens und schien der Diskussion bestenfalls noch am Rande zu folgen.

„Sehr, sehr lustig! Einen herzlichen Dank an unseren Alleinunterhalter für diesen unbeschreiblich sinnvollen Beitrag, der uns bestimmt sehr weiterhelfen wird!“, maulte Phil, aber Will hatte es bereits aufgegeben, ihm zuzuhören. Stattdessen rutschte er näher zu der blauhaarigen Magierin hin und betrachtete sie einige Sekunden lang schweigend von der Seite.

„Stimmt irgendetwas nicht?“, fragte er dann in gedämpftem Tonfall und legte vorsichtshalber schon mal ein aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen. Cascada blickte auf, erschrocken, wie plötzlich aus einem tiefen, reißenden Gedankenstrom herausgezerrt.

„Nein, es ist alles in Ordnung!“, erwiderte sie eine Spur zu hastig.

„Cascada, wenn du mir in diesem Tonfall sagen würdest, dass ein Vogel fliegen kann, ich würde es dir nicht glauben. Also sag schon – was ist los?“

Die tiefblauen Augen der Wassermagierin schweiften über die Ebene zum graublauen Horizont hin, der in weiter Ferne von einem silbern schimmernden Bergmassiv durchschnitten wurde.

„Die Silberberge…“, flüsterte sie. „Es ist doch jedes mal wieder ein wunderschöner Anblick, nicht wahr?“

„Bezaubernd!“, grinste Will. „Wirklich unheimlich bezaubernd und beeindruckend; ganz besonders dann, wenn man vom Thema ablenken möchte, richtig?“

Cascada warf dem Schwarzhaarigen einen strafenden Blick zu, den sie allerdings nur wenige Sekunden lang aufrecht erhalten konnte, bevor sich auch auf ihre Lippen ein Lächeln stahl.

„Du bist wirklich seltsam, Will, aber keine Sorge, ich habe schon verstanden, dass du jetzt unbedingt eine Antwort hören möchtest.“ Sie seufzte leise. „Erinnerst du dich daran, was Phil vorhin gesagt hat? Etwas ist geschehen. Das weiß ich auch, denn alle Wasser singen davon. Aber im Gegensatz zu ihm bin ich mir vollkommen sicher, dass es etwas sehr, sehr Böses sein muss, und ich glaube…“

„Moment mal! Warum bin ich seltsam?“ Der Schwarzhaarige neigte seinen Kopf zur Seite und blinzelte Cascada mit neugierigen Augen an.

„Ich dachte, du wolltest wissen, worüber ich nachdenke! Und jetzt, wo ich es dir sagen will, da ist es auch wieder nicht…“

„Erst einmal möchte ich wissen, warum ich seltsam bin. Oder sein soll. Das ist nämlich völliger Unsinn. Ich bin nicht seltsam! Du bist seltsam, wenn du solche seltsamen Thesen aufstellst, von wegen ich und seltsam, das ist seltsam, hörst du?“

Die Blauhaarige schüttelte den Kopf, und obwohl sich ein leises Lachen über ihre Lippen stahl, blieb ihr Blick doch ernst und gleichzeitig auch gedankenverloren abwesend.

„Ach, weißt du… du versucht immer, die anderen aufzumuntern, und meist gelingt dir das sogar. Ständig trägst du ein Lächeln auf deinen Lippen, so als ob du niemals traurig wärst…“

„Ist das jetzt neuerdings strafbar?“ Will grinste. „Komm, sei doch mal ehrlich – was wärt ihr ohne mich? Irgendeiner muss doch hier für gute Laune sorgen!“

„Ja, natürlich, Will, und das schätze ich auch sehr an dir“, entgegnete Cascada sanft. „Ich frage mich nur…“

„Was?“

„Wieso sprechen deine Augen eine andere Sprache, Will?“

Die Wassermagierin schenkte dem jungen Krieger noch ein letztes Lächeln, bevor sie sich erhob und zum Rest der Gruppe zurückkehrte.
 

Nach langem Überlegen und einer kurzen, aber umso heftigeren Diskussion hatte sich der kleine Trupp schließlich dazu durchgerungen, den langen Weg in Richtung des Meeres einzuschlagen. Immerhin waren Wasser und Wind die Boten gewesen, die eine unheilschwangere Nachricht zu ihnen getragen hatten, und so waren die fünf jungen Kämpfer zu dem mehr oder weniger demokratischen Beschluss gekommen, dass doch eigentlich nur der Ozean diese Neuigkeit verbreitet haben konnte.

„Ein bisschen abgefahren klingt’s ja schon, was?“ Wieder einmal war es Tempest, der als erster das allgemeine Schweigen brach, jene nicht in Worte zu fassende Bedrückung, die sich über das gesamte Bühnenbild der Natur gelegt hatte. „Ich mein ja nur, Elemente, die einem irgendwie halt Geschichten erzählen und so, das is… das is…“

„Seltsam? Unglaublich? Vielleicht sogar unglaubwürdig?“ Tierra lächelte, ein stummes Blitzen in den tiefgrünen Katzenaugen. „Das meintest du doch, nicht wahr?“

Der Rotschopf zauberte sich ein Grinsen auf das Gesicht und nickte.

„Ähm – ja. So ähnlich.“

„Es wäre vermessen, dir zu widersprechen, mein lieber Tempest, und doch erstaunt es mich, diese Worte ausgerechnet aus deinem Mund zu hören. Du selbst kannst sie schließlich auch verstehen. Du fühlst ihn doch, den Wind, nicht wahr?“ Cascada schenkte dem jungen Estrella einen Blick, in dem nur allzu deutlich geschrieben stand, dass sie die Antwort auf ihre Frage wieder einmal längst schon kannte.

„Schon klar! Das hab ich auch gar nich bestritten, oder?“, murmelte Tempest und hielt seine grünen Augen starr zu Boden gerichtet, so als verlange ihm jede einzelne Baumwurzel, jeder mögliche Stolperstein urplötzlich seine volle Konzentration ab. „Ich meine, es is doch einfach krank. Was würdet ihr denn tun, wenn da irgendwie plötzlich jemand zu euch kommt und euch zulabert so von wegen der Wind, der spricht mit ihm und so. Klingt halt irgendwie schon danach, dass bei dem Typen irgendwas nicht ganz in Ordnung is…“

„Hm… kann es sein, dass sie dich früher auch so ab und zu für… leicht verrückt gehalten haben?“, fragte Tierra vorsichtig und versuchte vergeblich, Tempests Blicke aufzufangen. Der Rothaarige antwortete nicht.

„Ich glaube ich weiß, wovon du sprichst“, ergriff Cascada schließlich an seiner Stelle das Wort. „Als ich noch ein kleines Kind war, da erschien es mir vollkommen normal, dass mich der Regen getröstet und der Bach mir Geschichten aus den hohen, weiten Bergen und von aufregenden fremden Orten mitgebracht hat. Ich wusste nicht, warum keiner außer mir auf sie hören wollte, und erst viel später habe ich begriffen, dass die anderen es ganz einfach nicht verstehen.“

„Mann, was kümmern dich die andern?“ Tempest hob ohne rechten Antrieb seine Schultern und stieß ein kurzes, abfälliges Lachen hervor.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du als Kind schon genauso darüber gedacht hast!“ Tierra bemaß den Jungen mit einem zweifelnden Blick.

„Meine Eltern waren Seefahrer!“ Nicht nur die Stimme, sondern auch das Gesicht des Rotschopfes hatte sich schlagartig verändert, war von einer leisen Spur der Euphorie durchzogen, während er seine Augen dem mittlerweile strahlend blauen Himmel entgegenwandte. „War schon irgendwie cool, ich meine, der Seewind is echt mal viel unterhaltsamer als diese mickrigen Lüftchen, die hier teilweise so auf den Ebenen rumkriechen. Hat eben auch mehr erlebt. Außerdem ist der Seewind so’n richtiges Großmaul und – irgendwie wär ich doch ganz gern da auf’m Schiff geblieben…“

„Warum hast du’s dann nicht getan?“, mischte Phil sich nun endlich ein, obwohl er sich bei der ganzen Diskussion doch immer noch ein wenig fehl am Platz fühlte. „Lass mich raten – du wolltest selber mal das eine oder andere Abenteuer erleben, anstatt das immer nur von irgendwelchen Winden erzählt zu bekommen, hab ich Recht?“

„Na ja… so ähnlich war’s schon…“ Tempest grinste schief. „Also ganz entfernt war’s so ähnlich. Die vom Schiff haben mich halt zum Essen holen geschickt und dann… ja… als ich wieder zurückgekommen bin, war’n se dann schon weggefahren. Eben ohne mich.“

Tierra riss ihre grünen Augen weit auf.

„Moment mal! Heißt das, deine Eltern haben dich einfach so allein an Land zurückgelassen?“ Über ihr Gesicht huschte ein sogar überaus finsterer Schatten. „Fantastisch! Nur, weil du vielleicht ein klein wenig anders warst als sie… nein – weil du mehr verstanden hast als sie…“

„Hey, ganz so war’s ja nich!“ Der Rotschopf winkte eilig ab, und sein Grinsen wurde spontan noch ein bisschen falscher und aufgesetzter. „Reg dich mal nich auf. Sie war’n ja nich so richtig meine Eltern. Die ham mich halt irgendwann mal mitgenommen, keinen Plan wieso.“

„Ach ja – das tragische Schicksal eines jeden Estrella!“ Will trat neben den Windmagier und hob seine Hände wie in einem innigem Flehen gen Himmel. „Alle sind wir Waisenkinder – aufgewachsen bei irgendwelchen Großeltern, Stiefmüttern oder ganz auf sich allein gestellt – viel zu früh allein gelassen und nur deshalb bereit für die eine, für die große Aufgabe…“

„Meine Güte, ihr Element-Estrella habt vielleicht Probleme!“ Phil verdrehte die Augen. „Und Will, bitte… spar dir in Zukunft dieses… pathetische Herumgephilosophiere, das passt einfach nicht zu dir. Wir sollten lieber…“

Weiter kam er nicht, denn im selben Moment zerriss ein ohrenbetäubender Lärm die halb schwermütige, halb idyllische Ruhe der Natur. Die staubige Erde um die kleine Gruppe herum begann zu vibrieren, wölbte sich wie ein aufgehender Kuchen und brach dann binnen weniger Sekunden auf. In einer irrwitzigen Geschwindigkeit schossen steinerne Platten aus dem Boden hervor und wuchsen rasend schnell dem Himmel entgegen, der sich beinahe noch im selben Augenblick verdunkelte. Für einen Moment schien die Umgebung in Finsternis zu versinken, verblasste, bis nichts mehr von ihr zu erkennen war.

„Hey! Wo-wo seid ihr?!“

Phil hörte den Ruf, ohne seine eigene Stimme wiederzuerkennen. Wie betäubt tastete er nach irgendetwas, das er als Körperteil oder Kleidungsstück eines seiner Freunde hätte ausmachen können, spürte jedoch nicht auch nur einen von ihnen überhaupt in seiner Nähe. Er fühlte gerade zumindest etwas sehr, sehr ähnliches, vielleicht noch ein wenig beklemmenderes als Panik in seiner Brust aufsteigen, als ganz plötzlich – genauso plötzlich, wie zuvor die schwarze Dunkelheit über die Ebenen und den nahen Waldesrand hereingebrochen war – irgendwo über ihm ein Licht aufflackerte.

Der Blondschopf blickte verwirrt um sich und stellte fest, dass er sich in einem eher kleinen viereckigen Raum mit kahlen weißen Wänden und einer niedrigen dunklen Holzdecke befand. Das Zimmer besaß keinerlei Fenster und Türen, überhaupt schien die einzige Öffnung ein einsames rechteckiges Loch zu sein, das inmitten der schwarzbraunen Dielen klaffte. Vorsichtig, mit einem letzten Rest jenes lähmenden Schlafmittels namens Schrecken in seinen Adern, bewegte Phil sich darauf zu.

Und entdeckte gleichzeitig noch ein vollkommen anderes und vor allem auch vollkommen unsinniges Gefühl in seiner Brust, eine vage, flüchtige Gewissheit, schon irgendwann einmal an diesem Ort gewesen zu sein… ihn zu kennen, ihn sogar genau zu kennen… wenn er doch nur hätte sagen können, woher! Warum ließen sich Gedanken und Erinnerungen immer ausgerechnet dann nicht mehr erwischen, wenn man gerade am fieberhaftesten nach ihnen suchte? Phil verzog kurz und unwillig das Gesicht, dann streckte er langsam seinen Kopf nach vorne und blickte in das Loch hinunter.

Noch im selben Moment wünschte er sich, genau das niemals getan zu haben.

Zu seinen Füßen erstreckte sich ein Abgrund, dessen Tiefe allein schon ausgereicht hätte, selbst dem Hartgesottensten das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Doch noch ungleich schlimmer war der Anblick, der ihm am Grund dieser gewaltigen Schlucht geboten wurde.

Da waren nämlich Will, Cascada, Tempest und Tierra – was an und für sich ja noch nicht einmal so schlimm gewesen wäre. Was die Wiedersehensfreude jedoch erheblich dämpfte war die Tatsache, dass jeder von ihnen dicke Taue um die Arme geschlungen hatte, und einzig und allein von diesen rauen Seilwindungen getragen über einer blutroten, heftig brodelnden Masse hing. In dem schleimigen Brei schwollen Blasen an, türmten sich auf, nur um dann mit einem widerwärtigen Glucksen zu zerplatzen. Hier und dort ragten Gliedmaßen – die meisten davon eindeutig menschlichen Ursprungs – aus diesem stinkenden Tümpel hervor, Arme und Beine, schauderhaft verkrümmt und mit schwärenden Pusteln überzogen. Ein qualvolles Ächzen und Schreien erfüllte die Luft, wie als grausige Untermalung jenes Ausdrucks, der in den Augen der vier Estrella stand – Angst, nackte, kalte Angst, die Phil einen schmerzhaften Schwerthieb in seine Brust versetzte.

Inmitten des scheußlichen Sees, dieser Szenerie vollkommenen Schreckens, befand sich eine kleine hölzerne Terrasse, auf der es sich zwei junge Mädchen gemütlich gemacht hatten. Eine von ihnen, deren blonde Zöpfe sich besonders gravierend von den ansonsten so düsteren Farben ihrer höllischen Umgebung abhoben, hockte mit einer filigranen Teetasse in der Hand auf einem pinkfarbenen Kissen und unterhielt sich kichernd mit ihrer Freundin, aus deren schwarzen Locken zwei lange Hasenohren wuchsen und die ein großes Stück Schokoladenkuchen in ihrer Rechten hielt.

„Liebste Schwester, wie lange geben wir diesem Jungen noch Zeit?“, fragte die Blonde mit glockenheller Stimme und nahm sich einen Keks von der silbernen Platte, die in der Mitte der Holzterrasse auf einem bestickten Deckchen angerichtet war.

„Aber nein, er ist doch hier!“ Das Hasenmädchen kicherte. „Er ist doch längst schon hier und hört uns zu!“

„Sicher, meine Liebste, sicher, er ist oben im Nichts, im Nichts, aber er kommt einfach nicht zu uns herunter!“ Sie spitzte die Lippen und schüttelte ihren blassen Kopf. „Aber Lin-Lin will doch endlich mit seinen vier neuen Freunden spielen! Hörst du, hörst du, wie er nach ihnen ruft?“ Sie tätschelte mit einer Hand die schleimig rote Oberfläche des grauenerregenden Sees. „Oh, warum kommt er denn nicht?“

„Das Seil! Vielleicht hat er das Seil noch nicht gesehen?“, flötete die Schwarzhaarige.

Phil zuckte zusammen, konnte sich jedoch gleichzeitig auch ein ansatzweise hysterisch klingendes Lachen nicht mehr verkneifen. In was für eine wahnsinnige Komödie war er da eigentlich hineingeraten? Tatsächlich und auch ganz bestimmt nicht zufällig erfassten seine Augen erst jetzt – genauer gesagt just in dem Moment, in dem das Hasenmädchen ihre letzten Worte über die Lippen gebracht hatte – ein faseriges Seil, kaum dicker als sein eigener kleiner Finger. Unwillkürlich spürte Phil, wie sich ihm jedes einzelne Haar am Körper langsam und bebend zu sträuben begann. An diesem Seil sollte er also zu den beiden verrückten Schwestern hinabklettern? Aber das war unmöglich! Nie und nimmer würde es sein Gewicht tragen können! Überhaupt… wie sollte er an dieser dickeren Schnur denn eigentlich Halt finden können?

Ein leises Gefühl von Scham kroch in dem Blondschopf hoch, als ihm bewusst wurde, mit welch akribischer Genauigkeit er sich Argument um Argument zurechtlegte, das gegen einen Abstieg sprechen würde – im Gegenzug dazu aber nicht einmal einen einzigen Gedanken daran verschwendete, wie er seinen Freunden möglichst rasch zu Hilfe eilen könnte. Auch jetzt noch fiel es ihm schwer, sich wirklich auf die Gefahr zu konzentrieren, in der die vier Estrella schwebten, geschweige denn auf ihre Furcht oder ihre Schmerzen. Viel zu sehr hatte sich sein Verstand an der einen quälenden Frage festgebissen, was dieser absurde Albtraum eigentlich zu bedeuten hatte.

Lin-Lin… er kannte diesen Namen. Woher auch immer. Er kannte auch dieses Bild… zwei junge, schöne Mädchen… Schwestern, die aber nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander besaßen… und dann der Abgrund, das Seil… die Art, wie es beschaffen und wie es befestigt war… er war sich mittlerweile sogar vollkommen und hundertprozentig sicher, all das schon irgendwann einmal gesehen zu haben.

Nur wo?

„Er zögert! Er zögert!“, jauchzte die Blonde.

„Er schafft es nicht! Er schafft es nicht!“, stimmte das Hasenmädchen nicht minder euphorisch und ausgelassen in das höhnische Jubeln ein.

„Das wollen wir erst mal sehen, ja?!“ Der Trotz in Phils Stimme klang merkwürdig falsch und aufgesetzt, was höchstwahrscheinlich daran lag, dass er auch genau das war – falsch und aufgesetzt, während ihm das Herz eigentlich bis zum Halse schlug, als er vorsichtig eine Hand nach dem Seil ausstreckte. Nur wenige Millimeter trennten seine Fingerspitzen von dem dünnen Strang, aber so sehr er sich auch bemühte und streckte, er konnte ihn nicht erreichen, geschweige denn nach ihm greifen und ihn umfassen. Phil fluchte leise, stand auf, ging um das ganze Loch herum und versuchte es wieder und wieder, legte sich auf den Boden, rutschte so weit er konnte nach vorne – und wurde doch immer nur mit demselben Erfolg belohnt: Mit überhaupt keinem, denn das Seil war stets ein wenig zu weit entfernt, als dass er es hätte berühren können.

Der blutig rote Schleimsee gab ein gieriges Glucksen von sich.

„Phil?! Phil, bist du da oben?“ Es war Tierras Stimme, die seinen Namen rief. Ausgerechnet Tierra! Schon seit ihrer ersten Begegnung hatte er die junge Frau als eine scheinbar vollkommen furchtlose Kämpferin kennen gelernt, mit der sich noch vor wenigen Wochen nicht einmal schwerstbewaffnet hätte anlegen wollen. Sie konnte selbst im Schlaf noch vernichtende Zauber aussprechen und sie war auch im waffenlosen Kampf sogar weit geübter als die meisten Männer. Also warum zitterte ihre Stimme nun plötzlich vor Angst?

„Phil, verdammt noch mal, hilf uns endlich!“, brüllte nun auch Tempest, und seine Worte klangen sogar noch ungleich panischer als die der Erdmagierin. Es war verrückt! Seine Freunde schrieen aus Leibeskräften und doch drangen ihre Stimmen kaum bis zu ihm herauf, während das leise Kichern der beiden Schwestern überdeutlich in dem kahlen Zimmer wiederhallte.

„Was soll ich denn machen?!“ Phil wollte ebenfalls schreien, aber irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, wie eine unbeschreiblich hilflose Verzweiflung in ihm hochkroch – ein Gefühl, mit dem er niemals wirklich vertraut gewesen war und auf dessen nähere Bekanntschaft er auch nur zu gerne verzichtet hätte. Er sah, wie das blonde Mädchen eine Kerze unter ihrem Kissen hervorzauberte. Die Schwarzhaarige pustete kurz an den Docht, woraufhin dieser hell entflammte und ein unheimliches, hysterisch flackerndes Licht auf die ohnehin schon grauenerregend bizarre Szenerie warf.

„Ich wusste es! Ich wusste es! Er schafft es nicht, nun muss er also wählen!“, lachte sie. „Wen, wen sollen wir unserem Liebling als Erstes zum Spielen überlassen? Keine leichte Wahl bei vier Freunden, will ich meinen. Will ich hoffen!“

Die Mädchen sahen sich an und kicherten.

„Nein!“ Der heisere Ruf schmerzte Phil im Hals und in den Lungen und war auch immer noch weitaus leiser und vor allem weitaus weniger bedrohlich, als er das gerne gehabt hätte. „Lasst sie in Ruhe, ihr Monster! Lasst sie in Ruhe, ich…“

Er stockte, und dann ging plötzlich im Kopf des blonden Jungen ein Lichtlein auf, das sogar noch viel, viel heller strahlte und leuchtete als die Kerze in den Händen der wahnsinnigen Schwestern. Binnen weniger Augenblicke setzten sich sämtliche Puzzleteile in Phils Kopf blitzschnell wieder zu einem sinnvollen Ganzen zusammen und er wusste alles oder zumindest so gut wie alles. Er wusste, warum dieser Ort ihm derart vertraut war, obwohl er ihn doch noch nie zuvor betreten hatte und auch gar nicht hatte betreten können.

Was er sah, war nicht mehr als Kindermärchen, eine makabre kleine Schauergeschichte, die er vor sehr langer Zeit einmal gehört hatte. Er konnte sich noch gut an jene warme Mittsommernacht erinnern, tief in den Wäldern von Arvesta… ein einziges Lagerfeuer hatte damals die Finsternis erhellt, denn das schwere, dichte Grün der Baumwipfel hatte kaum Licht zu ihrem kleinen Rastplatz hindurchsickern lassen… der Boden war mit glänzenden Blättern und bläulich grünen Tannennadeln bedeckt gewesen und ein Duft von Moos, von Holz und von Nebel war in der Luft gehangen, obwohl da doch überhaupt kein Nebel gewesen war…

Das Feuer hatte zuerst nicht brennen wollen, aber dann, als es endlich doch entzündet worden war, da hatten sich alle Heimkinder und Betreuer auf alten, grünlich bewachsenen Baumstämmen niedergelassen, die wohl irgendwann einmal von einem Unwetter oder Erdrutsch gestürzt worden wäre. Oh, wie sehr hatten sie sich alle auf diese Nachtwanderung gefreut! Und nun, da der große Tag – beziehungsweise die große Nacht – endlich gekommen war, da lag eine so besondere Atmosphäre, ein solch merkwürdiger Zauber zwischen Arvestas hundertjährigen Bewohnern, dass sich Phil manchmal nicht ganz sicher gewesen war, ob er nun tatsächlich wachte oder träumte.

Und dann, als sie sich nach langer Wanderschaft endlich zur Ruhe niedergelassen, ihre Laternen gelöscht und mit einiger Mühe ein Feuer entfacht hatten, da war eines der älteren Mädchen (war ihr Name nicht Cara gewesen?) plötzlich aufgestanden, um den Kindern und den Tieren des Waldes eine Gruselgeschichte zu erzählen.

Die Geschichte von einem Magier und von seinen zwei schönen Töchtern, deren Hund Lin-Lin viel zu früh verstorben war. Die beiden Mädchen hatten daraufhin versucht, den Welpen mittels der Zaubersprüche ihres Vaters wiederzubeleben, aber natürlich war diese Aktion dann irgendwie nach hinten losgegangen. Von da an saßen sie verflucht auf einem kleinen Holzbalkon inmitten dieser abscheulichen Masse, die einmal ein totes Hundekind gewesen war. Sie lockten Kinder in ihr verwünschtes Haus, aus dem es keinen Ausgang gab, riefen Tag für Tag zur todbringenden Teestunde, um die naiven kleinen Abenteurer von dem roten Etwas verschlingen zu lassen. Fütterungszeit… nur einem kleinen Jungen, der seine besten Freunde hatte befreien wollen, war es letztendlich doch gelungen, den dunklen Bann zu brechen.

Aber wie? Phil verzog das Gesicht wie unter einem Faustschlag, als ihm siedend heiß einfiel, dass er es nicht etwa einfach nur vergessen hatte. Damals, als er noch klein und die finsteren Bäume um ihn herum ganz unglaublich groß gewesen waren, da hatte ihm die ja auch reichlich blutrünstige Geschichte einfach viel zuviel Angst gemacht. So hatte er sich mit einigen anderen Kindern eilig in die mitgebrachten Schlafsäcke verzogen und war in das wohlige Reich der Träume geflüchtet, noch bevor er das – nach Aussagen mutigerer Zuhörer – wahrhaft schreckliche Ende des Schauermärchens hatte hören können.

Blieb leider immer noch die Frage, wie er jetzt seinen Freunden helfen sollte.

„Wieso entscheidet er sich denn nicht?“ Der Tonfall des blonden Mädchens klang genervt, wie der eines verwöhnten, eingebildeten Kindes, das sich einmal mehr zum Oberfeldwebel seiner Eltern, Freunde und Anhänger aufschwingen wollte. „Soll ich sie etwa alle fallen lassen, soll ich das, ja?“

Die Oberfläche des blutroten Schleimes geriet offensichtlich in helle Aufregung, gluckste vor Gier und Hunger, warf mehr und mehr Blasen, wobei hier und dort ein einzelner Arm oder Finger zum unfreiwilligen letzten Flug über die Oberfläche des Tümpels geschickt wurde. Vielleicht war es dieser abstoßend groteske Anblick, vielleicht auch nur ein reichlich verzögerter Geistesblitz, aber urplötzlich wurde Phil bewusst, dass es nur einen einzigen Weg gab, um nach unten zu gelangen.

Er musste versuchen, das Seil im Sprung zu erreichen.

Eine Art hysterische Ruhe hatte seinen Körper befallen, als er sich langsam wieder von den staubig braunen Holzdielen erhob. Die Fakten breiteten sich klar und deutlich vor seinem inneren Auge aus. Seine Chancen standen sogar ganz außerordentlich schlecht. Er konnte – was mit großem Abstand am wahrscheinlichsten war – einfach das Seil verfehlen und geradewegs in den Tod stürzen, er konnte aber auch erst auf den unzähligen Metern nach unten ebenso unzählige Male den Halt verlieren und abrutschen – mit dem mehr oder weniger gleichen Ergebnis. Dennoch… es ließ sich nicht ändern, und außerdem befand sich Phil mittlerweile in einem schockähnlichen Zustand, in dem er nicht einmal mehr Angst verspürte, als er tief Luft holte und seine Konzentration sammelte. Ihm war klar, je länger er jetzt über seine Situation nachdenken würde, desto mehr würden die Zweifel von ihm Besitz ergreifen und desto sicherer war es auch, dass seine schweißnassen Hände ihm ein rasches und unschönes Ende bescheren würden.

Wen kümmerten jetzt noch Chancen und Risiken? Er hatte keine Wahl. Dies war seine sprichwörtliche letzte Karte, auf die er alles setzen konnte und musste.

Was dann geschah, schien sich wie in Zeitlupentempo abzuspielen. Phil wich bis zur Wand zurück, um genügend Anlauf zu sammeln, dann rannte er ohne zu zögern los. Er sah das Loch auf sich zukommen, den Schwindel erregend tiefen Abgrund und er wusste, dass es spätestens jetzt kein Zurück mehr gab. Die Füße des Blondschopfes drückten sich vom Boden ab und für einen Moment schwebte er frei zwischen der Schlucht, dem viel zu dünnen Seil und der dunklen Decke.

Dann fiel er.

Wie ein Stein stürzte er nach unten, so als ob all seine Energie auf einen Schlag aus seinem Körper gewichen und obendrein ein Gewicht auf seinen Rücken geprallt wäre, um ihn mit sich hinab in den Tod zu reißen. Er wollte seine Hände nach dem Seil ausstrecken, es umfassen und einen letzten, sicheren Halt daran suchen, aber es schien in unerreichbarer Ferne an ihm vorbeizurasen. Dann wurde es auch schon Eins mit den Wänden und der todbringenden schleimigen Masse und alles verschwamm zu einem finsteren Strudel, durchzogen von Kichern und Schreckensschreien. Oben und unten, räumliche Dimensionen, all das existierte nicht mehr, wurde hinfort gewischt von einem wirbelnden, konturlosen Farbenrausch.

„Nein!!“
 

Der Aufprall kam rasch und er war auch bei weitem nicht so hart und so schmerzvoll, wie er erwartet hatte – wobei er im Grunde genommen ja gar nicht mehr damit gerechnet hatte, überhaupt noch irgendetwas auf irgendeine Art und Weise spüren zu können.

Warum war er denn nicht tot?

Da war irgendetwas Warmes und Lebendiges unter ihm. Es zuckte.

War das etwa Lin-Lin? Hatte diese grauenhafte blutige Masse seinen Sturz abgefangen, nur um ihn jetzt langsam und genüsslich zu verschlingen? War ihm der alles betäubende Aufprall, das kurze, gefühllose Ende erspart geblieben, nur um ihn jetzt einem ungleich qualvolleren Tod zu überlassen?

Aber warum fühlte sich dieses seltsame Etwas, auf dem er lag, dann nur so verflucht menschlich an?

Zögerlich und nicht ohne ein kurz und heftig aufflammendes Gefühl von Angst in seiner Brust öffnete Phil die Augen – und musste im nächsten Moment festzustellen, dass jenes seltsame Etwas von recht wirren, langen, pechschwarzen Haaren bedeckt war, eine ebenso schwarze leichte Rüstung trug und sich ansonsten vor allem durch eine überwältigende Ähnlichkeit mit seinem Freund Will auszeichnete, die wohl ganz bestimmt kein Zufall war. Zu seiner Rechten lagen Cascada, Tempest und Tierra in recht absurden Verrenkungen wie Holzscheite übereinander gestapelt, und einige Meter abseits von diesem merkwürdigen Gesamtkunstwerk stand eine finstere Gestalt, die sie keuchend und prustend vor Lachen beobachtete.

„Also wirklich! Etwas derart Komisches – nein, das habe ich noch nicht gesehen! Unglaublich!“ Die Stimme der Fremden war ungewöhnlich tief und triefte förmlich vor heiterem Spott. Ihr zierlicher Körper war in einen knielangen schwarzen Umhang gehüllt, darunter waren eine schwarze, enge Hose und ebenfalls pechschwarze Stiefel zu erkennen. Ihre Gesichtszüge waren außergewöhnlich fein und schön, die Haut beinahe weiß und vollkommen makellos. Obwohl sie lachte, lag in ihren spitzen, leicht schräg liegenden Katzenaugen der stechend kühle Ausdruck eines distanzierten Beobachters. Das Haar trug sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, nur vom Kopf stand es in feinen, wirren Strähnen ab und rahmte ihr bleiches Antlitz ein.

Irgendetwas Unwirkliches umgab die schwarze Gestalt, etwas, das Phil in seinem Kopf nicht einfach mit Worten hätte beschreiben können.

„Verzeiht, ich wollte euch gewiss nicht ängstigen, aber ich… ich konnte einfach nicht widerstehen, ihn dir zurückzugeben, Phil!“

„Großartig!“, knurrte der und bemaß die Fremde mit einem bitterbösen Blick, „aber dürfte ich bitte trotzdem mal erfahren…“

„…wann ich endlich aufstehe oder eine Diät oder sonst was mache, weil ich nämlich ganz schön schwer bin!“, fiel Will ihm gequält lächelnd ins Wort.

„…was das eigentlich alles soll!!!“ Der Blondschopf schnaubte entnervt und rappelte sich dann betont und sogar ein bisschen genüsslich langsam auf. Die übrigen vier Gefallenen taten es ihm einer nach dem anderen gleich, dann und wann begleitet von dem einen oder anderen Schmerzenslaut, bis sie schließlich allesamt vor der geheimnisvollen Fremden standen.

„Ja… ja natürlich. Ihr werdet es nicht glauben, aber damit wollte ich gerade eben beginnen!“ Sie lächelte. „Du bist doch Phil, richtig? Phil – Auserwählter, Weltenretter und was nicht alles noch… soweit korrekt?“

Phil nickte.

„Schon irgendwie…“ Er blickte die Schwarzhaarige noch einige Sekunden lang verwirrt und ratlos an – immerhin konnte er sich bislang weder erklären, woher sie so plötzlich kam, woher sie ihn und seinen Namen und sogar seine Aufgabe kannte, und was eigentlich in den letzten Minuten geschehen war – bevor sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht stahl. „Aber lass mich raten – du spielst in dieser ganzen Geschichte hier die allzeit beliebte Rolle der schönen und weisen Wahnsinnigen, soweit auch korrekt?“

Die Fremde schwieg einige Momente lang, und in ihre beinahe schwarzen Augen trat ein nun wirklich nicht mehr zu deutender Ausdruck. Sie schlug etliche Male ihre langen Wimpern auf und nieder, so als ob sie im Geiste immer noch vergeblich nach dem tieferen Sinn von Phils Worten graben müsste.

Dann warf sie ihren Kopf zurück und brach erneut in ein schallendes Lachen aus.

„Also wirklich – das nenne ich einen Schmeichler! Ganz im Ernst, das… das ist wirklich zu freundlich! Kleiner, du hast mir gerade eben den Tag gerettet.“ Sie atmete tief durch, um wieder zu ruhigem Atem zu kommen, während ein unergründliches Lächeln auf ihre fein geschwungenen Lippen trat. „Ich fürchte allerdings, hier liegt eine kleine Verwechslung vor. Eine Wahnsinnige, ja? Du verstehst nicht ganz. Ich bin keineswegs eine Wahnsinnige. Wahnsinniger würde es wohl eher treffen, wenn wir es schon bei diesem Ausdruck belassen wollen…“

Phil riss seine blauen Augen weit auf und vergaß sogar, sich über die ganz und gar nicht willkommene Anrede aufzuregen. Er wollte irgendetwas sagen, brachte aber nur einen seltsam ächzenden Laut hervor. Dem Fremden schien diese offensichtliche Sprachlosigkeit auch durchaus nicht zu entgehen, denn er ergriff nach einer kurzen, aber effektvollen Pause wie selbstverständlich wieder das Wort.

„Gestattet, dass ich mich vorstelle – meine Güte, wie unhöflich von mir, das hätte ich doch längst schon tun sollen!“ Er schüttelte den Kopf und tat so, als ob er die reichlich perplexen Gesichter der Umstehenden gar nicht bemerken würde. „Ich bin – nein.“

Der Schwarzhaarige stockte, warf sich seinen Umhang mit einer schwungvollen Bewegung über die Schulter und sprang dann mit einer fließenden, fast schon katzenhaft eleganten Bewegung auf den nächstbesten größeren Stein, der neben ihm im Staub der Erde ruhte.

„Man nennt mich Morpheus, bekannt und gefürchtet als Traumhändler! Dies Ultima schickt mich zu euch – so heißen sie doch, nicht wahr? Ich sollte für euch…“

„Traumhändler? Was’n das?“, fiel Tempest dem seltsamen Fremden ins Wort, was ihm einen strafenden Blick aus dessen grauschwarzen Augen einbrachte.

„Soll das heißen, ihr wisst nicht, was ein Traumhändler ist?“ Über sein schönes Gesicht lief ein fast schon euphorisches Leuchten und seine Stimme klang betont geheimnisvoll, als er mit seiner Rede fortfuhr. „Schon seit jeher ziehen wir Traumhändler durch die Lande, um mit dem kostbarsten aller Güter zu handeln. Wir fangen und verkaufen nichts Geringeres als Träume – auf Bestellung unserer zufriedenen Kunden, versteht sich.“

„Wie bitte kann man einen Traum fangen?“, erkundigte sich Will mit einem ebenso neugierigen wie amüsierten Glitzern in den dunklen Augen.

„Das ist selbstverständlich kein ganz einfaches Unterfangen!“, erklärte Morpheus mit wichtiger Miene. „Man muss sich auf der Ebene zwischen den Träumen bewegen können, dann kann man sie einschließen und aufbewahren. Natürlich braucht man eine besondere Gabe dazu, und die ist sogar überaus selten.“

„Soll das heißen, du ziehst durch die Lande und sammelst irgendwelche Träume ein, um sie dann zu verkaufen?“ Tierra hob zweifelnd ihre Augenbrauen und fixierte den Fremden nicht ohne ein gewisses Misstrauen in den blitzend grünen Katzenaugen.

„Aber nein! Die meisten Kunden haben da ihre ganz speziellen Wünsche und Vorlieben. Im Grunde genommen kann man aber nur sehr genau vorherbestimmte Träume konkret bestellen, denn sonst weiß man ja nicht, was einen erwartet, und wer kauft schon gerne die Katze im Sack?“ Er lachte. „Wenn man allerdings nur einen einfachen Alptraum wünscht, oder auch einen Traum vom Fliegen, einen nächtlichen Geistesblitz – das lässt sich einrichten, das findet sich nun wirklich an jeder Ecke. Teilweise muss man aber damit leben können, dass der Traum eben mittendrin einsetzt oder abrupt wieder endet. Versteht ihr? So wie ein Buch, bei dem die ersten Seiten fehlen.“

„Ähm… ja… also… du sagtest irgendwas davon, das vorher wäre mein Traum gewesen…“ Phil sah den Fremden kritisch und ein wenig vorwurfsvoll an.

„Ach ja, diese uralte, wundervolle Geschichte! Du erinnerst dich an dieses Märchen, nicht wahr, du erinnerst dich doch?“ Morpheus seufzte unwillig und verzog den Mund. „Ein eifersüchtiger Liebhaber bestellte diesen Alptraum für seine angeblich untreue Freundin, weil er wusste, dass sie sich als Kind immer vor diesem Märchen gefürchtet hatte. Ach Gott, ein gar schrecklicher Racheplan, und es war beileibe nicht einfach, einen Alptraum von genau diesem Märchen aufzutreiben, könnt ihr euch das vorstellen? Und dann? Versöhnung! Aussprache! Die große, ewige Liebe! Und ich bleibe auf meinem Traum sitzen…“ Er verdrehte die Augen.

„Nun, das ist wirklich alles sehr interessant, aber ich nehme an, du hast uns nicht nur aus diesem einen Grund aufgesucht, um irgendeinen Traum zurückzugeben und dich auf unsere Kosten zu amüsieren.“ In Cascadas Blick lag sogar weit mehr als nur Misstrauen - sie fixierte das blasse Gesicht des Traumhändlers mit unbewegter Miene und mit unverhohlener Feindseligkeit in den tiefblauen Augen. Phil verstand diese Reaktion nicht ganz und sie überraschte ihn bei der Wassermagierin sogar noch weitaus mehr, als sie es bei jedem anderen seiner Mitstreiter getan hätte.

„Hieß es nicht, Dies Ultima hätte dich zu uns geschickt?“, fügte er eigentlich nur deshalb hinzu, um den Worten der Blauhaarigen etwas von ihrer Schärfe zu nehmen.

„Ganz genau – Dies Ultima. Und… nun, vielleicht kann die schöne Wasserlady ja selber erraten, warum ein einfacher Wanderer wie ich eure ehrwürdige Gesellschaft aufsucht? So schwer dürfte es doch gar nicht sein, oder etwa doch?“ Morpheus hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte verhalten.

„Wenn ich nicht genau wüsste, wie absurd, wie sinnlos und wie abwegig diese Vermutung doch ist, dann würde ich ja fast behaupten, du sollst uns einen Traum verkaufen.“ Will grinste.

„So falsch liegt unser humorvoller Krieger damit eigentlich gar nicht.“ Morpheus strich sich eine schwarze Haarsträhne aus seinem Gesicht und musterte Will auf eine überaus seltsame Weise, die Cascada spontan noch ein weiteres leises Schnauben entlockte.

„Nein!“, stieß der junge Krieger in scheinbarer Entgeisterung hervor.

„Doch!“ Der Traumhändler lachte so herzhaft auf, dass er seine blitzenden kalten Augen einen Moment lang schließen musste. „Du gefällst mir, oh ja, du gefällst mir wirklich! Deine Freunde können sich glücklich schätzen – es ist ein Geschenk, jemanden bei sich zu wissen, der stets gewillt ist, auch die längste Reise ein wenig zu verkürzen…“

„Hört ihr’s? Hört ihr’s?“

Phil ignorierte seinen schwarzhaarigen Freund, der eifrig mit dem Daumen auf sich selbst deutete, und trat stattdessen auf Morpheus zu, beide Arme vor seiner Brust verschränkt.

„Da haben sich ja zwei gefunden – echt wundervoll! Aber war nicht eben noch von irgendeinem Traum die Rede? Es geht doch um einen Traum, richtig?“

„Ich sagte es doch – unser humorvoller Krieger liegt gar nicht so falsch, aber eben doch auch nicht ganz richtig. Ich soll euch nämlich keinen Traum verkaufen, sondern vielmehr… nun ja… übermitteln. Bezahlt wurde er bereits, diesen unangenehmen Teil der Arbeit hat Dies Ultima euch freundlicherweise abgenommen. Ist das nicht wirklich sehr nett von ihnen? Wie auch immer – ich nahm diesen Traum seinem rechtmäßigen Besitzer ab, und nun soll er euch gehören.“

„Das nennt man übrigens Diebstahl. Und weiter?“

„Nur Geduld, mein lieber Sonnenkrieger!“ Morpheus holte tief Luft und schloss seine dunklen Augen. Einige Sekunden lang verharrte er stumm und vollkommen reglos in seiner Pose auf dem Stein, und beinahe wollte Phil schon wieder das Wort an ihn richten, um sich zu vergewissern, ob ihr Traumhändler nicht seinerseits eingeschlafen war. Dann aber riss dieser seine Augen mit einem einzigen Ruck wieder auf, und seine Iriden schienen zu zwei tiefen, pechschwarzen Teichen zerflossen zu sein und hatten die gesamten Augenhöhlen in die Farbe tiefster, mondloser Nacht getaucht. „Beeilt euch, ihr heiligen Krieger! Fasst euch bei den Händen! Haltet euch gut fest! Schließt die Augen… und träumt…“

Ein warmer Wind fegte über die Ebene, wirbelte staubige Wolken auf und konzentrierte sich auf den Mittelpunkt des Kreises, den die fünf Estrella beinahe automatisch, wie auf ein eindringliches Kommando des eigenen Unterbewusstseins hin gebildet hatten. Nach und nach mischte sich körperlose Schwärze in diesen Wirbel, bildete einen Kreis aus dunklen Fetzen und verschwamm schließlich ganz zu einer tanzenden Finsternis, die geradewegs in die Geister der Freunde eindrang und sie mit sich riss wie ein reißender Wasserstrudel, der mit jeder Sekunde tiefer, wilder, brüllender wurde. Aus unendlich weiter Ferne drang Morpheus’ Stimme zu ihnen vor:

„Seid vorsichtig! Die Träume von Dämonen sind gefährlich…“

Dann stoppte das Chaos schlagartig und machte einem vollkommenen Nichts platz.
 

„FALSCH!!!“ Zwei riesenhafte, türkis glühende Augen durchdrangen die Dunkelheit. „EIN… TRAUM…“

Phil blickte verwirrt um sich. Wo war er? Sicher, dies musste der gestohlene Traum sein – doch was hatten diese mannsgroßen, mandelförmigen Lichtquellen zu bedeuten? Und dann diese Stimme… sie schien von allen Seiten her auf ihn einzudröhnen und doch gleichzeitig geradewegs in seinem Kopf zu entstehen, hatte von seinen Gedanken Besitz ergriffen und ließ seinen Körper bei jedem Wort erzittern.

„DAS IST NUR… EIN TRAUM!!!“

Er fühlte die Wärme von Cascadas Hand, die seine eigene fest umschlossen hielt, und drückte sie noch ein wenig fester. Die gigantischen Pupillen glommen derart hell, dass Phil blinzeln musste, um ihnen überhaupt noch weiter entgegenblicken zu können. Er wollte fragen, was diese höchst merkwürdigen Worte zu bedeuten hatten… was er hier eigentlich tat… aber so sehr er sich auch anstrengte, er brachte keinen einzigen Ton über seine Lippen.

Wie in einem Alptraum, dachte er, der einem mit spielerischer Gewalt die Stimme versagte, die nach rettender Hilfe rufen könnte…

Noch im nächsten Moment musste er seine eigenen Gedanken revidieren – war es denn so schwer zu begreifen? Das war doch schlicht und ergreifend nichts anderes als ein Alptraum! Er wusste zwar immer noch nicht, warum Dies Ultima ihm dieses nächtliche Hirngespinst eines Dämons – oder eines Halb dämons, wie er vielmehr vermutete – geschickt hatte, aber zumindest wusste er, dass nichts von dem, was um ihn herum geschah, was er sah und was er hörte, der Wirklichkeit entsprach. Er fühlte sich ein klein wenig beruhigt.

„VERLOREN… VERLOREN!!!“, begann die Stimme in schrillsten Tönen zu kreischen. Phil verzog unweigerlich das Gesicht. So ein Blödsinn! Er zweifelte ja nicht an Dies Ultimas Verstand und Zurechnungsfähigkeit und er war sich beinahe sicher, dass hinter dieser Botschaft irgendein tieferer Sinn verborgen sein musste. Aber dennoch – konnte man Traumprophezeiungen nicht wenigstens ein kleines bisschen weniger pseudodramatisch gestalten?

„NICHT… ECHT…“ Die türkisfarbenen Augen schlossen sich. Für etliche Sekunden herrschte vollkommene Stille und Dunkelheit, die trotzdem immer noch mehr einem unbegreiflichen Nichts als der gewohnten Finsternis der Nacht glich. Dann plötzlich schossen zwei blau glühende Feuerstrahlen nur knapp an Phils Kopf vorbei und die gigantischen Augen waren wieder da, sehr viel intensiver und sogar noch ein klein wenig strahlender als zuvor.

„ES IST ALLES NICHT… ECHT!!!“

Und da konnte er nicht mehr anders. Das Gefühl hatte sich schon viel zu lange in ihm angesammelt, aufgestaut, war gewachsen und schließlich auf ein derart überwältigendes Maß angeschwollen, dass er es nicht mehr länger zurückhalten konnte.

Er prustete los und brach in ein lautstarkes Gelächter aus. Er lachte und kicherte und konnte gar nicht mehr damit aufhören, bis ihm der Bauch schmerzte und ihm die Tränen in die Augen stiegen.

„Tu… tut mir leid, aber das ist einfach zu blöd!“ Für einen Moment versuchte er krampfhaft, sich zu beherrschen, prustete dann aber erneut heraus und schlang sich beide Arme um den Bauch. „Erbarmen! Bitte, ich… ich kann nicht mehr!“ Das Lachen schmerzte, aber schon der Gedanke an dieses grenzenlos übertriebene und obendrein noch unbeschreiblich kitschige Traumszenario machte es ihm unmöglich, seine Fassung wiederzugewinnen.

Es vergingen einige Minuten voller Lach- und Bauchkrämpfe, bis Phil ganz plötzlich auffiel, dass etwas nicht stimmte. Dann verstand er jedoch umso schneller, was dieses etwas war, obwohl er dessen ganze Tragweite im ersten Augenblick noch keineswegs erfassen konnte – er hatte gesprochen. Und hatte dabei nicht etwa nur stumm seine Lippen bewegt, die Töne waren klar und deutlich in seinen Ohren widergehallt, waren auf keinen unsichtbaren Widerstand getroffen und von selbigem verschluckt worden.

Aber wieso konnte er denn plötzlich wieder sprechen? Und überhaupt, wohin waren eigentlich die peinlichen großen Leuchtaugen verschwunden? Mit einem Mal blieb Phil sein Gelächter im Hals stecken – was diesmal jedoch keineswegs an der finsteren Macht des Alptraumes lag. Er spürte er, wie ihm eine eiskalte Gänsehaut den Rücken hinablief, langsam, ganz langsam, unerträglich langsam, als er ebenso schleichend begriff, was er gerade eben getan hatte.

Er hatte die Hände seiner Freunde losgelassen.

Er war allein.
 

Cascada war verwirrt. Eben waren da noch zwei riesige Augen gewesen… ein seltsames, türkisfarbenes Leuchten… eine alles durchdringende Stimme… doch jetzt schien der Bann von einer Sekunde auf die andere gebrochen. Die tiefe Verbindung, die zwischen ihr und ihren Freunden geherrscht hatte, war schlagartig zerrissen. Immer noch spürte sie Wills Hand, wie sie sanft die ihrige umfasste.

Aber wo war Phil?

„Will? Will, hörst du mich?“ Sie erschrak ein wenig darüber, wie unsicher ihre Stimme klang. Viel zu lange schon hatte sie diesen Tonfall verloren geglaubt… verloren gehofft…

„Cascada?“

Sofort beruhigte sich ihr Herzschlag zumindest ein ganz kleines bisschen. Sie blickte auf, und nun vermochte sie Will sogar zu sehen, seine traurigen grauen Augen, in denen bei allem Funkeln und Blitzen doch immer auch eine ganz, ganz leichte Kälte lag… vielleicht waren es gerade diese Augen, vielleicht ihre Erleichterung, vielleicht aber auch noch der Einfluss dieses seltsamen Alptraums, der einen plötzlichen Impuls in ihrem Inneren die Kontrolle über ihren Körper gewinnen ließ. Sie verstand wohl selber am wenigsten, warum sie sich ohne länger darüber nachzudenken ihrem Mitstreiter um den Hals warf, ihr Gesicht nur für einen einzigen flüchtigen Moment zwischen seinem Hals und seinen langen, pechschwarzen Haaren vergrub…

Und dann sofort wieder von ihm zurückwich, so eilig, dass es die Situation leider nicht unbedingt weniger peinlich machte, und mit einem deutlichen Rotschimmer auf den porzellanfarbenen Wangen, von dem sie allerdings hoffte, dass man ihn im trüben Halbdunkel nicht so genau erkennen konnte.

„Will, ich… ich meine…“ Sie atmete tief durch und schob ihre Verlegenheit so rasch wie möglich wieder beiseite, was ihr sogar erstaunlich gut gelang. „Will, was ist hier passiert? Wo ist Phil? Wo sind die anderen?“

„Also wir sind hier!!“ Tempest hatte diese Worte kaum ausgesprochen, da konnte Cascada auch ihn und Tierra erkennen, die sich ebenfalls noch an den Händen hielten. „Aber Phil… also, ich ahn ja nix Gutes… der Depp hat losgelassen, hab ich Recht?“ Das Gesicht des Rotschopfes verdunkelte sich und er presste kurz und wütend die Lippen aufeinander, wie um sich selbst von schlimmeren Flüchen und Beleidigungen abzuhalten. „Shit! Kann der vielleicht auch mal was anderes machen als immer nur Probleme?!“

Will legte den Kopf ein wenig schräg, was Cascada unwillkürlich ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Anscheinend tat der Schwarzhaarige dies immer, wenn er denn einmal nachdachte.

„Nur keine Panik… erst einmal Krisensitzung halten. Also… dies hier ist ein Traum. Anders ausgedrückt: eine Illusion. Und zwar nicht einmal eine besonders gute, wenn ich das jetzt mal so sagen darf.“ Er grinste. „Jedenfalls könnte ich versuchen, ihn zu finden, wenn irgendjemand die Materieteilchen dieser Illusion hier ein wenig in Bewegung bringt.“

„So? Na dann ham wir ja kein Problem mehr!“, stellte Tempest trocken fest. „Ich meine, wenn unsere einzige Sorge ist, jemanden zu finden, der uns die Materieteilchen hier in Bewegung bringt, hey, nich nur, dass es solche Typen ja praktisch an jeder Straßenecke gibt, in düsteren Prophezeiungs-Träumen soll’n se sich ja besonders gern herumtreiben!“

„Tempest, du bist ein Idiot.“ Will zog langsam und kritisch eine Augenbraue nach oben und sprach dann hastig weiter, bevor der Rotschopf wiederum zu einer wütenden Antwort ansetzen konnte. „Pass gut auf, Meister Will bringt euch jetzt nämlich mal was bei. Du bist doch ein Windmagier, oder? Und von was sind wir – zumindest in der Realität – gerade umgeben? Genau – von Luft! Damit wir nicht ersticken. Du verstehst.“

„Oh, Vorsicht, Will wird witzig!“ Tempest stapfte wütend auf dem Boden auf – oder besser gesagt, der pechschwarzen, konturlosen Fläche, die in diesem Alptraum wohl so etwas Ähnliches wie einen Boden darstellen sollte – und warf mit einem entnervten Schnauben den Kopf in den Nacken. „Jetzt pass du mal auf, du kriegst nämlich gleich ein wunderbar zum Himmel passendes Veilchen, du verstehst auch, ja?“

Will lachte und wuschelte dem Windmagier durch sein wirres rotes Haar.

„Nicht ärgern, Kleiner, und bitte auch nicht beißen. Was ich eigentlich sagen wollte… du beherrschst die Luft, Cascada das Wasser und Tierra die Erde. Wenn ihr nun von einem dieser Elemente Gebrauch macht, verändert sich unsere Umgebung und somit auch ihre Materie. Diese Störungen in der Illusion kann ich – meiner Magie sei Dank – wahrnehmen. Und wenn es erst einmal eine Störung, also einen Anhaltspunkt gibt, finden wir bestimmt auch Phil. Kapiert?“

„Nö.“ Tempest zuckte mit den Schultern. „Aber is ja auch irgendwie egal. Ach so, und noch was…“ Langsam verzogen sich die Lippen des Rotschopfes zu einem finsteren, boshaften Grinsen, und in seinen grünen Augen blitzte es spöttisch auf. „Ich wusste ja gar nich, dass sogar du über irgendeine besondere Fähigkeit verfügst. Hey, Will, Grund zum Feiern! Du bist ja doch nich überflüssig!“

„Weißt du, Tempest, meine Fähigkeit besteht gerade darin, dass du es nicht merkst, wenn ich sie einsetze – aber das verstehst du sowieso nicht. Besser so.“ Auf Wills lächelndes Gesicht legte sich ein Ausdruck von Stolz, an dessen Ehrlichkeit Cascada sogar ausnahmsweise einmal nicht zweifelte. „Das ist die hohe Kunst der Illusionsmagie, du alter Elementmagier, du!“

„Elementmagie und Illusionsmagie sind sicherlich ganz wundervoll, aber wenn ihr eure kleine Meinungsverschiedenheit eventuell ein anderes Mal ausdiskutiert, dann finden wir Phil vielleicht auch noch vor Sonnen- oder Weltuntergang, je nachdem. Irgendwelche Einwände?“ Das Lächeln auf Tierras Lippen täuschte keinesfalls über die leise Ungeduld in ihrer Stimme hinweg, machte es aber doch deutlich leichter, diese als angebracht zu akzeptieren. Will nickte auch prompt und rieb seine Handflächen aneinander.

„Worauf warten wir eigentlich noch? Wir drei zaubern also und du, Will, du holst uns unseren großen Anführer zurück – was soll da eigentlich noch schief gehen?“ Cascada ließ bewusst einen leisen Unterton von Spott in ihrer Stimme mitschwingen und schenkte dem Schwarzhaarigen ein Lächeln, das dieser sowieso nicht würde einordnen können. Dann trat sie neben Tempest und Tierra und sah die beiden erwartungsvoll an.

„Mal so ne ganz blöde Frage am Rande – was machen wir’n jetzt?“ Der Rotschopf kratzte sich am Kopf und grinste verlegen.

„Die Frage ist wirklich dumm, Tempest.“ Tierra stieß ihm in die Seite und lachte, obwohl ihr Blick ganz überdeutlich verriet, dass ihr eigentlich nicht danach zumute war. „Sag bloß, du hast noch nie gemeinsam gezaubert?“

„Nö. Is das schlimm?“

„Eigentlich nicht. Du wirst sehen, es ist sogar ziemlich einfach. Tu einfach das, was dir grad so in den Sinn kommt, der Rest erledigt sich dann von selbst.“

„Aha. Na, jetzt bin ich schlauer!“ Tempest schüttelte noch ein letztes Mal den Kopf, ließ seine Schultern kreisen und streckte sich, dann legte er seine eigenen Handflächen auf die seiner Mitstreiterinnen.

Cascada schloss ihre Augen und konzentrierte sich, was ihr sogar erstaunlich leicht fiel. Schon nach wenigen Sekunden fühlte sie den warmen Rausch der Magie durch ihren Körper strömen und obwohl das natürlich absurd und in ihrer Situation auch keineswegs angebracht war, so musste sie sich doch im Stillen eingestehen, dass sie sich so wohl und geborgen fühlte wie schon lange nicht mehr. Die lebendige Kraft floss rasend schnell in ihre Fingerspitzen und breitete sich von dort aus als sanftes türkisblaues Leuchten in der konturlosen Finsternis aus.

Langsam hob sie ihre Lider und sah, wie sich ihr eigenes Licht mit einem sehr hellen und einem sehr dunklen Grün vermischte. Der Anblick war zweifellos wunderschön, aber noch viel, viel wichtiger war, dass sie Wills Blick auf sich ruhen fühlte, dass er sie und niemanden anderen ansah und auf jedem einzelnen Schritt ihres leuchtenden Weges über sie wachen würde. Seine wunderschönen grauen Augen… möglicherweise war es ein Anflug von Größenwahn, aber sie wusste, dass sie alles, aber auch wirklich alles schaffen konnte, solange diese Augen ihr nur dabei zusahen.

Tatsächlich wuchs die Kraft der drei beschworenen Elemente an und eine merkwürdige, aber alles andere als unangenehme Spannung lag wie etwas Greifbares zwischen den Freunden. Die Flammen verschmolzen zu einer einzigen gleißenden Energiekugel, die größer und größer wurde und zunächst noch langsam, dann aber immer schneller in einen farbigen Wirbel überging. Cascadas ganzer Körper hatte zu Kribbeln begonnen und es war ein bisschen so, als würde sie fliegen, als die Mächte der Estrella schließlich ganz zu einer Einheit wurden. Sie konnte beinahe selber spüren, wie Will die tanzende Fährte aufnahm, wie er ihr folgte, immer tiefer und tiefer in das Nichts der Illusion eintauchte…

Und dann, ganz plötzlich, durchschnitt ein gleißend helles Licht ihre so unbeschreiblich tiefe Verbindung.

Cascada stieß einen Schrei aus und taumelte zurück. Ihr war, als ob ein eisig kalter Blitz mitten in ihrer Körper eingeschlagen hätte, um sie von innen heraus zu verbrennen. Der Schmerz währte nur einen einzigen Moment lang, vielleicht nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde, und doch war die Wassermagierin sich sicher, niemals in ihrem Leben tiefer verletzt worden zu sein. Schwarze und weiße Punkte flackerten vor ihren Augen, schienen in eine unerbittliche, tobende Schlacht vertieft, und es dauerte lange, bis sie endlich wieder klar sehen konnte; vielleicht sogar mehrere Minuten. Dann jedoch fiel ihr Blick beinahe schlagartig auf die Gestalt, die nur wenige Meter von ihr entfernt reglos auf dem Boden lag.

„Will!“

Ohne überhaupt wahrzunehmen, dass sie nicht länger von Nichts, von Schwärze und Dunkelheit umgeben war, sondern wieder am Waldesrand an der Grenze zur großen Ebene stand, stürzte Cascada zu dem jungen Krieger hin und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Etliche kleine Steinchen bohrten sich in ihre Haut, aber auch das entging ihr vollkommen. So vorsichtig wie sie nur irgendwie konnte, drehte sie Will auf den Rücken und strich ihm einige wirre schwarze Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Will? Will! Sag… sag irgendetwas! Bitte, sag etwas! Will!!“ Kaltes Entsetzen stieg in ihr hoch, rann wie eisiges Wasser durch ihre Venen und ließ ihren Atem gefrieren. Was war denn überhaupt geschehen? Der Traum, die Finsternis, ihr Zauber – wie konnte all das einfach verschwunden sein? Wessen Hand hatte das Messer geführt, das ihre wundervolle Einheit so brutal zerschnitten hatte? Doch noch ungleich schlimmer als ihr eigener Schmerz, als jenes diffuse Gefühl von tiefer innerer Leere war der Anblick ihres Freundes, der bleich und regungslos vor ihr auf dem Boden lag. „Will… nein… bitte, sag doch was…“

„Aber nur… wenn du mich wachküsst…“ Ein schwaches Grinsen stahl sich auf Wills Lippen, während er langsam seine grauen Augen aufschlug.

Im ersten Moment war Cascada viel zu überrascht, ja beinahe schon schockiert, als dass sie irgendwie hätte reagieren können. Danach fühlte sie überraschenderweise zunächst einmal nichts als Wut in sich aufsteigen und sie musste tatsächlich die Arme fest vor der Brust verschränken, um dem Schwarzhaarigen nicht auf irgendeine Weise wehzutun.

„Idiot!“ Die Blauhaarige bemühte sich um einen vorwurfsvollen Tonfall, aber noch bevor sie auch nur dieses eine Wort über die Lippen bringen konnte, breitete sich endlich auch eine Woge tiefer Erleichterung in ihrem Inneren aus und spülte jedes negative Gefühl sogar auf überaus nachhaltige Weise wieder hinfort.

„Bitte, Cascada – schrei nicht so!“ Der junge Krieger verzog das Gesicht. „Mein Kopf, der… nein… du willst überhaupt nicht wissen, wie der sich gerade anfühlt…“

„Danke, ich verzichte!“, seufzte Cascada und bemühte sich mit mäßigem Erfolg, wenigstens noch ein ganz kleines bisschen vorwurfsvoll zu klingen. Dann griff sie Will unter die Arme und half ihm mit einiger Mühe wieder auf die Beine. „Aber… vielleicht verrätst du mir ja stattdessen, was überhaupt passiert ist?“

„Ja, wenn ich das wüsste! Wer auch immer das war, dem würd ich wirklich zu gerne mal was davon erzählen, wie schmerzhaft es eigentlich ist, mitten im Netz der Illusion aus der Bahn geworfen zu werden! Das tut doch weh!“

„Das… das war ich…“

Cascada wandte sich nun doch wieder von dem Gesicht ab, das sie noch vor wenigen Sekunden bis zum Ende ihres Lebens anzusehen beschlossen hatte – und blickte direkt auf Phils Gestalt, der einige Meter von ihnen entfernt stand, die Arme starr wie zum Zaubern erhoben und mit einem reichlich irritierten Flackern in den hellblauen Augen.

„Phil?“ Tierra kam mit einem Satz wieder auf die Füße und lief zu dem Blondschopf hin. Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn vorsichtig. „Hey, Phil! Phil, geht es dir gut?“

„Ja… klar… war nur ein wenig… unheimlich… so allein…“ Er zuckte mit den Schultern und schüttelte dann heftig seinen Kopf, was seinem Haar auch noch die letzte Spur von Ordnung nahm, die es eigentlich sowieso niemals wirklich besessen hatte. „Ich wollte euch euren Plan… wie auch immer er ausgesehn haben mag… jetzt echt nicht verderben… hm… andererseits, wenn dieser Plan von Will stammte, dann konnte daran ja nicht mehr viel verdorben werden…“

„Was soll das denn jetzt wieder heißen?!“, beschwerte sich der Schwarzhaarige augenblicklich und stapfte von scheinbar urplötzlich wiederkehrenden Lebensgeistern beseelt mit gespielt bedrohlicher Miene auf den gut anderthalb Köpfe kleineren Jungen zu. Eine Spur von Unsicherheit in seinem Gang verriet Cascada aber dennoch, dass der Körper des jungen Kriegers immer noch leicht zittern musste, trotzdem beruhigte der Anblick sie ungemein.

„Na, was schon?“, entgegnete Phil ungerührt. „Findet euch doch endlich mal damit ab, dass ich einfach viel zu gut für euch bin!“ Der Blondschopf wahrte noch genau zwei Sekunden lang den betont überheblichen Ausdruck auf seinem Gesicht, bevor sich ein warmes Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete. „Hey – Danke, liebe Untertanen! Nein, jetzt echt mal… Danke. Ohne euch hätt ich’s nicht geschafft!“

Will grinste und klopfte seinem Freund auf den Rücken, nicht sonderlich stark, aber trotzdem taumelte dieser prompt einen Schritt nach vorne.

„Bist `n feiner Kerl, Phil!“, meinte er lachend, und für einen Moment entdeckte Cascada in seinen Augen ein Leuchten, das sie darin schon oft genug vergeblich gesucht hatte. Es war zwar leider auch beinahe ebenso schnell wieder verschwunden, trotzdem musste die Wassermagierin lächeln und war sich mit einem Mal auch vollkommen sicher, niemals wieder damit aufhören zu können.

Bis sich eine sechste Stimme in ihr Gespräch einmischte und schlagartig das Gefühl von tiefer Wärme vertrieb, das sich in der Brust der Wassermagierin eingenistet hatte.

„Ä-hem…“ Noch bevor Cascada sich umdrehte, wusste sie, dass ebendiese Stimme zu einer schwarz gekleideten, totenbleichen Gestalt gehörte, die lächelnd zwischen den Bäumen hervortrat. „Ich liebe solche rührenden Szenen, wirklich, und ich könnte mir das stundenlang ansehen!“ Morpheus stieß einen tiefen, bedauernden Seufzer aus. „Trotzdem verstehe ich nicht ganz, was der Anlass zu all dieser Freude ist. Gut – ihr könnt das nicht wissen, aber im Grunde genommen habt ihr die eigentliche Botschaft noch gar nicht empfangen. Nur dieses anfängliche Herumorakeln, dessen Sinn, Zweck und Glaubwürdigkeit ich gewiss nicht anzweifeln möchte, aber…“

„Aber – was?!“ Phil schob sich kurzerhand an Will vorbei und stapfte mit einem sehr entnervten Ausdruck auf seinem eben noch so erleichterten Gesicht auf den Traumhändler zu. „Dieser ganze Traum war doch ein einziger blöder Mist! Wo bitte war denn da Sinn, Zweck oder… Glaubwürdigkeit?“

„Nun ja – mit ein bisschen mehr Geduld hättet ihr das vielleicht sogar noch erfahren. Die Betonung liegt hier übrigens auf vielleicht. Was soll ich sagen? Dies wäre ihr Preis gewesen. Pech im Spiel, Glück in der Liebe, aber beides soll nicht meine Sorge sein.“

Der Schwarzhaarige wandte sich mit ungerührter Miene von der kleinen Gruppe ab und schlenderte gelassen, eine leise Melodie vor sich hinpfeifend, den schattigen Waldweg hinab.

„Ey! Jetzt wart aber mal!“, rief Tempest ihm hinterher, und die latente Aggressivität in seiner Stimme verriet Cascada, dass es zumindest ihm wieder vollkommen gut zu gehen schien. „Du hältst es wohl nich für nötig, dich zu verabschieden, oder was? Und was soll dieses dumme Gelaber? Jetzt red mal Klartext, was dieser bescheuerte Traum und alles eigentlich sein soll! Ich dachte, du stehst auf unserer Seite!“

Morpheus blieb stehen und verharrte einen Augenblick lang in dem weich konturierten Spiel aus Licht und Schatten, das die Nachmittagssonne auf die staubig braune Erde zeichnete.

„Merk dir eines, junger Windkrieger: Ich stehe auf gar keiner Seite. Ich erledige meine Arbeit, ganz gleich, wer mir den Befehl dazu gibt. Doch statt über… irgendwelche unmöglichen Freunde solltet ihr euch lieber über eure möglichen Feinde Gedanken machen. Lächle nur, William Inoryan – du wirst beizeiten auch noch erkennen, dass ich gewiss nicht von diesen anderen Estrella spreche... zumindest hoffe ich, dass du es noch rechtzeitig erkennen wirst…“ Er lächelte, dann wandte er sich wiederum ab und setzte seine Wanderung in gemächlichem Tempo fort. „Ich nehme an, wir werden uns nicht mehr wieder sehen. Bis dahin – lebt wohl!“

Die Freunde sahen ihm noch lange schweigend nach, auch als seine Gestalt schon längst in den Schatten des Waldes verschwunden war.
 

Ende des neunten Kapitels

Kapitel X - Der Preis der Wahrheit

Long time no see. Ja, aber jetzt kommt endlich ein neues Kapitel von Equinox, und zwar ein besonders langes. Damit sind wir schon fast bei der Hälfte angelangt. Und an einem meiner liebsten Schauplätze in Equinox. Also, Zeit für ein bisschen Heldenhaftigkeit, ein bisschen Horror und einen kleinen Zaubergarten. Viel Spaß damit!
 

Es war, als ob die Zeit in diesem Augenblick ganz einfach angehalten hätte, als ob die Zeiger der Weltenuhr genau in jenem Moment zum endgültigen Stillstand gekommen wären, als Rayos Füße ihren Kontakt zu den schwarzen Planken des Schiffes verloren. Er wusste nichts mehr. Er dachte nicht mehr. Er fühlte nicht mehr. Wie aus einem inneren Instinkt heraus spannte er jeden Muskel in seinem Leib, drückte Noctans Körper so fest an sich, wie er nur irgendwie konnte, und hielt den Atem an, während er wie erstarrt in der Luft zu schweben schien.

Dann prallte er auf.

Und begriff noch in derselben Sekunde, da er das leicht feuchte und warme Holz unter seiner Schulter spürte, das immer noch stets von einem schwachen Puls durchzuckt wurde, dass er es nicht geschafft hatte. Es war zu spät, um sich noch retten zu können. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Wenn es doch wenigstens nur sein eigenes Leben gewesen wäre, das er dabei verspielt hatte…

All die Kraft und konzentrierte Anspannung in seinem Körper machte einer tiefen, endgültigen Verzweiflung Platz. Eine seltsame Lähmung hatte von ihm Besitz ergriffen, die es ihm noch nicht einmal erlaubte, seine Augen zu öffnen und ein letztes Mal in die Gesichter seiner Freunde zu sehen. Aber vielleicht war es auch besser so? Wie sollte er den sicheren Vorwurf in ihren Blicken verkraften, wie sollte er mit der ohnehin schon so schweren Last dieser Schuld in das Totenreich hinübergleiten? Und Noctan…

Schon spürte Rayo eine rhythmisch zuckende Wärme an seinem Fuß, das grausame, abstoßende Leben einer verfluchten Existenz, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Doch obwohl er wusste, dass dies sein sicherer Tod sein würde – er hatte nicht mehr länger die Kraft, dagegen anzukämpfen. Was konnte er schon tun? Es war ja ohnehin sinnlos! Sie hatten sich den klaren Anweisungen der Hellseherin widersetzt, und so war alles, was geschah und geschehen würde ja im Grunde genommen ausnahmslos ihre eigene Schuld. Und das war vielleicht das Schlimmste an der ganzen traurigen Geschichte.

„Es tut mir Leid…“

Rayo sprach seine letzten Worte mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem – er dachte auch gar nicht mehr darüber nach, dass ihn möglicherweise noch jemand hören konnte –, und versuchte so den wütenden, rasenden Dämon in seinem Inneren zu beschwören, ihm doch wenigstens jetzt noch zu vergeben, aber sein verzweifeltes Flehen wurde nicht erhört. Der junge Adlige presste seine Augen noch ein klein wenig fester zusammen und schlang seine Arme um Noctans Körper.

So würde es also mit ihnen zuende gehen…

Dann fühlte er plötzlich eine Hand an seinem Arm, fühlte, wie er unsanft über die glitschigen Planken auf kaltes, glattes Pflaster gezogen wurde und dort endlich zum Liegen kam. Rayo hob ruckartig seinen Kopf – und blickte direkt in Shinyas Gesicht. Die Lippen des Katzenjungen zitterten und in seinen grünen Augen lag ein merkwürdiges Flackern, wie es der Blondschopf dort noch niemals zuvor gesehen hatte.

„Nicht einmal springen kannst du, verdammter Idiot!“, stieß der Halbdämon leise grollend hervor.

Dann zog er den jungen Adligen mit einem Ruck an sich und schloss ihn so fest in seine Arme, dass diesem fast die Luft wegblieb und er ein leises, ersticktes Keuchen von sich gab.

„Mann, warum musst du immer so einen Mist machen, Rayo? Du bist so blöd, weißt du das eigentlich?!“

Rayo blickte nicht auf. Er fühlte sich unendlich erschöpft, und nun, da das Festland ihn wiederhatte und er sich endlich in Sicherheit wähnen konnte, begriff er selber nicht mehr, was da gerade geschehen war. Am wenigsten jedoch verstand er, was in ihm vorgegangen war… diese vollkommene, unerschütterliche Sicherheit, diese absolute Gewissheit, das Richtige zu tun und nichts anderes… woher nur waren diese seltsamen Gefühle gekommen? Und… wohin waren sie nun ebenso schnell wieder entschwunden?

Der junge Adlige schüttelte seinen Kopf. Trotz allem, trotz der Gefahr und trotz seiner müden Verwirrung wusste er immer noch, dass er richtig gehandelt hatte. In diesen wenigen schicksalhaften Sekunden war ihm schlicht und ergreifend keine Wahl geblieben. Er hatte doch Noctan retten müssen! Er…

„Noctan!“ Kaum war dieser letzte Gedanke durch sein dumpf umnebeltes Bewusstsein gekreist, durchfuhr ein eisig kalter Schrecken seinen Körper. Wie hatte er denn überhaupt an irgendetwas anderes denken können? Nachdem er sein Leben riskiert hatte, um den sicher Verlorengeglaubten zu retten… nach all dem, was in dieser Nacht geschehen war…

Erschrocken wandte Rayo seinen Blick der in sich zusammengesunkenen Gestalt zu, die reglos neben ihm auf dem Bootssteg lag. Vorsichtig löste er sich aus Shinyas Umarmung, sammelte seinen Atem, um überhaupt noch ein Wort über die Lippen zu bringen, und sah dem Halbdämon ängstlich in die merkwürdig feucht schimmernden Augen.

„Shinya… was… was ist mit Noctan, ich… ich konnte nicht…“

„Schon okay…“, murmelte der, schluckte einige Male und drehte den Weißhaarigen dann langsam auf den Rücken.

„Nein!!“ Hoshi, die bis eben noch Misty tröstend im Arm gehalten hatte, schlug nun entsetzt die Hände vor ihrem Mund zusammen, und das kleine Mädchen stieß einen schrillen Schrei aus, der die ruhige Stille der Nacht brutal zerriss. Rayo aber konnte nicht schreien – ihm war, als ob in diesem einen Augenblick die Welt um ihn herum in tausend kleine Glassplitterchen zerspringen würde, die sich allesamt direkt in sein Herz bohrten.

Noctan lag da, die Augen weit aufgerissen und beinahe gänzlich von einem trüben, milchig weißen Film überzogen. Einige Blutstropfen rannen ihm immer noch wie Tränen über die Wangen, doch langsam begannen auch sie zu versiegen. Die bläulich transparente Haut war überzogen mit einem Muster aus tiefroten Striemen. Die weißen Lippen des Jungen waren zu einem verzweifelten Lächeln erstarrt und bis auf ein gelegentliches schwaches Zucken war sein Körper vollkommen regungslos.

Erst in diesem Augenblick begriff Rayo, dass sie ihren Freund für immer verloren hatten.

„Noctan… Noctan!!“ Er stürzte zu ihm hin, packte ihn bei den Schultern und schüttelte den Weißhaarigen, dessen Leib wie eine leblose Puppe in seinem Griff zusammensackte. „Nein, nein, nein!!“ Die Stimme des jungen Adligen verlor sich in ein leises, bebendes Schluchzen. Er presste Noctans eisig kalten Körper fest an sich, immer noch in der schmerzenden Hoffnung, doch wenigstens eine flüchtige Bewegung seiner Finger, einen letzten Hauch lebendiger Wärme, einen tiefen, erlösenden Atemzug zu spüren. Doch das erwartete Lebenszeichen blieb aus und mit jeder Sekunde sah Rayo den letzten Silberstreifen an seinem pechschwarzen Horizont ein wenig mehr verblassen. „Noctan, nein! Noctan!!“

Der Blondschopf spürte kaum, wie sich zwei Hände fest um seine Oberarme schlossen.

„Rayo! Verdammt noch mal, Rayo, wir müssen weiter!“ Shinyas Stimme drang kaum noch zu ihm durch. „Wir müssen weiter, nach Lluvia, hörst du? Vielleicht ist da ja wirklich noch jemand! Vielleicht kann der ihm auch helfen, Rayo! Er ist nicht tot, verstehst du das? Er ist nicht tot, und deshalb dürfen wir jetzt auch nich einfach aufgeben!!“

Langsam, sehr langsam, hob der junge Adlige den Kopf. In seine tiefblauen Augen war eine merkwürdige Leere getreten, die geradewegs aus seinem Inneren zu kommen schien. Eigentlich konnte er nicht an das glauben, was der Katzenjunge ihm da gerade weiszumachen versuchte. Er sah in dessen Gesicht, hörte in dessen Stimme, dass er mit seinen Worten am allermeisten sich selbst beruhigen wollte. Und trotzdem… so schwer es Rayo auch fallen mochte, er musste Shinya wenigstens dieses eine Mal vertrauen, wenn er nicht den Verstand verlieren wollte. Noctan konnte und durfte nicht so einfach umgekommen sein! So sinnlos…

In diesem Moment zählte lediglich, dass der Weißhaarige noch am Leben war, so schwach das vergiftete Herz in seiner Brust auch schlagen mochte. Und wenn die Legenden von Lluvia sich wirklich erfüllen sollten, wenn in dieser sagenumwobenen Stadt tatsächlich noch jene Magier mit den reinsten Herzen lebten… dann blieb vielleicht doch noch eine letzte Chance.

Anders konnte und durfte es einfach nicht sein!
 

Sie mussten nicht lange suchen, um den Weg nach Lluvia zu finden – es gab nämlich nur genau eine einzige breite, gepflasterte Straße, die sie aus dem geisterhaften und vollkommen verlassenen Hafen hinausführte. Die kahlen, steinernen Docks lagen stumm in der wogenden Finsternis, nur hier und dort ragten weiße Banner wie Nadeln in Nachthimmel empor, tot und glanzlos in der vollkommenen Windstille.

Shinya ließ die düstere Melancholie dieses tristen, gespenstischen Ortes ohne größeres Bedauern hinter sich zurück. Noch immer lag ein feiner, bläulicher Nebel in der Luft, bedeckte die blaugrünen Wiesen und die weiß glänzenden Steine unter seinen Füßen, die im Licht der Nacht wie kostbarer Marmor schimmerten. Wieder einmal war er es, der an vorderster Stelle ging, unmittelbar gefolgt von Hoshi. Rayo bildete das Schlusslicht, Noctans leblosen Körper auf den Armen, während Misty rastlos wie ein überzogenes Spielzeug ein ums andere Mal ihre Freunde umrundete, eilig vorauslief, nur um dann abrupt wieder stehen zu bleiben und ihren Blick suchend über die hügelige Graslandschaft schweifen zu lassen. Die jungen Estrella schwiegen – zumindest einige Minuten lang, bis Misty einmal mehr nach vorne stürmte und eine kleine Anhöhe erklomm.

Dann schrie sie.

„Oooh, ihr… ihr müsst kommen, ihr müsst alle, alle kommen!!“

Shinya hob alarmiert den Blick. Die Schrecknisse der zurückliegenden Stunden hatten seine Sinne geschärft und gleichermaßen an seinen Nerven gezehrt. Ohne auch nur eine einzige Sekunde lang zu zögern stürzte er zu dem blauhaarigen Mädchen hin. Und was er dort sah, überwältigte ihn derart, dass es ihm für einige Augenblicke buchstäblich die Sprache verschlug.

In der Talsenke unter ihnen breitete sich eine Stadt von nahezu gigantischen Ausmaßen aus. Zuerst stach ihm unweigerlich ein riesenhafter Tempel aus funkelndem, schneeweißem Gestein ins Auge, der sich exakt in ihrer Mitte befand. Die unzähligen, wie Schneckenhäuschen in sich gedrehten Türme und ihre Kuppeln waren über und über mit Edelsteinen verziert, die in allen nur erdenklichen Blautönen leuchteten und blitzten. Aus der Spitze des großen Hauptturmes entsprang eine Fontäne türkisfarbenen Wassers, das über Hunderte von Treppchen und Bögen das Dach des prachtvollen Gebäudes hinabrann, die Fassade des gewaltigen Baus wie ein zarter Teppich kostbarsten Stoffes überzog und schließlich in ein rechteckiges Becken plätscherte, das den Tempel gänzlich umrundete.

Von dort aus verliefen sternförmig angeordnet fünf Flüsschen, die sich bis zu der mächtigen gläsernen Stadtmauer zogen, in der sich die Lichter der Stadt wie tausend glitzernde Sterne widerspiegelten. Die Häuser erstrahlten allesamt in demselben makellosen Weiß wie auch der Tempel und sogar das Pflaster der Straßen. Entlang der Wege wurde die Nacht von blauen und weißen Flämmchen erhellt und vor dem großen Tempel schimmerte ein riesiger, kreisrunder Marktplatz in besonders hellem Licht. Sein ganzer Boden bestand aus einer einzigen Glasplatte, in der sich das blaue Leuchten der Flammen, des Wassers und der Edelsteine brach, was sie in einen unwirklichen Glanz tauchte.

Shinya stockte der Atem. Noch nie in seinem Leben hatte er eine derartig schöne Stadt, wenn überhaupt vergleichbare Schönheit gesehen. All der kostbare Prunk von Silvanias Hauptstadt Gharith verblasste angesichts der unfassbaren traumhaften Pracht dieser magischen Szenerie. Nur widerwillig wandte er seinen Blick von dem nächtlichen Stillleben ab, das ihm das schlafende Lluvia bot, und sah stattdessen seine Freunde an.

„Ich glaube… wir sind da.“

Hoshi nickte stumm. Ihre Augen ruhten immer noch wie gebannt auf der Stadt in der Talsenke.

„Das ist… unglaublich schön…“, flüsterte sie.

„Das kannst du laut sagen! Aber wir müssen trotzdem weiter, immerhin haben wir’s eilig, schon vergessen?“ Shinya holte tief Luft und begann wie in Trance den weißen Weg hinabzuschreiten. Für einen Moment schien es ihm vollkommen belanglos, aus welchen Gründen sie diesen märchenhaften Ort tatsächlich aufgesucht hatten – die magische Stadt übte einen regelrechten Sog auf ihn aus und er wünschte sich nichts mehr, als sie von Nahem zu betrachten und vollkommen in sie einzutauchen, nur um sie niemals wieder verlassen zu müssen.

„Ich… ich dachte, Lluvia wäre verflucht und… man sagt, es sei eine Geisterstadt, oder nicht?“, drängte sich Rayo vorsichtig in sein berauschendes Hochgefühl, und in seiner Stimme lag ein derart kritischer Zweifel, dass sich Shinya aus irgendeinem Grund fast persönlich davon beleidigt fühlte.

„So erzählt man sich, ja“, nickte Hoshi, ein stetes Lächeln auf ihren Lippen. „Aber vielleicht ist das ja auch nur eine Legende, um unerwünschte Besucher, Reisende und Abenteurer und so weiter von hier fernzuhalten?“

„Stadt! Stadt, Stadt, Stadt! Misty will endlich die Stadt sehen!“ Die Augen des Mädchens glühten vor Begeisterung und Vorfreude. Die Angst der zurückliegenden Stunden und das Grauen des Todesschiffes, all das schien längst in Vergessenheit geraten zu sein. Mit einem leisen Erschrecken musste Shinya feststellen, dass es ihm nicht anders ging. „Misty will zu dem Tempel und zum Wasser und überhaupt zu allem!“

Sie stieß ein übermütiges Jauchzen aus und hüpfte dann mit federnden, leichtfüßigen Schritten auf das gigantische gläserne Stadttor zu. Shinya riss überrascht seine grünen Augen auf, als sich dieses daraufhin wie von Geisterhand auftat, sich langsam und bedächtig herabsenkte, bis es schließlich genau in jenem Moment den Boden berührte, als Misty bei dem überdimensionalen, schimmernden Portal angelangt war und ohne mit der Wimper zu zucken einen ihrer kleinen Füße darauf setzen konnte.

„Was… was geht hier eigentlich vor sich, Leute?“, raunte der Katzenjunge leise, doch keiner seiner Freunde schien imstande oder auch nur gewillt dazu, ihm diese Frage zu beantworten. Stattdessen traten sie allesamt langsam, nahezu andächtig auf das massive Glas des Tores. Shinya blickte nach unten und sah, dass sich das Wasser aus dem höchsten Turm des Tempel hier in einem tiefen Graben sammelte und durch den gläsernen Boden hindurch glitzerte und funkelte wie ein Meer türkisblauer Edelsteine.

Der Halbdämon fühlte sich wie inmitten eines unbegreiflich schönen Traumes gefangen, als er schließlich das Tor und mit ihm die Mauern Lluvias durchschritt und auf eine lange, in weißes und blaues Licht getauchte Straße hinaustrat. Zu beiden Seiten rahmten weiße Häuschen den schnurgeraden Weg ein, hier und dort drang sogar noch weiches, gedämpftes Licht durch deren Vorhänge, obwohl es bereits sehr spät sein musste. Zwischen Fackeln, Gässchen und Kanälen war keine Menschenseele mehr zu sehen, nicht einmal auf dem Marktplatz, der in weiter Ferne zwischen den scheinbar endlosen Reihen der Behausungen hervorblitzte.

„Was haltet ihr von der Idee, einfach mal dorthin zu gehen?“, schlug Shinya wenig originell vor und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des gläsernen Rundes, während er ausnahmsweise einmal als Letzter der Gruppe auf die Straße hinaustrat. Hoshi wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, stockte dann aber, als sich das Stadttor langsam und vollkommen lautlos wieder hinter ihnen schloss. Für den Bruchteil einer Sekunde stieg ein ungutes Gefühl in Shinya auf, rumorte in seiner Magengrube und trieb einen kalten Windstoß über seinen Körper, der sich jedoch augenblicklich wieder legte, als seine Augen über die friedlich schlafende Magierstadt glitten.

„Ja… ja, du hast Recht“, nickte Hoshi. „Dort finden wir ganz bestimmt eine Unterkunft und vielleicht sogar einen Heiler… für Noctan…“

„Eine Unterkunft? Misty ist aber gaaaaar kein bisschen müde!“, rief das Mädchen und hüpfte demonstrativ einige Male ausgelassen auf und ab.

„Das ist seltsam…“ Rayo wandte seinen Blick dem tiefblauen Nachthimmel zu. „Nachdem wir das Schiff verlassen hatten, war ich so… so unglaublich erschöpft. Und nun? Ich fühle nicht einmal mehr einen Hauch von Müdigkeit, und ihr?“

Shinya stellte mit einem Mal fest, dass der junge Adelige sogar in jedem Punkt Recht hatte – er fühlte sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr, obwohl er noch vor wenigen Minuten nur mit sehr viel Mühe und einigen mahnenden Blicken auf ihren sterbenden Freund der Verlockung hatte widerstehen können, sich schlicht und einfach am wundervoll gemütlich dreinblickenden Wegesrand niederzulassen, einzuschlafen und nie mehr wieder aufzustehen. Nun erschien ihm der Gedanke, sich hinzulegen und schlafen zu müssen nicht weniger absurd als an einem warmen, sonnigen Hochsommermittag.

Trotzdem schritt er schon ganz automatisch immer weiter die schnurgerade Straße hinab, dem gläsernen Platz entgegen, und noch während er diesen sanft beleuchteten Weg durchquerte, schob sich plötzlich der helle, runde Ball der Morgensonne den Horizont hinauf und färbte den Himmel in ein zartes Blau. Der Sonnenaufgang vollzog sich in einem absurden Zeitraffertempo, beinahe schien es so, als ob mit jedem seiner Schritte ein bisschen mehr Licht zwischen den Wolken hervordringen und der Sonnenball noch ein kleines Stückchen höher klettern würde.

Fast gleichzeitig erloschen auch die Fackeln der Stadt, und stattdessen wurden die weißen Häuser und die Straße zu ihren Füßen in ein sanftes, warmes Leuchten getaucht und die ganze Stadt erstrahlte. Shinya wandte sich um und sah, dass sich das Sonnenlicht in der gläsernen Stadtmauer in allen nur erdenklichen Farben widerspiegelte, wie ein transparenter Himmel, der über und über mit Regenbögen bedeckt war.

Und dann erwachte das Leben in Lluvia.

Zunächst wurde nur eine einzige Türe geöffnet, langsam, fast schon zögerlich. Eine alte Frau trat daraus hervor und blieb abrupt stehen, als sie Shinya und seine Freunde erblickte. Eine Mischung aus Misstrauen und Neugierde lag in ihren blassen Augen; dann jedoch lächelte sie, und schon flog der Eingang des Nachbarhauses auf und zwei Kinder, ein Junge und ein kleineres Mädchen, stürmten jauchzend in das weiche Licht der Morgensonne hinaus. Und ehe die Freunde sich versahen, wimmelte die Straße auch schon von Leben, von lachenden und schwatzenden Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben, die meisten von ihnen in bunten Magier- oder Priestergewändern.

Dem Katzendämon blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

„Wo um alles in der Welt sind wir hier eigentlich gelandet? Was… was ist das für eine Stadt?!“

Genau genommen verstand er nichts von all dem, was in den vergangenen Augenblicken geschehen war – ab jenem schicksalhaften, wundervollen Moment, als sie die glitzernde Stadt in der Talsenke unter sich erblickt hatten. Aber wie hätte er sich auch all die wundersamen, unbegreiflichen Vorgänge dieses märchenhaften Ortes erklären können? Eben noch waren sie in tiefster Nacht durch eine schlummernde, menschenleere Stadt geschritten und jetzt, nur wenige Minuten später, war ein sonniger Morgen angebrochen und sie fanden sich inmitten geschäftigen Treibens wieder, bunt, laut, aber doch ohne jene Spur von Hektik, wie sie eigentlich jeder großen Stadt eigen war.

„Hm… vielleicht ist die Zeit auf diesem Geisterschiff ja irgendwie anders verlaufen und es war in Wirklichkeit schon längst wieder Morgen?“, meinte Hoshi mit einem Schulterzucken. Die Stimme des Mädchens klang nicht so, als ob sie von ihren eigenen Worten sonderlich viel halten würde, allerdings fiel Shinya in diesem Moment auch keine andere Lösung ein. Er hob ebenfalls kurz seine Schultern, dann wandte er seinen Blick wieder den weißen Türmen des Tempels zu, die alle Häuser und Menschenmassen strahlend hell überragten.

„Ist ja jetzt auch irgendwie egal. Wir sollten lieber schleunigst mal einen Heiler finden, als uns über irgendwelche komischen Städte den Kopf zu zerbrechen. Autsch.“

„Einen Heiler? Ihr sucht einen Heiler?“ Shinya fuhr herum. Eine junge Frau war lautlos hinter sie getreten – was angesichts des allgegenwärtigen Lärmpegels allerdings auch keine große Kunst war – und lächelte sie mit wachen Augen an. Sie trug ihr langes, dunkelblondes Haar zu einem Zopf geflochten und war in einen kurzen, roten Umhang gehüllt. Der Katzenjunge blinzelte sie immer noch ein wenig oder eigentlich sogar reichlich überrascht an. Natürlich war er auf seinem Weg zum Tempel hin bereits von zahlreichen Menschen gestreift und angestoßen worden, aber erst in diesem Moment, da er die Stimme der Fremden hörte, wurde ihm wirklich und wahrhaftig bewusst, dass alles um ihn herum real war.

„Ähm… ja, genau, wir brauchen einen Heiler für unseren Freund!“ Er deutete mit dem Kopf auf Noctan, und noch im selben Moment fiel ihm auf, was ihn eigentlich schon längst hätte stören oder zumindest wundern müssen. Wie war es möglich, dass sie mit dem scheinbar toten Jungen im Schlepptau noch niemandem nennenswert aufgefallen waren?

„Ah, ich sehe schon.“ Die Fremde lächelte sanft, doch in diese warmherzige Milde trat eine Spur von Trauer, die nicht zu dem Leuchten in ihren blauen Augen passen wollte. „Da solltet ihr am Besten in den Attaiah-Tempel gehen. Die Priester dort können euch sicher helfen!“

„Attaiah? Ich nehme an, das ist jener große Tempel inmitten der Stadt, nicht wahr?“ Die blonde Frau nickte Rayo kurz zu, bevor sie sich wieder zum Gehen wandte.

„Ich bezweifle, dass ihr ihn übersehen könnt. Und jetzt entschuldigt mich – ich muss mich beeilen, bevor Ranyas Laden kein Ty’elakraut mehr hat. Alle Welt scheint Ty’elakraut zu brauchen – ich verstehe einfach nicht, warum die alte Ranya nicht ein einziges Mal mehr davon beschaffen kann!“

„Oh, das Problem kenne ich!“, lachte Hoshi und verneigte sich leicht. „Dann danken wir Euch vielmals für Eure Hilfe!“

„Ach was, nichts zu danken!“ Die junge Frau nickte den Freunden noch ein letztes Mal lächelnd zu, bevor sie sich endgültig umdrehte und eilig in einer schmalen Gasse zwischen zwei besonders weißen Häusern mit bunten, glitzernden Vorgärten verschwand.

„Na, was sagt ihr jetzt?“ Shinya blickte seine Freunde aufmunternd an. „Ich hab’s doch gleich gesagt, wir haben noch eine Chance, wenn wir erst mal hier sind!“

„Aber wir wissen noch nicht, ob diese Priester ihn wirklich heilen können, oder?“, entgegnete Rayo in deutlich leiserem Tonfall, den Blick auf die hellen Pflastersteine zu seinen Füßen gerichtet. Shinya musterte den jungen Adligen kurz und ärgerlich. Natürlich verstand selbst er, dass Noctans Zustand ihm sogar ganz besonders nahe ging (er verstand nur nicht, warum), aber das ständige Misstrauen, dieser Pessimismus und diese… ja, diese Feindseligkeit gegenüber diesem wunderschönen Ort begannen ihm langsam aber sicher gewaltig auf den Geist zu gehen.

„Also, wenn diese Frau das sagt, dann glaubt Misty ihr auch!“, mischte sich das kleine Mädchen in dem eifrigsten Tonfall ein, den sie nur irgendwie zustande bringen konnte. „Mistys Großmutter hat nämlich immer gesagt, dass die Menschen hier Misty helfen können, genau, das hat sie immer gesagt! Und wisst ihr was? Wenn sie Misty helfen können, dann können sie doch ganz bestimmt auch Noctan helfen!“ Sie nickte bekräftigend. „Ja, und außerdem, vielleicht hat Mistys Großmutter ja immer ganz genau gewusst, dass es hier so schön ist und dass es hier soooo viele nette Menschen gibt, nicht so wie Hoshis blöde Lehrer und Dorfälteste und so. Sie wusste eine ganze Menge und sie hat auch immer Recht damit!“

Auf dem Gesicht der kleinen Blauhaarigen lag ein entschlossener Ausdruck, der von dem stolzen Funkeln in ihren großen blauen Augen noch unterstrichen wurde. Hoshi lachte und wuschelte dem Mädchen über die Haare.

„Merkt ihr was? Von Misty können wir alle noch was lernen! Ich zumindest bin der Meinung, wir sollten auf sie hören und es wenigstens einmal versuchen.“ Sie nickte, und wieder einmal war Shinya zutiefst davon beeindruckt, wie schnell das Mädchen ihren ehrlichen, ansteckenden Optimismus zurückgewinnen konnte. „Ich meine, ich weiß ja auch nicht, was wir in diesem Tempel finden werden, aber… haben wir denn überhaupt etwas zu verlieren?“
 

Als Shinya endlich auf den Marktplatz trat, war er trotz allem, was er bislang schon von Lluvia gesehen hatte, immer noch voll und ganz überwältigt. Der gläserne Boden leuchtete sogar noch ungleich schöner und bunter als die Stadtmauer und auch die Häuser schienen hier noch ein bisschen weißer und freundlicher zu strahlen als in den Prachtstraßen, obwohl einige ihrer Fassaden von kunstvollen Fachwerkmustern geschmückt wurden. Unzählige Menschen in prächtigen Gewändern, wie sie die Magier auf sehr alten und wertvollen Gemälden trugen, tummelten sich fröhlich lachend und schwatzend zwischen den kleinen Geschäften, die sich eng aneinander drängten und jeden Passanten auf einen Besuch einluden.

Da gab es Süßigkeitenläden mit goldgerahmten Schaufenstern, hinter deren Glasscheiben Bonbons, kandierte Früchte und andere Leckereien in allen nur erdenklichen Farben leuchteten wie bunte Edelsteine. Eine Tierhandlung, in der prächtige Vögel mit farbenfrohen Federkleidern durch ihre goldenen Käfige flatterten und vor deren Türe ein von Kindern umringtes schneeweißes Pony angebunden war. Zahllose Zaubergeschäfte mit geheimnisvoll silberglänzenden Pülverchen und funkelnden Kristallen in den Schaufenstern, hinter denen alte, in violette und rote und grüne Stoffe gehüllte Frauen mit ihren blitzenden Augen auf den Platz hinausblickten.

Und inmitten dieses fröhlichen und fantastischen Treibens ragte der von türkisfarbenem, glitzerndem Wasser umringte und überströmte Tempel in den wolkenlos blauen Himmel empor. Die zahllosen in sich gedrehten weißen Türmchen funkelten mit den blauen Edelsteinen und dem Wasservorhang um die Wette, und dieser ganze Anblick war so unvorstellbar prächtig und schön, dass Shinya einmal mehr für einen ganz kurzen Augenblick vergaß, warum er diesen Ort eigentlich aufgesucht hatte. Einige Minuten lang stand er einfach nur wie gebannt in der lebhaften Menge und starrte auf diesen märchenhaften, wunderschönen Platz, auf die verzauberte kleine Welt, die sich da vor ihm ausbreitete.

„Wir… wir wollten… wir wollten zu einem Heiler, nicht wahr?“ Rayo war der Erste, der das andächtige Schweigen der jungen Estrella brach.

„Ja… natürlich… du hast Recht!“, nickte Hoshi rasch, immer noch ein vollkommen verzücktes Strahlen auf ihrem Gesicht, und setzte sich auf eine fast schon ehrfurchtsvolle Weise in Bewegung. Shinya folgte ihr vorsichtig und mit angehaltenem Atem. Beinahe fürchtete er, dass sich das Bild vor seinen Augen im nächsten Moment einfach auflösen würde wie ein unfassbar schöner Traum, so unwirklich erschien es ihm auch jetzt noch. Selbst als er den gläsernen, aber dennoch nicht rutschigen Boden unter seinen Füßen spürte, als ihn die geschäftig umhereilenden Magier dann und wann auch mal etwas rüder zur Seite drängten, mit ihm zusammenstießen und dann mit einer kurzen Entschuldigung weiterzogen, selbst da konnte er noch nicht oder eigentlich schon wieder nicht glauben, dass all diese Wunder um ihn herum auch tatsächlich wahr sein sollten.

Über eine kleine elfenbeinfarbene Brücke überquerte er den See, der den Tempel glitzernd umrahmte. Von dort aus führte eine prachtvolle breite Treppe auf den weit offen stehenden Eingang des Tempels zu. Hinter diesem einladenden Portal lag ein kleiner Vorraum, dessen Boden und Decke weiß gekachelt waren. Die Wände waren mit türkisblauen, transparenten Seidentüchern verhängt. Als Shinya unschlüssig vor einem großen, aus reinem Silber gegossenen und mit dunkelblauen Edelsteinen besetzten Tor zum Stehen kam, hörte er plötzlich Schritte hinter sich.

„Nun, meine jungen Freunde, ihr seid aber schon früh hier!“ Ein älterer Priester mit freundlichen, weichen Gesichtszügen, gehüllt in eine bodenlange weiße Kutte, war beinahe lautlos zu ihnen getreten – eine Kunst, die offenbar jeder Einwohner dieser Stadt zu beherrschen schien. Die goldenen Stickereien seines Gewandes glänzten im Licht der Morgensonne. „Na so was, euch habe ich hier ja noch nie gesehen!“

„Wir kommen von weit her!“ Shinya trat mit möglichst wichtiger Miene nach vorne. „Und wir brauchen dringend Hilfe für unseren Freund hier. Er ist… ähm… verflucht worden oder so, und wir fürchten, dass… dass er im Sterben liegt.“

Der weißhaarige Priester ging auf Rayo zu, beugte sich über Noctan und strich ihm behutsam die Haare aus der Stirn. Ein sorgenvoller Ausdruck trat in seine Augen und überschattete die gütige Wärme auf seinem Gesicht.

„Was… was ist denn? Bitte, sagen sie nicht, dass sie ihm nicht helfen können!“ Rayos Stimme klang ängstlich und ein stetes leises Zittern schwang in den Worten des jungen Adligen mit. Dem Priester entging die Besorgnis des Blondschopfes keineswegs – er blickt rasch wieder auf und legte ein beruhigendes Lächeln auf seine Lippen.

„Aber natürlich können wir das, mein Junge! Ich selber beherrsche die uralte Kunst der Seelenheilung, und gemeinsam mit den anderen Magiern werden wir ihn ganz sicher von seinem Fluch befreien können.“ Er nickte, nun schon viel zuversichtlicher als noch vor wenigen Augenblicken. „Es war sehr gut von euch, dass ihr so rasch hierher gekommen seid. Es ist noch nicht zu spät für ihn.“

„Oh… tatsächlich?“ Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft konnte Shinya wenigstens einen Anflug von Hoffnung auf Rayos blassem Gesicht erkennen. Der Heiler gab ein freundliches, herzliches Lachen von sich.

„Zweifelst du etwa an unserem Können, mein Junge?“ Ein warmer Ausdruck trat in seine Augen. „Du musst keine Angst haben. Die Priester hier zählen mit Verlaub zu den besten Heilern unseres Erdenrundes und sind auch ebenso weithin bekannt! Lasst ihn einfach hier bei uns, wir kümmern uns um ihn und wir werden ihm helfen, das verspreche ich dir. In einer Woche könnt ihr wieder kommen und alles wird gut sein.“

„Eine Woche?“ Shinya sah den Priester irritiert an, und aus irgendeinem Grund erschreckte ihn die Länge dieser Zeitspanne sogar noch weitaus mehr, als er überhaupt begreifen konnte. „Ich weiß nicht… das ist ein bisschen – lang.“

„Keine Sorge, ihm geschieht doch nichts! Wir helfen ihm, ganz sicher!“ Er streckte Rayo auffordernd die Arme entgegen. „Nur solltet ihr nicht zu lange zögern. Je früher wir mit dem Ritual beginnen, desto sicherer ist auch sein Gelingen.“

„Ich… bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob…“ Rayo sah zu Boden. „Wird… wird es ihm auch sicher gut gehen? Ich meine, wird es ein schmerzhaftes Ritual sein? Was, wenn… wenn er doch stirbt… und wir sind nicht – nicht bei ihm… ich meine…“

„Ich verstehe deine Zweifel. Aber sei unbesorgt, er wird schlafen und von all den Geschehnissen nichts mitbekommen. In einer Woche werdet ihr ihn wiederhaben, als ob nichts geschehen wäre. Und falls es ihm wider Erwarten doch einmal schlechter gehen sollte, werden wir euch natürlich sofort darüber in Kenntnis setzen.“

Rayo seufzte ergeben. Dann legte er Noctans leblosen Körper vorsichtig in die Arme des Priesters.

„Und… was machen wir solange?“, fragte Shinya und fühlte sich dabei immer noch ein wenig unwohl. „Wo sollen wir denn überhaupt bleiben?“

„Also, ihr wärt die ersten Reisenden, denen es in unserer Stadt der tausend Wunder auch nur für eine einzige Sekunde langweilig geworden wäre!“ Die Augen des Heilers leuchteten auf. „Folgt nur immer den Straßen entlang der dritten und vierten Wasserader, und ihr findet alles, was nötig ist, um euch etliche Tage, ja ebenso auch Wochen, Monate und möglicherweise sogar jahrelang zu zerstreuen – je nachdem, wie lange ihr nun eben hier zu bleiben gedenkt. Ganz gleich, ob ihr unsere weltberühmte Bibliothek besichtigen wollt, ob ihr die Stunden in Marys kleinem Zaubergarten verbringt oder mit einem Boot unser wunderschönes Lluvia von der mittleren Wasserader aus bewundert, glaubt mir, ihr werdet euch prächtig amüsieren und jegliche Sorgen vergessen! Und ehe ihr euch verseht, gibt es ein Wiedersehen mit eurem Freund. Nun, was meint ihr?“

„Au suuuuuper!“, kreischte Misty und klatschte begeistert in ihre kleinen Hände. „Misty will in den Zaubergarten, oh ja, Misty will unbedingt in den Zaubergarten und zu den Süßigkeiten und das Pony streicheln und überhaupt alles, alles hier machen! Ja, ja, ja!!“

Sie hüpfte vor lauter Vorfreude auf und ab, ein übermütiges, ungetrübtes Strahlen in den blauen Augen.

„Bliebe nur noch die Frage – wo finden wir einen Gasthof, in dem wir solange die Nächte verbringen können?“ Hoshi schob sich mit einem ernüchternden Seufzer in die Welle von Begeisterung, die das kleine Mädchen verströmte. „Ich fürchte nämlich, wir haben nicht mehr allzu viel Geld.“

„…das ihr gewiss auch für andere Dinge ausgeben könntet, nicht wahr?“ Der Priester lachte und deutete mit dem Finger in eine der schmaleren Straßen hinein. „Sucht das Haus mit den farbigen Fenstern und dem Schild eines weißen Phönix über der Türe. Dort ist die Herberge von Yantra, einer guten, alten Freundin von mir. Wisst ihr, es verirren sich leider nicht oft Fremde in unsere Stadt, aber wenn, dann bereiten wir ihnen ein Leben, das sie so bald nicht mehr vergessen werden! Ich bin mir beinahe sicher, sie wird euch mit Freuden empfangen und aufnehmen. Ihr müsst natürlich auch nicht dafür bezahlen, keine Sorge. Die Insel schenkt uns alles, was wir zum Leben benötigen. Geld spielt hier in der Welt der Magie kaum eine Rolle.“

„Moment mal… heißt das, wir können kostenlos da wohnen? Echt jetzt!?“ Shinya sah den Geistlichen verdattert an.

„Aber ja!“ Der Priester lächelte mild. „Doch nun geht, meine jungen Freunde. Lasst eure Sorgen eine Woche lang meine Sorgen sein und genießt das Leben in der Stadt, in der alle Träume wahr werden…“

Er nickte ihnen zum Abschied zu, und die vier übrig gebliebenen Estrella verließen ohne ein weiteres Wort der Widerrede langsam und schweigend den Tempel. Shinya hörte, wie sich die silberne Türe hinter ihnen öffnete und blickte zurück, doch bevor er auch nur einen einzigen, flüchtigen Blick auf das Innere des Tempels erhaschen konnte, war das glitzernde Portal auch schon wieder ins Schloss gefallen.

„Misty will in den Zaubergarten!“, jauchzte das blauhaarige Mädchen in überschäumender Vorfreude und wischte die kurz aufflammende Nachdenklichkeit des Katzenjungen rasch wieder Beiseite. Die Kleine war offensichtlich schon im Begriff dazu, einfach loszurennen und die wundersame Stadt auf eigene Faust zu erkunden, aber Hoshi hielt sie mit einem tadelnden Räuspern zurück.

„Zuallererst sollten wir unsere Unterkunft aufsuchen und abklären, ob das mit dem kostenlosen Übernachten auch wirklich in Ordnung geht“, sagte sie streng. „Danach können wir uns amüsieren.“ Plötzlich jedoch blitzen auch ihre dunklen Augen freudig auf, und ein beinahe kindliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Oh Shinya, wir müssen unbedingt mit einem Boot fahren, ja, machen wir das? Ich… ich wollte schon immer einmal solch eine Bootsfahrt machen! Und die Stadt ist ja so wunderschön!“

Sie lachte vergnügt auf, dann packte sie den Katzenjungen überaus stürmisch bei der Hand und lief auf die Straße zu, in der ihre Herberge auf sie wartete.
 

Die Woche verging tatsächlich wie im Fluge. Shinya hätte sogar ohne zu zögern geschworen, dass die Zeit, die sie in der Stadt der tausend Wunder verbrachten, wirklich um einiges schneller vorüberging als in der normalen Welt, außerhalb der gläsernen Stadtmauern.

Das konnte aber ebenso gut daran liegen, dass Lluvia seinen Beinahmen wahrlich zu Recht trug.

Der Katzenjunge kam aus dem Staunen eigentlich gar nicht mehr heraus. Einen ganzen Tag verbrachten die jungen Estrella allein in der gigantischen Bibliothek der Stadt, einem riesigen Gebäude mit Wänden aus blauem Glas, die über und über mit allen nur erdenklichen Arten von Büchern vollgestellt waren. Ob Märchen, ob Heldensage, philosophische Abhandlung oder nüchterne Geschichtsschreibung – kein literarischer Wunsch blieb unerfüllt. Und im dämmrigen blauen Licht, das durch die ebenfalls gläserne Kuppel in den fünfeckigen Raum fiel, schienen all die Legenden und Fantasiegestalten Wirklichkeit zu werden.

Vom glitzernden Wasser aus war Lluvia jedoch beinahe noch prächtiger und schöner – sofern das überhaupt möglich war. Tag für Tag schien die Sonne, ja selbst die Nächte waren angenehm warm und luden zu ausgedehnten Spaziergängen zwischen den farbigen Fackeln und dem Licht der Sterne ein, das im gläsernen Boden und in jedem Kanal gefangen genommen und reflektiert wurde. In den zahllosen kleinen Cafés am Rande der Flüsschen flogen die Stunden nur so dahin, wenn man dem türkisblauen Wasser beim Plätschern zusah und gleichzeitig die köstlichen Getränke und die überaus verlockende Fülle an Kuchen und süßen Leckereien verspeiste. Erstaunlicherweise hatte der Priester auch hier Recht behalten – keiner der Bewohner verlangte für die reichliche Verpflegung Geld von den anscheinend wirklich äußerst seltenen Fremden, und so ließen die Freunde es sich so gut gehen, wie es nur irgendwie möglich war.

Das wahrhaft Fantastischste in der magischen Stadt entdeckten sie jedoch erst am vierten Tag, und zwar ausgerechnet in einem Häuschen, das angesichts der sonstigen Pracht von außen fast schon unscheinbar wirkte. Über der niedrigen Türe war ein hölzernes Schild in die weiße Wand genagelt, auf dem mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben stand:

„Marys kleiner Zaubergarten.“

Wäre Misty nicht sofort begeistert kreischend und jauchzend darauf zugehüpft, hätten die Estrella das niedrige, zur rechten Seite hin leicht eingesunkene Haus wahrscheinlich nicht einmal betreten. So jedoch fanden sie überaus zielsicher ihren Weg in den kleinen, mit Holz verkleideten Raum, in dem eine mit violetten Schleiern verhängte Türe – zumindest laut einer neben ihr angebrachten Tafel – geradewegs in das Reich der Träume führen sollte. Mary selber, eine ältere dunkelhäutige Frau mit einem nahezu kindlich anmutenden Blitzen in den Augen, saß auf einem einfachen Holzstuhl in einer Ecke des Zimmerchens und lächelte jedem Eintretenden fröhlich entgegen.

„Willkommen, junge Fremde!“ Sie sprach in einem leisen, geheimnisvollen Tonfall und ihre schwarzen Augen blitzten noch ein wenig mehr. „Geht nur weiter… und staunt!“

Shinya tauschte mit Hoshi einen vielsagenden, reichlich zweifelnden Blick. Was konnte sie hinter dieser unscheinbaren Türe denn schon so Großartiges erwarten?

Doch was er dann sah, war tatsächlich nichts Anderes als ein zum Leben erwachter Kindheitstraum. Er stand vor einem riesigen Garten mit leuchtend blauem Gras, über dem ein sanfter, weißer Nebel lag. Dieser Garten war umgeben von einem dichten blaugrünen Tannenwald, dessen Baumwipfel von einem silbrigen Flimmern überzogen waren. Ein schmaler, von kreisrunden Steinen gerahmter Pfad führte zu einem See mit türkisblauem Wasser hin, auf dessen intensiv glühender Oberfläche sich das Licht des Mondes und der Sterne widerspiegelte und mit einer tanzenden Horde bläulich weißer Glühwürmchen um die Wette funkelte.

Blumen in den schönsten und fantastischsten Formen wuchsen aus der Wiese empor und leuchteten allesamt in einem sanften, gedämpften Licht. Aber das war noch längst nicht alles: Der Zaubergarten war bevölkert, und zwar von einer Vielzahl von Waldtieren, von kleinen Häschen, Rehen, Eichhörnchen, die allesamt ein silbrig weißes Fell trugen. Und am See standen zwei Einhörner in friedlicher Eintracht nebeneinander und tranken von dem reinen, schimmernden Wasser.

Natürlich war all diese unfassbare Schönheit wirklich nicht viel mehr als ein Traum, als eine Illusion. Aber sie war dabei so real, so vollkommen, dass dies keine Rolle mehr spielte. Das Fell der Einhörner fühlte sich so weich an wie das eines sehr jungen Fohlens, und sie ließen sich ebenso zutraulich streicheln und kraulen wie alle anderen Tiere dieser verzauberten Waldlichtung. Das Gras, die Bäume, das Wasser, die Blumen… alle Dinge konnte man berühren, ohne auch nur eine Sekunde lang an ihrer Echtheit zweifeln zu müssen. Und weil in dem Zaubergarten stets Nacht herrschte, hatte der Begriff Zeit in dieser märchenhaften Welt auch keinerlei Bedeutung mehr.

Irgendetwas war da an diesem wundersamen Ort zwischen Wachen und Träumen, das Shinya so tief und so nachhaltig berührte, dass er bei seinem Anblick stets gleichzeitig hätte weinen und lachen können. Er konnte nicht genau begreifen, was das war und was es da eigentlich in ihm regte, er hatte bestenfalls noch eine vage Ahnung davon, dass es mit irgendwelchen sorgsam gehüteten Erinnerungen zusammenhing, die er niemals wieder mit solch einer Intensität zu spüren gehofft hatte. Es war die Erinnerung an einen vergessen geglaubten Zauber, der ihm auch stets genau in der Sekunde wieder abhanden kam, da er die Türe des magischen Gartens hinter sich schloss und hinaus in die nicht minder magische Prunkstadt trat.

Wahrscheinlich war genau das der Grund dafür, dass Shinya von da an am liebsten jede freie Minute (also jede Minute, die er nicht entweder mit Essen oder Schlafen vergeudete) in Marys kleinem Zaubergarten verbringen wollte, was dann endgültig noch dazu führte, dass ihm jedes, aber auch wirklich jedes Zeitgefühl abhanden kam. Und dennoch brach irgendwann der Tag an, den der Katzenjunge noch vor genau einer Woche so sehnsüchtig erwartet hatte, so unendlich fern er ihm damals auch noch erschienen sein mochte.

Als Shinya an diesem Morgen auf den gläsernen Marktplatz trat, konnten ihn auch der Anblick der fröhlichen Menschenmenge und die strahlende Pracht des Tempels nicht beruhigen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals – vor allem aber schämte er sich dafür, dass er Noctan während der vergangenen Woche tatsächlich oft genug komplett vergessen hatte, obwohl er dem Priester für diese Behauptung noch vor wenigen Tagen am liebsten den gütigen Kopf von den Schultern gerissen hätte.

„Glaubt ihr wirklich, dass sie Noctan einfach so wieder heilen konnten?“ Hoshi sah ihre Freunde zweifelnd an. Selbst ihr schien es in diesen frühen Stunden des neugeborenen Tages nicht mehr zu gelingen, mit gewohnt optimistischer Zuversicht dem nahenden Moment der Wahrheit entgegenzublicken.

„Ich weiß es echt nich…“ Shinya senkte den Kopf, weil er es einfach nicht mehr länger fertig brachte, auf die ungetrübt verlockende Schönheit seiner Umgebung zu blicken, die ihm mit einem Mal einfach nur noch vorwurfsvoll erschien. „Keine Ahnung, wie’s euch geht, aber irgendwie ging mir das alles ein bisschen zu… zu leicht.“

„Nun hört schon auf, so herumzuunken! Wart ihr es nicht eben noch, die wieder und wieder betont haben, dass wir doch nur hoffen und vertrauen müssten? Und wie sagte Hoshi doch gleich – haben wir eine Wahl? Ich zumindest wüsste nicht, was wir jetzt noch tun könnten!“

Rayo stieß einen ungehaltenen Seufzer aus und trat dann sichtlich nervös über die Brücke auf den weißen Tempel zu. Shinya folgte ihm deutlich langsamer, aber durchaus nicht weniger aufgeregt. Noch bevor er allerdings auch nur in den Vorraum treten konnte, öffnete sich auch schon die große Silberpforte – wieder nur ein Stück weit, sodass der Blick ins Innere des Tempels verwehrt blieb – und jener weiß gekleidete Priester trat heraus, mit dem sie schon vor einer Woche Bekanntschaft gemacht hatten.

Sein Gesichtsausdruck war ernst.

„Ich habe euch bereits erwartet, meine jungen Freunde. Und glaubt mir eines – das Ritual war schwieriger, sogar weitaus schwieriger, als wir es zunächst für möglich gehalten haben“, sagte er mit steinerner Miene. „Vielleicht lag es daran, dass er eine zu lange Zeit unter diesem dunklen Bann gestanden hat, vielleicht lag es an den überaus starken magischen Fähigkeiten des Jungen, die sich nach der Verfluchung gegen jegliche Heilung sträubten. Vielleicht…“

„Verdammt noch mal, nun sagt doch endlich, was mit ihm geschehen ist!“, entfuhr es Rayo, und sehr zu Shinyas Überraschung folgte auf den sicherlich ganz und gar unstandesgemäßen Ausbruch des jungen Adligen nicht einmal ein Hauch von Verlegenheit. Die tiefblauen Augen des Blondschopfes flackerten bedrohlich, als er dem Priester lange und direkt ins Gesicht sah.

Dann jedoch, ganz plötzlich, stahl sich ein breites Lächeln auf die Lippen des Geistlichen.

„Es ist uns gelungen. Aber, bei der Macht aller Götter, ich habe noch niemals in meinem ganzen Leben ein derart… anstrengendes… Kräfte zehrendes Extraktionsritual hinter mich gebracht, das könnt ihr mir glauben!“

„Heißt das… es geht ihm gut?“ Schlagartig wich die Wut in Rayos Blick einem mehr als nur erleichterten Leuchten.

„Aber ja doch, es könnte ihm nicht besser gehen!“ Der Priester nickte bekräftigend und überaus zufrieden. „Ihr könnt es bestimmt gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen, habe ich Recht? Noch einen Moment Geduld – ich werde ihn sofort holen gehen.“

Er wandte sich um und verschwand eilig in dem Raum hinter der silbernen Türe.

„Ja!“ Shinya war es in diesem Augenblick vollkommen egal, was die umstehenden Personen von ihm denken mochten – er vollführte einen Luftsprung und schwenkte triumphierend die Faust zum Himmel, dann fiel er Hoshi mit einem übermütigen, befreiten Jauchzen um den Hals. Er drückte das Mädchen kurz und heftig an sich, bevor er sie bei den Händen packte und sich etliche Male mit ihr über das schimmernde Glas des Platzes drehte. „Wir haben es geschafft, Hoshi! Glaubst du das? Wir haben es wirklich geschafft!!“

Die Lichtmagierin lachte, und in diesem einen Lachen schwang all ihre Erleichterung, all ihre Freude mit. Sofort wurde es Shinya sogar noch ein bisschen wärmer ums Herz.

„Oh ja!“ Die dunklen Augen des Mädchens strahlten noch ungleich heller als der Sonnenball, der weiß und ungetrübt am Himmel stand. „Wir haben es…“

Sie wurde von dem Geräusch der sich öffnenden Türe unterbrochen, verstummte schlagartig und blickte auf. Auch Shinya erstarrte in der Bewegung, als sein Herzschlag sich unangenehm beschleunigte und er plötzlich spürte, wie ein letzter, nagender Zweifel in ihm hochkroch. Dann aber trat der Heiler zum zweiten Mal an diesem Morgen zu ihnen ins Freie. Er hatte seine Hand auf den Rücken eines weißhaarigen Jungen gelegt, der seine Umgebung mit verwirrten und leicht hilflosen violetten Augen abtastete.

„Noctan!!“ Obwohl Shinya in diesem Augenblick wohl nichts mehr wirklich hätte erschüttern können, war er doch wenigstens mehr als nur ein bisschen überrascht darüber, dass es ausgerechnet Rayo war, der wohl ohne langes Nachdenken nach vorne stürmte, in halsbrecherischem Tempo die Stufen des Gotteshauses erklomm und sich dem Weißhaarigen dann regelrecht um den Hals warf. „Oh Gott, Noctan, ich… ich bin ja so froh! Ich kann es noch gar nicht glauben… es… es tut mir so leid, dass ich… Noctan…“

Dann lief plötzlich ein nicht zu übersehender Ruck durch den Körper des jungen Adligen und er machte einen fast schon panischen Schritt zurück, während sich ein tiefes Rot über seine Wangen legte.

„Ich… also… das… das tut mir leid!“, stammelte Rayo reichlich hilflos, während Shinya noch damit beschäftigt war zu überlegen, ob ihn Noctan nun am ehesten aufschlitzen, ihn in Stücke reißen, ihm den Hals umdrehen oder ihn doch eher langsam zu Tode foltern würde.

Überraschenderweise tat er nichts von alldem – wenigstens vorläufig nicht.

„Aber… nein…“ Noctans Stimme klang immer noch reichlich müde und erschöpft, so als ob er erst vor wenigen Sekunden aus einem unendlich langen Schlaf erwacht wäre, ohne jemals Ruhe gefunden zu haben. „Das ist doch… ich meine…“ Er stockte, atmete einmal tief durch und wandte sich dann mit gesenktem Blick seinen Freunden zu. „Ihr habt euch bestimmt große Sorgen gemacht und das tut mir leid. Wenn sich einer entschuldigen muss, dann bin ich es… das war so dumm von mir.“

Shinya riss seine Augen so weit auf, wie er nur irgendwie konnte, und starrte den Weißhaarigen an, als ob nicht ihr soeben wieder erwachter Mitstreiter, sondern vielmehr ein sechsbeiniger geflügelter Hund mit Löwenpranken und einem Pferdekopf auf dem Rücken zu ihnen gesprochen hätte. Was ihn allerdings vermutlich immer noch nicht einmal halb so sehr in Erstaunen versetzt hätte wie… wie… wie das hier.

„Was… was habt ihr denn?“ Der Weißhaarige erwiderte die Blicke seiner Freunde nicht minder verwirrt, und in seiner Stimme schwang einen Moment lang ein unsicherer, fast schon ängstlicher Tonfall mit.

Dann zuckte er mit den Schultern und lachte.
 

„Irgendetwas stimmt da nicht!“, raunte Hoshi mit gedämpfter Stimme.

„Recht hast du, da is was schief gelaufen, aber ganz gewaltig!“ Shinya nickte und schielte zu der Türe hin, hinter der Noctan und Misty genau in diesem Augenblick friedlich in ihren Betten lagen und schliefen. „Wenn ich es nich besser wüsste, würd ich ja sagen, die haben seinen Charakter mit dem Fluch gleich mitextrahiert, oder wie das heißt!“

Hoshi kicherte leise.

„Vielleicht war seine überaus nette, freundliche und sympathische Art ja auch so eine Art Fluch, der ihm oder uns von irgendjemandem auferlegt worden war!“, grinste sie.

„Wie könnt ihr so etwas sagen? Das ist nicht lustig!“ Rayo bemaß das Mädchen mit einem strafenden Blick. „Was ist, wenn ihm dieses Ritual nun… auf irgendeine Art und Weise geschadet hat?“

„Na, wenn der Schaden sich dadurch äußert, dass aus ihm ein besserer Mensch geworden ist, dann könnte es ruhig öfters solche Nebenwirkungen geben!“, entgegnete Hoshi und lachte leise. „Ach, ich weiß es ja auch nicht genau, aber ich persönlich sehe keinen Grund, warum wir uns bei diesen Priestern beschweren müssten – ihr vielleicht?“

„Also, im Prinzip hab ich gegen unseren neuen Noctan ja mal absolut nichts einzuwenden“, stimmte Shinya zu. „Wisst ihr, was ich vorschlage? Wir schaun uns die ganze Sache einfach noch für ne Weile an, und dann sehn wir ja, ob Noctan so bleibt, wie er jetzt is, ob er vielleicht sowieso wieder so wird… wie früher und ob er irgendwelche wirklichen Schäden zurückbehalten hat.“

„Ich weiß nicht…“ Rayo biss sich auf die Lippe.

„Hey, nun komm schon!“ Hoshi stieß dem Blondschopf in die Seite und lächelte ihn aufmunternd an, doch irgendwo in ihren Augen lag auch eine flüchtige Spur von Ungeduld. „Jetzt schau ihn dir doch nur mal an. Noctan ist so bestimmt viel glücklicher als früher! Ich denke, Shinya hat schon Recht. Und wir sollten uns jetzt langsam wirklich mal schlafen legen, bevor noch irgendjemandem etwas auffällt.“

Shinya nickte und nach wenigen Augenblicken tat es auch Rayo ihm gleich, und so schlichen die drei jungen Estrella zurück zu ihren Betten. Die Decke und die Matratze empfingen den jungen Adligen mit einer wunderbar luftigen Wärme, doch er fühlte sich innerlich viel zu aufgewühlt, um überhaupt nur an Schlaf zu denken. Die Minuten verrannen, wurden zu endlos langen Stunden im Licht des Mondes, das wie ein silbrig blasser Regenbogen durch die bunten Fensterscheiben der Herberge fiel. Er drehte und wälzte sich von einer Seite auf die andere, deckte sich halb ab und dann wieder zu, rollte sich zusammen und streckte dann wieder alle Gliedmaßen weit von sich – aber schlafen konnte er nicht.

Zumindest sehr, sehr lange nicht, denn als seine Freunde am nächsten Morgen erwachten und auch von draußen her wieder Geräusche zu ihrem geduckten Zimmer hinaufdrangen, da schreckte Rayo hoch und konnte im ersten Augenblick noch nicht begreifen, warum es urplötzlich hell war. Er hatte nicht geträumt und somit auch gar nicht bemerkt, überhaupt geschlafen zu haben. Außerdem war er ganz im Gegensatz zur vergangenen Nacht todmüde und konnte sich nur mit äußerster Mühe aus seinen plötzlich ganz unbeschreiblich gemütlichen Federn quälen. Als die fünf Estrella dann schließlich wieder vereint auf dem Marktplatz Lluvias standen, um über ihre weiteren Pläne zu beraten, da fühlte Rayo sich wie erschlagen und fünf Meilen von einem morschen alten Pferdekarren durch eine felsige Wüste gezerrt.

Er gähnte unauffällig und versuchte dann nach Leibeskräften, den Worten seiner Freunde zu folgen, ohne dabei im Stehen wieder einzuschlafen.

„Also, Leute, wir wollten hier doch irgendetwas herausfinden, über unsere Bestimmung, unser weiteres Vorgehen, ihr wisst schon!“, begann Shinya das Gespräch. „Ich würd ja vorschlagen, wir durchkämmen einfach mal gründlich und gezielt die Bibliothek nach… nach einfach allem, was irgendwie nützlich sein könnte.“

„Gute Idee!“, stimmte Hoshi zu, und das mit einem so ehrlichen und beinahe schon ansteckenden Enthusiasmus in der Stimme, wie ihn zu solch früher Stunde eben nur Hoshi zustandebringen konnte. „Ich könnte auch die verschiedenen Gelehrten und Priester und so weiter abklappern. Die können mir bestimmt die eine oder andere interessante Geschichte erzählen!“

„Ja, aber… ich weiß nicht…“ Noctan warf ein sichtlich enttäuschtes Blinzeln in die Runde. „Ihr habt die Stadt ja schon besichtigen können und… ich möchte wirklich nicht unverschämt klingen, aber ich… Lluvia ist doch so schön und ich hätte wirklich gerne noch ein bisschen mehr davon gesehen… irgendwann…“

„Also… das versteh ich sogar ziemlich gut, Noctan. Jetzt mach mal nich so ein Gesicht. Rayo kann dir doch von mir aus heute die Stadt zeigen, dann gehe ich mit Misty in die Bibliothek – immerhin schien sich ihre Großmutter ja mit dieser Stadt ein wenig auszukennen, ich denk mal, wir finden da schon irgendetwas. Und Hoshi, du hörst dich dann also ein bisschen um, das hilft uns sicher auch irgendwie weiter. Ihr zwei könnt ja dann ab morgen wieder mitmachen.“

„Super!“ Noctan nickte, und in seine violetten Augen trat ein Leuchten, wie Rayo es noch niemals zuvor dort gesehen hatte – von dem er sich allerdings auch gar nicht mehr so sicher war, ob er es in dieser Form wirklich dort hatte sehen wollen. Er fühlte sich ein bisschen unsicher und schwieg betreten, während Shinya, Hoshi und Misty sich entfernten und ihn gemeinsam mit dem Weißhaarigen auf dem belebten Spiegelplatz zurückließen.

„Ich würde sagen… dass wir erst einmal frühstücken gehen sollten, meinst du nicht?“, schlug der junge Adlige schließlich vor, als er die reservierte Stille irgendwann einfach nicht mehr ertragen konnte. Wenigstens versprach ein duftend warmer Kaffee, seine Müdigkeit zumindest ein ganz klein wenig zu vertreiben, und ein besserer Vorschlag fiel ihm sowieso nicht ein. Hinzu kam, dass er sich mit wirklich jeder Sekunde, die er in Noctans Gegenwart verbrachte, unwohler fühlte. Er wusste nicht, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Schlimmer noch – ihm war, als ob er da tatsächlich einen vollkommen fremden Menschen an seiner Seite hätte. Von dem Noctan, den er bislang gekannt hatte, war außer den schönen Gesichtszügen, der Augen- und Haarfarbe und der blassen Haut nicht mehr sonderlich viel übrig geblieben.

„Gerne! Ich bin wirklich sehr hungrig. Aber was machen wir danach?“ Noctan lächelte, als er Rayo ansah, und aus irgendeinem Grund versetzte es dem jungen Adligen einen Stich in seinem Herzen, als er den Weißhaarigen so glücklich sah. Aber warum? Er wusste es nicht. Er konnte beim besten Willen nicht mehr begreifen, was da gerade eben in ihm vorging.

„Ich… ich wollte dir ohnehin etwas zeigen… es ist wirklich sehr schön dort, also, wenn du möchtest…“ Rayo hob ein wenig hilflos seine Schultern. Noctan antwortete mit einem sichtlich begeisterten Nicken, und aus irgendeinem grotesken Grund erinnerte er den Blondschopf in diesem Augenblick sogar überaus stark an Misty. Er schluckte tapfer das in ihm aufkeimende Entsetzen hinunter und wandte sich dann eilig wieder von Noctan ab. „Gut, dann lass uns jetzt am Besten gleich aufbrechen, oder?“

Rayo schlenderte zunächst noch vollkommen wahl- und ziellos in eine der kleinen Gassen hinein, schlug dann aber rasch den Weg zu einem der schönen kleinen Cafés am Wasser ein. Ein orangerot gekacheltes Haus lud dort zu unglaublich köstlichem Kuchen, zu Kaffee in allen nur erdenklichen Variationen und zu einem traumhaften Blick auf das morgendliche Glitzern des türkisblauen Kanals ein. Dennoch konnte er die idyllische Schönheit seiner Umgebung und die angenehme Süße seines Frühstücks nicht genießen, zu sehr nagte da eine leise, unbestimmte Wut tief in seinem Inneren. Warum war er denn jetzt nicht einfach glücklich? Warum konnte er sich nicht freuen, wo Noctan doch eigentlich ganz genau so war, wie Rayo ihn sich immer gewünscht hatte?

Warum plagte ihn immerzu die bittere Gewissheit, dass irgendetwas an all dem falsch war?

Den belanglosen Gesprächen mit Noctan, die sich größtenteils sowieso um Lluvias zahllose Wunder und die unfassbare Schönheit der Stadt drehten, lauschte er nur mit halber Aufmerksamkeit. Seine Lippen formten Worte, die nicht seinen Gedanken entsprangen, völlig automatisch, so als stünde er neben sich und starre hilflos auf seinen lächelnden, plaudernden Körper. Genauso fremd, so endlos weit entfernt erschien ihm das Lachen auf dem Gesicht seines weißhaarigen Freundes, das vollkommen überwältigte Strahlen in seinen Augen, als der junge Adlige ihn schließlich in den kleinen nächtlichen Zaubergarten führte, der ihm während ihres kurzen Aufenthaltes schon so sehr ans Herz gewachsen war.

An diesem Morgen erschien ihm die türkisblaue Märchenwelt sogar noch ein wenig schöner, noch fantastischer als an den Tagen zuvor. Das Mondlicht ließ die Oberfläche des kleinen Sees sanft schimmern, zerfloss in silberweißen Schlieren und schien von den zahllosen Glühwürmchen in die warme Nacht hinausgetragen zu werden. Wie in Trance schritt Rayo die steinigen Stufen zu dem glühenden Wasser hinab. Er fühlte eine warme, flüchtige Berührung an seiner Hand, und als er aufblickte, traf ihn Noctans Lächeln, beinahe schüchtern, vorsichtig, aber vor allem unendlich glücklich.

„Danke…“, flüsterte der junge Estrella. Noch einmal streiften seine Finger Rayos Handrücken, dann wandte er sich mit einem Lachen ab und lief zu einem der Einhörner hin, das friedlich zwischen einigen zartblättrigen, tiefblau glimmenden Blumen weidete. Das Fell des Tieres glich den silbrig schimmernden Haaren des Mondestrella, die ihm lang über die Schultern fielen.

Rayo wandte seinen Blick ruckartig von der schwarz gekleideten Gestalt ab und starrte geradewegs in sein eigenes, bleiches Gesicht, das ihn mit traurigen Augen aus dem leuchtenden See heraus ansah, stumm, nahezu vorwurfsvoll. Die Sterne funkelten so hell, dass man sie trotz des flüssigen Mondlichtes, trotz der tanzenden Glühwürmchen im türkisblauen Wasserspiegel erkennen konnte. Ein leichter Wind streifte das Gras, zeichnete Wellen in das Licht, das von den blaugrünen Spitzen gefangen genommen wurde. Der junge Adlige spürte einen leichten Stoß in seinem Rücken, und als er aufblickte, sah er direkt in die weisen, sanftmütigen Augen der Einhornstute. Er strich dem Tier über die weichen Nüstern, dann wandte er sich wieder seinem Spiegelbild zu.

„Ich weiß jetzt, was du gemeint hast. Es ist wirklich… wunderschön hier! Ich kann es noch gar nicht glauben…“ Noctan lachte, den Kopf an die lange, seidige Mähne des Einhorns geschmiegt, die Augen geschlossen.

„Ja… beinahe zu schön, um wahr zu sein. Ich… kann es nicht so recht in Worte fassen, aber es ist doch fast… wie ein Traum, nicht?“

Noctan blickte kurz irritiert auf, dann nickte er und wandte sich wieder dem verschmusten Fabeltier zu.

„Ich weiß, was du meinst!“

Rayo hegte sogar überaus starke Zweifel an Noctans Worten, aber er ging nicht weiter auf das Thema ein und lauschte stattdessen den beruhigenden Geräuschen der Nacht. Und da, ganz plötzlich, jagte ein Gedanke durch seinen Kopf, ein Gedanke, den er nicht verstand, der vollkommen sinnlos, ja fast schon absurd war, und der ihm doch gleichzeitig einen derart tiefen Stich versetzte, wie er es selten zuvor hatten spüren müssen.

Wenn ich das alles doch nur Noctan zeigen könnte!

Der junge Adlige riss seine tiefblauen Augen weit auf. Aber warum dachte er denn so etwas? Noctan war doch hier, bei ihm! Er selbst hatte den Weißhaarigen an diesen wundersamen Ort geführt, ganz so, wie er es sich in der vergangenen Woche so oft vorgestellt hatte… und jetzt? Es war doch alles perfekt! Was fehlte ihm denn eigentlich noch?!

Die Wasseroberfläche wurde urplötzlich erschüttert, die silberne Glätte von einem Kreis hinfortgewischt, der sich langsam ausdehnte, begleitet von einer schwachen Welle, und dann verblasste. Und erst jetzt, als er das fahle Glitzern auf der bleichen Wange seines Spiegelbildes bemerkte, verstand Rayo auch, dass ihm eine einsame Träne über das Gesicht gelaufen war. Hastig wischte er sich über die Augen, stand mit einem einzigen Ruck auf und lief zu seinem Freund hinüber, fort, nur fort von dem vorwurfsvollen Blick seines eigenen Abbildes, das ihm aus dem intensiv türkisblauen Glühen des Teiches entgegenstarrte.

In diesem Moment wurde Rayo schlagartig bewusst, dass er Angst davor hatte, aufzuwachen.
 

Wenn eine einzige Sache in Lluvia vollkommen bedeutungslos war, dann die Zeit. Sie glitt hinfort wie im kristallenen Trichter einer gigantischen Sanduhr, ohne dass man ihr hätte nachtrauern müssen. Was galt schon Zeit an einem paradiesischen Ort, an dem nichts und niemand auf einen wartete, nichts als eine endlose Kette von Spaß, Erholung und Faszination, an einem Ort, dem Langeweile ebenso fremd war wie Stress oder Hektik?

Erst, als wieder einmal der kreisrunde Vollmond hoch oben über den weißen Häusern und gläsernen Mauern der märchenhaften Stadt erstrahlte, begriffen die Freunde, dass seit ihrer Ankunft bereits ein ganzer Monat ins Land gezogen war. Sie realisierten es, sie registrierten es – und kümmerten sich dann nicht weiter darum. Stattdessen beschlossen sie wie so oft in jener langen Zeit, die so erschreckend schnell verstrichen war, in dieser hellen, sternenklaren Nacht durch die vollkommen verlassenen, menschenleeren Straßen zu wandeln. Und obwohl es ihnen doch ein wenig ungerecht erschienen war, hatten Rayo, Shinya und Hoshi Noctan darum gebeten, bei Misty in der Unterkunft zu bleiben, da sich das Mädchen angeblich nicht wohl fühlte.

Selbstverständlich war dies nichts anderes als ein Vorwand gewesen, um sich einmal mehr allein und ungestört unterhalten zu können, und alle drei waren froh, dass Misty bei ihrem Plan so eifrig und überzeugend mitgespielt hatte. Allerdings schien bei Noctan auch keine sonderlich große Überredungskraft mehr vonnöten zu sein – natürlich half er gerne, wenn einer seiner Kameraden in Not war und natürlich verzichtete er dafür auf eine so kleine, unbedeutende Freude wie die eines nächtlichen Spaziergangs. Zum Glück für die drei jungen Estrella – denn immerhin sollte es bei ihrem Gespräch vor allem auch um Noctan selber gehen, und so war es nur allzu verständlich, dass er nicht unbedingt daran teilhaben sollte.

„Was denkt ihr denn jetzt?“, fragte Hoshi schließlich, nachdem die kleine Gruppe eine ausreichend große Distanz zwischen sich und ihre Unterkunft gebracht hatte. „Ich hab das Gefühl, Noctan geht es doch eigentlich ziemlich gut.“

Shinya nickte, ohne zu zögern.

„Das mein ich allerdings auch!“ Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Mann, stellt euch das echt mal vor, da bleibt der doch tatsächlich freiwillig bei Misty und passt auf sie auf! Wenn mir das irgendjemand vor dieser Reise gesagt hätte, ich schwöre, den hätt ich zu einem Heiler geschleppt, aber zu einem verdammt guten Heiler hätt ich den geschleppt!“

„Ich nicht!“, entgegnete Hoshi. „Bei dem wäre nämlich jeder Heiler zu spät gekommen!“ Sie kicherte. „Aber mal im Ernst – ich habe wirklich das Gefühl, dass diese Veränderung durch und durch zum Positiven war und dass wir so auf jeden Fall glücklicher mit ihm sind und er mit uns auch. Hey, ich meine, wir sind in den letzten Tagen… eine Gruppe geworden! Hättet ihr euch das noch vor… vor… etwa fünf Wochen vorstellen können? Keine ständigen Zankereien mehr, keine permanenten Meinungsverschiedenheiten, ich will dies, ich will aber das, hierhin, dorthin, nein, nein, nein…“ Sie verdrehte die Augen. „Furchtbar! Und jetzt? Wir halten doch richtig gut zusammen! Phil und die anderen können einpacken!“

„Recht hast du!“ Shinya grinste. „Aber wie immer – kommen wir jetzt zur weniger positiven Nachricht, die muss es ja anscheinend auch irgendwie immer geben. Egal. Seit wir hier sind, haben wir jedenfalls noch nicht wirklich was herausgefunden… jedenfalls nicht viel mehr, als wir sowieso schon wussten.“

Hoshi nickte.

„Mistys Großmutter in Ehren, aber langsam befürchte ich, dass es in dieser Hinsicht echt überflüssig war, hierher zu kommen.“

„In dieser Hinsicht, ja, aber dafür…“

„Hey, Moment mal!“ Rayo, der den beiden Estrella die ganze Zeit über stumm gefolgt war, mischte sich nun in umso heftigerem Tonfall ein, der in der Stille der Nacht unangenehm laut widerhallte. „Was redet ihr da eigentlich? Also… ich bin mir wirklich ganz und gar nicht so sicher, ob Noctans Veränderung derart grandios ist, wie ihr es gerade darzustellen versucht!“

„Ja, aber… warum denn nicht?“ Zwischen Hoshis Augenbrauen erschien eine steile Falte. „Merkst du das eigentlich nicht? Er ist glücklich, so wie er jetzt ist, und wir sind auch glücklich, weil er so ist und weil er glücklich ist und überhaupt… sollten wir nicht lieber langsam mal auf ein wichtigeres Thema zu sprechen kommen?“

„Wichtiger?“, ächzte Rayo fassungslos. „Wichtiger als unser Freund?“

„Hey – jetzt hör aber echt mal auf, so nen Unsinn zu reden!“ Shinya bemühte sich ganz offensichtlich nicht im Geringsten, den genervten Tonfall in seiner Stimme zu verbergen. „Mann, Rayo, jetzt denk doch bitte mal nach! Bevor wir hierher gekommen sind, war Noctan ein verdammtes kaltschnäuziges Arschloch! Sparen wir uns bitte dieses… dieses scheinheilige Gerede und sein wir doch mal ehrlich – keiner von uns hat ihn leiden können, und das war ja wohl auch kein Wunder! Jetzt ist er unser Freund, das willst du doch wohl nicht wirklich ändern?“

Rayo stolperte einen Schritt zurück.

„Shinya, was soll denn das?“ Er schüttelte so heftig seinen Kopf, dass ihm etliche Strähnen seines langen blonden Haares wirr vor das Gesicht fielen. „Nur… nur weil wir hier einige schöne, ruhige Wochen miteinander verlebt haben, kannst du doch nicht von Freundschaft sprechen – davon, dass wir jetzt eine Gruppe sind! Hier in dieser Stadt ist ja sowieso alles perfekt und vollkommen und glücklich!“

„Was willst du eigentlich, Rayo?“ Hoshi betrachtete den Jungen mit großen, fragenden Augen, ganz so, als ob ihm mit großen, leuchtend roten Buchstaben das Wort unzurechnungsfähig auf die Stirn geschrieben stünde. „Ich verstehe dich einfach nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du willst überhaupt nicht glücklich sein…“

„Tu gefälligst nicht so, als ob ich derjenige wäre, mit dem etwas nicht stimmt! Ich sehe nur, dass außer mir scheinbar keiner von euch wahrhaben möchte, wie sehr Noctan sich verändert hat. Er ist doch gar nicht mehr er selbst, begreift ihr das eigentlich nicht?!“

„Aber sicher doch, Rayo, alles klar!“ Shinya rollte mit den Augen und verzog seine Lippen zu einem durch und durch mitleidigen Lächeln, das den jungen Adligen wie ein Schlag in die Magengrube traf. „Jetzt komm erst mal wieder runter, okay? Und zu dem anderen Problem: Ich würd ja sagen, wir bleiben noch ein bisschen hier und genießen die Stadt – hey, wer weiß, wann wir wieder mal hier herkommen? Und danach können wir immer noch sehn, wie’s weitergeht.“

„Shinya!“ Rayo fühlte plötzlich eine lähmende, hilflose Verzweiflung in sich aufsteigen. „Uns läuft die Zeit davon! Wir können nicht einfach… nicht einfach so hier bleiben und… das… das kann doch alles nicht dein Ernst sein!“

„Rayo, jetzt ist aber gut!“, fiel Hoshi dem Blondschopf mit empörter Miene ins Wort. Rayo wich unweigerlich noch einen weiteren Schritt zurück, die Augen weit aufgerissen und seinen entsetzten Blick starr auf das Gesicht seiner Freundin gerichtet, das ihm mit einem Mal so unendlich fremd erschien.

„Ich weiß nicht, was… ich begreife einfach nicht, was mit euch los ist, aber… ich… ich glaube, ich möchte lieber eine Weile allein sein!“

Der junge Adlige fuhr mit einem heftigen Ruck herum und stürzte förmlich auf den gläsernen Marktplatz zu, weg, nur weg von diesem grauenhaften Alptraum, aus dem er einfach nicht mehr erwachen konnte. Sein hellblondes Haar schimmerte im Licht des Mondes beinahe silbern, als es wie ein seidiger Umhang von der Bewegung herumgeworfen wurde.

Shinya und Hoshi sahen ihm für einige Augenblicke stumm und verwirrt nach. Dann zuckten sie bedauernd mit den Schultern, schüttelten den Kopf und gingen weiter.

Die Nacht war viel zu schön, um sie sich durch irgendwelche Belanglosigkeiten verderben zu lassen.
 

Rayo rannte und rannte, flog wie von einer ganzen Horde blutrünstiger Dämonen gehetzt über die blauen und weißen Lichtbahnen, die vom Rausch der Geschwindigkeit verzerrt auf die hellen Pflastersteine geworfen wurden. Er lief einfach immer weiter, den Blick starr zu Boden gerichtet, den Kopf erfüllt von rasender Leere, bis ihn irgendwann ein hässliches Stechen in der Seite zum Anhalten zwang. Keuchend stolperte er noch einige Schritte vorwärts, stützte sich dann an der schneefarbenen Mauer zu seiner Linken ab und schnappte mit geschlossenen Augen nach Luft. Sein Herz schlug so heftig, als ob es jeden Augenblick in tausend brennende Stücke zerspringen wollte, und seine Knie zitterten. Er fühlte sich zu Tode erschöpft und gleichzeitig so verwirrt, dass ihm schwindelig wurde und ihn nur noch der warme Stein in seinem Rücken davon abholt, auf der Stelle und inmitten des idyllischen kleinen Vorgartens zusammenzubrechen.

Er verstand die Reaktion seiner Freunde einfach nicht! Sie konnten doch nicht allen Ernstes so tun, als ob nichts geschehen, als ob alles in bester Ordnung wäre? Hatten sie ihre Aufgabe denn wirklich schon vollkommen vergessen? Dachten sie gar nicht mehr an Equinox, den Tag der Entscheidung, der mit jeder märchenhaften Stunde, die sie in der Stadt der tausend Wunder verbrachten, unerbittlich näher und näher rückte?

Nein – ganz offensichtlich taten sie das nicht. Ein leises, bitteres Lachen stahl sich über Rayos Lippen. Wie sollten sie auch? Sie dachten ja nicht einmal mehr an ihren Freund, nicht daran, was mit ihm geschehen war und was das erst noch für Konsequenzen haben mochte. Nur, weil es so vielleicht – mit Sicherheit einfacher war, konnten sie doch nicht einfach die Augen davor verschließen, dass irgendetwas mit Noctan ganz gewaltig nicht in Ordnung war! Irgendetwas hatte aus dem schönen, aber vollkommen kalten Jungen, den er damals kennen gelernt hatte, ein ewig lächelndes, begeisterungsfähiges, kindisches, optimistisches, willenloses Etwas gemacht… aber wie? Und zu welchem Preis?

Doch noch ungleich schlimmer als das, was der junge Adlige aus dem Mund seiner Freunde hatte hören müssen, war der Tonfall gewesen, in dem sie Rayo diese Worte so ungerührt an den Kopf geworfen hatten.

Der Blondschopf stieß einen tiefen Seufzer hervor und wandte seinen Blick dem Ende der schnurgeraden Straße, jener gläsernen, nunmehr von schillernden Blautönen durchzogenen Mauer zu. Irgendwo in diese Richtung mussten Shinya und Hoshi verschwunden sein… er konnte sie nicht mehr sehen. Der breite Weg lag menschenleer, von Fackeln und niedlichen Häuserfassaden eingerahmt, im silbrigen Netz des Mondlichts. Ein leichter Wind war aufgezogen, doch obwohl er vom Meer her kommen musste und leicht salzig schmeckte, brachte er keinerlei Kälte mit sich. Eine der weißen Flammen, nur wenige Meter von ihm entfernt, begann unruhig zu flackern.

Dann wurde Rayo plötzlich gepackt und in eine schmale, schwarze Gasse zwischen zwei der weißen Häuschen gezerrt.

Alles geschah so unglaublich schnell, dass Rayo nicht einmal mehr den Entschluss zur Gegenwehr fassen konnte. Zwei kräftige Arme drückten ihn fest gegen die raue Wand in seinem Rücken. Ganz instinktiv wollte er schreien, doch sofort legte sich eine Hand auf seinen Mund und raubte ihm nicht nur die Stimme, sondern auch den Atem. Im Halbschatten konnte der junge Adlige zwei dunkle, blitzende Augen erkennen, die zu einem bleichen, von schwarzen Haaren eingerahmten und im ersten Moment überwältigend schönen Gesicht gehörten.

„Du weißt es, Kleiner, nicht wahr? Du weißt es…“, raunte der finstere Fremde ihm zu, doch die Töne glitten an Rayos geschockten Bewusstsein vorbei. Die tiefblauen Augen des Blondschopfs weiteten sich. Eigentlich war es vollkommen überflüssig, ihm den Mund zuzuhalten – die Angst schnürte ihm ohnehin die Kehle zu. Er fühlte sich wie erstarrt und er wusste, dass ihm in diesem dunklen Seitengässchen, ja, in dieser ganzen verlassenen Stadt niemand helfen würde. Der Fremde schien das offensichtlich auch zu wissen, denn er sah ihn einige Augenblicke lang ruhig und erwartungsvoll an.

Dann plötzlich begann er zu kichern.

„Ach Gott, nein, also – das ist mir ja jetzt doch ein wenig peinlich! Wie dumm, wie dumm von mir, du kannst ja gar nicht sprechen, wenn ich dir den Mund zuhalte! Also wirklich…“ Er grinste. „Du musst mich schon entschuldigen, aber ich bin wirklich nicht geübt in derartigen Dingen. Und – bitte – du darfst jetzt nicht schreien! Ich werde dich ganz gewiss nicht ermorden, also starr mich doch nicht so entsetzt an. Ich bin es nicht, vor dem du Angst haben musst!“

Er zog langsam seine Hand zurück, den Blick prüfend auf das Gesicht des jungen Adligen gerichtet, doch als der keine weiteren Anstalten zu einem – höchstwahrscheinlich ohnehin vergeblichen – Hilferuf machte, entspannte er sich und ließ den Arm mit einem zufriedenen Nicken sinken.

„Jetzt wird es aber Zeit, dass ich mich erst einmal vorstelle. Gestatten – Morpheus mein Name, Traumhändler und Experte auf dem Gebiet der nächtlichen Fantasiereisen.“

„Traum… händler?“ Rayo fühlte sich ganz und gar nicht weniger verwirrt als noch vor wenigen Augenblicken. Was wollte denn nun auch noch dieser seltsame Fremde von ihm? Und wieso war er überhaupt hier, in Lluvia? Eigentlich konnte das nur bedeuten, dass auch er von dem schwarzen Geisterschiff gewusst hatte, das ihn ihm Licht des kreisrunden Silbermondes in die magische Stadt getragen hatte. Aber woher?

„Verschwenden wir unsere kostbare Zeit nicht mit unwichtigen Fragen!“, raunte Morpheus ihm mit wichtiger Miene zu und schien mit diesem Satz auf einen Schlag auch die wirren Gedanken zu unterbinden, die wie ein panischer Mückenschwarm in Rayos Kopf herumschwirrten. „Ich bin zu dir gekommen, weil ich weiß, dass auch du es spüren kannst.“

„Spüren…? Ja… aber… was denn?“ Der Schwarzhaarige blickte Rayo auf seine Frage hin tief in die Augen, und für einen Moment meinte der blonde Junge zu sehen, dass die Umgebung um ihn herum verblasste, dass sich pechfarbene Nebelschwaden über das strahlende Weiß der Hauswände legten und ein ekelhaft warmer Wind den lichten Glanz der Straßen hinfortwischte, sie mit einem zähen Brei aus Dreck und stinkender Asche bedeckte.

Er zuckte zusammen und noch in der nächsten Sekunde war die Illusion verschwunden.

„Das war keine Illusion“, sagte Morpheus ernst und leise, und Rayo war sich nicht ganz sicher, ob der seltsame Fremde tatsächlich seine Gedanken lesen konnte oder ob er einfach nur eine entsprechende Bemerkung hatte fallen lassen, ohne es zu bemerken. Ihm gefiel weder die eine noch die andere Möglichkeit. „Es war genauso wenig eine Illusion wie die unvorstellbare Schönheit, die dich umgibt. Es ist vielmehr… ein Traum. Ein wundervoller, niemals enden wollender Traum, und mehr als das, denn jetzt, wo wir hier stehen, ist er ebenso real wie du und ich. Zumindest so lange, wie…“ Er brach ab. „Nein – ich kann es dir nicht erklären. Du musst es mit eigenen Augen sehen und dann… für dich selber begreifen. Ich kann es dir nur zeigen. Also folge mir!“

„Ja, aber…“ Rayo fühlte sich wie benommen, und obwohl Morpheus’ Worte jene beunruhigenden Gefühle bestätigten, die ihn seit Noctans Heilung so unbarmherzig verfolgt und heimgesucht hatten, brach diese Erkenntnis doch nun viel zu plötzlich über ihn herein, als dass er sie wirklich hätte verstehen und durchschauen können.

„Zögere nicht! Uns bleibt nur die Nacht, jetzt schlafen sie! Solange es dunkel ist, sind wir in Sicherheit.“

Morpheus trat aus der Seitengasse, warf einen kurzen, prüfenden Blick und auch reichlich gehetzt wirkenden Blick nach rechts und links (soviel also zum Thema in Sicherheit !), und schritt dann langsam, mit leisen, vorsichtigen Schritten den Weg zum gläsernen Marktplatz hinab. Rayo blieb mit großen Augen und einem wirren Chaos in seinem Kopf allein in den Schatten der Gasse zurück. Woher wusste er überhaupt, dass der Fremde ihn nicht einfach nur belogen hatte? Konnte er dieser seltsamen schwarzen Gestalt denn wirklich trauen? Schon der bloße Gedanke widerstrebte ihm – hatte er doch in seinem jungen Leben schon allzu oft gelernt, dass Vertrauen eine unglaublich gefährliche Gabe war, die man besser unauffällig für sich behielt.

Im nächsten Moment begriff der Blondschopf jedoch, welch unsinnigen Überlegungen er da eigentlich folgte. Hätte dieser Morpheus wirklich vorgehabt, ihm irgendetwas anzutun, dann musste er der größte Idiot sein, den Rayo jemals getroffen hatte. Ließ ein finsterer, heimtückischer Mörder denn wirklich die perfekte Gelegenheit verstreichen, sein hilfloses Opfer in einer dunklen, schmalen Gasse in vollkommen menschenleerer Umgebung zu töten? Nein, wenn der Traumhändler ihn wirklich hätte umbringen wollen, dann hätte er es schon längst getan, da war sich der junge Adlige vollkommen sicher. Oder zumindest beinahe vollkommen. Und ganz nebenbei fiel ihm in dieser düsteren nächtlichen Stunde auch nichts ein, das er noch zu verlieren hatte.

Rayo löste sich aus dem Netz bläulicher Schatten und schloss eilig zu dem schönen Schwarzhaarigen auf.

„Wohin gehen wir denn eigentlich?“, fragte er vorsichtig und blickte hinauf in Morpheus’ blasses, unbewegtes Gesicht. Der hob langsam seine Hand und deutete auf das große, schneeweiße Tempelgebäude, dessen zarter Wasservorhang im Mondlicht beinahe noch schöner, noch traumhafter glitzerte als bei Tage.

„In das Herz Lluvias!“, raunte er, und beinahe schien es Rayo, als ob sich ein kaum merklicher Schatten über die Stimme des Traumhändlers gelegt hätte. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig. „Dort ruht das Geheimnis dieser Stadt.“

„Das Geheimnis?“ Rayos stete Verwirrung wich einer mehr und mehr in ihm aufflammenden Neugierde, die er nun kaum noch bezwingen konnte. Sie verdrängte sogar beinahe das tief in ihm lodernde bleischwere Gefühl, das ihm aus voller Kehle zurief, er solle umkehren, laufen, fliehen, zurück in das gemütliche kleine Hotel mit den Fenstern aus farbigem Glas, zurück zu seinen Freunden… zurück zu Noctan, der in dieser wundervollen Stadt doch endlich sein Lachen wiedergefunden hatte.

Noctan…

Der Gedanke an den Weißhaarigen fegte mit einem einzigen Schwerthieb jeglichen Zweifel beiseite, der sich noch irgendwo tief in Rayos Bewusstsein versteckt und verkrochen hatte, und mit einem Mal war sich der junge Adlige vollkommen sicher, dass er das Richtige tat. Es gab jetzt kein Zurück mehr – was auch immer ihn in diesem märchenhaften Tempel erwartete, er musste und er würde es herausfinden.

Er durfte Noctan nicht im Stich lassen!
 

Morpheus trat vor die gewaltige Pforte, deren elfenbeinfarbene Einladung mit den letzten Strahlen der Sonne verstummt war, und die nun in den nächtlichen Stunden fest verschlossen den Zutritt zum Tempelgebäude verwehrte.

„Dort sollen wir also hinein? Das dürfte sich als reichlich schwierig gestalten, oder?“

Nun, da sein Misstrauen gewichen oder zumindest verdrängt worden war, fühlte Rayo leise Zweifel in seiner Brust aufsteigen. Langsam begann er sich zu fragen, ob Morpheus’ Plan nicht möglicherweise doch weitaus weniger durchdacht und erfolgversprechend war, als er zunächst ganz automatisch angenommen hatte. Wie bitte wollten sie denn zu zweit, die sie ja noch dazu beide alles andere als muskulöse und kraftstrotzende Erscheinungen waren, dieses massive, schwere und schon allein im Größenverhältnis vollkommen überdimensionale Tor bewegen? Die Vorstellung war doch lächerlich!

Morpheus bemaß den jungen Adligen mit einem verzeihenden Blick. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das keinerlei Skepsis zu kennen schien – nicht einmal Auge in Auge mit dem übermächtigsten, unbezwingbarsten Feind, den man aus knapp einem Meter dickem, tonnenschwerem Gestein nur irgendwie erschaffen konnte.

„Warum diese finstere Miene, junger Feuerkrieger? Glaub mir, es gibt eine ganze Menge andere Dinge, über die du dir noch Sorgen machen musst und wirst… dies lass bitte ganz meinen Kummer sein. Ich werde versuchen, auf die bestehende Traumebene zu gelangen. Du machst dich jetzt bereit.“

„Ja, aber… bereit? Bereit wofür?“

„Frag nicht! Du wirst es noch früh genug merken.“ Morpheus schloss seine grauen Augen und atmete tief durch. „Was jetzt kommt, wird alles andere als einfach. Ich kann nicht behaupten, dass ich für harte Arbeit sonderlich viel übrig hätte, aber… ohne eine kleine Anstrengung kommen wir hier wohl nicht weiter…“

Der Traumhändler hob seine Arme und streckte die Hände nach vorne, sodass seine Daumen und Zeigefinger ein Dreieck bildeten. Etliche Sekunden lang verharrte er reglos in dieser doch recht merkwürdigen Position, dann geriet sachte Bewegung in sein langes schwarzes Haar, als ob der warme Nachtwind sich nunmehr allein auf das Zentrum des gläsernen Platzes, auf den gigantischen weißen Tempel konzentrieren würde.

Langsam schlug Morpheus seine Augen wieder auf, die nunmehr jedoch zwei pechschwarzen, bodenlosen Teichen glichen, glänzend, aber vollkommen lichtlos. Der Wind nahm zu, und gleichermaßen hielt Rayo seinen Atem an. Ein grauschwarzes Leuchten umfing Morpheus’ Hände, sickerte dann in die bewegte Nachluft hinaus und legte sich in düster glimmenden Fetzen auf das weiße, über und über mit meerfarbenen Edelsteinen besetzte Tor. Unerbittlich fraß sich der Nebel in die schimmernde Pracht hinein, schlug seine konturlosen Zähne in die blendende Kostbarkeit und ließ nichts als ein pechschwarzes, klaffendes Loch zurück.

„Los, lauf !“, schrie der Traumhändler, seine feinen Gesichtszüge wie unter kaum zu ertragender Anstrengung verzerrt.

Und Rayo lief.

Von einer plötzlichen, brennend heißen Energie erfüllt, stürzte er sich ohne zu Überlegen in die unheimliche Dunkelheit und vergaß schlagartig die leise, melancholische Trauer, die beim Anblick des sterbenden Tores von ihm Besitz ergriffen hatte. Der kurze Blick auf Morpheus’ Gesicht hatte ihn mit der alles andere als beruhigenden Gewissheit erfüllt, dass er nicht mehr lange Zeit hatte, jagte einen Adrenalinstoß durch seinen Körper und ließ ihn durch die dunkle Vorhalle rennen, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war.

Der junge Adlige passierte in halsbrecherischem Tempo die dreckig grauen Wände, die pockenartig mit Löchern und Schmutzflecken übersäht waren, stürzte vorbei an den letzten Resten der ehemals so prächtigen Vorhänge, die nunmehr wie faulige Fleischfetzen von der Decke herabhingen, geradewegs auf jenen zweiten, noch ungleich düstereren Schlund zu, der noch vor wenigen Stunden so hartnäckig von der silbernen Pforte versperrt gewesen war. Rayo konnte nicht erkennen, was ihn hinter dieser Wand vollkommener Schwärze erwartete – vielleicht reichte Morpheus’ Bannspruch nicht so weit in die verfallene Pracht des riesenhaften Gebäudes hinein – aber eigentlich war es ihm auch vollkommen egal, bedeutungslos, denn er hatte den Punkt, von dem an es kein Zurück mehr gab, schon längst überschritten.

Das weitaus größere Problem war, das Schattenportal erst einmal zu erreichen.

Viel zu langsam erschien ihm sein verzweifelter Lauf, viel zu weit die Distanz, viel zu kurz die Zeit, die ihm noch blieb. Dennoch zögerte er nicht, rannte unbeirrt weiter, flog förmlich über den von grauweißer Asche bedeckten Boden hinweg, und als er das schwarze Loch dann endlich erreicht hatte, spannte er ein letztes Mal jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an und warf sich blind nach vorne.

Was folgte war nicht Leere, nicht bloße körperlose, alles verschlingende Finsternis, wie er noch in den rasenden Sekundenbruchteilen vor seinem verzweifelten Sprung befürchtete hatte – es folgte ein Aufprall, so hart und kalt, dass ihm einige Momente lang schwarz vor den Augen wurde. Rayo rang nach Luft, unfähig, seinen Blick von der glatten, eisfarben schimmernden Fläche zu nehmen, die ihn gerade eben so unsanft in Empfang genommen hatte.

War das Glas? Der junge Adlige meinte, ein intensiv blaues Leuchten und Blitzen aus irgendeiner Ecke des Raumes wahrzunehmen, doch das stete Schwindelgefühl, das schon bei dem Gedanken an eine Bewegung eine Welle von Übelkeit ihn ihm aufsteigen ließ, erlaubte ihm erst nach einigen betäubten Minuten, sich schwankend und unsicher aufzurappeln und nun endlich seine geheimnisvolle Umgebung betrachten zu können.

Was er sah, ließ ihn beinahe augenblicklich wieder zusammenbrechen. Eiskalte, klamme Finger legten sich um den Hals des Blondschopfes und ließen die Luft in seinen Lungen zu einem stacheligen Block gefrieren, der ihn innerlich zu zerfetzen drohte. Er wollte schreien, doch nur ein leises, ersticktes Keuchen kam über seine Lippen. Viel zu grauenhaft und lähmend wie ein qualvoll tötendes Gift, war der Anblick des gigantischen Saales, der sich vor ihm erstreckte.

Der gesamte Raum war verspiegelt, alles, die Wände, der Boden, selbst die kuppelförmig zulaufende Decke, und aus jedem dieser Spiegel starrte ihm sein eigenes totenbleiches Antlitz aus schreckensgeweiteten Augen entgegen. Die einzige Lichtquelle im Inneren des Tempels war eine dickflüssige Substanz, die in dem intensivsten, reinsten Türkis strahlte und funkelte, das Rayo jemals in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Wie das gefrorene Licht Hunderter, ja Tausender feinster Brillanten ließ sie die Spiegel wie von innerem Licht erfüllt glühen, verwischte die Konturen der heiligen Halle, kroch in unzähligen verästelten Bahnen die glatten Wände hinauf, geradewegs zur Spitze des hohen Turmes hin.

Mit einem Mal wurde Rayo bewusst, dass dies die Quelle des Springbrunnens sein musste, der die ganze Stadt mit diesem wunderschönen, glitzernden Wasser versorgte… Wasser? Ihn erschauderte es bei dem Gedanken, wie oft sie den einen oder anderen Schluck aus den reinen Fluten genossen hatten. Aber sie hatten doch nicht wissen können, dass…

Der junge Adlige schüttelte heftig den Kopf und riss seinen Blick mühevoll von der glitzernden Flüssigkeit los, um auch den Rest des Tempels langsam mit seinen erstarrten Augen zu erkunden. Im hinteren Teil des Spiegelsaales ragte ein gigantischer kreisrunder Altar aus dem Boden hervor, dessen grauweißer Stein über und über mit verschlungenen Schriftzeichen und magischen Symbolen verziert war – und mit riesengroßen, lupenreinen Edelsteinen, deren tiefes Blau leuchtete und flackerte, als ob sie selbst von uraltem Leben erfüllt wären.

Den magischen Hauch dieser atemberaubenden Pracht nahm der Blondschopf jedoch nur ganz am Rande wahr, wie von einem neblig weißen Schleier bedeckt. All seine Aufmerksamkeit wurde mit grausamer Brutalität auf die verspiegelte Wand hinter dem Altar gerissen, an der sich der Ursprung der türkisfarbenen Materie und somit auch der unbeschreiblichen Schönheit und der tausend Wunder Lluvias befand.

Es waren drei leblose Gestalten, die mit schweren eisernen Ringen um Hand- und Fußgelenke an die Wand gekettet waren. Die beiden äußeren Körper waren bleich und fahl wie die zweier Toter – was höchstwahrscheinlich daran lag, dass sie ihren letzten Atemzug schon vor mehreren Jahren ausgehaucht haben mussten. Ihre Leiber glichen Skeletten, bis auf die Knochen abgemagert, die Haut grau und vertrocknet. Vor allem der linke der drei Körper, der wohl einst einmal einer jungen Frau gehört hatte, glich nunmehr einer halb verwesten Leiche, die irgendein krankes Hirn in diesem abstoßenden Zustand konserviert hatte. Die türkisblau funkelnden Ströme der beiden offensichtlich längst Verstorbenen waren versiegt und hatten als letzte Quelle die mittlere der drei gespenstischen Gestalten zurückgelassen.

Es war ein junger Mann mit langem, schneeweißem Haar, das ihm nunmehr lose über die Schultern hinabfiel und in wirren Strähnen sein vollkommen ausdrucksloses und nicht weniger bleiches Gesicht einrahmte. Plötztlich schien es Rayo, als ob sich der ganze riesenhafte Raum in ein gläsernes Karussell verwandeln würde, um ihn auf eine halsbrecherische, schwindelerregende Fahrt einzuladen. Er stieß ein zittriges Keuchen aus und taumelte wie von einem tödlichen Schwerthieb getroffen rückwärts, bis er die kalte, glatte Wand in seinem Rücken spürte.

„Noctan!“

Wie von einem Schwall eisigen Wassers übergossen erwachte der junge Adlige aus der Ohnmacht seines Entsetzens und stürzte nach vorne, auf das viel zu weit entfernte Ende des glühenden Raumes zu. Die Glätte des Bodens raubte seinen Füßen jeglichen Halt und er verlor das Gleichgewicht, schlug wiederum hart auf dem eisfarbenen Glas auf, stemmte sich aber noch in derselben Bewegung wieder hoch und rannte weiter. Er rannte an dem Altar vorbei, schneller, immer schneller, bis er seine Beine kaum noch spürte, blindlings die letzten Meter nach vorne stolperte und dann überaus unsanft auf den Knien landete.

Zitternd rappelte er sich wieder auf, suchte aber vergeblich nach festem Halt an der Spiegelwand. Weiße Punkte rasten vor seinen Augen umher, packten seinen Kopf und rissen sein erstarrtes Bewusstsein ein ums andere Mal im Kreis herum, doch Rayo schluckte die erneut aufflammende Übelkeit tapfer herunter und zwang sich zur Ruhe.

„Noctan? Noctan, kannst du mich hören?“

Das Gesicht des Weißhaarigen blieb vollkommen regungslos, wie in einem Kerker tiefen Schlafes gefangen, aus dem es kein Entkommen mehr gab.

Wenn es denn nur Schlaf war…

Rayo verdrängte den Gedanken, trieb die panische Angst mit einem verzweifelten Aufschrei seines Willens zurück, bevor sie ihm endgültig den Verstand rauben konnte. Vergeblich versuchte er, Noctan von seinen stählernen Fesseln zu befreien, suchte nach einer Öffnung, einer Unregelmäßigkeit in dem schweren Metall, doch es schien, als ob irgendeine boshafte Macht die massiven Ringe geradewegs um die Gliedmaßen des totenblassen Körpers geschmiedet hätte.

Der junge Adlige senkte den Kopf, als eine gewaltige, alles verzehrende Woge tiefer Mutlosigkeit über ihn hereinbrach. Beinahe wünschte er sich, die eben noch durch seinen Körper tobende Furcht würde zu ihm zurückkehren, würde diese unerträgliche, endlose Leere füllen, die sich über seine Gedanken, über seine Gefühle gelegt hatte. Erst jetzt begriff er die wahre Boshaftigkeit der Situation, in die er da wieder einmal geraten war, und genau das wischte jede verzerrende Angst, Hoffnung oder Entschlossenheit mühelos hinfort.

Er würde diese Ringe niemals zerstören können. Stattdessen stand er nun allein, hilflos und gefangen neben seinem Freund, konnte nichts tun, um ihn zu befreien – nichts, außer auf den kommenden Morgen zu warten und auf eine Horde wütender Priester, die ihn begleiten würde…. Rayos Augen wanderten viel zu ruhig, fast wie betäubt und dennoch hellwach durch den Raum, suchten verzweifelt nach irgendetwas, das ihm jetzt, in dieser scheinbar so ausweglosen Lage noch weiterhelfen konnte.

Sie fanden nichts außer dem Altar und einer türkisblauen, erdrückenden Leere, die das Innere des prachtvollen Tempels still und unerbittlich in seiner Gewalt hielt. Wie automatisch blieb Rayos Blick an den funkelnden Strömen hängen, deren Licht hier und dort ein Glitzern auf die blanke Oberfläche der allgegenwärtigen Spiegel zauberte. Flüssige Träume, schoss es ihm durch den Kopf. Wie hell sie strahlten, ganz wie von einem inneren Feuer erfüllt, das…

Feuer?

Der Gedankenfluss des Blondschopfes stockte, als ob binnen weniger Sekundenbruchteile eine Dürrewelle über die finstere Landschaft in seinem Kopf hereingebrochen wäre und jeden Tropfen des wirren Stromes zum Versiegen gebracht hätte. Noch im gleichen Moment musste er sich beherrschen, sich nicht entweder zu schlagen oder zu treten oder sonst wie wehzutun, da er nämlich genau das und nichts anderes verdient hatte. Feuer – warum hatte er nicht schon viel eher daran gedacht? Wozu beherrschte er denn eigentlich Magie? Die Ringe bestanden immerhin aus Metall, Metall, das man unter Hitze formen und schmelzen konnte.

Ein bitteres Lächeln legte sich auf Rayos starre Gesichtszüge. Jeder dumme kleine Bauernsohn war mit diesem einfachsten aller Naturgesetze vertraut – er hingegen offensichtlich nicht. Wofür hatte er denn sein Leben lang trainiert und gekämpft, wofür, wenn er jetzt immer noch das weltfremde, unselbstständige Adelskindchen von damals war, vorbereitet auf alles, auf den Kampf, auf Empfänge, darauf, eines Tages das Erbe seiner Familie anzutreten… nur leider nicht auf das Leben selbst.

Er seufzte und schloss die Augen, um zu seiner Konzentration zurückzufinden. Seine Magie war ihm nur allzu gut vertraut und so fiel es ihm nicht schwer, jene uralte Kraft zu erwecken, die tief in ihm schlummerte. Über der Finsternis seines Geistes breitete sich ein sanftes Leuchten aus, das zunächst noch sehr langsam zu einer Flamme anwuchs, dann höher und höher flackerte, immer heller, blendender wurde und schließlich explodierte.

Rayo schlug seine Augen wieder auf, und er war dabei von einer tiefen inneren Ruhe erfüllt, von der er noch vor wenigen Minuten nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Seine Hände glühten in tiefrotem Feuerschein. Er ballte sie zu Fäusten und spürte, wie sich der Kreislauf der brennenden Energie in seinem Körper schloss, wie er schneller und schneller durch seine Adern jagte. Mit einem Ruck riss der Blondschopf seine Hände nach oben und hinterließ einen glühenden Funkenregen im sanften blauen Licht des gigantischen Saales, der sterbend und verblassend auf den Spiegelboden hinabsank.

Im gleichen Maße, wie sich die in ihm freigesetzten Kräfte zu einem alles verzehrenden Rasen steigerten, flammte auch das scharlachrote Leuchten auf, das seinen Körper umfing. Zwischen Rayos Handflächen verdichtete sich das brennende Licht zu einer Flammenkugel, deren feuriger Hauch die Luft versengte, sie flackern ließ wie an einem sehr heißen Sommertag. Der junge Adlige lenkte all seine Konzentration auf die vier eisernen Ringe, die Noctan gefangen hielten, grub das Bild wie ein Brandzeichen in sein Bewusstsein ein, bis er nichts mehr anderes vor seinem inneren Auge wahrnehmen konnte.

Dann stieß er seine Hände blitzartig und mit all der überkochenden Kraft, die durch sein Blut jagte, nach vorne. Vier Feuerbälle schossen wie rasende Dämonen auf die Metallringe zu, so schnell, dass sie mit bloßem Auge kaum noch wahrzunehmen waren, und hüllten die unbarmherzig massiven Fesseln in ein gleißendes Licht. Der Stahl verlor seine Kontur, schien zu glühender Lava zu zerfließen, so hell und flackernd, dass Rayo einen Moment lang von dem schmerzhaft grellen Licht geblendet wurde und sich die Hände vor das Gesicht schlagen musste.

Als er es endlich wieder wagte, den Blick zu heben, als das hysterische Flackern verschwand, das sich ebenso plötzlich wie hartnäckig über seine Umgebung gelegt hatte, war das wohltuend sanfte türkisblaue Glühen in den Spiegelsaal zurückgekehrt. Nichts erinnerte mehr an die feurigen Drachen, die noch vor wenigen Sekunden in der brennenden Luft gewütet hatten. Alles war erfüllt von eisig kalter Perfektion, ohne Konturen, ohne Kanten und Makel.

Die stählernen Fesseln hatten nicht einen einzigen Brandfleck zurückbehalten.

„Nein…“

Binnen einer Sekunde wich jeder noch so kleine Funken Hoffnung und Mut aus Rayos Körper. Der junge Adlige sank auf die Knie, jeder inneren und äußeren Kraft beraubt, den Blick starr auf einen Punkt gerichtet, den es nicht gab. Er hatte seinen letzten Trumpf verspielt und nun saß er mit leeren Händen, innerlich wie tot, inmitten seines glitzernden und funkelnden Gefängnisses – Grabes… es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Rayo hatte all die Energie, die nach den zahllosen halb durchwachten Nächten noch in seinen Adern zurückgeblieben war, in diesen einen Zauber gelegt – und versagt.

Nun war es vorbei, es war alles vorbei und er fühlte nicht einmal mehr Schmerz, Wut oder Verzweiflung darüber, dass diese Geschichte solch ein unschönes Ende nehmen sollte… er fühlte überhaupt nichts mehr. Rayo nahm kaum noch war, wie sich seine tiefblauen Augen langsam mit Tränen füllten, die warm und lebendig über seine starren, bleichen Wangen rannen. Er sah geradewegs durch den Boden hindurch, fixierte die Reflexion des heuchlerischen türkisblauen Lichtes, in das sich jetzt langsam ein sanftes Rot mischte und…

Ein Rot?

Rayo hob ruckartig seinen Kopf, nur um festzustellen, dass seine halb erfrorenen Sinne ihn nicht getäuscht hatten – unmittelbar vor ihm, inmitten der blauen Luft des Raumes, hatte sich ein intensiv roter Nebel gebildet. Die bewegten, halb transparenten Schlieren konzentrierten sich auf einen Punkt in ihrer Mitte und zerflossen zu einem noch ungleich helleren, reineren Licht. Dieser feuerrote Teich glomm auf, flackerte und bebte wie glühendes Metall unter den Hammerschlägen eines Schmiedes, nur um sich binnen weniger Sekunden zu verdichten, zu materialisieren. Das flüssige Leuchten war einem metallischen Glanz gewichen, verblasste zu dem unbefleckten Silber einer langen, majestätischen Klinge, über die sich ein zierliches Band tiefrot leuchtender Runen zog.

Der blonde Junge riss seine feucht glänzenden Augen weit auf. Seine innere Starre zerbarst unter den heftigen Schlägen seines Herzens, als er begriff, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, eine Macht zu erwecken, die schon viel zu lange im Kerker eines Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte währenden Schlafes gefangen gehalten worden war… es lag an ihm, als Erster das Vermächtnis eines verstorbenen Estrella in den Händen zu halten.

Rayo umfasste langsam, nahezu ehrfürchtig den bronzenen Griff des prächtigen Zweihänders. Kaum hatten seine Finger das Metall berührt, strömte ein warmes Gefühl durch seinen Körper, das erlösende Gefühl, etwas wiederzufinden, wonach er sein Leben lang gesucht hatte, ohne überhaupt zu wissen, dass es ihm fehlte. Ganz wie von selbst schlossen sich seine Hände um den Schwertgriff, der nicht etwa kalt oder, wie Rayo zunächst befürchtet hatte, glühend heiß war, sondern von innerem Leben durchströmt zu sein schien, beseelt von einer Kraft, die dem jungen Adligen tief in seinem Innersten so vertraut war, als ob sie seit jeher dort geschlummert hätte, in stummer Erwartung dieses einen Tages, an dem sie endlich, endlich erweckt werden würde. Es war nicht bloß eine Waffe, die er in seinen Händen hielt – es war ein Teil von ihm, mit dem er vom ersten Augenblick an eine unzertrennliche Einheit bildete.

Der junge Adelige hob den mächtigen Zweihänder mit einer mühelosen, nahezu spielerischen Bewegung an. Der massive Stahl fühlte sich in seinen Händen so leicht an wie eine einzige Feder. Doch trotz der Zuversicht, mit der ihn allein die Anwesenheit des Schwertes erfüllte, schlug ihm das Herz immer noch bis zum Hals hinauf, als er sich langsam den Eisenringen näherte, lauernd, ganz so als blicke er einem wilden, unbezähmbaren Tier ins Auge. Kurz vor der Wand blieb er ruckartig stehen, atmete tief durch und sammelte seine neu gewonnenen Kräfte.

Dann holte er aus und schlug ohne weiter darüber nachzudenken, ohne zu zielen oder die Entfernung abzuschätzen zu.

Die Klinge fand nicht nur ihren Weg, sondern stoppte auch ganz wie von selbst exakt an jener Stelle, an der das kalte Metall der Fessel endete und scheinbar nahtlos in Noctans Handgelenk überging. Rayo keuchte, als ihm mit einem äußerst schmerzhaften und ernüchternden Schlag bewusst wurde, was er da gerade eben getan hatte – und vor allem, was er da gerade eben riskiert hatte. Es vergingen jedoch noch etliche weitere Sekunden, bis der junge Adlige auch begriff, dass seine Waffe den Metallring vollkommen mühelos gespalten hatte, ganz so, als bestünde er nicht aus massivem Stahl, sondern aus morschem, brüchigem Holz.

Rayo musste noch einmal tief durchatmen und sich sammeln, als eine Welle glühend heißer Euphorie durch seinen Körper jagte, dass ihm schwindlig wurde. Dann jedoch zerschlug er die übrigen Ringe umso schneller, sicher und vollkommen mühelos auf dieselbe Weise. Der junge Adlige machte instinktiv einen Satz nach vorne, als Noctan von seinen Ketten befreit nun haltlos in sich zusammenbrach. Er fing den Körper seines Freundes auf – und bemerkte erst jetzt, als er den Weißhaarigen fest in seinen Armen hielt, dass sein Schwert ganz einfach wieder verschwunden war, ebenso schnell, wie es ihm noch vor wenigen Sekunden zur Rettung geeilt war.

„Noctan!“ Vorsichtig legte Rayo den Jungen auf den spiegelnden Boden, seinen Oberkörper immer noch mit den Armen umfasst. „Noctan, hörst du mich? Es ist vorbei! Wach auf! Bitte… Noctan… wach auf!“

Und da, ganz plötzlich, auf leisen, hinterhältigen Sohlen, kehrte die Angst in Rayos Bewusstsein zurück und setzte sich lautlos dort fest, ein höhnisches, triumphierendes Lächeln auf den hässlichen Lippen. Mit ihr kamen Zweifel und Fragen, eine ganze Armee quälender, ewig wiederkehrender Fragen, die wie ein tosender Wirbelsturm in seinem Kopf wütete. Was, wenn der Fluch des Geisterschiffes immer noch anhielt, wenn er Noctan vielleicht niemals wieder gehen lassen würde? Oder hatte er seinen Freund am Ende sogar umgebracht, mit seinen eigenen Händen getötet, als er ihn dem Bahn der Priester entrissen hatte?

„Noctan… bitte…“

Das Gesicht des Weißhaarigen war immer noch so bleich und ausdruckslos wie das eines Toten. Doch dann, ganz langsam und zunächst noch kaum merklich, lief ein schwaches Flackern durch seine Lider, dann ein Blinzeln, und schließlich drang ein leises, atemloses Husten über Noctans leicht bläulich angelaufene Lippen.

„Ich… Ra-Rayo?“ Der Blick des jungen Mondestrella war unruhig, verstört, dabei jedoch auch unendlich erschöpft, als ob er seine Augen kaum offen halten konnte. Über seinen eben noch so reglosen Körper war ein heftiges Zittern hereingebrochen. Es schien, als sei der Weißhaarige aus einem jahrelangen Todesschlaf erwacht, vollkommen überwältig von der wirklichen Welt, von all dem Leben, das nun wieder durch seine Adern rann. Doch für Rayo zählte im Moment nur eines – Noctan lebte, er lebte wirklich, befreit vom verfluchten Gift des Wahnsinns, befreit aus den pechschwarzen Klauen dieses grauenhaften Schiffes. „Rayo… was…“

„Shhh…” Rayo schloss Noctan vorsichtig in seine Arme, von tiefer Erleichterung und einem Glück erfüllt, wie er es selten zuvor gekannt hatte. Er drückte seinen Freund fest an sich, strich ihm beruhigend über den Rücken und das lange, schneeweiße Haar. „Du musst keine Angst mehr haben, hörst du? Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles wieder gut…“

Der junge Adlige blickte nicht auf, und so konnte er auch nicht sehen, dass der funkelnde Strom der Träume langsam versiegte, dass sein lebendiges Glitzern schwand und das sanfte Glühen in dem prächtigen Spiegelsaal mit sich nahm. Alles war unbedeutend, in diesem Moment zählte einzig und allein, dass Noctan am Leben und bei ihm war.

Erst das dumpfe Geräusch des auffliegenden Silbertores ließ Rayo aufblicken.

„Shinya, Hoshi, ich habe ihn…“ Der Blondschopf stockte. In dem matt glänzenden Portal standen nicht etwa seine Freunde – es waren fünf Priester, die ihn aus weit aufgerissenen Augen, erfüllt von fassungslosem Schrecken, anstarrten. Sie wichen vor ihm zurück, langsam, wie von eisiger Panik ergriffen, bis sie schließlich in ihren grotesken Bewegungen einfroren.

Und dann begann die Veränderung.

Der Vorderste der in strahlendes Weiß gehüllten Männer stieß einen Schrei aus, so gellend und durchdringend, dass Rayo ein eisiges Schaudern durch den ganzen Körper kroch. In einer krampfartig zuckenden Bewegung schlug er die Hände vor das Gesicht und krümmte sich zusammen wie unter unerträglichen Schmerzen. Mit einem weiteren Schrei, der noch schriller, noch weniger menschlich klang als der vorherige, mehr wie der Todeslaut einer dämonischen Kreatur, riss er seine bebenden Arme wieder nach unten.

Von seinem gütigen, warmherzigen Gesicht war nicht mehr viel übrig geblieben, nichts als eine abstoßende, teuflische Fratze. Nadelspitze Zähne ragten hinter geschwulstartigen Lippen hervor, die Augen waren zu blutroten, klaffenden Wunder zerflossen, die Haut ein einziges widerwärtiges Geflecht blutiger und eitriger Wunden. Die zuckenden Finger der Priester schwollen an und platzten schließlich einer nach dem anderen auf, als lange, von Rost zerfressene Klauen wie stählerne Parasiten daraus hervorkrochen.

Aus den Priestern waren grauenvolle Monster geworden.

Rayo stieß einen keuchenden Schrei aus und presste seinen Freund an sich, so fest er nur irgendwie konnte, erfüllt von der vagen, verzweifelten Hoffnung ihn so irgendwie beschützen zu können.

„Wa-was… aber… oh… oh bei den Göttern…“ Die zittrige Stimme des Weißhaarige verriet überdeutlich, dass er noch nichts von all dem begriff, was um ihn herum vor sich ging. Rayo hingegen traf die schreckliche Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht.

Die Stadt war aufgewacht.
 

Ende des zehnten Kapitels



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Kommentare zu dieser Fanfic (17)
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Von: abgemeldet
2009-08-13T11:25:30+00:00 13.08.2009 13:25
puh....also auch wenn ich wahrscheinlich nicht mit so nem langen kommi wie von TiaChan mithalten kann, wollte ich dir was schreiben.
Also ich zwar erst seit kurzem bei animexx angemeldet, aber ich habe deine alte equinox version schon vor ein paar jahren mal gelesen! Aber leider nie zu ende, weil du sie dann rausgenommen hattest. Da war ich echt traurig, weil mir dein schreibstil und die geschichte einfach super gefallen hat. In deine "equinox-welt" konnte ich richtig abtauchen^^
So, und nun bin ich hier nach einigen jahren angemeldet und habe natürlich sofort entdeckt, dass du die story überarbeitest hast und ich sie wieder lesen kann! Und das mach ich auch! *kreisch*

Also, ich werde wieder von mir hören lassen, mach weiter so, danke für die tolle story, okami-sempai :P

Von:  TiaChan
2007-08-19T01:15:01+00:00 19.08.2007 03:15
Juhuu, ich hab tatsächlich noch Zeit zum Kommentieren gefunden! Wer hätte das gedacht? Ich ehrlich gesagt nicht. ^^;;; Aber da ich beschloß, während der RPGs nicht zu lernen, ist es jetzt doch möglich. ^^
Kapitel 10 konnte ich als ich es lesen wollte plötzlich nicht mehr finden. O_O So habe ich's nochmal ausgedruckt, inzwischen habe ich's gefunden, jetzt hab ich Kapitel 10 und 11 doppelt. ^^;
Jedenfalls hab ich Kapitel 10-15 ausgedruckt und bin glücklich zum Japanologie-Stammtisch gegangen. Da saß Chizuru und fragte mich, was das ist, also hab ich ihr von deinen Geschichten erzählt (da erinnerst du dich bestimmt noch daran ^^) und sie hat gleich da versucht, den Anfang von Kapitel 10 zu lesen. >_< Irgendwie tut sie mir leid, schau dir doch selbst mal den Anfang des Kapitels an und sag, ob du irgendwas verstehen würdest, sogar mit guten Deutschkenntnissen, wenn du die ganze Vorgeschichte nicht kennst. Naja, aber auch sonst... wie ich schon wegen Chyotto Mahou (Russisch) immer wieder sage, du bist schwer zu übersetzen. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr, was ich Chizuru damals noch ausgedruckt hab... und ich hab nach ihren ersten Versuchen es zu lesen auch nichts mehr davon gehört. ^^; Aber naja, dass du schwer zu übersetzen bist ist auf jeden Fall keine Kritik, ich denke du nutzt einfach die Möglichkeiten, die die deutsche Sprache bietet, so optimal aus, dass es schwerer wird, das ganze in eine andere Sprache ... zu übersetzen eben. Ich denke, das ist bei jedem guten Buch so.

Ich selbst hab das Kapitel schon auf dem Rückweg vom Stammtisch nach Hause zu lesen angefangen. Das war auch lustig, es war dunkel und als ich an der Bushaltestelle stand, hat es angefangen zu regnen, ich stand da unter dem Dach und hab im Laternenlicht gelesen. ^^;;; *drop* Weil ich nicht erwarten konnte, zu Hause anzukommen, wo ich gemütlich lesen konnte.
Beim Lesen fand ich etwas seltsam, dass der Tempel als "schneeweiß" beschrieben wird, obwohl sie ihn noch nachts sehen, aber andererseits, wenn die Edelsteine darauf blau leuchten und blitzen... ist es doch wieder logisch. ^^;
Und wie die Sonne mit einem Schritt zum Marktplatz aufgeht, hat mich an Zelda erinnert. ^^; Da gibt's doch diese Stelle in Ocarina of Time, wo man nachts beim Schloss ankommen soll, und wenn man zu viel Zeit verplempert - wie ich, otôto hat sich damals so aufgeregt ^^; - wird es später eben mit jedem Schritt Richtung Schloss dunkler. ^^;;; Aber ja, zurück zu Equinox.
Dann gab's da eine noch komische Stelle, bevor sie ... ich glaub, es ist am Marktplatz, mit dieser Frau sprechen, die ihnen empfiehlt, zum Tempel zu gehen. Da sagt Shinya irgendwas von Heiler finden müssen und am Ende des Satzes: "Autsch", wird daraufhin aber nicht angerempelt oder so, sondern einfach angesprochen: "'Einen Heiler? Ihr sucht einen Heiler?' Shinya fuhr herum. Eine junge Frau war lautlos hinter sie getreten [...]" Stimmt ja, sogar lautlos und Shinya fährt erst herum nachdem sie ihre Frage stellt, warum also "Autsch"? ^^; Oder hab ich irgendwas überlesen/nicht verstanden?
Etwas später (bei mir noch auf derselben Seite) redet Misty was von "Hoshis blöde Lehrer und Dorfälteste und so". Da sagt sie, dass sie in ... heißt der Ort Lluvia? Gomen, ich verwechsle immer noch die Namen der magischen Orte *heul* Oder glaube, sie zu verwechseln, denn ich rate meistens richtig ^^; öhm, ja, dass sie in Lluvia natürlich Hilfe finden, weil das ihre Großmutter immer so gesagt hat, die das ja wissen muss "nicht so wie Hoshis blöde Lehrer und Dorfälteste und so". Da hab ich mich gefragt, ob Misty was von Hoshis Lehrern und der Dorfältesten weiß. ^^;;;; Sie kam ja erst später in die Gruppe. Gut, andererseits hat Hoshi vielleicht von ihnen gesprochen, vielleicht sogar in der Geschichte und ich erinnere mich nur nicht daran. *drop* Naja, du siehst hoffentlich, dass ich mich an die wichtigsten Sachen und die Wendepunkte der Geschichte schon erinnere, aber manche Namen kann ich mir leider nicht merken, und erst recht nicht alle Dialoge und wörtlichen Beschreibungen. ^^; Ich denke, das ist natürlich. *seufz* Ich bekomm nur manchmal schlechtes Gewissen, wenn ich daran denk, wieviel Zeit du da reininvestierst, jedes einzelne Wort zu suchen, sodass das ganze am Ende auch schön klingt und so... aber das Lesen wird ja davon auch tatsächlich leichter und der Text beschreibt ein Bild, dass ich dann auch gut sehen kann, mit den ganzen Details und Einzelheiten.... *_* Nur hinterher erinnere ich mich nicht mehr an alles, aber von den Sachen, die ich wirklich sehe, erinnere ich mich ja auch nicht an alles. ^^;;;
Als weiteres steht auf meinem Notizblatt: "Heißt es wirklich 'Erdenrund'?" Aber ich kann das Wort gerade nicht im Text finden. Und otôtos Computer scheint nicht nur kein Word zu haben, sondern ignoriert auch noch meinen USB (da könnte ich's mit der Suchfunktion suchen ^^; ), ich nehm an, ich hab mich beim Lesen gefragt, ob es erdenrund und nicht youmarund oder was auch immer heißt ^^;;
Dann fand ich noch eine Stelle komisch... hab ich eigentlich irgendwas Gutes bei diesem Kapitel notiert? *drop* Dabei ist die Stadt so wunderschön. .__. Aber das hab ich wohl... nicht notiert. Naja, ich hielt es wohl für selbstverständlich. Aber dass sie wunderschön ist, stimmt. ^-^ Auch wenn..... ich mich so langsam gefragt habe, ob es richtig ist, dass alle wunderschönen Orte so viel Blau beinhalten. ^^; Ich mein, ich find's wunderschön, ich kann's gern noch viel öfter lesen und würd's noch lieber richtig sehen, aber findet jeder Blau so schön? Andererseits jedoch muss das mit dem Funkeln und Glitzern und dem Wasser eigentlich wirklich für jeden schön erscheinen, auch wenn man eine andere Lieblingsfarbe hat. Und blau ist eine beliebte Farbe für Magie, soviel ich weiß. Also, blau und weiß eben. ^^; Also passt's wieder.
*drop* zurück zu der einen Ungereimtheit.. da sind sie gerade beim Tempel angekommen und werden auf den Priester aufmerksam, indem sie Schritte hören und gleich darauf heißt es, er "war beinahe lautlos zu ihnen getreten". Gut, beinahe, aber ich find's trotzdem etwas verwirrend. ^^;

Später hat es mich gestört, dass ich schon wusste, was los ist und dass die da einen falschen Noctan zurückbekommen. Irgendwie schade, dass ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnere, was ich letztes mal beim Lesen dachte - habe ich's damals von selbst verstanden? Kann man überhaupt selbst auf diese absurde Idee draufkommen? >_<
Aber ich finde diese Szene im Zaubergarten so genial. Wo Rayo auch sagt, das ganze sei zu schön um wahr zu sein und die Noctankopie meint zu wissen, was er meint. Und dann dieses "Wenn ich das alles doch nur Noctan zeigen könnte". *schauder* Gab es diesen Dialog eigentlich letztes mal auch schon? Falls ja, bin ich mir fast sicher, dass ich's an dem Punkt nicht verstanden hatte. ^^; Von daher ist es toll, das nochmal zu lesen.
Naja, und dafür, dass für mich diese Überraschung keine mehr war, wusste ich überhaupt nicht mehr, dass sie Morpheus schon hier begegnen. Dass Morpheus später auf Ragnara auftaucht, ist logisch, aber hier... hatte ich's vergessen.
Und am Ende des Kapitels irgendwann hab ich mich gefragt, ob für Rayo nicht etwas zu oft alles vorbei ist. ^^;;; Zuerst auf dem Schiff, dann hier... aber naja, andererseits ist er jetzt in diesen Kapiteln der Held und es passiert ein Unglück nach dem anderen und er ist müde.... ich hab's zwar aufgeschrieben, aber vermutlich wieder nur weil ich ja auch nach Fehlern suche. ^^;

Gomen, ist diesmal etwas abgehackt und irgendwie auch zu viel Kritik. Es ist natürlich besser, das hier gleich zu schreiben, nachdem ich das Kapitel lese, aber das verzögert nur das weitere Lesen. >_< Wie schon ausführlich ausdiskutiert. Ich habe inzwischen eigentlich schon bis Kapitel 16 gelesen, weiß jetzt aber nicht, ob ich noch dazu kommen werde, die 6 weiteren Kapitel zu kommentieren, bevor ich wegfahre. Obwohl ich irgendwann dachte, ich will Equinox noch davor ganz fertig lesen. Aber dass ich's nicht ganz fertiggelesen habe, ist schön. ^^; Ich dachte schon irgendwann: "Hmm.. und in Japan lese ich dann auch weiter die Geschichte über Shinya.... nein, warte mal, du willst es davor fertiglesen.... waaah! was mache ich dann in Japan?" ^^;; Ich nehm gern etwas von hier mit, was Equinox möglich macht. Etwas schade trotzdem, dass zwischen Lesen und Kommentieren so viel Zeit vergeht, aber ich lese nunmal gern zur Entspannung an stressigen Tagen, an denen ich keine Zeit zum Kommentieren hab, und das kann man weder hier noch in Japan ändern. ^^;;;
(Und wenn ich etwas Glück hab, kann ich die 6 Kapitel tatsächlich noch hier kommentieren... mal sehen. ^-^;)
Von:  TiaChan
2007-01-09T00:35:29+00:00 09.01.2007 01:35
Juhuu, jetzt darfst du neue Kapitel für dein liebes Katerchen hochladen! =^.^=
Ich hab jetzt, nach diesem Kapitel erst wieder deine eigenen Kapitel... „vorworte“ gelesen, die du bei animexx vor jedem Kapitel hinschreibst. Eigentlich hab ich sie früher immer gelesen, bevor ich selbst einen Comment schrieb, aber dann... muss ich’s irgendwann vergessen haben. >_< Gomen ne, aber wenn ich das Ganze als Word-Datei habe, sind die ja nicht dabei und dann denk ich einfach nicht dran. Seit wann vergesse ich sie eigentlich? Vermutlich seit deinem Geburtstag. ^^; Da war ich so damit beschäftigt zu lesen und Comments zu schreiben und weiter zu lesen.... und ich glaub, wir hatten da in der WG noch gar kein Internet, also konnte ich deine Beschreibungen gar nicht lesen, wenn ich möglichst viele Kapitel gelesen haben wollte. ^^;
Auf jeden Fall möchte ich jetzt manche Kapitel noch mal überfliegen, mit diesen Vorworten im Hinterkopf. Aber keine Sorge, es hindert mich nicht am Weiterlesen! ^^ Ist ja egal, bei welchem Kapitel ich gerade eigentlich bin, wenn ich Kapitel noch mal lese, die ich schon kenne. ^-^

Schon seltsam, wenn ich so einen Stress mache mit dem Vokabelnlernen, dass ich nicht mal Super Nintendo mitspielen will und dann am selben Tag den Comment schreibe. ^^; Aber wenn ich schon den ganzen Abend lerne, möchte ich vor dem Einschlafen zumindest noch was Schönes lesen können......... tja, da wären wir beim Problem. Japanbezogene Bücher finde ich inzwischen leider nicht so entspannend zu lesen (ich sollte einfach mal wieder mehr davon lesen und sehen, dass es doch nicht so schlimm ist ^^;;;;; Peace Maker kann ich ja immerhin auch lesen ohne an die Uni zu denken *drop*), aber auch sonst, kurz gesagt, das Schönste, was ich zur Zeit lesen könnte, ist Equinox. Nur kann/will ich blöderweise nicht weiterlesen solang ich dieses Kapitel hier noch nicht kommentiert hab, also mache ich’s jetzt.

Dieses Kapitel fand ich... tadaaa! .... viel zu kurz. ^^; Kann es sein, dass es tatsächlich kürzer ist als die anderen? Naja, aber in erster Linie kam es mir so vor, weil ich schließlich sooo gern wieder ein Kapitel über die hellen Estrella gelesen hab, dass ich nicht wollte, dass es bald zu Ende ist und ich dann wieder so lange auf das nächste warten muss. ^^; Aber natürlich ist es richtig so, dass nicht jedes und auch nicht jedes zweite Kapitel von ihnen erzählt.

Die Überschrift finde ich mal wieder wirklich toll.... und, was mir noch aufgefallen ist: Ist es eigentlich Absicht, dass das Kapitel mit den Worten „Die Sonne“ anfängt? Es ist jedenfalls wirklich passend. ^-^ Und es ist lustig – wenn man es nicht schon weiß, versteht man vermutlich am Anfang gar nicht, dass es um die andere Seite geht, weil – wie eigentlich in fast jedem anderen Kapitel auch – ja nicht sofort Namen genannt werden. Und wenn man’s nicht gewohnt ist.... ist ja immerhin das erste helle Kapitel...

Weiter war es für mich überraschend, dass du hier aus Phils Perspektive schreibst. Gut, einerseits logisch, wie denn auch sonst, wenn die andere Gruppe aus Shinyas Perspektive erzählt wird, aber... gut, du hast mal gesagt, nachdem du Equinox zu Ende geschrieben hast, magst du ihn irgendwie doch, wenn ich mich nicht irre. Und auch schon als du das erste Bild von ihm gezeichnet hast, glaube ich mich zu erinnern, dass du meintest, er ist dir sympathischer geworden als davor..... außerdem kenne ich auch deine Fähigkeit, gegen deine eigene Meinung zu argumentieren, und in RPGs hast du ja eh schon ganz andere Sachen gespielt und geschrieben, aber.... irre ich mich oder sollte Phil am Anfang das verkörperlichen, was nicht einfach irgendein zu einem RPG-Chara passend dazu ausgedachter Sigfried ist, sondern etwas, was DU nicht leiden kannst? Wenn es wirklich so ist/war, dann finde ich es noch mal beeindruckend, dass du dann aus seiner Perspektive schreiben kannst. O_O

Oh, Will bezeichnet sich als „alt“? („Red du nur weiter mit deinen spirituellen Freunden, aber hör bitte auf, einem armen, alten, hilflosen Estrella schon in den frühen Morgenstunden auf die Nerven zu fallen!“) Gut, muss in dem Fall wohl auch nicht ernst gemeint sein... aber wie alt ist Will eigentlich? Wie alt sind die alle eigentlich? Von manchen weiß man’s ja, aber von anderen überhaupt nicht. >_< *alles wissen will*

Dann fand ich auch, hier am Anfang des Kapitels, wird der Morgen wirklich so gut beschrieben, dass man diese Morgenstimmung richtig spürt........ allerdings..... kann das auch daran liegen, dass ich diesen Teil an einem Morgen gelesen habe. ^^; Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ich Equinox meistens morgens oder abends lese und dann jedes mal neidisch werde, wenn vom Schlafen die Rede ist? ^^;; Und wenn ich es am Abend lese, denke ich dann auch jedes mal: „Jetzt macht dich doch sogar die Textstelle müde, jetzt könntest du schlafen gehen, wie die Charaktere“, aber nein, ich lese meistens trotzdem weiter. ^^;; So leicht kann man da eben nicht aufhören zu lesen.

Morpheus! ^_^ *freeeeuuuuuu* Dass er hier schon auftaucht, wusste ich wirklich nicht mehr.... und habe wohl meistens gar nicht mehr daran gedacht, dass es ihn überhaupt noch gibt. O_O Naja, hab mich wohl erst mal zu sehr auf die hellen Estrellas selbst gefreut. Ganz vergessen habe ich ihn natürlich nicht – immerhin habe ich gleich gewusst, von wem die Rede ist, als er dann aufgetaucht ist (allerdings erst nachdem Phil aus dem ersten Traum raus ist). Es hat mich zuerst auch gewundert, dass von einer Frau die Rede ist. ^^;; „Hä? War Morpheus nicht ein Mann?“ Bis mir klar geworden ist, dass es ja aus der Perspektive der Hellen geschrieben worden ist, die ihn zuerst für eine Frau halten. *droooooooooop*
Wann er bei den Dunklen auftaucht, weiß ich auch nicht mehr..... oh, oder doch? In einem Schloss, oder? War das nicht sogar bei Lalit? Ha, ich hab also doch nicht alles vergessen! =^__^= (... hoffe ich jedenfalls, denn ich schlage jetzt natürlich nicht in den noch ungelesenen Kapiteln nach ^^; .... was für eine Redewendung, wer kann auch sonst etwas, was er/sie/es schon mal gelesen hat, in einem noch ungelesenen Kapitel nachschalgen ^.^;;)
Aber ich hab mich wohl deswegen so schlecht daran erinnert, wann er in der Geschichte jeweils auftaucht, weil der Schock darüber, wie die Hellen im Equinox-RPG damals mit ihm umgegangen sind, wohl jede Erinnerung geblendet hat. ^^;

Er sagt „wir Traumhändler“? Das habe ich mir tatsächlich ganz falsch gemerkt. Ich dachte.... er sei der einzige Traumhändler. ^^;

Ah, und dann.. da bin ich mir nicht sicher, ob es ein Fehler ist oder so richtig. Da fragt Phil: „Ähm... ja... also... du sagtest irgendwas davon, das vorher wäre mein Traum gewesen...“ Dabei hat Morpheus sowas nicht wörtlich gesagt, sondern nur das Gespräch mit den folgenden Worten angefangen: „Verzeiht, ich wollte euch gewiss nicht ängstigen, aber ich... ich konnte einfach nicht widerstehen, ihn dir zurückzugeben, Phil!“ Und hat erst eine Seite später erklärt, dass er ja ein Traumhändler ist und Träume verkauft und blabla und so weiter. Man kann danach auch draufkommen, dass mit dem komischen Satz am Anfang des Gesprächs dann wohl auch der Traum gemeint worden war.. muss aber nicht. ^^;

Von den großen Buchstaben im nächsten Traum haben wir ja schon über das ICQ geschrieben, also hier noch mal eine kurze Zusammenfassung: Ich war überrascht, sie wieder da zu sehen, vor allem als ich noch nicht an der Stelle war und nur mal wieder im Voraus sah, dass da schon wieder große Buchstaben sind, habe diese auch vorsichtig mit einem anderen Blatt zugedeckt, damit ich ja nichts im Voraus lese... ^^;; und dann stellte sich heraus, dass sie überhaupt nichts verraten und die Lächerlichkeit des Traumanfangs betonen sollen, was ihnen aber auch wunderbar gelingt. Finde ich also im Endeffekt doch sehr gut so. ^^;

Und jetzt steht auf meinem Notizblatt das Zitat von Will. ^^; Und macht mir wieder schlechtes Gewissen, aber erst nach einigem Nachdenken. Zuerst hat es mich durcheinandergebracht, weil ich mir sicher war, alles, was ich dazu schreiben wollte, dir doch schon geschrieben zu haben. ^^; Dann ist mir klar geworden, dass ich es ja in dem einen Brief geschrieben hab und also doch nicht zu animexx gehen muss um nachzuschauen, ob ich das Kapitel nicht doch schon kommentiert habe. So viel Zeit ist also wieder mal vergangen. Ich sollte es wirklich nicht so lang vor mir herschieben, sooo viel Zeit nimmt es jetzt auch nicht, so einen Kapitel zu kommentieren, dafür kann ich dann wieder eins lesen und das ist auch dann Belohnung genug wenn’s doch länger dauern sollte als mir lieb ist.
Aber zurück zum Zitat. Es bleibt, da ich ja inzwischen auch deine Erlaubnis hab, weiterhin in meiner Selbstbeschreibung stehen, warum, habe ich schon geschrieben und bin auch aus bekannten Gründen froh, es hier nicht noch mal reinschreiben zu müssen. ... Denn sonst macht es ja wieder keinen Sinn. :P
Was mir allerdings ein bisschen seltsam vorkommt: Wieso spricht er hier die ganze Zeit von Illusionsmagie? Er hat doch Willensmagie oder verwechsle ich da was? Gut, die sind verwandt (also vermutlich nicht Will und Misty, sondern Willens- und Illusionsmagie), aber trotzdem kam es mir hier seltsam vor.

Und Cascada merkt man hier ja schon extrem an, dass sie verliebt ist! ^___^ Daran hab ich mich auch nicht erinnert, ich dachte, das kommt dann erst in dem anderen Kapitel raus, mit dem Stroh. ^^; Aber stimmt ja, da kommen dann noch ganz andere Sachen raus. Wääh, ich bring alles durcheinander.

Und hier bin ich so langsam wieder beim Schluss des Kapitels. Die Bemerkung von Morpheus („Lächle nur, William Inoryan – du wirst...) hat mich erst mal zum Grübeln gebracht. Vor allem, wieso spricht er da in erster Linie Will an? O_O *gar nichts verteh* Wobei.. gar nichts nun auch nicht. Ein bisschen etwas glaube ich zu verstehen.. oder zu erraten. Naja, aber es bezieht sich wohl wieder auf den Schluss, sodass ich auf diese Fragen auch erst mal keine Antworten haben will. Waaah, jedes Mal, wenn ich an den Schluss denke, könnte ich schreien vor Neugier und Spannung und.. naja, eben wieder dieses „Ich will’s lesen, aber dann ist es zu Ende“. Ich glaube, ich wiederhole mich. ^^; Gomen. Aber es hat sich eben nichts daran geändert, dass ich neugierig bin auf die Fortsetzung und natürlich vor allem auf den Schluss.

Noch etwas: Ich habe gestern wieder erzählt, dass ich zur Zeit keine großen Bücher lese und dass ich für Equinox schon sooooo lang brauche und dass ich in dieser Zeit erst recht keine anderen Bücher anfangen will... Also, damit kein Missverständnis entsteht: Dass ich andere Bücher nicht lesen kann, liegt nicht in erster Linie an Equinox. Ja, ich könnte parallel ein anderes Buch lesen, das mich jedoch weniger interessiert, aber das Ergebnis wäre wohl nicht anders als bei Equinox selbst. Anders gesagt habe ich eigentlich auch für Equinox keine Zeit. Ich sollte eigentlich noch viel mehr für die Uni machen als ich tue, finde ich. ^^;;; Und da bleibt zum Bücherlesen keine Zeit. Aber Equinox lese ich eben trotzdem, auch wenn ich mich sehr darüber ärgere, dass es wegen der Uni jetzt so lange dauert, obwohl ich es am liebsten innerhalb von irgendwelchen Ferien gelesen hätte. >_< Weil die Geschichte das doch wert ist – in einem kurzen Zeitraum gelesen zu werden ohne wieder alles zu vergessen. *heul* Aber die Uni ist leider auch wichtig und so hoffe ich, dass ich nicht ganz alles vergesse, wenn ich weiter fleißig Comments schreibe, nach denen ja doch noch etwas mehr im Kopf zurückbleibt. Und lese weiter, wenn ich Zeit finde. ^_^

Und jetzt oyasumi nasai und viel Spaß beim Hochladen der nächsten Kapitel! ^-^
Von:  TiaChan
2006-10-22T18:45:46+00:00 22.10.2006 20:45
Was hab ich vor kurzem noch von langen Pausen und Nicht-gleich-weiterlesen-können geschrieben? ^^; Und eine Woche später schreibe ich schon den nächsten Comment. ^-^ Und hätte ihn schon früher geschrieben – nämlich am Montag nachts, wenn ich dann nicht diese ENS mit dem Link zu den Yami-Side Stories gefunden hätte... dann hab ich noch die eine Side Strory selbst gesucht... und dann war’s schon zu spät. ^^;; Das Semester hat ja jetzt angefangen, und sogar wenn ich nicht müde bin, sollte ich versuchen, früher ins Bett zu gehen. *seufz*

Naja, aber wieder zu Equinox zurück. Ich glaube übrigens, dass ich übertrieben habe, als ich schrieb, dass Kapitel 7 mein Lieblingskapitel ist (gut, ich schrieb ja auch nur, dass ich GLAUBE, dass es mein Lieblingskapitel ist ^^; ). Ich hab keine Ahnung, ob ich da überhaupt ein Lieblingskapitel habe, und Kapitel 7 mag ich zwar wirklich sehr, aber auch andere Kapitel, wie z.Bsp. auch Kapitel 8. Und ich hatte ja diesmal vor 7 so lange überhaupt kein Equinox mehr gelesen, dass ich’s wohl wirklich vermisste und das deswegen so schrieb. ^^;;
Noch etwas zu Kapitel 7: Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum es „Anfang und Ende“ heißt. Bei allen anderen Kapiteln bis jetzt habe ich’s verstanden, aber bei 7 verstehe ich nicht, was nun damit genau gemeint ist.
Den Titel von Kapitel 8 dagegen finde ich wirklich genial gewählt. Mal abgesehen davon, dass sie da mal wieder um ihr Leben kämpfen.. und Rayo auch noch Noctan gegen seinen Willen zu retten versucht (ob es ihm gelingt, erfährt man ja erst in Kapitel... 10 ^-^ wenn nicht sogar später, wie man’s sieht), endet ja das Kapitel 7 mit den Worten „ihr werdet alle sterben!!“ und wenn man’s wirklich alles nacheinander liest, kommt gleich danach die Kapitelüberschrift „Der Wille zu Leben“. Ich finde das toll. ^^
Eigentlich war das sogar nach der langen Pause, als nicht mal du wusstest, wie es weitergeht, toll. Soooo lange auf eine Fortsetzung warten, mit den abschließenden Worten „ihr werdet alle sterben!!“ im Kopf, und dann geht’s endlich, endlich weiter, und das erste, was man liest, widerspricht den Worten gleich: „Der Wille zu Leben“.
Ach ja, und ich hatte ja tatsächlich recht, Kapitel 9 ist das mit den Hellen. *freeeuuu* Inzwischen hab ich zwar auch den Titel gesehen, der das ja auch aussagt (jedenfalls, wenn man’s schon mal gelesen hat und deswegen weiß, warum es so heißt), aber auch davor.. ich wusste noch, dass das Kapitel 8 gemeinerweise mit den Worten „Dann sprang er“ oder so was in der Art endete, und dann, wenn der Leser so gespannt auf die Fortsetzung ist, kommt plötzlich ein Kapitel mit den Hellen. Also, auch wenn spätere Leser diesen meinen Schock nach Kapitel 7 nicht erleben werden, wenn man plötzlich erfährt, dass die Autorin selbst an dieser blöden Stelle nicht weiß, wie es weitergeht, werden sie nach Kapitel 8 sogar dann noch etwas auf die Folter gespannt werden, wenn sie das Ganze als Buch vor sich haben. ^-^ *schadenfroh* Ich soll ja nicht die einzige gewesen sein. ^^;;
Und hier wären wir wieder beim Thema „Equinox“ als Buch.... *seufz* Ich hoffe wirklich, dass du das noch verwirklichst. Ich nenne die Geschichte auch bewusst nie „Buch“, sondern immer nur „Fan Fiction“ oder „Geschichte“, weil ich ja wirklich will, dass es ein Buch ist, es aber bis jetzt noch keins ist.

Was ich in Kapitel 8 ein bisschen lustig fand: Da waren plötzlich Sachen da, die ich im Comment zu 7 angesprochen habe. ^^; „Warum geht Misty nie verloren?“ à bitte, tut sie. Ok, nicht ganz so wie ich es gemeint habe.... aber was ich gemeint habe, ist auch Unsinn. Es muss sich wirklich nicht jedes Kind in jeder größeren Stadt sofort verlieren. *drop* „Was passiert mit den anderen, außer Shinya?“ à Bitte schön, hier werden die Erlebnisse und Gedanken aller auf dem Schiff beschrieben. ^-^ *freu* (Ok, außer Misty und Noctan... aber bei Misty weiß man irgendwie eh immer, was sie denkt, weil sie ja ein Kind ist und ihre Gedanken mit Sicherheit nicht so wie Noctan versteckt. Und bei Noctan... soll man ja vermutlich auch nicht wissen, ob er überhaupt noch etwas denkt. Es ist etwas mit ihm passiert, und man weiß nicht, was, das ist mit der Sinn des ganzen Abenteuers auf dem Schiff. ^^; ) Ich wusste nicht mehr, ob das so war... bzw. ich wusste noch, dass Rayo Noctan findet und das beschrieben wird.... aber hier werden ja allgemein alle Handlungen der drei Charaktere hinter den drei Türen beschrieben. Das wusste ich nicht mehr. Vermutlich weil ich ganz vergessen habe, was bei Hoshi alles passiert, und auch was bei Rayo passiert, bevor er Noctan wieder trifft. Gut, Hoshi sieht das vermutlich „wahre Gesicht“ des Schiffes, aber das sieht ja Rayo am Ende auch noch, und ich wusste nicht mehr, wo und wann es anfängt. Dass Misty verloren geht, wusste ich ja auch nicht mehr.... waah, diesmal habe ich das alles wirklich wie neu gelesen und habe mich frühestens dann an die Ereignisse wieder erinnert, wenn ich sie las – nicht wie z.Bsp. im Kapitel 7 ein paar Absätze davor. Auch den Festsaal habe ich ganz vergessen... und ich finde ihn wirklich cool! O_O Schon die Beschreibung des Saales, aber dann auch wie Rayo von diesen unsichtbaren Geistern zuerst mal ab und zu ein bisschen mitbekommt und dann von ihnen richtig aufgehalten wird.
Was bei Shinya passiert, wusste ich noch, zumindest mehr oder weniger. Aber das liegt vermutlich an der Übereinstimmung mit dem Rollenspiel. ^^; Als ich V so dadurch entmutigt habe, dass ich gesagt habe, dass es schon in Equinox vorkam. *drop* Selber schuld, wenn sie die interessante Geschichte nicht gelesen hat. ^-^ Und stimmt ja, Shinya kam gar nicht mehr von selbst aus diesem Raum raus... das wusste ich ja schon beim Rollenspiel nicht mehr. ^^;
Aber am besten finde ich hier, wie das ganze beschrieben wird. Bzw. wie die drei Handlungen hin und her springen. Ich LIEBE so was! Es wird ja immer wieder in Büchern und Filmen so gemacht: Mehrere Handlungen parallel laufen lassen und dann immer an den spannendsten Stellen zu der jeweils anderen Handlung wechseln... ich finde das toll! =^___^= Da fällt mir auf, dass Yoko Matsushita das manchmal in Yami so gemacht hat.... aber leider wechselte sie dann zwischen Tsuzuki und Hisoka hin und her, und die Handlung bei Hisoka interessierte mich so dermaßen überhaupt nicht, dass das Ganze nicht funktionierte. ^^; (So z. Bsp. in Band 3... oh, auf dem Schiff ^^; wenn Tsuzuki den doch noch lebenden Muraki wieder trifft... und Hisoka in dieser Zeit erzählt, dass er ein Shinigami ist *gähn*.)
*drop* Deine Charaktere finde ich dagegen alle toll und lese gerne, was mit ihnen passiert. ^.^

Und ich weiß zwar wirklich nicht mehr, ab wann ich das mit Rayo und Noctan gewusst habe, aber allerspätestens bei diesem Kapitel hier wird es wohl wirklich gewesen sein. Wenn man’s davor nur geahnt hat... weil es eben nur ganz schwach angedeutet wurde, ist es hier richtig auffallend: „Aber er musste doch Noctan finden!“, „Er musste doch Noctan helfen!“, „[...]dass Noctan ihn töten würde. Ausgerechnet Noctan“. ^___^ (Was macht man eigentlich beim Zitieren, wenn da ein Absatz ist? ^^;; Ok, bei einer Hausarbeit ... würde ich’s irgendwie umgehen. *drop* Aber hier wollte ich beides zitiert haben. ^^; Andererseits ist aber auch der Absatz wichtig. Er... betont das Ganze noch mal. ^-^)
Naja, Noctan da, Noctan dort... es fällt richtig auf. ^^ Und ist ja auch gut so, man soll’s ja irgendwann verstehen.

Dann ist mir noch eine Kleinigkeit aufgefallen: Das Schiff legt genau in dem Moment an, wenn Shinya aus „seinem“ Raum rausgeht. Ich glaub, an seiner Stelle würde ich als erstes denken, dieser Ruck, der da durch das Schiff geht, sei die Reaktion darauf, dass ich diesen unendlichen Raum verlassen habe. ^^; Aber na ja, Hoshi und Misty sind ja auch da, und die können’s auf jeden Fall verstanden haben, die verstehen ja eher Shinyas Reaktion nicht ganz... also egal. ^^;; Und andererseits hat für ihn der.. Alptraum ja nicht da erst aufgehört, als er den Raum verlassen hat, sondern schon als er plötzlich wieder zu sich kam und auf einmal Hoshi und Misty da waren. *Schultern zuck* Also wirklich egal.
Etwas anderes, was mir bei diesem ganzen Schiff leider wirklich störend auffällt.... und andererseits will ich auch nicht, dass du’s irgendwie änderst, und ich glaube auch wirklich nicht, dass du das vorhast.. >_< Es geht um die Tatsache, dass es lebt. Wenn du’s wirklich irgendwann als Buch herausbringen möchtest. Gut, ich habe nicht sooo viele Fantasy- und Horrorbücher gelesen, und vielleicht irre ich mich, aber bis jetzt kannte ich diese Räume, Häuser, Gänge ... usw., die plötzlich leben und zwar genau so leben wie dieses Schiff, nur von Hohlbein. Er klaut es zwar tausendmal von sich selbst, aber es ist ja auch seine Idee, also darf er sie wohl wieder verwenden sooft er will. Ich habe nur keine Ahnung, ob auch andere Autoren das so einfach machen können. Naja, aber vielleicht irre ich mich auch, und es kommt inzwischen nicht nur bei Hohlbein vor, sondern auch in anderen Büchern, die ich nur nicht kenne. ^^;
Was wohl wirklich niemals offiziell in dieser Form anerkannt werden kann, ist der Equinox-Soundtrack, aber ich finde ihn toll und die Lieder werden für mich wohl immer in erster Linie von den Equinox-Charakteren gesungen werden und danach erst Fushigi Yuugi, Weiß Kreuz... und den eigentlichen Seiyuu. ^^; Hmm... ein Privileg deiner Freunde? =^-^=
Oh, aber zum Thema Musik.. es ist zwar noch etwas früh, ich bin ja erst bei Kapitel 9, aber soll man bei Kapitel 20 eigentlich wieder an der einen Stelle Mizu Kagami hören, auch in der neuen Version? Allgemein bin ich immer froh über Musik, die du zu deinen Geschichten zu hören vorschlägst... solange ich nur nicht die GANZE Zeit beim Lesen Musik hören muss. ^^; Das kann ich nicht, dann kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Aber Lieder, die irgendwelche wichtige Textstellen untermalen, sind immer toll. ^^

So. Öhm... das ist alles für heute. ^^; Naja, ich glaub, bei den ersten Kapiteln habe ich auch sehr vieles allgemein zu Equinox geschrieben... was jetzt einfach geschrieben ist. Jetzt lese ich und kommentiere fast nur noch das, was ich lese. *drop*
Auf jeden Fall freue ich mich wieder darauf, Kapitel 9... und auch Kapitel 10 zu lesen. ^__^


miauta ne und noch mal gute Besserung,
an’ta no tsu’
tía =^.^=
Von:  TiaChan
2006-10-13T01:01:50+00:00 13.10.2006 03:01
„Ihr... ihr werdet alle sterben!!“ ^________^
Meine Lieblingsstelle in Equinox, vielleicht weil ich sie am besten im Kopf hab, was auch kein Wunder ist. ^^; Bevor ich die neue Version dieses Kapitels gelesen habe... oder auch beim Lesen – beim ersten Lesen der neuen Version –, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es diesmal keine Pause danach geben wird. Damals ist sooo viel passiert in der Zwischenzeit: Ich bin sogar umgezogen. O_O Und danach... haben wir uns erst mal kaum noch gesehen, und nur irgendwann hab ich in Reutlingen das 8. Kapitel bekommen, vor dem Eiscafé. ^.^ Und irgendwie vermischt sich da alles, plötzlich waren die Bilder der Charaktere da.... und Rayo war in Noctan verliebt. ^^; Keine Ahnung, ob ich’s davor schon verstanden hatte, eigentlich blieb auch die Andeutung nach der Höhle mit der Prüfung nicht unbemerkt, aber hier hast du mich darauf hingewiesen, dass Rayo auch toll ist. ^^; Weil ich bis dahin immer nur von Noctan geredet hab. Naja, und diesen Frühling... ich glaub, es war im Frühling.. *bei animexx nachschau*, ja, das war im Frühling – tadaaaaa! – war dann auch tatsächlich wieder eine Pause da. -.-; Ein halbes Jahr lang, glaub ich. Dasselbe Problem wie mit dem Zahnarzt – ich habe dieses halbe Jahr einfach nicht mehr bemerkt. >_< Gerade war noch Frühling, dann kamen die Prüfungen, die Anivorbereitungen, die Hausarbeit.... und schon hatte ich Geburtstag. ^^;;; Und trotzdem frage ich mich, ob ich die Pause nicht selbst herbeiprovoziert habe, damit sie da ist. Aber gut, ich mache.. oder machte mir in letzter Zeit nur noch Vorwürfe, was Equinox angeht. ^^; Bevor ich anfing, Kapitel 7 noch mal durchzulesen, konnte ich sogar die Equinoxmusik nicht mehr hören. Dabei sollte ich selbst eigentlich am besten wissen, dass ich wirklich keine Zeit hatte. Was mich auch aufregt.... wie ich zugeben muss, ist dass ich überholt wurde. -.- *seufz* Naja, aber was soll’s... gegen die Uni kann man... und will ich nichts machen, und dass ich Equinox vollständig lesen und alle Kapitel kommentieren will, hab ich schon mal geschrieben und das bleibt auch dabei. Es kann ja nicht alles einfach vergessen werden, was ich beim Lesen denke. *nick* Es muss dir ja jemand ab und zu sagen, dass du überhaupt nicht schreiben kannst. ^-^ (Nicht ernst nehmen! ^^;)
Oh, zum Thema nicht schreiben können.... auch wenn’s nichts damit zu tun hat: Wir sollten uns mal zusammen hinsetzen und die Druckfehler anschauen. Ich markiere sie immer, will sie aber nicht alle hier aufzählen, das wäre eine lange und langweilige Liste, die nicht hierher gehört. Aber auch wieder nicht erschrecken – lang nur weil ich auch Sachen markiere, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob du’s so gemeint hast oder es ein Versehen war .. und auch die mir unbekannten Wörter. ^-^; So, jetzt aber wirklich zum Kapitel selbst. *Equinoxmusik anschalt* (Nur das Endlied nicht. ^^ Das erlaube ich mir zur Zeit nicht anzuhören, wie du’s beim Schreiben gemacht hast. ^^)

Und am Anfang schnurrt Shinya! ^.^ *freeeuuu* Ich mag das! ^^
Und dann denkt er an den Sinn der Waffen... da sind wir wieder bei einem Thema, das schon mal angesprochen wurde. Ich hab’s ja über Misty geschrieben, wie schrecklich es eigentlich ist, dass sie dann am Ende mitkämpft und du meintest dazu, bei Shinya findest du es noch schlimmer. Und da muss ich dir auch zustimmen. ^^; Weil Misty es weniger versteht als Shinya, aber gerade das ist bei Misty so.. erschreckend. FÜR Shinya ist es aber schlimmer. Für Shinya, und vielleicht auch für manche anderen... ich weiß nicht, ob für alle. Oh, und da fällt mir ein: Ich frage mich, was die anderen wohl an diesem Strand gedacht haben, außer Shinya. ^^; Nur Misty ist wahrscheinlich wunschlos glücklich, aber den anderen müssen ja ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen.... und Noctan starrt ja das Meer an, denkt also auch über irgendwas nach.... waaah, was Noctan wann denkt, will ich eh wissen! >_< Weil sich seine Gedanken vermutlich am meisten von denen der anderen unterscheiden... meistens zumindest. Und weil er sie am meisten verbirgt, hab ich das Gefühl. Zumindest von den Dunklen. Aber vielleicht irre ich mich ja auch. *rumphilosophier* Tja, ich lese Equinox zum zweiten mal, suche manchmal kritisch nach Fehlern (wenn auch nicht mehr mit der ersten Version verglichen... sondern einfach allgemein nach Fehlern ^-^) und will in der neuen Version wohl auch viel Neues haben. *drop* Am liebsten hätte ich jetzt eine genaue Beschreibung, was welcher von... den zehn Charakteren in der Höhle macht, danach denkt... in jeder Szene, in der Shinyas Gedanken so genau beschrieben werden, denkt..... ^^; Beacht’s nicht, es ist keine Kritik, es ist reine Neugier. Und wenn du irgendwas wissen solltest, was nicht in der Geschichte beschrieben wirst, würde es mich freuen, wenn du’s mir erzählst. ^-^ Hmm.. ich wette, wenn das jetzt ein Manga wäre, würden die in einer Animeumsetzung jeweils eine Folge aus jedem Chara in dieser Höhle machen. ^^; Aber ich bin hier wieder bei einem der vorherigen Kapitel. *drop* Also weiter.

Der Streit auf dem Weg nach Midras... Rayo fängt, nachdem Misty etwas gesagt hat, den Satz mit „Rayo“ an! ^^; Waiii! Und ich finde, danach macht er eine Weile lang Mistys Handlungen nach. ^^; Während die anderen streiten, sitzen die zwei am Wegesrand.... ach, ich übertreibe, Unsinn.
Und dann wird Noctans Schwert noch mal angesprochen. ^_^ Ich habe mich inzwischen auch schon gefragt, ob es mit dieser kurzen Erklärung, dass er das Schwert in der Stadt gelassen hat, schon getan ist. Und nein, ist es nicht. ^^ Und dieses „Wir fahren wieder nach Hoshiyama, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt“.... und am Ende bleibt das Schwert dort für immer liegen. ;_; Ach, das ist wiederum wie z.B. bei Earthian, wenn man daran denken muss, was dann alles passiert und schon bei dem Gedanken daran, dass das Schwert für immer in Hoshiyama bleibt, traurig wird.
Und ich finde es cool, wie Shinya sich dann beim Streit doch noch die Fassung wieder zu finden bemüht und die Gruppe tatsächlich ein bisschen wie ein Anführer organisiert. Gut, er macht es erst nachdem Hoshi ihre doch nicht ganz unerschöpflichen Nerven verloren hat, und es macht ihm viel Mühe, aber er macht das. Und ich finde die Stelle cool.
Und Noctan wird wenig später mit der Pest verglichen. ^^;; *das mal kommentarlos feststell*

Etwas über die Seherin zu schreiben ist irgendwie schwer. Es gibt nicht wirklich was über sie zu sagen, eine Seherin eben, aber sie einfach auszulassen ... das hat die Szene nicht verdient, deswegen schreibe ich wenig hin: Ich fand es wirklich unheimlich, wo es am Ende ganz kalt wird und die Estrella wieder rausrennen.

Oh, und Misty redet ja bei einem wirklich ernsten Thema mit: „Das ist aber gemein!“ Es war unerwartet, aber ich nehme an, das sollte es auch sein, irgendwo. ^^; Tja, und man ist manchmal wirklich überrascht, dass kleine Kinder mehr vom Gesagten verstehen als man denkt. Hab ich jedenfalls beim Praktikum im Kindergarten festgestellt. ^^;; Und Misty ist ja, glaub ich, älter als die Kinder im Kindergarten.... ach, ich vergesse immer wieder, wie alt sie ist. -.- Ich stell mir einfach ein kleines Kind vor und das Alter variiert dann immer, wie es gerade will, und dann versteht sie plötzlich Sachen, die ich als zu kompliziert sehe – aber warum eigentlich? Sie reden zwar über etwas Ernstes, aber in durchaus gut verständlichen Worten. Bei Noctans Bemerkungen wie „Grüß die Totengöttin von mir, wenn du dir das Genick brichst!“, frage ich mich dagegen wirklich, ob sie’s versteht und wie sinnvoll die Bemerkungen dann überhaupt sind, aber.. die muss sie ja auch nicht verstehen. ^^; Das ist eben Noctan und er meckert rum wenn ihm gerade nach Rummeckern ist. Waaah, heute habe ich ständig das Gefühl, mich zu wiederholen! >_< Ich weiß nicht mehr, was ich schon zu einem anderen Kapitel dazugeschrieben habe und was neu ist. Aber meine eigenen Comments kann ich nicht vor jedem neuen noch mal alle durchlesen, sonst sitze ich wirklich Jahre später noch als Japanologiemagister da und lese Equinox, wenn alle anderen schon One Wish gelesen haben. ^^;; Deswegen gomen nasai, wenn ich mich tatsächlich irgendwo wiederholen sollte.
Ah, und gleich danach heißt es: „Wir können auf keinen Fall mehr bis zum nächsten Vollmond warten!“ Das finde ich ein bisschen missverständlich. Das hört sich so an als könnten sie gar nicht mehr warten und müssten einen anderen Weg suchen... finde ich zumindest. Ich habe die neue Version des siebten Kapitels ja jetzt zweimal gelesen und fand’s jedes mal zuerst verwirrend. Dabei nehme ich an, der gemeinte Vollmond ist in dem Moment, wenn ich über den Satz stolpere, in meinem Kopf der übernächste. Aber andererseits... wenn man da weiterliest, versteht man’s schon, also ist es nicht wirklich schlimm. Ich wollte es eben angesprochen haben, weil ich drüber gestolpert bin.

Aaaah, und jetzt kommen die Szenen, von denen ich – mal wieder – schon ganz vergessen hatte! ^_^ Und.. öhm.. eigentlich passt der Smiley in sofern nicht, dass sie nicht in dem Sinne schön sind, aber ich mag sie irgendwie trotzdem sehr. Bäääh, da steht in meinen Notizen doch tatsächlich: „Gedanken zu Rayos Selbstmord“! -.- *verbesser* Selbstmordversuch natürlich!! Das ist wichtig. So. ^^;;
Aaalso, vielleicht mag ich die Stelle, weil sie für mich, also für die von mir erlebte Entwicklung der Geschichte, wichtig ist. Aber wie so manche anderen Szenen, hatte ich schon lange vergessen, dass es sie gab, und es fiel mir erst wieder ein, als sie anfingen sich zu streiten. Und Noctan regt sich über Rayos „oder“ auf. ^^; Daran erinnere ich mich überhaupt nicht mehr, sollte es in der alten Version überhaupt da gewesen sein. Das einzige, was ich von Noctan noch zu dem Thema weiß, ist „Du hast das ‚oder’ vergessen“, das ja bekanntlich _etwas_ später kommt. ^-^;
Aber das ist lustig. Es war für mich diesmal beim Lesen sooooo offensichtlich, worauf es hinausläuft. Hätte ich es nicht gewusst, hätte es mich sicher zumindest nicht mehr gewundert. Aber ich habe keine Ahnung, ob es daran liegt, dass die Charaktere diesmal etwas anders beschrieben sind und vielleicht auch besonders Rayo sich gerade vor dieser Szene noch entsprechender verhält als letztes mal (ich weiß ja nicht, was genau verändert wurde und von daher weiß ich nicht, ob es entsprechender geworden ist oder nicht ^^;) oder ich es einfach weiß, weil ich die Charaktere schon besser kenne als ich sie hier eigentlich kennen soll. Also, kurz gesagt: Ich weiß nicht, ob die Charas diesmal davor schon so gut beschrieben sind, dass man’s verstehen kann oder ob ich es verstehe, weil ich einiges weiß, was danach noch von ihnen kommt. (War das jetzt kürzer? Keine Ahnung. -.-;;) Ich weiß nur, dass ich letztes mal dazu gesagt habe (und zum Glück habe ich es dir gesagt, denn lustigerweise erinnere ich mich nur daran, wie ich es ausgesprochen habe, nicht wie ich es gedacht habe ^^;), dass es für mich sehr überraschend war – nicht weniger überraschend eigentlich als für die vier Estrella, als sie ihn gefunden haben –, und dass ich es eher von Noctan als von ihm erwartet hätte. Dabei steht doch direkt davor auch noch der Satz: „Er wusste lediglich, dass es jetzt und an diesem Abend enden würde“! Und er muss letztes mal auch da gewesen sein, denn ich erinnere mich daran, dass ich da etwas verwirrt war... und an irgendwas anderes gedacht habe, nur nicht an das Offensichtlichste. Es müssen mich seine Gedanken an die Eltern verwirrt und auf die falsche Spur gelenkt haben. Ich glaube, ich habe mich gefragt, wieso der Satz jetzt erst da steht, obwohl Rayo doch schon längst von zu Hause weggelaufen ist. *drop*
Naja, diesmal beim Lesen wusste ich dagegen, was passieren würde, und ich hab’s Rayo zugetraut, und ich fand die Situation darauf zu führend, und ich fand, dass der Satz ziemlich eindeutig ist. ^^;
Ach, ich weiß, ich hab’s schon mal gesagt, aber ich möchte wirklich immer wieder wissen, was im Kopf eines Lesers vorgeht, der gleich beim ersten Lesen das neue Equinox liest. Ach mann, Anastasia soll es lesen und kommentieren! >_< Habe ich es schon mal geschrieben, dass ich es mag, Filme, die ich gut kenne, mit Leuten anzuschauen, die sie noch nicht gesehen haben, weil ich dann so an ihren Gedanken Teil haben kann und das dann ein bisschen so ist, als würde ich den Film selbst zum ersten Mal anschauen? Naja, und ich sag’s ja: Über Equinox möchte ich wirklich ALLES wissen. ^^;; Was die Charaktere denken, wenn es nicht in der Geschichte erwähnt wird, was die Leute denken, die es noch nie gelesen haben.... *seufz*
Ach ja, und Noctans Wegrennen (wieder beim Thema ^^;) gehört hier auch noch dazu, zusammen mit Mistys: „Noctan, sag mal, heulst du?!“ Irgendwie.... ach, ich hätte besser im Deutschunterricht aufpassen sollen, ich fange an zu interpretieren. ^^; Aber ich finde diese Stelle wirklich toll, wo zuerst Rayo nach einem Streit versucht, sich umzubringen und dann Noctan nach noch einem Streit wegläuft. (Gut, Mistys Satz gehört da nicht sooo unbedingt mit dazu, aber es ist einfach mal wieder etwas, an was ich mich gut erinnert habe und was ich vermisst hätte, wenn es bei der neuen Version fehlen würde.) Und ich habe da damals Rayo mit Noctan verglichen... vielleicht gerade deswegen? Vielleicht habe ich befürchtet, dass Noctan es Rayo gleich nachmacht? Ich meine, ich habe es Noctan mehr zugetraut – also, wenn sogar Rayo versucht, sich umzubringen, dann doch Noctan erst recht. *drop* Naja, ich frage mich eben wirklich, wie ich überhaupt dazu kam, die zwei miteinander zu vergleichen. Heißt es, ich habe da irgendeine Verbindung gesehen? Heute sehe ich ja NATÜRLICH eine ganz konkrete Verbindung. ^^;; Naja, ich fange an, im Kreis zu reden, oder schreiben, wie auch immer. Aber ich könnte es ewig weitermachen, weil ich von diesen zwei Szenen, vor allem direkt aufeinander folgend so absolut begeistert bin und nicht einmal wirklich verstehe, warum eigentlich. ^^;
Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, schreibe ich noch das hier hin, weil mir gerade andere Worte dafür eingefallen sind: Wenn ich es damals Noctan mehr als Rayo zugetraut habe, musste ich ganz andere Bilder von den beiden haben als heute, denn heute traue ich es definitiv Rayo viel mehr zu. ^^; Nicht weil er es auch gemacht hat, sondern vom Charakter her. So.
Oh, und Rayo hat sich die rechte Hand aufgeschnitten? Ist er ein Linkshänder? ^.^
Und nachdem Rayo aufwacht, wird es wieder erwähnt, dass Noctans Haar „lose zusammengebunden“ ist. ^-^ Ich kann... mich jetzt eigentlich nur schwer daran gewöhnen. ^^; Aber früher fand ich es sehr schade, dass es vergessen wurde, deswegen finde ich es jetzt sehr schön. ^__^ Wobei... ich glaube, beim 7. Kapitel kannte ich die Bilder noch gar nicht... oder? Der Schock über die Veränderung von Noctans Haaren kam nämlich erst mit dem Bild. Naja, egal. Ich find’s jedes mal schön, wenn es erwähnt wird. ^^
Und... wiederum bevor Rayo aufwacht, direkt davor, sagt Noctan: „Lasst mich raten, ihr meint wieder einmal, dass...“. Das ist eine Kleinigkeit, aber es ist mir positiv aufgefallen, dass er da eigentlich nur mit Shinya redet, aber dabei „ihr“ sagt. Ok, „vom Sterben“ – wie Noctan es nennt – reden da alle, aber etwas, was er als Vorwurf interpretiert, sagt ihm trotzdem Shinya. Und ich find’s gut, dass er mit einem „ihr“ darauf reagiert. Ich denke auch, dass Noctan, der sich ja, wie es aussieht, ständig von allen in der Gruppe angegriffen fühlt, sich auch wirklich von ALLEN angegriffen fühlen muss, wenn auch nur einer etwas sagt, was sich wie ein Vorwurf anhört. Tja, wie gesagt, eine Kleinigkeit. Aber ich hoffe, du verstehst, was mir an diesem „ihr“ so gefällt. ^^;;

So, und jetzt, da ich den „Gruß an die Totengöttin“ vorhin schon erwähnt habe (War das eigentlich da, dass dich Word verbessert hat? Ich kann den Satz jedenfalls nicht lesen ohne zu lächeln ^^;), sind wir wieder bei dem „Ihr... ihr werdet alle sterben!!“ angekommen. ^^ Und ich bin mir sicher, dass mindestens die Wörter „alle sterben“ früher groß waren, aber ... oder hab ich das schon zu einer anderen Stelle geschrieben? Ach, ich weiß es nicht, es ist einfach wieder zu lange her.... ich find’s besser so. Die kursivmarkierten Buchstaben sind vielleicht nicht ganz genauso wirkungsvoll, aber dennoch auch SEHR wirkungsvoll. Dafür sieht man sie nicht schon sobald man die Seite vor sich hat, sogar wenn sie ganz unten auf der Seite stehen. ^^;
Und.. ich habe trotzdem irgendwie das Gefühl, Equinox erst mal fertiggelesen zu haben... also eine Pause machen zu müssen. *drooop* Ich glaube, Anfang dieses Jahres war es nicht einmal so schlimm (und da war sie auch wirklich NICHT beabsichtigt). -.- Naja, egal, natürlich werde ich weiterlesen, ich will ja auch wissen, wie die anderen Kapitel aussehen. ^-^ Was sie alles Neues offenbaren, an was sie mich alles erinnern, was ich noch vergessen habe.... oh, und bald kommen doch die Hellen-Kapitel... stimmt ja, als ich in Sonnenbühl gewohnt habe, gab es die ja gar nicht. Oder ist das nächste schon eins davon? Hmmm... entweder 8 oder 9, da bin ich mir ziemlich sicher. Oh, aber ich glaube, 9 und 10 hab ich von dir zusammen bekommen, dann muss es 9 sein. ^-^ War das nicht sogar an Silvester?
Naja, ich lass mich überraschen, ob ich recht hab mit der Zahl 9 oder nicht.

Öhm... Kapitel zu Ende. ^^; Hab ich nicht vor kurzem mal gesagt, ich will die Comments jetzt kürzer machen? Naja, obwohl ich jetzt „nur“ diese mickrigen 4 Seiten vor mir habe und es mir komisch vorkommt, jetzt schon aufzuhören... hab ich eigentlich was anderes gemeint, was ich hier wieder nicht geschafft habe. Es gab diesmal nur – warum auch immer – weniger zu schreiben (dabei kam mir das Kapitel so lang vor O_O es ist doch sooo viel passiert.... naja, vielleicht weil ich’s noch mal lesen musste ^^; und das war zwar an den wichtigen Stellen wieder toll, aber manchmal doch etwas nervig, wie schon mal gesagt, ich lese Bücher meistens nur einmal ^^;). Was ich gemeint habe, hab ich hier nicht gemacht – ich labere nämlich trotzdem wieder. ^^;; Und ich werd’s nächstes mal.... hmm... versuchen zu lassen, wenn ich sehr im Stress bin. Aber höchstwahrscheinlich eh wieder nicht schaffen. ^^; Egal.
Zum Schluss noch etwas zu Misty: Ich hab mich gestern oder heute gefragt, wie sie es eigentlich geschafft haben, sie kein einziges mal zu verlieren. ^^; Aber das ist wieder so eine Frage... oder sogar diesmal ganz besonders, die man sich erst beim zweiten – dritten Durchlesen und hundertfachen Durchdenken stellt. Man muss kleine Kinder ja nicht immer sofort verlieren, das ist eigentlich unsinnig. Erst recht wenn man Hoshi hat. ^^;
So.
Ja, ich versuche, weiterzureden obwohl es nichts mehr gibt. ^^; Nicht weil ich die Zahl 4 (oh, inzwischen 5 ^^;) vor mir sehe, zu der hab ich erst kurz vor dem Aufschreiben geguckt, sondern weil ich das Kapitel sehr mag und nicht aufhören kann. ^^; Vielleicht ist es sogar mein Lieblingskapitel, aber sicher bin ich mir nicht. Und die Pause nach dem Kapitel war auch so lang (inzwischen sogar die zwei Pausen ^^; ) und der Schock noch beim Lesen der alten Version, als du selbst nicht wusstest, wie es weitergehen soll, so groß, dass ich nicht anders kann, als noch ein bisschen Platz danach mit Text zu füllen. Oder habe ich einfach zu lang keine Comments mehr geschrieben und es inzwischen vermisst? Naja, man sieht: So oder so, ich brauche die Comments auch selbst. ^^;;
Übrigens: Du solltest auf jeden Fall das Bild von der Geburtstagskarte hochladen! ^-^ Ich weiß schon etwas, was ich dann schreiben will. ^^


Und ich höre jetzt wirklich auf. ^^;;; Ich wünsche dir auf jeden Fall noch gaaaaaanz viel Erfolg bei deiner Hausarbeit, drücke dir ganz fest die Daumen und... wir lesen uns vermutlich am Samstag... oder kannst du auch nicht spielen? naja, ich werd’s sehen. ^-^
Auf jeden Fall mata ne!
an'ta no tsu =^.^=
Von:  TiaChan
2006-04-24T01:58:29+00:00 24.04.2006 03:58
Frohes orthodoxe Ostern! ^_^

Diesmal ist das Kapitel irgendwie erstaunlich schnell zu Ende gegangen. ^^; Ok, nicht unbedingt rein zeitlich gesehen, ich habe schon ein paar Tage gebraucht um es zu lesen, aber so lese ich die Sachen eben, die ich mag. (Wobei ich, wie ich zugeben muss, auch nicht erst heute damit fertig bin, sondern schon vor ein paar Tagen und heute nur endlich wieder dazu komme, einen Comment zu schreiben. ^^;;) Aber normalerweise, während ich die letzten paar Seiten eines Kapitels lese, bin ich mir dessen auch bewusst, dass es die letzten drei, zwei, eine Seite ... öhm sind/ist. [wie auch immer ^^;] Das sechste Kapitel bin ich irgendwie durchgerast ohne kurz vor dem Ende noch mal nachzuschlagen, wie viele Seiten es noch sind, und es traf mich sehr überraschend. Naja, ich habe es diesmal einfach so gern gelesen, dass ich keine Zeit hatte, um Seiten zu zählen. Ich habe ja schon geschrieben, dass es mir doch etwas schwer fiel, die letzten zwei Seiten des fünften Kapitels zu lesen – weil das Comment-Schreiben zu einem Kapitel, das ich irgendwann mal, vor einem Monat (O_O geht die Zeit schnell...) angefangen hatte zu lesen.... das ist nicht so schön. Danach war ich jedoch glücklich, wieder gleich viel lesen zu können. ^^ Ich hatte zwar immer noch einiges zu tun, war aber nicht mehr sooo sehr im Stress und hatte wieder ein ganzes Kapitel vor mir. ^___^
(.... hmm.... hab ich morgen wieder ^^ auch wenn da wieder das Semester anfängt)

Wie auch immer, es hat mich selbst gefreut, dass ich es doch gern wieder lese, auch wenn ich wusste, dass das bei den letzten Kapitel-fünf-Seiten nicht am Inhalt, sondern an äußeren Umständen lag.

Irgendwie habe ich diesmal auch so viele Schreibfehler gefunden.... habe ich noch gezielter danach gesucht? Glaube ich eigentlich nicht – dafür habe ich mich zu sehr auf den Inhalt gefreut. Naja, aber die wollte ich dir ja so zeigen, also fange ich jetzt wieder mit dem Comment an.

Als Erstes wieder mal ein Satz, den ich waii fand. =^.^= Nachdem Shinya wieder einfällt, dass die Stimme ihn eigentlich darüber vorgewarnt hat, dass sie die Prüfung jeweils allein bestehen müssen, schreit er ja die Wand an: „(...) ich bin ein Estrella! Ich bin von wem auch immer auserwählt worden, ja?“ – dieses „von wem auch immer“, schon abgesehen, von der Frage am Ende! ^.^ Eigentlich ist das vielleicht gar nicht so lustig und waii, denn der arme weiß ja wirklich nicht, was dieses „du bist auserwählt“ genau zu bedeuten hat und wer diese komische Stimme ist und ob er überhaupt auf der richtigen Seite ist – wird ja alles oft genug ausdiskutiert. Aber diesen in diversen Büchern und Filmen oft alles sagenden Satz auf diese Weise zu verändern.... das macht es doch irgendwie einfach nur waii. ^.^

In diesem Kapitel gab es einige Stellen, die ich seit dem letzten Lesen ganz vergessen hatte und die mir hier entweder erst gleich nach dem Lesen wieder bekannt vorkamen oder kurz davor wieder einfielen. Auch einige Sachen, von denen ich noch wusste, dass sie irgendwann mal irgendwo in Equinox vorkommen, aber nicht mehr wusste, wann und wo genau.
So auch bei diesem Hund und bei der Psycho-Hoshi – an Hoshi habe ich mich gut erinnert und vage auch daran, dass irgendwo mal ein Hund-Ungeheuer vorkam, aber ich wusste nicht mehr, in welchem Kapitel und überhaupt an welchem Punkt in der Geschichte.
Was mir bei dem Hund auch aufgefallen ist, war dieser Satz: „Das rotäugige Monster schlurfte unbeirrbar weiter auf ihn zu, bis es irgendwann direkt vor ihm stand und Shinya seinen warmen, nach verwestem Fleisch stinkenden Atem im Gesicht fühlen konnte“. Im Gesicht?! Wie groß ist das Viech eigentlich?! O_O Ist es wirklich so groß wie Shinya selbst? Das hier ist jetzt keine Kritik, ich bin nur ... überrascht. ^^; Weil ich’s wohl anders in Erinnerung hatte. Naja, wenn ich „Hund“ lese, denke ich wohl... nein, wenn ich „sehr großer Hund“ lese oder „zu großer Hund“, denke ich schon an etwas sehr Großes, was auch mal größer ist als ein normaler Hund, ohne Probleme auch größer als Misty oder so, aber irgendwie doch meistens nicht so groß wie ein... Teenager, der in zwei-drei Jahren keiner mehr ist. ^^; Naja, aber wie schon oben geschrieben, es ist keine Kritik, sondern das war meine Vorstellung. Wieso sollte das Monster nicht so groß wie Shinya sein oder sogar noch größer? Ist ja kein normaler Hund sondern ein ... Monster eben.
Aber so oder so – mir tut Shinya da wirklich leid. Naja, es gibt wohl allgemein keinen Menschen, der gern so einem Ungeheuer begegnen möchte, aber wäre ich ein Estrella, ist es gut möglich, dass ich in diesem Labyrinth, wo sich jeder seinen Ängsten stellen muss, auch diesem Hund begegnen würde. =^^;;=
Irgendwie machen die ganzen Katzeneigenschaften von Shinya ihn mir immer sympathischer. ^^;;
(*drop* Und ich bin doch mehr Kater als man’s manchmal glauben kann – in dem Zusammenhang hab ich glaub noch nie an meine Angst vor Hunden gedacht. Aber ich soll hier nicht wieder über mich diskutieren, sondern einen Equinox-Comment schreiben, also weiter. ^-^;)

Ich finde, bei der Szene mit dem Spiegelbild sieht man sein ... Unsichersein und Minderwertigkeitsgefühl – noch bevor das Gespräch anfängt oder sich das Spiegelbild zur Psychoversion zu ändern beginnt. Und zwar in dem Absatz in dem es heißt: „Sein einziger Begleiter [...] war sein eigenes Spiegelbild [...]. Übrigens eine Gesellschaft, auf die er gut und gern hätte verzichten können, da sie weder ermutigend noch unterhaltsam war“.
Über diesen Satz habe ich noch im Nachhinein irgendwie viel nachdenken müssen. ^^; Und ich fragte mich am Ende, ob es von dir auch beabsichtigt war oder ich schon manche besonders hartnäckige Schullehrer nachahme und zu viel reininterpretiere. Allerdings interpretiert es sich einfach zu gut hier rein. Mein erster Gedanke dazu war: „Aha, er hält sich selbst für keine ermutigende oder unterhaltsame Begleitung – das ist wohl mal wieder seine Selbsteinschätzung, die einem Menschen nicht unbedingt hilft, Freunde zu finden“. Dann fragte ich mich ... ob ich eben nicht doch zu viel reininterpretiere, denn es ist ja sein Spiegelbild, seine Kopie, die er da für langweilig hält und nicht unbedingt er selbst. Es ist ja immer ein Unterschied, ob man irgendwo allein ist oder jemanden dabei hat, den man nett findet. Wenn man zu zweit ist, versucht man, einander noch gegenseitig bei guter Laune zu halten und so wird auch eine schlimme oder sogar auswegslose Situation manchmal doch etwas aufgelockert. Und auf jeden Fall langweilt man sich nicht so zwingend wie wenn man irgendwo ewig lang allein rumlaufen darf. Und mit einem eigenen Spiegelbild redend (solang es nicht anfängt, zu antworten und sich anders als man selbst zu verhalten) kommt man sich doch blöd vor und nur irgendwie.. noch verzweifelter, nach dem Motto: „Toll, jetzt rede ich mit meinem eigenen Spiegelbild um mich aufzuheitern, ach, ich bin doch wirklich verloren!“ ^^;
Und doch finde ich diese Bemerkung in diesem Fall – gerade wenn sie bei Shinya steht – trotzdem irgendwie darauf hindeutend, dass er nicht nur sein Spiegelbild so langweilig findet, wenn er allein ist, sondern im Allgemeinen von sich selbst nicht so viel hält.

Bäh, ich hab das Gefühl, ich laber wieder. ^^;
Aber ich glaube, dass Shinyas Entwicklung, von der auch du so gern redest, jetzt wirklich viel mehr in den Vordergrund gerückt ist. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob das nun wirklich nur an der veränderten Version liegt oder... weil du eben das Thema öfter ansprichst. ^^; Aber beim Lesen des ersten Equinox habe ich es ja anscheinend irgendwie... ganz übersehen? Und jetzt habe ich sogar das Gefühl, dass es eines der wichtigsten Themen der Geschichte ist. Es fällt einfach auf und ist die ganze Zeit da, egal was sie machen. Und bei der ersten Prüfung, die sie machen, macht er auch gleich einen wichtigen Schritt dieser Entwicklung – und rettet auch noch die ganze Gruppe genau damit, er allein. Ich glaube also, es wäre mir wirklich auch dann aufgefallen, wenn du nicht darüber sprechen würdest. Und im Endeffekt habe ich in der Geschichte ja auch nicht danach gezielt gesucht. Es gibt viele Sachen, auf die ich neugierig und gespannt bin. Aber irgendwann beim Lesen war da plötzlich ein „Aha! Ich glaube, ich weiß, was Yu-chan meint, wenn sie davon spricht, denn es IST da und fällt auf“, und das kommt jetzt in jedem Kapitel wieder. ^_^ Ich find’s sehr gut, weil Shinya damit irgendwie... jetzt wirklich zum Hauptcharakter wird. Ich meine, Ok, er war es schon sowieso, er ist der Auserwählte, er ist derjenige, aus dessen Sicht die Geschichte meistens geschrieben ist, der auch, glaub ich, am meisten machen muss, zumindest von den Dunklen auf jeden Fall – und die Hellen sind ja sowieso zwar auch sehr wichtig, aber keiner von ihnen ist der Hauptcharakter, das steht einfach fest, weil sie nun mal „die Bösen“ sind, die Gegenspieler – zumindest im Verlauf der Geschichte, was am Ende kommt, weiß ich ja noch immer nicht (irgendwie erwarte ich da wirklich ALLES O_O nein, erwarten ist das falsche Wort, ich rechne mit allem und weiß überhaupt nicht, was da passiert.... wann bin ich nun endlich soweit? >_<)... aber wenn es weiter so geht wie bis jetzt und Shinyas Entwicklung weiterhin in so ziemlich jedem Kapitel zu bemerken ist... dann können ihn auch Rayo und Noctan nicht mehr in den richtig Hintergrund rücken lassen, egal was sie machen, und auch die Hellen nicht, egal wie viele eigene Kapitel sie haben (<-- hach, an die freue ich mich auch schon ^-^).
[Gomen, falls es jetzt wieder etwas zu pathetisch klingt. ^^;;;;;]

Wäääh, und bei dem Absatz da oben sind mir gleich noch ein paar Sachen aufgefallen, die ich schreiben möchte. *seufz* ^^;
Aaaalso, erstens, im letzten Comment habe ich von „Shinya und Phil“ als Auserwählten, die Estrella anziehen, gesprochen.... aber nach einigem Nachdenken bin ich mir inzwischen doch nicht sicher, ob ich’s ganz richtig verstanden habe. Ist es nicht im Endeffekt doch nur Shinya? Also nicht Phil? (Ich glaube... diese Frage hatte ich auch mal bei dem Lesen der ersten Version, zumindest irgendwo im Kopf, nicht ausgesprochen..... ach, ich sollte aufhören mit diesen Déjà-vues, einiges stimmt ja vielleicht, aber es kann genauso gut einiges eingebildet sein – ich habe nämlich allgemein, mal abgesehen von Equinox oder auch von Lesen überhaupt gern Déjà-vues. Ich sehe eine Sache und fünf Minuten später denk ich: „Das kommt mir doch bekannt vor, wo hab ich das schon gesehen?“, auch wenn die richtige Antwort „genau hier, noch vor fünf Minuten“ ist! ^^; Wirklich fest steht aber, dass ich die Frage – über Shinya und Phil – jetzt habe, so.)

Und noch mal zum Ende der Geschichte.... na ja, ich bin natürlich auf das Ende mehr gespannt als auf den eigentlichen Verlauf der Geschichte – aber ist man das nicht immer, wenn man ein Buch liest? Wenn es ein gutes Buch ist, will man doch zwar nicht, dass es zu Ende ist, aber man will trotzdem wissen, so schnell wie möglich, wie es ausgeht – und dann liest man am Ende noch Tage und Nächte durch, egal wie früh man am Morgen aufstehen muss. ^^; Obwohl es natürlich keinen Sinn macht, das Ende gleich zu lesen – davor muss noch alles andere kommen. (Gut, es gibt auch Menschen, die so was machen... aber ich gehöre nicht dazu ^^;)

Und auch bei Equinox muss ich nicht nur die ergänzte Version lesen, ein paar Sachen habe ich auch vergessen, nicht einmal in der Zeit, in der du die Geschichte überarbeitet hast, da bestimmt auch, aber schon beim Lesen damals wusste ich gegen Ende nicht mehr alles, was am Anfang noch wichtig war. Ich weiß genau (und das ist jetzt kein Déjà-vue ^^;), dass ich damals u.a. deswegen die Geschichte noch mal ganz lesen wollte, wenn das letzte Kapitel da ist, weil ich wirklich das Gefühl hatte, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
Vielleicht habe ich so etwas in diesem Kapitel auch gefunden. ^^; Ich wusste nämlich (ob schon damals weiß ich nicht, aber jetzt auf jeden Fall) überhaupt nicht mehr, dass Shinya doch mal gezaubert hat! Von Phils Todesmagie im Kontrast zu Shinyas... Nicht-zaubern-können ist ja in der Geschichte ständig die Rede. Aber dass Shinya doch nicht erst am Schluss plötzlich etwas bekommt oder sogar alles einfach so ohne Magie regelt, sondern seine Magie schon relativ am Anfang der Geschichte einmal einsetzt, wusste ich nicht mehr.

Und hier... fange ich doch wieder auf, Theorien über das Ende aufzustellen. ^-^ Ich merke, dass ich doch nicht gar nichts ausdenke, auch beim letzten Lesen habe ich mir ein bisschen Gedanken darüber gemacht.... was jedoch auf jeden Fall stimmt, ist, dass es mir klar ist, dass das nur ein paar Ideen sind, herausgepickt aus einem Alles, mit dem ich, wie es ein paar Zeilen (oder auch Absätze?) weiter oben steht, am Ende rechne. Ich möchte, dass es unvorhersagbar ist und es ist für mich unvorhersagbar.

Naja, dass Shinyas Magie jedoch noch mal zum Vorschein kommt, darauf könnte ich wetten. ^-^ Aber das ist auch nicht schwer zu erraten.

Oh, und die meisten Theorien, die ich mir damals beim Lesen ... oder auch kurz nach dem provisorischen „Ende“ (20. Kap. ^^;) zusammengebastelt [gibt’s das Wort so eigentlich?] habe, können gar nicht stimmen. ^^; Und jetzt bin ich so gemein und schreibe meine Gedanken dazu auf. Und du kannst bestimmt nicht behaupten, dass es dich nicht interessiert, was wir dazu denken ^^; Nur habe ich schlechtes Gewissen, wenn ich das schreib, weil es schlimm sein muss, wenn du wieder darauf antworten willst. ^^;; Gut, dass du diejenige bist, die Equinox geschrieben hast, so kann ich mir zumindest sicher sein, dass du mir nichts verrätst. ^^;;
Aaaalso, ein ganz absurder Gedanke von mir war mal, dass alle bei der letzten Schlacht sterben und damit genug Schlimmes passiert ist, um das Gleichgewicht wieder auszugleichen. ^^;; Dass nicht alle sterben.... hast du im Endeffekt schon verraten, weil du manchmal von den Charas nach Equinox sprichst – vor allem von Rayo. Andererseits würde es zu dir auch nicht passen – eine Geschichte, bei der alle sterben. ^^; Also dummer Gedanke von mir. (Ganz und ausschließlich absurd war es jedoch nicht, angesichts des „Hoshi, werden wir sterben?“ – oder so ähnlich, aber so habe ich den Satz im Augenblick im Kopf, der noch in einem der Kapitel der alten Version vorkam ^^)
Allerdings frage ich mich immer wieder, ob am Ende nicht irgendwas Schlimmes passiert, was dann so das Gleichgewicht ausgleicht. Ich weiß nicht mehr, seit wann sich der Gedanke in meinem Kopf breitgemacht hat, dass das Gleichgewicht deswegen gestört ist, weil das Gute überwiegt, aber irgendwie bin ich mir da jetzt sicher. Stand es irgendwo in Equinox? Hast du’s mal gesagt? Oder habe ich mir das selbst ausgedacht? Keine Ahnung. Ach ja, und vermutlich ist Noctans Tod ja doch nicht das einzige Schlimme, was uns am Ende erwartet. Andererseits... vielleicht finden sie ja auch im letzten Kapitel heraus, dass sie irgendwas zusammen machen mussten und nicht gegeneinander kämpfen..... hmm... aber das glaube ich wieder weniger. Ich denke nicht, dass sie die Waffen bekommen haben, um zusammen einen Endgegner zu besiegen. ^^; Außerdem wäre damit der Waage nichts Schlimmes hinzugefügt. Was ich eher glaube, ist, dass die Helle Gruppe zwar die wunderschöne nur gute Welt vor Augen hat, dabei jedoch ohne sich dessen bewusst zu sein für Shinyas Ziel arbeitet. Das ist wieder dieses „Phil will töten um eine heile Welt zu schaffen, was sich widerspricht“. Und im 20. Kapitel tötet er ja auch noch. Abgesehen von dem armen Rayo und den anderen Dunklen, die bis dahin sicher auch traurig über Noctans Tod sind, tötet Phil seinen Gegenestrella. Ich glaube, das war nicht im 20. Kapitel angesprochen, aber dafür irgendwo in der Geschichte und so kann man’s sich doch irgendwie zusammenreimen. ^^; Auch wenn ich nicht so ganz verstehe, was es für Phil jetzt bedeutet, aber ich nehme an, das muss auch schlimm sein. So, das sind meine Gedanken für heute. ^^; Ich glaube schon, dass ich immer noch behaupten kann, sie sind ziemlich abstrakt und sollten sie nicht stimmen, bin ich auch nicht enttäuscht, denke ich. ^-^ Aber um meine Meinung zum Ende sagen zu können, muss ich es wohl lesen. ^^; Und davor das alles, was davor noch kommt.
Oh, zum Schluss dieses Thema.... noch eine der früheren Ideen von mir, die auch irgendwie... lächerlich ist: Rayo ist ja wütend und fängt an, wild in der Gegend Feuer rumzuzaubern. Die Estrella verbrennen alle dabei, und weil Shinya ja nicht dabei war, überlebt er als einziger. Weil er von den Dunklen ist, haben sie damit gewonnen. ^^;
Ähnelt etwas vom Grundgedanken her deinem „Witz“ mit verbrannter Noctan-Leiche, aber diesen meinen Gedanken hatte ich wirklich schon kurz nach Lesen des 20. Kapitels. ^^;;; Naja, an dieses Ende glaube ich jedoch auch nicht.

So, und um zurück zum 6. Kapitel zu kommen: Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwarzes Licht aussehen soll. *drop* Gomen, das ist jetzt ein recht plötzlicher Übergang zu einem Thema... das man schon als Kritik bezeichnen kann. ^^;;;
Ich weiß nicht, beim Lesen damals dachte ich nicht daran, aber diesmal habe ich mich plötzlich gefragt, wie schwarz leuchten soll und wie damit Shinyas Magie aussehen soll. Naja, oder ist es eine alles verschlingende Dunkelheit, die um seine Hände herum entsteht? So ein bisschen wie ein schwarzes Loch sogar vielleicht.... nur ein Licht, das andere Sachen erleuchten kann, das einen Weg in der Dunkelheit weisen kann, kann ich mir nicht in dieser Farbe vorstellen.

Naja, hoffentlich kann es als Wiedergutmachung zu dieser Kritik wirken, wie genial ich die Gespräche danach fand. Nachdem Shinya das Labyrinth zerstört hat, hatte ich wieder Angst, dass du eine wichtige Szene, die mir im Kopf geblieben ist, ausgelassen haben könntest. Einfach weil sie wieder so lange davor über andere Sachen reden. Zuerst kann ich es mir nicht vorstellen, dass man sie weglässt und freue mich nur darauf, und dann lese ich und lese und lese und überlege mir, ob du nicht doch Gründe gehabt haben kannst, sie wegzulassen. In diesem Fall fielen mir plötzlich soooo viele Gründe ein: Was ist wenn Yu-chan das zu Slapstick-artig fand? Was ist wenn es zu deutlich ist und zu viel verrät? Aber ich will die Szene auf jeden Fall haben, sie muss da sein!! >_<
Naja, aber sie war ja da. ^_^ Als ich sah, dass ich mich dem Ende des Absatzes nähere, dachte ich wirklich schon, das war’s, sie ist weg, denn wenn sie nicht in diesem Absatz kommt, kommt sie nicht mehr – und wie fängt der nächste Absatz an? Mit Mistys Erzählung von dem Labyrinth und von Chibi. ^__^ *freu* Bevor ich anfing, das Kapitel zu lesen, wusste ich’s eigentlich nicht mehr – wie so vieles in diesem Kapitel – aber dann fiel es mir ein... keine Ahnung, nachdem Shinya das Labyrinth zerstört hat? Irgendwo da auf jeden Fall, denn ich konnte mich noch darauf freuen und dann denken, dass es weg ist. Aber Rayo HAT im Labyrinth Noctan gesehen. ^_____^ Das Thema Rayo und Noctan ist endlich da! *Champagner aufmach und feier* =^.^= Und das gleich so lustig: „... und bei Rayo... nein... doch nicht...“ ^__^ Das sind wieder Worte, die ich nach dem Lesen noch mehrmals wiederholt hab. ^^; Ich glaub, ich hab sie sogar mal noch mal ausgesprochen, als ich mit Alex über was ganz anderes geredet hab, weil sie mir plötzlich einfielen. Er war zwar etwas verwirrt, aber er weiß ja sowieso, dass seine Schwester irgendwie komisch ist mit ihrem „Sonntagsgrinsen“ (<-- ein Wort, das er erfunden hat, um meinen Gesichtsausdruck, den ich anscheinend sonntags nach den RPGs den ganzen Tag lang hab) und... anderen Übertreibungen, wenn es um Mangas geht. ^^; Oder eigentlich nicht nur um Mangas. *drop*

Naja, wie auch immer, ich finde es auch gut, dass Noctan einem da noch nicht so verdächtig vorkommt. Rayo kann ja behaupten, was er will – Ist es ihm selbst eigentlich überhaupt da schon bewusst? Wann verliebt er sich eigentlich überhaupt genau in Noctan? Ich habe ja versucht, schon Hinweise zu suchen, sobald er auftaucht, aber da konnte ich nichts finden. Das im Labyrinth ist wirklich das erste, was ich darauf hinweist. Aber wirklich, war es ihm selbst auch klar? Hätte er es überhaupt erzählt, wenn er es wüsste? Er hatte eben das Pech, das gleich als zweiter zu erzählen, auch noch nach Misty, bei der es nicht ein Mensch ist, sondern ein Tien-Tien, in das sie zumindest sicherlich nicht verliebt ist, und bei dem... für einen Außenstehenden auch ein Vergleich mit einem Ungeheuer sich einfach eher anbietet – ist ja ein Tier. Von anderen Erzählungen konnte er also nicht darauf schließen, dass man im Labyrinth jemanden sieht, den man besonders mag und dass seine Erzählung wie ein Geständnis ist. Aber trotzdem – würde er es nicht zumindest ahnen, dass er es nicht weitererzählen sollte, wenn es ihm bewusst wäre, was ihm Noctan bedeutet? Oder vielleicht wird es ihm selbst da erst klar, nachdem Hoshi es allen erklärt? *seeeeuuuufz* Irgendwie kann man über diese Stelle doch so viel philosophieren, dass einem der Kopf zerplatzt. ^^; Wie’s wirklich ist, weißt wohl nur du... wenn du’s überhaupt festgelegt hast.
Naja, jedenfalls verrät auch Rayos roter Kopf, dass es ganz sicher kein Zufall ist. Noctan dagegen ist an dieser Stelle absolut nicht verdächtig – und ich bin mir ziemlich sicher, dass er es mir vor allem auch beim ersten Lesen nicht war. Man fragt sich wirklich, was er dort gesehen hat, aber er erzählt es nicht. Und die Tatsache, dass er es nicht erzählt, muss überhaupt nicht heißen, dass es Rayo war. Das heißt eigentlich nur, dass... es Noctan ist. Er würd’s vielleicht auch so nicht erzählen – schließlich hat es ihn ziemlich beunruhigt, er macht ja auch von allen Estrella den verstörtesten Eindruck. Und ein Noctan spricht nicht von etwas, was ihn so beunruhigt und verstört. Erst recht nicht, wenn er weiß, dass die anderen dann wissen, was er mag und wovor er Angst hat.
Wobei ich mich eigentlich... jetzt nach diesem zweiten Durchlesen erst recht frage, was er dort gesehen hat. ^^; War es überhaupt Rayo oder noch nicht? Noctan hat ja von diesen fünf, soviel ich verstanden habe, auch am meisten erlebt – auch Schlimmes. Wie es Shinya auffällt, hat er schon Menschen getötet – und auch ihm wichtige Menschen verloren. *neugierig bin* >.<

Ach je, und schon so bald nach diesem Gespräch hätten die zwei fast einen Kampf angefangen! Passt ja auch irgendwie im Endeffekt zu ihnen beiden, sie... sind einfach so unmöglich. *drop*
Andererseits... ist „unmöglich“ ein einfach so daher gesagtes Wort, das ein typisches Beispiel von „es leicht haben, zu reden“ ist. Man kann sie ja auch verstehen – beide.
Yu-chan, die Geschichte ist einfach genial, weißt du das? Und ich glaube, ... ich mag Shinya sehr, ich finde es sehr interessant, wie er sich entwickelt und es ist richtig, dass seine Entwicklung sich teilweise so sehr im Hintergrund abspielt. Aber meine Lieblingscharaktere bleiben wohl doch die zwei Nebencharaktere Noctan und Rayo. ^^ Wie sie es schon waren. Waaah, und ... das ist jetzt mir selbst neu. ^^; Ich dachte, es dauert doch noch etwas, bis ich Noctan mit Sicherheit wieder als Lieblingscharakter bezeichnen kann. *drop* Der Arme hat doch eigentlich gar nichts getan, wofür ich ihn hassen oder auch nur... weniger mögen könnte. ^^; Aber es war nicht nur mein Misstrauisch-Sein, sondern auch die Tatsache, dass die Geschichte sich so verändert hat und ich andere Charaktere – wie Shinya und Will – plötzlich viel interessanter finde als früher. Jedoch kann ich das jetzt sagen: Ich mag immer noch ... oder eigentlich doch wieder Noctan am liebsten. ^^ Und die Rayo-und-Noctan-Geschichte diesmal bewusst von Anfang an zu beobachten, ist wirklich toll!! *mag* Ich bin auch schon seeeeeeeehr gespannt auf die Hellen-Kapitel, aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass kein Will der ganzen Youma-Welt Noctan schlagen kann. ^-^; Mal ausnahmsweise etwas, was ich wirklich sicher sagen kann.

Und wieder zurück zu diesem Kapitel – ich habe es auch mit Spannung verfolgt, wer jetzt wessen Hand nimmt. *drop* Wie das klingt – wer wessen Hand nimmt.... wie im Kindergarten, dabei kann es hier doch so wichtig sein, gerade weil es kein Kindergarten mehr ist: Wessen Hand nimmt Rayo? Und wessen Hand nimmt Noctan?
Naja, Rayo kann es sich wohl wirklich nicht leisten, jetzt auch noch Noctans Hand zu nehmen, nach ihrem Gespräch über das Labyrinth. Noctan dagegen hat noch gar nichts verraten, ist außerdem einfach genervt und kann doch durchaus die erstbeste Hand ergreifen, nachdem er sich schon dazu überreden lässt, Händchen haltend durch die Gegend zu laufen.... er kann doch wirklich einiges verbergen, wenn er sich ... wie ein Noctan eben verhält. Wobei.... andererseits verhält er sich wohl gerade deswegen wie ein Noctan. -.- Weil er so verschlossen ist oder es sein will.

Und doch ist die Tatsache, dass er hier Rayo und nicht... oje, Misty wählt (fällt mir jetzt erst auf, dass es Misty ist ^^;), ein Minigeständnis irgendwie. ^-^; Ich weiß nicht, ob es auffällt, wenn man’s nicht weiß, und, wenn man darüber nachdenkt, ist Misty für Noctan auch keine richtige Alternative. Aber doch hat Rayo vor ein paar Minuten erzählt, dass er ihn im Labyrinth gesehen hat, und Hoshi hat allen erklärt, was es bedeutet. Dass Noctan bald danach Rayos Hand wählt.... das bedeutet doch etwas. ^^ (Wie gesagt, auch wenn man das vielleicht nur merkt, wenn man’s schon weiß.)

Ach ja.... und Noctans Genervt-Sein erreicht an dieser Stelle doch auch irgendwie schon die Grenzen, oder? Abgesehen davon, dass er mit Rayo zu kämpfen bereit ist, er widerspricht sich eigentlich die ganze Zeit: „[...] aber nein, warum sollten wir denn auch weitergehen? Phil und seine Jünger werden uns ja ganz bestimmt nicht die sagenumwobene Belohnung wegnehmen?“, schon wenig später jedoch: „Wer sagt uns, dass dahinter ein Schatz auf uns wartet? [und nicht eine Falle]“, sofort aber wieder: „Dann bleiben wir eben hier und warten, bis wir verhungert sind.“ Ich find’s toll, dass sich hier auch Misty ins Gespräch mit einmischt und diese Widersprüchlichkeit betont – ein Kind, das nicht weitergehen will, weil da eine Falle sein könnte, aber auch nicht hier bleiben will, weil es nicht verhungern will. Und so verhalten sich hier auch Noctans Aussagen – unrational wie die eines Kindes. Wobei er es hier ja auch selbst zu merken scheint, denn er beendet diesen „Aufstand“ mit den Worten „ach, was soll das eigentlich...“ ^-^

Ach ja, und wie er Hoshi, Shinya und Misty mit einer Familie vergleicht, das finde ich cool. ^^ Sooo weit entfernt von der Wahrheit ist es ja auch nicht. ^^; Über den Ausdruck „Phil und seine Jünger“ wiederum habe ich mir Gedenken gemacht – obwohl auch er wirklich lustig und.. irgendwie passend ist. ^^; Aber.... ist der Begriff „Jünger“ nicht etwas ... zu biblisch für Youma? Ich glaube, es kamen in der Geschichte noch ein paar Begriffe aus unserer Welt vor, an denen ich mich ähnlich gestört habe. Wenn du willst, kann ich auch sie suchen, aber doch habe ich’s nicht erwähnt, weil ich’s nach nochmaligen Überlegen weniger schlimm fand. Es kann ja immer noch Parallelen in der Geschichte gegeben haben – irgendwo, auf irgendeine Weise. Aber Jünger klingt für mich nach einer ... youmaschen Christus-Sekte. ^^; Oder ist der Begriff in der deutschen Sprache gar nicht sooo christlich und ich weiß es nur nicht?

Oh, und in diesem Kapitel kommt ein ähnlicher Satz vor wie im ersten Kapitel. Nach dem Gespräch mit der Stimme: „Erst jetzt, als sein unsichtbarer Ratgeber lautlos wieder verschwunden war, wurde dem Halbdämon überhaupt erst bewusst, wie tief er dessen Präsenz die ganze Zeit über in sich gefühlt hatte“. Hier klingt es nicht unbedingt soooo nach schon immer wie das „stets“ im ersten Kapitel, das mich immer noch stört, wie ich zugeben muss. ^^; Das war doch nicht so gemeint, dass Shinya die Präsenz schon immer spürte, oder? Das tat er nur, wenn er mit der Stimme sprach, oder? Naja, in diesem Kapitel kann man das auch so verstehen. Allerdings.... kommt es mir jetzt so vor, als sollte es etwas sein, was der Leser noch nicht weiß. Dabei ist es im ersten Kapitel auch schon so gewesen, es ist dem Leser an dieser Stelle also nicht ganz neu. Aber vielleicht sehe das ja doch nur ich so, keine Ahnung. ^^;

Dann... war ich wieder etwas überrascht, wie schnell die Geschichte doch vorangeht. Zuerst alle Estrella, dann der Hund UND Hoshi in einem Labyrinth und jetzt auch schon bald Lluvia. Einzelne Teile von Equinox, an die ich mich noch erinnere, kommen alle so schnell nacheinander. Naja, andererseits ist es schon das Kapitel 6, und das 7. Kapitel endet auf dem Weg nach Lluvia, das werde ich nie vergessen. ^-^ (Ich geb’s ja zu, hier war ich so neugierig, dass ich sogar schon nachgeschaut habe, ob es wieder an dieser Stelle endet – sehr untypisch für mich. Aber irgendwann hat mich auch jemand... war das nicht Yoko? Ach, weiß nicht mehr, ist auch unwichtig... verunsichert: das 7. Kapitel ende anders, also muss es ein anderes gewesen sein – aber nein, ich habe die Zahl nie vergessen. =^^= Oje, „Sieben ist die Zahl“ ^^;) Von daher sollte ich mich darüber nicht wundern. Naja, und dass einzelne „Bruchstücke“ der Geschichte, für die ich sie halte so schnell nacheinander kommen, heißt wohl nur, dass ich mich doch besser an die Geschichte erinnere als ich dachte? Und außerdem sind 6 Kapitel von 20 gar nicht so wenig wie es mir irgendwie erscheinen will.

(Wah, mein Computer hat sich gerade ausgeschaltet! O_O *vom Bett zum Schreibtisch umzieh* Der schaltet sich ja manchmal aus, wenn er überhitzt ist... Es lebe das Zwischenspeichern! ^^;)
Hach, und Kommis Schreiben macht doch Spaß. ^.^ Bei dem 5. Kapitel war das eben nur... dass es das ganze sich so in die Länge gezogen hat, und dann hatte ich keine Notizen und wusste nicht mehr so genau, was ich gedacht hatte, und dann war ich in der Zeit auch sooooooo unbeschreiblich müde.
Während dem Lesen von Kapitel 6 habe ich dagegen wieder schon mal einzelne Sätze für den Comment im Kopf ausformuliert – und überhaupt, wenn man ein gutes Buch liest.. oder auch nur einen Kapitel davon – oder einen Mangaband – will man doch mit jemandem Eindrücke austauschen! Diesmal befürchte ich sogar, nicht alles aufschreiben zu können. ^^;; So viel ist das. Als sie aus der Höhle herauskommen, denkt Shinya von sich und den anderen im Gegensatz zu Rayo als „vom gemeinen Estrellavolk“ – den Ausdruck fand ich auch lustig. ^.^ Oder Mistys „Wird Misty das dann auch bei... bei... bei diesen Zeiten da erfahren?“ – das ist soooo waiii!

Ach ja, und als Misty gerade von Lluvia erzählt, antwortet ihr Noctan doch sehr sarkastisch und dann kommt da dieser Satz: „Die Kleine schien den triefenden Sarkasmus in Noctans Stimme wieder einmal nicht zu bemerken [...]“. Ehrlich gesagt, habe ich mich beim Lesen gefragt, ob Misty überhaupt versteht, was er sagt. ^^;; Sarkasmus muss sie ja als Kind erst recht nicht verstehen. Naja, aber Noctan ist es wohl nicht besonders gewohnt, mit Kindern umzugehen. ^^;;
Wo wir beim Thema sind: Wie alt ist Misty eigentlich? Habe ich das überlesen oder wird es nirgends erwähnt? ^^

So, und mit diesem etwas chaotischen Schluss beende ich heute den Kommi. Wir sehen uns spätestens am Mittwoch, wobei ich mich frage, ob du das hier davor noch lesen können wirst.... ach, ich will, dass das Internet dort endlich funktioniert, auch auf meinem Potamû. Ich glaube, dann lasse ich ihn wirklich endlich dort – das Hin- und Herfahren tut ihm wirklich nicht gut. Und... mir auch nicht, so schwer wie er ist. ^^;


na ja, jedenfalls
mata Mittwoch, miau!
Kater
Von:  TiaChan
2006-04-13T00:12:56+00:00 13.04.2006 02:12
Gomen ne, diesmal hat es länger gedauert. Und wie es aussieht, werde ich "Equinox" auch nicht in den Ferien fertig lesen können - ich hatte es gehofft, aber eigentlich ist es utopisch. Ich brauche normalerweise mehr als einen Tag für ein Kapitel, und auch der Gedanke, dass die Ferien bald vorbei sind, macht auch nur Zeitdruck. Naja, aber solange ich nicht gleich nach Semesterbeginn wieder eine Hausarbeit machen muss (was ich voraussichtlich auch tatsächlich nicht muss ^^;), sollte ich es wieder abends lesen können. ^_^
Mit der Hausarbeit war ich ja sehr unter Druck geraten und konnte gar nicht mehr weiter lesen, auch nicht abends. Ich konnte kaum schlafen und habe von der Hausarbeit geträumt - wie kann man da etwas lesen, was nichts mit der Uni zu tun hat? -.- Naja, bzw. am Anfang habe ich noch etwas gelesen, habe aber meine Notizen vernachlässigt. Und das war, glaube ich, ein Fehler. Ich habe festgestellt, dass mir die Notizen nicht nur beim Comment-Schreiben helfen, sondern auch dabei, das gelesene Kapitel auch gut im Kopf zu behalten - was ja eigentlich mein Ziel ist bei diesem Durchlesen. *seufz* Naja, dann muss ich wohl versuchen, den Comment jetzt irgendwie aus dem Kopf zu schreiben, während ich das Kapitel noch mal durchfliege, und danach weiß ich bestimmt auch wieder besser, was alles drin war. ^^; Ich meine, einmal habe ich's ja vor kurzem erst gelesen, und wenn ich die wichtigen Textstellen wieder finde, sollte ich mich an das Ganze auch erinnern können.
(Irgendwann habe ich das Kapitel in meiner Verstreutheit sogar für das 4. gehalten... obwohl's doch das 5. ist. Aber sogar bei meinen wenigen - definitiv zu diesem Kapitel hier gehörenden - Notizen steht "Kap. 4" als Überschrift. *droooooop*)
Jedenfalls war diese lange Pause während der Hausarbeit, zusammen mit der Abwesenheit der Notizen, wohl der Grund, warum es mir jetzt so schwer fiel, diese eine letzte Seite des fünften Kapitels durchzulesen und endlich mit dem Comment anzufangen. Und das obwohl ich abends wirklich gelitten habe wegen fehlendem Lesestoff. *drop* Andere Bücher lese ich ja zur Zeit nicht, denn wenn sie langweilig sind, macht's eh' keinen Sinn, sie zu lesen, und wenn nicht, dann will ich das Buch womöglich vor Equinox fertig lesen - und jetzt ist Equinox dran. Und wenn ich unbedingt etwas vor dem Einschlafen lesen will, muss ich eben den Comment schreiben, dann habe ich wieder etwas wirklich Schönes zum Lesen. ^_^
Und in nächster Zeit sollte ich wirklich, wirklich, wirklich nicht mehr "sparen" müssen, weil ich zumindest gerade noch genug Zeit haben sollte für die Comments und so immer weiterlesen kann. *hoff*

Aber wie auch immer, ich sollte mit dem eigentlichen Comment anfangen. ^^; Aaaaalso, was mir schon am Anfang des Kapitels auffiel, ist die Tatsache, dass ich Rayos anfängliches Auftreten wohl ganz vergessen haben muss. Der arme Shinya tut einem wirklich leid in dem Moment, in dem er denkt, dass "er immer wieder mit dem [...] doch etwas schwierigeren Teil der Estrella beglückt" wird. ^^; Ich meine, Ok, am Anfang hat er Hoshi getroffen (oder eigentlich ist "treffen" ja auch nicht ganz richtig - eher.. "finden"? "Getroffen" hat er ja ganz am Anfang Will, wenn man von Phil absieht ^^; aber du weißt, was ich meine) und scheint darüber soweit glücklich zu sein. Aber dann - der Eisberg Noctan, der immer an allem, was Shinya (oder im Grunde auch jemand anders) macht, etwas zu Meckern findet, dann Misty, die Shinya wohl für ein nerviges Kind hält, das noch zu klein ist für ihre Aufgabe und von daher keine große Hilfe sein kann, und jetzt auch noch Rayo, der sich aufgrund seiner Herkunft für den Anführer zu halten scheint. ^^;;
Wer kommt dagegen alles mit Phil mit? Will und Tierra - alles Menschen, die Shinya am liebsten gleich bei der jeweils ersten Begegnung mitgenommen hätte. Ok, zu dem Zeitpunkt wohl auch Tempest, aber davon weiß Shinya ja noch nichts. ^^;; Kurz gesagt: Abgesehen von Hoshi und von Phil selbst gehen alle Estrella, die Shinya sympathisch findet, zu Phil, und alle, die er nicht leiden kann auf seine eigene Seite. Wie gesagt, irgendwie tut er da einem doch wirklich leid.
Was ich auch witzig fand, ist, dass Shinya, als er hört, dass Rayo der Estrella ist, den sie suchen, darauf genauso reagiert hat wie auch bei Noctan, und zwar jeweils mit einem "Nee, oder?!" (Ok, in Rayos Fall ohne das Ausrufezeichen, aber so kleinlich will ich ja nicht sein ^^;;;;) Jaaaa, dieses "Also... du... danke, aber dich kann Phil haben!" kann zwar nichts schlagen, aber ich finde einfach den Vergleich lustig. ^^; Und auch dass er beide erst mal mit Phil vergleicht. Der eine wie Phil und soll mit ihm am Feuer sitzen und um die Wette fies grinsen, der andere sogar noch schlimmer als Phil, was das fiese Grinsen angeht. ^^;;; Naja, alles Vergleiche, die man anstellen kann, wenn man weiß, wie es weitergeht, die man nur dann witzig findet. Eben der Effekt des zweiten Durchlesens - ich hatte ja nicht umsonst noch vor, Equinox noch mal durchzulesen sobald es fertiggeschrieben ist, als ich noch nicht wusste, dass es überarbeitet werden soll. Ebenso muss ich zur Zeit jedes mal grinsen, wenn Noctan irgendwas zu Rayo sagt. ^^;

Ach ja, und zum Thema Noctan... innerhalb des Themas Noctan und Rayo.... ich hätte wirklich nicht gedacht, überhaupt nicht gedacht, dass ich das noch schreiben würde, aber.... ich möchte gerade alles zurücknehmen, was ich Negatives über Noctan in "One Night Only" geschrieben habe. (*drop* Und das "gerade" muss doch da rein - na ja, bis ich mir ganz sicher bin, muss ich Equinox und auch diese kurze Geschichte noch mal durchlesen, aber jetzt, beim fünften Kapitel, denke ich so.) Noctan ist ein Eisberg, der zu allem, was er hört oder auch sonst anders wahrnimmt, etwas Sarkastisches sagt. Und das passt zu ihm.
Ich weiß nicht, wie mich das stören konnte - irgendwie musste ich sehr vieles vergessen haben, was ich über Noctan gedacht habe, als ich Equinox zum ersten mal las. Ich hatte wohl wirklich - wie auch schon geschrieben - sein erstes Auftreten im Kopf, und dann... und dann was eigentlich? Naja, die Szene im Wald, und dann dieses "Oh Gott, wer denn jetzt? Bitte nicht Noctan!" Ach ja, und dazwischen noch die Szene am Meer.... und dann das letzte Kapitel. (Я das "letzte" schreibe ich da? ^^; so was, dabei hab ich das vorletzte gemeint. ... ... na ja... für Noctan wohl das letzte -.-) Irgendwie ist Noctan da viel offener - er sagt da ab und zu doch tatsächlich Sachen, die er wirklich denkt, auch gut gemeinte Sachen. Nicht sehr oft, aber immerhin. Naja, und dann dein Die-Charas-werden-geändert, und dann ein Noctan, der mir wohl angesichts der letzten Kapitel übertrieben "noctanisch" erscheint und so weiter.... das hatten wir ja alles schon. Aber jetzt merke ich immer mehr, dass Noctan wirklich so ist. Oder.. na ja, vielleicht war er ja nicht ganz so im alten Equinox? Du hast ja nicht umsonst vom Charas-Ändern gesprochen. Aber irgendwie hast du's am Ende so.... richtig gemacht, dass es gar nicht mal auffällt. Sein erstes Auftreten ist so wie es ... eigentlich war, so wie es sein muss, sein ständiges Genervt-Sein, und dann kommt auch noch Misty dazu, und dann ist er einfach weiterhin immer so genervt und sarkastisch wie am Anfang.... es passt. Und es muss so sein. Das ist Noctan, wie ... Noctan eben ist. Waren bei der alten Version tatsächlich Fehler dabei, sind sie mir damals nicht aufgefallen, vielleicht weil ich da nicht wusste, wie es weitergeht, wie die Charas sich entwickeln, weil das eben die erste und einzige Equinox-Fassung war, die ich da kannte - aber jetzt sind sie wohl verbessert, und das offensichtlich zurecht, denn es fällt mir nicht auf. Ich bin zwar überrascht über meine Vorstellung des ein oder anderen Charakters, aber sie sind alle so, wie sie sein sollen - und irgendwie, wie auch immer das funktionieren soll, genauso wie beim Durchlesen damals. Ich hoffe, man versteht zumindest mehr oder weniger, was ich sagen will. >_<;;

Und irgendwie ist es... komisch und.... vielleicht süß?... wenn sie dann alle weggehen und Noctan weiterredet, dass es die Insel (mit der Prüfung) vielleicht gar nicht gibt und so weiter und blablabla.... ^.^ Da versteht man auch wieder, was die Komik an Noctans Eisberg-Dasein ist.

Ach ja, und der uns gut bekannte Fehler der alten Version (Und es spielt gerade so eine ... mir fällt das Adjektiv nicht ein.. mehr oder weniger "Tadaaaaaa!"-Musik im Hintergrund. ^^;;) - Noctans Schwert. ^_^ Als es dir aufgefallen ist, wolltest du ihn ja das Schwert auf dem Schiff nach Hoshiyama abgeben lassen, soweit ich das in Erinnerung habe. Da war ich jedoch so auf Tempests Auftauchen konzentriert, dass ich ganz vergessen habe, mich zu wundern, dass er's wieder nicht tut. Und jetzt aber. ^^ (Waaah, ich kann mich nicht konzentrieren! Ich habe gerade so komische Sätze im Kopf wie: "Diesmal beim Lesen: Aha! Stimmt ja, da war doch was!" - ok, oder habe ich's doch inzwischen etwas besser ausformuliert? *drop* Auf jeden Fall ist das kein akzeptabler Satz. Tía, wach wieder auf, sonst wird der Comment ganz unverständlich. -.-)

Ach ja, zum Thema Hoshiyama. Ich möchte wissen, wo es eigentlich genau liegt. Und wenn ich das frage... lieber gleich alle Equinox-Orte. ^__^ Kannst du mir vielleicht mal eine Youma-Karte skizzieren, wo alle wichtigen Equinox-Stationen markiert sind? *gaaaaanz lieb guck* Miaaaau? ^^;;;; Naja, oder eine Youma-Karte, und ich nerve dich dann jedes Mal, wenn ein neuer Ort in der Geschichte auftaucht. Ich möchte auf jeden Fall diesmal das ganze vor Augen haben, auch aus der Weltkarten-Sicht. Das habe ich mir schon mal beim ersten Durchlesen gedacht, vor allem an der einen Stelle, wo die Dunklen im Eis waren und die Hellen in der Wüste (das war doch so, oder?), durchreisen also ganz unterschiedliche Teile der Welt, fahren aber am Ende alle zu dieser einen Insel. Hach, die Vorstellung ist toll, die möchte ich gern genauer im Kopf haben. =^______^=

Und dann, auch an dieser Schwert-Abgeb-Stelle fand ich's auch toll, wie Shinya die Geduld geplatzt ist - ich mag Noctan, auch dafür, dass er so ein Eisberg ist, aber er muss doch als Mitreisender einfach unmöglich sein. Jemand muss ihn mal auch darauf hinweisen. ^-^ (Hier irgendwie ... Gedanken, als würde ich's zum ersten mal lesen. *mir jetzt beim Schreiben erst auffällt* O_O)
Und was hat unser liebe Noctan darauf zu erwidern, nachdem die anderen auch noch essen gehen und ihm die offene Wahl lassen, ob er überhaupt noch mitkommen will? Er rollt mit den Augen und kommt dann mit. ^^;;; Wenn er schon nichts sagen kann nachdem er so runterargumentiert wurde, dann rollt er immer noch zumindest mit den Augen. ^-^;; Könnte ihn auch nur irgendetwas an diesem Punkt der Geschichte besser charakterisieren?

Und wieder zurück zu Rayo. Seine Selbstsicherheit und Arroganz hatte ich wohl doch nicht so ganz umsonst vergessen - sie fängt ja noch im gleichen Kapitel an, abzunehmen. Sobald er von Zuhause, wo ihn wohl jeder Schritt und jeder Blick eines jeden Menschen um ihn herum an seine Position und die damit verbundenen Pflichten erinnert haben, weg ist und dazu auch noch ständig von Noctan kritisiert wird, wobei Shinya es auch ein paar Mal betont, dass er hier der Anführer ist - ach ja, und dann noch ein gegnerischer Phil, der etwas besser wusste als er selbst.... fangen bald die "..., oder?"-Sätze an. ^^

So. Hier (oder eigentlich sogar ein bisschen früher) hören meine Notizen auf. Jetzt wird's also RICHTIG chaotisch und ich entschuldige mich einfach mal im Voraus. ^^;

Es hat mich gewundert, dass sie tagsüber beschließen, zu der Insel zu rudern. Ich hatte diese Hoshi-Rett-Aktion noch mehr oder weniger vor Augen und wusste genau, dass diese nachts stattfand. (Das Bild enthielt nämlich bläuliche Dunkelheit im Hintergrund. ^^;) Und dann dachte ich: "Aha, sie beschließen es tagsüber..... na, dann werden sie wohl kaum nachts aufbrechen, ich muss da diese Nacht irgendwie selbst reininterpretiert haben". Naja, und dann hat es mich eben gewundert, dass sie's doch tun. ^^; Aber das ist auch etwas, was mir nicht aufgefallen wäre, wenn nicht dieser lange, durch das wiederholte Durchlesen und das Einiges-vergessen-haben-nach-der-langen-Pause bedingte Gedankengang da wäre. Und sie werden wohl schon ihre Gründe haben, nachts aufzubrechen. ^^;

Die Szene mit Shinya und Hoshi, die dann von Misty gestört wird... sie war auch schon in der alten Version da, oder? Zumindest hatte ich sie zwar nicht in Erinnerung, beim Lesen kam sie mir aber irgendwie bekannt vor. Und irgendwie... kam mir das Lesen dieser kurzen Szene so lang vor, na ja, klingt irgendwie unsinnig, aber ich habe sie uhrzeitlich gesehen ziemlich schnell durchgelesen und hatte dann da Gefühl, sie schon mindestens eine halbe Stunde lang gelesen zu haben. ^^; *seufz* Ich weiß nicht, ob das nicht doch irgendwie reininterpretiert ist, aber Misty zerstört da für die beiden einen wirklich schönen Augenblick. *drop*

An den Sturm hatte ich mich nicht mehr erinnert... ich wusste nur noch, dass Hoshi irgendwann plötzlich - warum auch immer - im Wasser war und von Shinya gerettet wurde.
Und hat Misty nach dieser Rettung in der alten Version nicht noch was von einer Mund-zu-Mund-Beatmung gesprochen? Naja, wie auch immer, hier ist ja Shinya gleich umgekippt. ^_^;;
Aber.. wie lange fahren sie eigentlich zu dieser Insel? Ok, blöde Frage, eine Nacht. Hach, ich will aber wirklich so eine Youma-Karte haben. >.<

Was interessant ist, jetzt, wenn ich Shinyas... Gespräche mit dieser Stimme lese, stelle ich mir eine weibliche Stimme vor. ^^; Warum wohl? Früher.... hatte sie überhaupt am Anfang ein Geschlecht? Aber entweder gar nicht oder sie war männlich, so viel steht fest. Aber diese kleine Gedankenirreführung ist hier nicht mehr wieder herzustellen, nachdem ich etwas mehr über die Stimme weiß. ^_^ (Ach je, ich hoffe, das alles liest wirklich niemand, der die Geschichte nicht kennt. Aber im Endeffekt, wie schon mal geschrieben, wer würde das hier denn lesen, ohne uns zu kennen? Also, ich würde mir so etwas mit Sicherheit nicht antun. ^^;)
Wer Shinya aufweckt, wusste ich auch nicht mehr und war sehr glücklich darüber, dass es Phil war - der einzige Charakter in der Geschichte, den zu mögen es einem wirklich schwer fällt. Alles andere wäre gemein. Die Visionen sind einfach viel zu wichtig.
Hach, und es ist doch wirklich interessant, wie sie da im Dunkeln herumtapsen und nicht wissen, wohin. Ich meine jetzt nicht die Höhle, sondern allgemein ihre Aufgabe. Sie wissen überhaupt, überhaupt, überhaupt nicht, was sie tun müssen. Und obwohl ich jedoch schon von so vielem weiß, was ihnen noch passieren wird.... fühle ich mich eigentlich nicht viel besser als sie, denn was sie eigentlich, im Endeffekt machen müssen, was ihr Ziel ist, für das sie die ganzen Prüfungen bestehen müssen und für das sie auch die Waffen brauchen.... weiß ich ja nicht besser als sie selbst. *drop*

Weiter auf der Insel. Irgendwie hat es mich überrascht - ich glaube, auch genauso wie beim ersten Lesen - wie sie alle dastehen und darüber plaudern, was sie jetzt auf der Insel machen sollen, über die zwei Höhlen und über die Aufschriften... die Dunklen und die Hellen. Natürlich nicht ohne die ganze Zeit zu streiten, aber was gesagt wird, hören alle - dabei wollte Phil Shinya bei ihrer letzten Begegnung doch töten. Aber am Ende geht ja Shinya mit "seinen" Estrella doch weg, was ich an seiner Stelle wohl auch längst gemacht hätte. ^^;
Hmm.... aber was mir jetzt gerade erst auffällt... vielleicht besprechen sie ja da mehr zusammen als sie's getan hätten, wenn... Cascada nicht da gewesen wäre. Sie sind ja alle daran interessiert, dass auch sie von ihren weiteren Plänen erfährt. Aber es ist doch sehr richtig von Shinya, meiner Meinung nach, von seiner Vision nicht vor den Hellen zu erzählen.
Ok, ich weiß inzwischen auch, dass es auf der Insel im Endeffekt keinen so großen Unterschied macht, welche Höhle man nun wählt. (Das war doch so, oder?) Aber die Estrella wissen es ja hier noch nicht - die Entscheidung könnte alles weitere beeinflussen.

Ach ja, und Cascada. Ich muss zugeben... ihre Beschreibung... die Kleidung, die sie trägt ist zwar bestimmt wunderschön, aber irgendwie... stelle ich sie mir etwas zu bunt vor. Wie ein AnimagiC-Cosplayer mitten in Koblenz im Winter. Oder nein, im Winter würde er womöglich noch einen normalen Mantel tragen, also... im Sommer 2006. Aber soviel ich verstanden habe, ist das auch beabsichtigt, und dann ist es dein gutes Recht, sie so zu beschreiben. ^_^
Versteh mich nicht falsch (wobei ich dich hier vielleicht falsch verstanden habe, das kann schon sein), ich trage ja auch selbst gern auffällige Kleidung, auch wenn nicht gerade eine Convention stattfindet. Aber diese Kleidung stelle ich von der Beschreibung her etwas... zu künstlich vor - alles glänzt und schimmert. Von daher der Cosplay-Vergleich, weil die Con-Besucher ja oft auch eher unnatürliche Farben tragen, die genau wie im Anime grellbunt sind. Und in meinem Kimono zum Beispiel laufe ich ja auch nicht im Alltag durch die Straßen. *drop* Ich rede mich schon wieder noch schlimmer herein. Grellbunt ist ihre Kleidung ja auch nicht, die Farben sind schön. Aber glänzend und schimmernd und... schön, aber bunt. ^^; Ich hoffe, man versteht, was ich meine. Und ich hoffe, das ist wirklich das, was beabsichtigt war. Es wird ja immer wieder dazugeschrieben, wie unnatürlich sie aussieht - und ja, das tut sie, also passt es. *drop*

Etwas anderes zum Thema Cascada. Ich habe eigentlich vor kurzem während dem Final Fantasy - Spielen darüber nachgedacht. Cascada fährt zu der Insel, um Estrella zu suchen, und alle anderen (ja, stimmt ja, jetzt sogar wirklich ALLE anderen ^^;) Estrella fahren auch dahin - zum gleichen Zeitpunkt. Ok... hier heißt es, Shinya zieht alle Estrella an. (Und Phil vermutlich auch.) Bei Final Fantasy habe ich irgendwo ganz am Anfang des Spiels, in diesem Shinra-Gebäude, auch gedacht: na so was, gerade dann, wenn die Rebellen dahin gehen, taucht "plötzlich" Sephiroth auf und tötet den alten Präsindenten. In Büchern, Filmen und Spielen kommen solche "Zufälle" immer wieder vor, ob das auch im Leben so wahrscheinlich ist? Und dann dachte ich, dass es eigentlich schon möglich ist. Ich möchte es nicht als "Schicksal" bezeichnen - davon halte ich genauso wenig wie du.. und wie meine Eltern, die es mir wohl ausgeredet haben ^^;, auch wenn ich das Wort wohl etwas öfter als du benutze, einfach weil ich nicht jedem einzelnen Menschen erklären möchte, wie ich die Welt sehe und "Schicksal" doch ein verbreiteter Ausdruck ist, den zumindest alle verstehen - aber es ist doch so, dass Gedanken und dann doch erst recht Handlungen die Welt manchmal mehr beeinlussen als man denkt. Wenn man anfängt etwas zu machen, bewegt sich etwas, und es fängt an zu funktionieren. Und andere, die das auch mal machen wollten, fangen's auch an, sogar wenn es ihnen nicht bewusst ist, dass andere gerade auch damit anfangen. Es hat nicht sooo viel mit Equinox zu tun, eher mit Geschichten allgemein. Aber im Endeffekt ist es dasselbe, wie die Tatsache, dass Shinya und Phil Estrella anziehen - sie müssen nur auf die Suche gehen, und die Estrella gehen genau zu den Zeitpunkten zu den Orten, die sie besuchen wollten, wenn die zwei Estrella-Anführer dort sind. Cascada kennt die Legende ja nicht von den zweien und hätte genauso gut eine Woche früher oder später hinfahren können, und doch fährt sie genau da - meiner Meinung nach fühlt sie da unbewusst, dass sie jetzt hinfahren muss. Nicht weil es so vorbestimmt ist, sondern weil sie den Wunsch und die Motivation hat, die anderen Estrella zu finden - und so findet sie sie dort tatsächlich an dem Tag, an dem sie auch dort sind. Und alles führt sich wohl wieder auf das "Wünsche erfüllen sich"-Thema zurück. Und ich stelle fest, es gibt doch Gespräche, die ich lieber nicht schreibe sondern ausspreche. ^^;; Das Thema hier ist irgendwie nur in meine Worte nicht zu greifen, da brauche ich deine Antworten, um es zusammen zu finden und beschreiben zu können. ^^;; Oder so. Aber da fällt mir auch ein, zum Thema "Wünsche erfüllen sich" und "Man sollte vorsichtig mit den Wünschen sein"....... allerdings möchte ich das doch lieber so sagen. ^-^ Werde ich auch machen, wenn wir uns nächstes mal sehen/hören.

Naja, aber wieder zu Equinox zurück.... wobei es hier nicht mehr soooo viel zu schreiben gibt. Hieß das Kapitel nicht früher Wink des Shicksals? Naja, aber sollte es so sein, weiß ich wohl, warum du's verändert hast. Und - auch sollte es überhaupt wirklich so sein - ich finde hier gut, dass die negative Überraschung nun weg ist. Ich meine, die Kapitel davor haben alle schöne Namen, die die Charaktere weiterbringen, und hier erwartet man auch so etwas und stellt dann beim Lesen plötzlich fest: "A-ha. Diesmal ist es also ein Schritt zurück". Naja, zumindest für die Hauptcharaktere, also für die Dunklen. Für die "Guten", denen man eher Erfolg wünscht. ^^;;;
Dann weiß ich noch, wie ich letztes mal schon bei Cascadas Zuteilung Böses ahnte: Es sind insgesamt 10. Jetzt sind es schon 5 Dunkle und 4 Helle - es ist logisch, dass Cascada zu Phil geht, und zuerst sieht es ja auch so aus, und dann eher Verwirrtheit als positives Überrascht-Sein - wie jetzt, 6 und 4? Ich würd's ja verstehen, wenn Phil 6 und Shinya 4 hätte, aber so? ^^;;; Irgendwie erwartet man doch immer, dass die... die "Guten" eben in einer Geschichte es auch am schlechtesten haben. *drop* Aber wer will auch etwas über einen Hauptcharakter lesen, dem alles von selbst gelingt? Man muss schon etwas für den Erfolg tun (ob dieser am Ende gelingt oder nicht - oder auch etwas ganz anderes am Ende der Geschichte passiert), und um etwas tun zu können, braucht man eben Schwierigkeiten, die man überwinden kann. (Hach, Mama hat mir vor kurzem eine tolle russischsprachige Kettenmail zu dem Thema vorgelesen.. die muss ich euch mal bei Gelegenheit erzählen. ^-^ Aber ich bin wieder dabei, abzuschweifen. ^.^;;)
Naja, und dann ist es irgendwie doch nur richtig, wie es sich verteilt.

So, und hier bin ich auch schon am Ende des Comments angekommen. Er ist etwas kürzer geworden als die letzten (wobei eigentlich wiederum länger als ich es diesmal erwartet hätte) - ich fange gerade die 6. Word-Seite an. ^^; Aber erstens hatte ich meine Notizen nicht, zweitens habe ich in den vorangegangenen Kapiteln schon so viel zum Vergleich altes Equinox - neues Equinox, alter Charakteraufbau - neuer Charakteraufbau... geschrieben, dass ich mich hier noch tausendmal wiederholen könnte, was ich nicht machen will. ^^;

Ich habe ein paar Schreibfehler markiert, aber die zeige ich dir lieber, es ist etwas nervig, die Stelle immer zu beschreiben. Ich denke, ich werde auch mal die vorangehenden Kapitel noch mal überfliegen um die Fehler, die mir beim letzten Lesen aufgefallen sind, die ich jedoch nicht erwähnt habe (ehrlich gesagt habe ich mich nicht getraut ^^;;;;;; Ich dachte, du bist vielleicht so genervt von dem ständigen Durchlesen und Korrigieren, dass du vielleicht nichts mehr davon hören willst), auch zu markieren.

Tja, sonst...
Ich hoffe, dass wir uns bald wieder alle in unserer Katzen-WG sehen und freue mich schon sehr darauf. Ab und zu war ich zwar zusammen mit Dai-chan da, aber zu den schönen romantischen Abenden in meiner Gruft gehören einfach nun mal drei, und so haben wir dich sehr vermisst, miiiaaaaaau.

Ek han Pilt, mata bald und ich lese auf jeden Fall und sehr gern weiter,
der Kater =^.^=

PS: Ich hab den Comment in Word geschrieben... und dann geh ich zu animexx und hier steht mir so ein kleines Fenster zur Verfügung. ^^;;;; Irgendwie finde ich das jetzt doch lustig, nachdem sich der Text über den ganzen Bildschirm erstreckte.
Von:  TiaChan
2006-03-02T16:36:43+00:00 02.03.2006 17:36
Endlich komme ich dazu, Kapitel 4 zu kommentieren. (Dann kann ich 5 lesen! *freu* ^___^)
Eigentlich hatte ich vor, den Comment jetzt am Wochenende in Nürtingen zu schreiben und hochzuladen, aber da habe ich meinen Schreibblock mit den ganzen Notizen vergessen. -.- Deswegen jetzt in Tübingen.
Dieses Kapitel habe ich zu lesen angefangen, nachdem am 9. Februar die Kommis zu 2 und 3 abgeschickt worden waren, nachdem also eigentlich keine Eile oder so bestand, das Kapitel zu lesen. Wobei ich zwar vor deinem Geburtstag versucht habe, mir ein bisschen mehr Zeit für's Equinox-Lesen zu nehmen als sonst, aber, ehrlich gesagt, das hat nicht wirklich funktioniert. Abgesehen vielleicht von den letzten paar Minuten (als ich die Kommis abschicken wollte, hatte ich noch 2-3 Seiten des 3. Kapitels zu lesen - das war auch lustig, da sitze ich im Lesesaal der Universitätsbibliothek und lese an diesem... Lernort von allen gedruckten und ungedruckten Büchern der Welt ausgerechnet "Equinox"! ^.^;), habe ich eben nur dann lesen können wenn ich Zeit hatte, weil die Prüfungen immer näher rückten und auch nicht vergessen werden durften. Und wenn ich Zeit habe, lese ich das sehr gern - ob bald dein Geburtstag kommt, an dem ich "Geschenk"-Überraschungskommis abschicken möchte oder nicht. Und trotzdem - am Abend des 9. Februar war das irgendwie .. noch mal deutlicher. Da war das Geburtstagsgeschenk schon fertig, ich kam müde nach Hause, hab mit Dai-chan zusammen gegessen, und beim Überlegen, was ich noch vor dem Einschlafen machen könnte, um nicht mehr an den Stress des Tages denken zu müssen und so besser einschlafen zu können (und der Tag war stressig gewesen - aber das hat ja auch Dai-chan schon erzählt - einfach weil ich erst so spät nach Hause konnte, während sie doch hier mit dem Essen gewartet hat... FF-Kommentare schreiben nimmt viel Zeit *seufz*), fiel mir nur Equinox-Lesen ein. Also Equinox-Lesen um mich von dem Stress abzulenken, der durch Equinox-Lesen und -Kommentieren entstanden war. ^^ Das zeigt doch noch mal, wie sehr ich dieses Equinox-Lesen mag. ^__^
An dem Abend habe ich mir auch überlegt, wie alltäglich und richtig es mir doch erscheint, dass ich da sitze und eine Geschichte lese, deren Hauptcharakter Shinya heißt. Es ist doch eigentlich schon soooo viel Zeit vergangen, seit ich das 20. Kapitel gelesen habe, seit diesem jedes mal fieberhaften Warten auf das nächste Kapitel und dann am besten gleich in der Schule Lesen.... und jetzt, Jahre später, drucke ich eines Tages die neue Version aus und lese es ganz normal, als wäre diese Zeit gar nicht da gewesen. *drop* Ich habe schon wieder das Gefühl, Unsinn zu schreiben. ^^; Aber ich finde, es ist so ein seltsames Gefühl, wenn ich etwas (oder auch jemanden) sehr lange nicht gesehen habe und es dann eines Tages wieder sehe und dabei irgendwann plötzlich feststelle, dass es mir so absolut alltäglich erscheint. ^^;
Jedenfalls sitze ich jetzt da und lese diese Geschichte mit Shinya als Hauptcharakter, fange absichtlich keine anderen Bücher oder Mangas an, um mich nicht abzulenken und den Verlauf der Geschichte ungestört mitverfolgen zu können, ohne etwas wichtiges wieder zu vergessen. Auf das nächste Kapitel muss ich zwar jetzt nicht mehr Monate lang warten, da ich sie jetzt alle auf dem Computer hab und mir zuerst die ersten drei zu Hause und dann noch vier in der UB ausgedruckt habe, aber zwischen den Kapiteln muss ich die Comments schreiben (was leider vom Lernen gestört wird -.-), um erstens meine vielen Gedanken loszuwerden, die mir beim Lesen durch den Kopf gehen und zweitens, um dir noch irgendwie für diese tolle Geschichte zu danken. Und solange ich ein bereits gelesenes Kapitel nicht kommentiert habe, möchte ich nicht das nächste Kapitel zu lesen anfangen, weil sich meine Gedanken dann vermischen und vielleicht verändern und ich dann nicht mehr genau weiß, was ich bei dem einen Kapitel gedacht habe und was erst später dazukam. *drop*

Oh, übrigens... was ist eigentlich so schlimm daran, wenn du einen "Comment zum Comment" schreibst? ^^; Werden nicht auch interessante Leserbriefe von Schriftstellern beantwortet? Das soll ja öfter auch dann vorkommen, wenn der Schriftsteller den Leser nicht einmal kennt, während wir uns kennen und uns von daher erst recht noch mehr zu sagen haben. ^-^
(Oh, und die Sachen, die nach Fragen klingen, sind meist tatsächlich Fragen, wenn auch nicht immer ein Fragezeichen dahintersteht. ^^;)

Und ich denke, ich verstehe sehr gut, was du meinst, wenn du von der Etwicklung der Charas schreibst/sprichst. Meine Gedanken über Noctan... kamen mir teilweise spätestens beim Kommi-Schreiben selbst lächerlich vor, aber man steigert sich schon mal in solche Gedanken rein, wenn man jahrelang darüber nachdenken kann. ^^;; (Außerdem.. ok, es gibt einige Gedanken, die man zwar ernsthaft denkt, die einem dann aber beim Kommi-Schreiben lächerlich vorkommen. *drop*) Aber ich sehe ja auch an den anderen Charakteren, wie du sie eigentlich ändern wolltest - und jetzt auch geändert hast. Über Will habe ich ja schon viel geschrieben - ich bin diesmal sooooo begeistert von ihm! Bei der alten Version war diese Begeisterung nicht da, jedenfalls nicht in so einem Ausmaß, aber bei der neuen ist seine ganze Beschreibung plötzlich so toll und die Art, wie er redet.... *schwärm*

Bei Noctan musste ich meine eigenen störenden Gedanken loswerden, um seine Beschreibung und (vor allem ^^;) seine Sprechart genauso genießen zu können, aber es scheint mir gelungen zu sein. Was mir jetzt, bei Kapitel 4 sogar aufgefallen ist.... das ist wirklich irgendwie.. faszinierend. Aber kompliziert zu beschreiben. *drop*
*vor dem Bildschirm sitz und genau weiß was ich schreiben will, nur nicht wie*
*noch mal drop*
Naja, wenn man nicht weiß, wie man etwas sagen / schreiben / erzählen / erklären soll, sollte man, finde ich, meistens alles von Anfang an, in chronologischer Reihenfolge erzählen. ^^;;;;
Aaaalso... das "alte" Equinox. Ist schon ziemlich lange her. Und, wie es aussieht (was aber auch logisch ist), erinnere ich mich nicht mehr an jeden Gedanken, den ich damals beim Lesen dachte. Die Charaktere haben sich in der Geschichte entwickelt... und somit auch ihr Bild in den Köpfen der Leser. Ich meine gerade... eigentlich nicht ganz das, was du meinst, wenn du sagst, du musst die Charaktere im "neuen" Equinox teilweise anders beschreiben. Dass sie früher teilweise out-of-character geredet haben oder so. Das ist bestimmt auch der Fall, und, wie schon oben geschrieben, die neuen Beschreibungen und ihre neuen Redeweisen müssen sie wohl wirklich besser beschreiben, denn sie zeigen den Charakter dem Leser gleich viel detaillierter und... lebendiger. Von daher gebe ich dir in diesem Punkt (inzwischen ^-^ wie du weißt) recht. Aber sie haben sich im Verlauf der Geschichte auch anders verändert. Diese Veränderung - ich weiß nicht einmal, ob sie von dir so beabsichtigt war. Einerseits ist sie davon beeinflusst, dass sich die Charaktere im Verlauf der Geschichte, mit den für sie neuen Erlebnissen verändern, wie richtige Menschen auch. So wie die Veränderung von Shinya, von der du so oft sprichst (und zu der ich in diesem Kommi hier auch noch etwas schreiben möchte, aber etwas später ^^). Aber das ist wieder eine andere, zu hundert Prozent von dir beabsichtigte Veränderung. Wie gesagt, die Veränderung, von der ich spreche, wird von dieser auch nur mitbeeinflusst. (Oje, jetzt sind da schon drei verschiedene Veränderungen. O_O *drop* Ich hoffe, man kann meinem Gedankengang überhaupt noch folgen.) Das, was ich meine, ist unter anderem (und ich habe unserer Mitbewohnerin, meiner Kommilitonin und der neuen Equinox-Leserin nicht umsonst gesagt, sie soll meine Comments nicht lesen, weil ich wusste, dass ich vorgreifen würde - ich denke, Leute, die dich gar nicht kennen, werden gar nicht erst auf den Gedanken kommen, unsere Kommentar-Giganten zu lesen, und das ist auch gut so ^^;).. ist unter anderem das, was einem Leser den ersten Eindruck von jeweils Noctan und Rayo und vielleicht auch sonst von der Geschichte kaputt machen kann, wenn man von Anfang an weiß, dass die zwei zusammenkommen sollen... oder so ähnlich. Wenn man die Zukunft .. oder eigentlich auch die Vergangenheit des Charakters erfährt, dann ergänzt und verändert sich das Bild von ihm, das man im Kopf hat. Und diese Veränderung meine ich. Als ich das "alte" Equinox gelesen habe, hat vermutlich jeder der Charaktere so eine Entwicklung in meinem Kopf durchgemacht, und nun kann ich mich nicht mehr an alle Phasen dieser Entwicklung erinnern.
Zurück zu Noctan: Ich habe mich wohl zu gut an meinen allerersten Eindruck von ihm erinnert, dann ist in der Geschichte jedoch da dies passiert, und dort jenes, und dann kam Rayo dazu, und überhaupt, und das 7. Kapitel, und dann noch 20. Kapitel, und "One Night Only", und sowieso... und die vielen Bilder, die du gezeichnet hast! Die haben bei der Veränderung auch mitgemacht, weil ich ihn mir ganz am Anfang noch mal ein bisschen anders vorgestellt habe. (Was auch nur logisch ist - dank der Beschreibung hatte ich zwar fast das richtige Bild im Kopf, aber eben doch nur fast, weil ich ja, trotz der Beschreibung, nicht exakt deine Gedanken lesen kann. Um das endgültig richtige Bild zu vermitteln, braucht man eben eher Bleistifte und Copics und keinen Text.)
[Ergänzung nach Secret of Mana-Spielen: Naja, und dann war da noch dieses Nicht-Übereinstimmen mit den Haaren im Text und auf Bildern..... aber das haben wir ja inzwischen auch zudritt geklärt. ^-^;;]
So hatte ich also das allererste Bild noch sehr gut im Kopf, das letzte selbstverständlich sowieso, und vielleicht noch ein paar Phasen, die dazwischen waren... aber, wie ich jetzt festgestellt habe, bei weitem nicht alle. Das, was direkt dem ersten Bild folgte, war weg. Und... wie kann ich das jetzt feststellen, wenn nicht indem ich diese ausgelassenen Bilder wieder sehe? ^__^
Nach diesem ewig langen und komplizierten "Du kennst Noctan nicht, du weißt nur, was da steht" sehe ich Noctan jetzt tatsächlich genauso wie damals. Jeder Satz, den er sagt und.... erst recht jeder Satz, den man ÜBER ihn sagt (vor allem Shinya - sagt oder denkt =^.^=) erinnert mich an damals, wie ich Noctan gesehen habe, als ich keine Zeichnung von ihm kannte, als es keinen Rayo gab, als er weder eine klare Zukunft noch eine klare Vergangenheit hatte. Ok, bei der Zeichnung... die habe ich wohl im Kopf behalten und die Beschreibung für mich noch mal an sie angepasst. Oder mit ihr verglichen. Aber auf jeden Fall mir dabei eingeredet, diese Beschreibung sei das einzige, was ich über ihn weiß. ...

[Und juhuuu, jetzt sind auch die Haare... "richtig" ^^;; sprich: so wie ich sie mir vorgestellt hab, bevor ich deine Zeichnungen kannte, die mich in diesem Punkt wohl damals noch sehr verwirrt haben. ^^;;; *drop* Hättest du die Bilder so gelassen und das im Text verändert, hätte mich das gestört. Die Änderung wäre mir zu groß gewesen. ^^; Weil ich zwar nicht mehr wusste, dass das mit den Haaren so im Text stand, aber noch sehr gut wusste, dass es mich damals auf den Bildern überrascht hat. Deswegen würde es mich stören, wenn der Text an der Stelle verändert werden sollte. Aber so wie es jetzt ist, ist alles gut - finde ich jedenfalls. ^_^]

... Es ist wirklich... ich weiß nicht... interessant. Oder wie ich oben geschrieben habe, faszinierend. Irgendwie ist da doch auch eine Ironie dabei - da beschwere ich mich (mehr oder weniger ^.^;) in einem Comment darüber, dass ich ihn nicht noch mal ganz neu treffen kann, und tadaaa! - stelle am gleichen Abend noch fest, dass ich ihn doch wieder zum ersten mal getroffen habe. ^^;;;; (*drop* Getroffen, gelesen... keine Ahnung, welches Verb hier eigentlich das richtige wäre.) Vielleicht nicht direkt zu dem Moment, in dem er erstmals in der Geschichte auftaucht, da war ich wohl mit anderen Gedanken, von denen du ja auch seit dem letzten Comment weißt, beschäftigt, aber etwas später hat's mich dann doch eingeholt, weil ich jetzt doch den ersten Eindruck im Kopf habe und obwohl ich eigentlich genau weiß, was noch alles passieren wird bis Kapitel 20, kann ich's alles gleichzeitig auch... nicht wissen. ^^; Bin ich jetzt schizophren? *drop* Naja, was ich auf jeden Fall nicht wissen kann, ist der genaue Wortlaut, mit dem die Ereignisse nun, in der neuen Version, beschrieben werden. Und da die einzelnen Worte teilweise wirklich sehr auf das daraufhin im Kopf entstehende Bild wirken, stimmt das ganze, dieses Wissen-und-gleichzeitig-nicht-wissen, irgendwie doch noch. ^^;

Was auch ziemlich interessant ist - nachdem ich mir dieses "Du kennst diesen Chara nicht" bei Noctan, dem Charakter, zu dem ich wirklich am meisten störende Gedanken im Kopf hatte, einreden konnte, kann ich mir das anscheinend auch bei anderen Charakteren einreden. So habe ich mir, während Shinya über den adligen Feuermagier Rayo de Fugio nachdachte, den sie suchen und irgendwie zum Mitkommen überreden müssen, einen alten, eingebildeten Adligen vorstellen können, der bestimmt auf Phils Seite geht, wenn er überhaupt bei diesem ganzen "kindischen Gestreite" irgendwie mitmachen will. *drop* ^^; Und dann konnte ich diesen Gedanken schon mal gleich mit Rayo vergleichen und darüber lachen.
Nein, diese Verdoppelung deiner für mich so wichtig gewordenen Geschichte macht mich noch wirklich schizophren. *Kopf schüttel und einfach mal weiter zum nächsten Thema wechsel*

Das hier habe ich auch schon mal so angesprochen (das Positive daran, dass ich die Kommis nicht bis zum Geburtstag verstecken muss, ist, dass ich die lautesten Gedanken auch so gleich aussprechen kann, noch bevor ich Zeit finde, den Comment zu schreiben [wie man jetzt bei den Haaren auch wieder gesehen hat ^-^] - und das geht hier in Tübingen auch noch so leicht ^_^), aber ich war bei dem vierten Kapitel diesmal überrascht, wie schnell die Geschichte oder genauer, das Estrella-Sammeln, vorangeht. Noch vor kurzem habe ich mir überlegt: "Der erste Auftritt von Will war so genial, und der von Noctan war auch so toll.... ich freue mich schon auf Tempest. Aber bis dahin dauert's wohl noch etwas...." - und bitte, im vierten Kapitel taucht er bereits zum ersten mal auf (wenn auch noch nicht mal sein Name erwähnt wird, aber das erste Bild von ihm, das im Kopf bleibt, ist ja diese Szene auf dem Schiff). Irgendwie hatte ich das alles langwieriger in Erinnerung... auch wenn ich genau weiß, dass ich das Treffen mit Tempest auf dem Schiff vom Computerbildschirm im Arbeitszimmer gelesen habe. Und dort habe ich doch eigentlich nur die ersten vier Kapitel von der Diskette gelesen. ^^; Und trotzdem war ich da überrascht.
Oder bei der Aufzählung der Dunklen... Da ist doch dieser Gedankengang von Shinya, kurz bevor das Schiff in Haída ankommt und sie einsteigen können. Wo er sich überlegt, dass dieser komische, uns erst mal gar nicht bekannte Adlige (<-- ich kann's eben doch nicht lassen, darüber zu grinsen ^-^;;) eigentlich keinen Grund hat, mit ihnen mitzukommen. Diese Aufzählung: Hoshi, das Dorfmädchen, Noctan, der Eisberg... und so weiter. (Natürlich in viel mehr Worten, die ich jetzt nur nicht hierher kopieren will, weil's sonst zu lang wird, die ich aber wieder mal so genial und lustig fand. =^__^= Hätte ich das auf einem Stuhl sitzend gelesen, wäre ich vielleicht sogar vor Lachen vom Stuhl runtergefallen, aber zum Glück las ich's auf meinem Bett, das mehr Platz hat als ein Stuhl. ^^;) An dieser Stelle habe ich zuerst eine Weile lang gelacht, dachte dann aber: "Warte mal... jetzt kommt noch Rayo dazu.. und dann?" Und da hab ich sie in der Aufzählung nachgezählt und festgestellt, dass es schon vier sind. Von fünf. Und bald kommt Rayo dazu, und noch im selben Kapitel treffen sie auf dem Schiff Tempest, und er ist schon der neunte von zehn. O_O
Naja, der Großteil der Geschichte spielt ja auch, nachdem alle Estrella aufgetaucht und verteilt sind, aber irgendwie war ich eben doch überrascht.

Tempest. Auf diese Szene auf dem Schiff habe ich mich ja gefreut, wie ich schon geschrieben habe. Und das nicht umsonst. ^^ *freu* Ich finde den so toll! Wie auch früher, finde ich's irgendwie.. einfach lustig, wie er redet. Und wie er das Pech hat, Shinya gerade dann zu begegnen, wenn seine Redeart so einen Kontrast zu Shinyas Stimmung ausmacht. ^^;;
Aber war letztes mal überhaupt dieser kleine Junge noch dabei - wer auch immer das sein mag? Naja, vielleicht war er gar nicht da, vielleicht habe ich's aber auch vergessen. *drop* Scheint mir im Augenblick nicht so wichtig zu sein, auch wenn ich mich frage, ob noch erklärt wird, wer das ist.
(Bääääh, war er nun da oder habe ich doch noch eine Gedächtnislücke? >_<)
Naja, aber das hier kann keine Frage an dich sein, zumindest nicht bevor ich's weitergelesen habe. ^^;
Aber dann reden Shinya und Tempest so lange, und ich hatte da plötzlich kurz Angst, du hättest die Stelle diesmal ausgelassen, an der Shinya Tempest nachmacht und "seine" Wörter benutzt. ^^; Aber natürlich war die Stelle immer noch da - zum Glück! ^___^ Das war auch eine der Sachen, die mir noch seit dem ersten Lesen sehr gut im Kopf geblieben waren und die ich damals schon so genial fand. Naja, es hätte mich im Prinzip auch gewundert, wenn du sie ausgelassen hättest - ich meine, du hast zwar die Geschichte neu umgeschrieben, aber immerhin nicht eine ganz neue Geschichte geschrieben. Und so gibt es ein paar Sachen, die einfach zum Verlauf der Geschichte dazu gehören und bleiben müssen. *freu* Ob genauso formuliert oder anders, musst du entscheiden - hast du entschieden, und ich will's inzwischen gar nicht wissen. Ich habe auch festgestellt, dass ich die paar Stellen, die ich doch unbedingt im "alten" Equinox zum Vergleich nachschlagen wollte.... jetzt doch nicht nachschlagen will. Wozu auch? Das würde mich höchstens auf dumme Gedanken bringen ("Oh nein, das hieß ja damals so, und jetzt hat sie's umgeschrieben! Hätte ich's nicht nachgeschlagen, hätte ich's zwar nicht einmal gewusst, aber jetzt finde ich's doch schade", - das kann ich jetzt wirklich nicht brauchen.) Du hast es jetzt umgeschrieben, und ich habe bereits gemerkt, dass die Geschichte, besser, kompletter, detaillierter, runder, lebendiger wird - wozu mich also noch für die alte Version interessieren?

Oh, aber jetzt bin ich - wieder einmal - vom Thema abgekommen. Ich war noch bei diesem Dialog von Shinya und Tempest. ^^; Und ja, ich habe noch nicht alles dazu gesagt, denn eine Kleinigkeit ist mir bei meinem doch teilweise sehr kritischen (wie ich inzwischen selbst festgestellt habe ^-^,;;) Lesen etwas komisch vorgekommen, wenn's auch wirklich nur eine Kleinigkeit ist. Shinya fängt an, Tempest zu imitieren mit dem Wort "abgefahren", das Tempest aber davor kein einziges mal verwendet. Naja, es passt auch wunderbar zu seiner Sprechweise, aber irgendwie fand ich's trotzdem seltsam. ^^;

Und dann kommt Hoshi dazu. An der Stelle hab ich wieder was lustiges denken müssen: Shinya, der Anführer der dunklen Estrella, lässt sich von Hoshi richtig rumkommandieren. ^^;; Ein Wort von ihr - und schon lässt er alles stehen und liegen und fängt an, sich vor ihr zu rechtfertigen. Unter etwas anderen Umständen wäre Hoshi wohl die eigentliche Anführerin der dunklen Seite. ^^,; Aber... na ja, der Gedanke ist irgendwo lustig, passt aber dann doch wiederum gar nicht in den ganzen Kontext. Shinyas Anführer-Sein ist an dieser Stelle noch etwas... schwach und hat zumindest nichts mit Macht zu tun, und Hoshi würde ihm wohl doch keine richtige Entscheidung vorwegnehmen, weil er ja derjenige ist, der vom Schicksal dazu bestimmt wurde und sie's genau weiß und versteht.
Der eine Gedanke ging mir nur bei dieser einen Szene durch den Kopf.
Und jetzt... würde wohl alles, was diesem Gedanken widersprechen oder auch zustimmen sollte, zum Thema Shinya führen, das ich auch noch unbedingt ansprechen wollte. Ich glaube nämlich so langsam zu verstehen, was du damit meinst, wenn du die ganze Zeit von Shinyas Veränderung sprichst. Ich weiß nicht, ob das in der alten Version auch schon da war, aber mir scheint es entgangen zu sein. Vielleicht war's nicht deutlich genug ausgeführt? Und sollte ich etwas davon gemerkt haben, ist es inzwischen wohl wieder vergessen. Aber unter anderem deswegen hast du die Geschichte ja auch umgeschrieben. Noch verändert er sich zwar nicht, aber man merkt schon, was sich wohl ändern wird und man kann sich auch denken, in welche Richtung. Spätestens nach seinem Gedankengang, der nach der oben erwähnten Szene kommt, und dann noch das Gespräch mit Hoshi. Ok, ich weiß nicht, ob ich so eine Veränderung auch erwarten würde, wenn du nicht so oft davon sprechen würdest, aber das ist egal. Dass er noch ziemlich schwach und unsicher ist, merkt man auf jeden Fall, und wenn es sich im Verlauf der Geschichte ändert.... dann ist es eine der Sachen, die ich an Büchern, Mangas, Animes, Filmen und sonst... Geschichten eben mit am liebsten mag. Vielleicht weil ich mich da in den Charakter so gut reinversetzen kann. Ich weiß nicht, gibt es überhaupt Menschen, die solche Veränderungen nicht kennen? Im Augenblick erinnern mich jedenfalls ein paar von Shinyas Charaktereigenschaften an mich selbst irgendwann mal früher. Wie er manchmal überhaupt nicht weiß, wie er sich anderen Menschen gegenüber verhalten soll oder sich überhaupt nicht vorstellen kann, was andere Menschen über ihn denken, sie deswegen vielleicht mal ganz falsch einschätzt und allen gegenüber so misstrauisch ist. Und wie es ihm überhaupt schwer fällt, Freunde zu finden. Eine Zeit lang habe ich ja befürchtet, ich würde die Sprache nie gut genug beherrschen, um richtige Freundschaften zu schließen, oder es sei zu spät, um noch wirklich gute Freunde zu finden. *drop* Gedanken, über die man inzwischen wohl lachen kann. ^^;;;; Oder dieses Erst-eine-halbe-Stunde-später-wissen-was-die-beste-Antwort-gewesen-wäre...... so was passiert mir auch jetzt noch manchmal. >_< Ich finde zwar teilweise, ich habe jetzt immer noch weniger Selbstbewusstsein, als ich gern hätte, aber ich arbeite weiterhin daran, und ich habe inzwischen festgestellt, dass ich es nicht leiden kann, wenn andere Menschen meine eigenen überwundenen Probleme haben und einfach die Hände hängen lassen. Dann muss ich immer wieder denken: "Ich hab's doch auch geschafft, also sollen die aufhören mit ihrem Selbstmitleid und was machen!" Wiederum finde ich's toll, wenn Menschen es schaffen, solche Probleme zu überwinden. Schweife ich zu sehr ab? Hole ich zu weit aus? ^^;;
Wird es zu persönlich? Aber dann müsste man ja daran sehen, wie ich bei so etwas mit den Charakteren mitfühle.
Was ich sagen will, ist: Wenn ich so etwas lese, freue ich mich unheimlich für den Charakter, dem diese Veränderung gelingt. Natürlich hat jeder Mensch teilweise seine eigenen Probleme. Wie du es auch schon gesagt hast, man weiß ziemlich wenig über Shinyas Vergangenheit, und es ist mir auch aufgefallen, weil diese in Haída angesprochen wird. Und ich nehme an, er hat viel Schlimmeres erlebt als ich normale (<-- mehr oder weniger) Schülerin, inzwischen Studentin (^__^), aber trotzdem sind diese Selbstüberwindungsprobleme doch bei allen Menschen irgendwie ähnlich und deswegen gehen sie mir bei den Charakteren oft so sehr ans Herz und helfen mir, mich in den Charakter hineinzuversetzen, sodass ich mit ihm fühlen und mich mit ihm freuen kann. Ich find's einfach immer wieder toll! ^^
(Das war ja sogar das, was ich an Hikaru no Go am meisten gemocht habe. Die Serie hat eigentlich keine wirklichen Lieblingscharaktere, und die Go-Spiele können zwar teilweise interessant sein, wenn man das Spiel kennt und mag, aber das meiste kann man als Anfänger doch nicht verstehen. Dafür verändert sich Hikaru im Verlauf der Geschichte so sehr, wird von einem kleinen Kind zu einem selbstbewussten Erwachsenen mit einem starken Charakter, was auch Schritt für Schritt, realistisch dargestellt wird. Und solche Serien könnte ich in Maßen anschauen. ^^;)
Naja, lange Rede, kurzer Sinn: Du siehst, ich bin schon sehr gespannt darauf, wie es in Equinox weitergeht. Nicht nur im mir noch ganz unbekannten 21. Kapitel, sondern auch in den Kapiteln davor, in der neuen Version. ^_^
Und ich kann verstehen, warum du jetzt Shinya von allen Equinox-Charakteren am liebsten magst. Wie schon mal gesagt, als du in einer ENS geschrieben hast, dass Noctan jetzt "nur noch" dein zweiter Lieblingschara ist, habe ich mich zuerst gewundert, und hab mir überlegt, wen du meinen kannst. Und obwohl noch nicht mal alle Charaktere aufgetaucht und erst recht nicht ausgeführt sind, wollte mir nur Shinya einfallen. Obwohl ich's noch gut in Erinnerung habe, wie du dich mal beim Schreiben der alten Version darüber beschwert hast, dass du immer aufpassen musst, dass Noctan und Rayo nicht zu sehr in den Vordergrund der Geschichte rücken, weil du sie ja so viel lieber magst als Shinya. ^-^;;;

Ich selbst.... weiß gerade gar nicht, wen ich in der Geschichte am liebsten mag. Ist ja eigentlich auch egal. ^-^; Ich mag Noctan. Ich mag Will. Tempest ist auch toll. Shinya mag ich auch sehr, aber vermutlich auf eine andere Weise als Noctan, Will und Tempest. (Oje.... weil ich vorhin von Hikaru no Go geschrieben habe..... keine Sorge, ich mag Shinya immer noch viiiiieeeeel lieber als Hikaru, das wäre gar kein Vergleich ^^;;;;;;;;;) Und ich find's toll, dass er das Meer nicht mag, weil seine Ohren empfindlich gegen Wasser sind. =^.^= (Wer hätte das gedacht? ^^;) Hoshi, Misty und Tierra sind auch toll, und ich freue mich schon auf Cascada. Rayo... ist gerade erst in der neuen Version aufgetaucht, ich muss da noch weiterlesen. ^-^ Ist aber bestimmt wieder so süß. ^^ (Nein, nicht falsch verstehen, ich will ihn nicht nur mit dem einem Wort, "süß", beschreiben, aber ich möchte einfach im Augenblick noch nicht mehr dazu schreiben. ^^; *weiterlesen muss* Aber auch nicht aus Mistrauen, wie bei Noctan, keine Sorge, sondern... einfach allgemein, weil ich's eben noch nicht gelesen hab. *drop* Wenn ich das Gefühl habe, falsch verstanden werden zu können, könnte ich kilometerlange Texte labern, um das zu verhindern, was am Ende vielleicht noch das Gegenteil bewirkt. *seufz*)
Naja, ich denke, im Augenblick mag ich Noctan und Will am liebsten. Ich bin aber schon sehr gespannt darauf, wie es mit Shinya weitergeht. Und Misty mag ich auch sehr. ^.^

Hier noch mal zu deiner ENS: Im Endeffekt lege ich ja selbst überhaupt keinen Wert auf viele blutige Schlachten. Und die Landschaftsbeschreibungen..... könnten meiner Meinung nach in den meisten Büchern einfach.. weggelassen werden. ^^; (Bei dir allerdings nicht. Du gehörst zu den Menschen, die sie an der richtigen Stelle schreiben, und das auch sehr detailliert und... einfach wunderschön. Man bekommt wirklich ein ganzes Bild vor den Augen gemalt, das oft mit ausschlaggebend für die ganze Stimmung ist.) Für mich ist das allerwichtigste an einer Geschichte vermutlich... dass sie spannend ist. Am besten, dass man da sitzt und nicht aufhören kann zu lesen, bis man endlich weiß, wie es ausgeht. (Wobei ich selbst trotzdem Pausen machen würde. ^^; Ich kann ein ganzes Buch nicht an einem Stück durchlesen - einen Manga, das geht manchmal, vor allem, wenn ich davor viel für die Schule/Uni zu tun hatte, aber bei einem Buch geht es nicht. Ich muss Pausen machen, in denen ich - bewusst oder unbewusst - das Gelesene noch mal im Kopf durchgehe und es ein bisschen ordne, sodass ich nichts wichtiges vergesse und außerdem ganz einfach nicht Kopfschmerzen von dem vielen Lesen bekomme.) Naja, die Tatsache, dass ich den groben Verlauf der nächsten 16 Kapitel weiß, macht Equinox für mich im Augenblick zwar etwas weniger spannend, aber es tauchen doch, wie man auch in diesem Comment hier liest, immer wieder Fragen auf, bei weitem nicht nur zum letzten, mir noch ganz unbekannten, Kapitel. Ein paar Sachen habe ich vergessen, andere Sachen sind in der neuen Version einfach anders oder vielleicht ganz neu. Und, wie ich schon mehrmals geschrieben habe, ich merke es beim Lesen immer wieder, dass die Geschichte durch die Veränderung der Worte und durch die Ergänzungen sehr beeinflusst wird, sich selbst sehr dadurch verändert hat. So würde ich auch jetzt, nachdem ich Kapitel 21 auf dem Computer habe, auf gar keinen Fall gleich das lesen, ohne die Kapitel davor. Nicht nur, weil ich noch damals, beim Lesen des "alten" Equinox, bevor ich noch wusste, dass es überarbeitet werden soll, mir vorgenommen hatte, wenn Kapitel 21 da ist, die Geschichte komplett noch mal zu lesen. Sondern auch, weil ich merke, dass in der neuen Fassung so viel mehr drin ist, was mir alles einfach entgehen würde, wenn ich die 16 Kapitel, die noch vor dem 21. kommen, überspringen würde.

Außerdem freue ich mich, wenn die Geschichte - an angebrachten Stellen - humorvoll erzählt wird, aber ich habe ja schon ein paar Stellen angesprochen, an denen ich sehr lachen musste. (Mal wieder - obwohl man meinen könnte, ich würde die Geschichte schon kennen. Nein, nein, man muss es einfach gelesen haben.) [Sagt man eigentlich "sehr lachen"? Ich glaube, nein, oder? Naja, aber hier fällt mir gerade nichts passenderes ein, Hauptsache, du weißt, was ich meine.]

Und, wie ich auch schon hier geschrieben habe, wenn die Charaktere sich verändern und weiterentwickeln, finde ich das auch wirklich toll. Und das ist im "neuen" Equinox, wie es aussieht, noch in einem viel größeren Ausmaß der Fall als im "alten". Und spätestens seit ich das mit Wills Kutsche weiß, nehme ich alles wieder zurück, was ich zum Thema Übertreibungen geschrieben habe. In meinem Comment zum 3. Kapitel habe ich's ja sowieso schon angezweifelt. Das ist doch eigentlich so einfach! Und ich bin - abgesehen von der Geschwindigkeit der Pferde - an zwei Stellen darauf aufmerksam geworden, habe aber jedes Mal in eine falsche Richtung gedacht. *drop* Allerdings frage ich mich auch, ob das für einen Leser, der das noch gar nicht kennt, überhaupt noch verständlich sein/werden kann..... aber andererseits muss es nicht, nur weil ich diese Stelle nicht verstanden habe, gleich heißen, dass sie niemand verstehen kann. Wie gesagt/geschrieben, ich nehme hier alles zum Thema Übertreibungen (erst mal? *fiesgrins* - ich lese ja noch weiter ^-^) zurück.

Aber ein anderer Kritikpunkt fällt mir immer wieder auf und dann vergesse ich es immer wieder, ihn aufzuschreiben. Für die Schreibfehler kann man nichts machen - wenn mal da ein Buchstabe fehlt, oder dort einer zuviel ist, ich denke bei so einer langen Geschichte müsstest du das hundertmal durchlesen, bis du alle Fehler weg hast, und es gibt genug gedruckte, offiziell veröffentlichte Bücher, die noch Druckfehler enthalten. Aber es gibt einen ähnlichen Fehler wie die Druckfehler, der den Leser etwas mehr verwirrt: Wenn ein Teil des Satzes vergessen wird oder ein Wort verwechselt oder irgendwas in der Art. Mir sind bei Equinox schon ein paar solcher Fehler aufgefallen, aber an alle erinnere ich mich nicht mehr. Was mich bis jetzt am meisten gestört hat, war ein Satz im ersten Kapitel (ich sag's ja, mir fällt's immer wieder auf, und dann vergesse ich, das zu schreiben ^^;; ). Da macht Shinya gerade seine Zimmertür auf, um bald darauf in den Flur mit der Dunkelheit hinauszugehen und stellt erst mal fest, dass der Mond das Zimmer durch das Fenster beleuchtet, aber das Licht nicht in den Flur hinaus geht. Da fehlt irgendwo, glaube ich, ein Satzteil. Auf jeden Fall gab's da einen Satz, bei dem ich im Lesen "gestolpert" bin und mir erst mal überlegen musste, was du damit überhaupt sagen willst. Mein ausgedrucktes erstes Kapitel habe ich gerade nicht da (hab's Anastasia zu lesen gegeben ^^), aber da heißt es irgendwie: "als wäre das Licht mit chirurgischer Genauigkeit ausgeschnitten und die Dunkelheit hinausgeschüttet worden" - oder so ähnlich, bzw. ich nehme an, dass du das gemeint hast, denn im Endeffekt steht nur "als wäre das Licht mit chirurgischer Genauigkeit hinausgeschüttet worden" - oder so.
Sonst weiß ich noch, dass Tierra im dritten Kapitel einmal "Tranquila" anstelle von "Avârta" sagt. Ah, da ist es: "..., aber immerhin bin ich nun schon seit drei Tagen hier in Tranquila, habe einiges gesehen und....". ^^; Das ist bevor sie ihnen vorschlägt, mit ihr in die Bibliothek mitzukommen.
Und das hier ist aus dem vierten Kapitel, aber ich weiß nicht, ob das auch dazu gehört oder ob ich da was falsch verstanden habe... Shinya ist auf dem Schiff und will sich gerade bei Hoshi entschuldigen: "Den Weg über den Korridor und an Deck hinauf hatte er zugegebenermaßen schon deutlich schneller hinter sich gebracht, und auch vor der Tür ins Freie blieb er noch einmal gut eine halbe Minute stehen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen." Zuerst schneller und dann stehen bleiben? Kann es sein, dass es doch "langsamer" heißt? Sag's mir, wenn ich mich irre.
Oh, und übrigens, ich hab mir noch mal Gedanken gemacht über Shinyas und Hoshis Ankunft in Avârta, wo Shinya es sich und Hoshi nicht zumutet, unter Regen draußen zu schlafen, nachdem es ihm in Tranquila nichts ausgemacht hat. Eigentlich kann man's ja immerhin noch so erklären, dass erstens diesmal Hoshi dabei ist, und zweitens.. ist doch bestimmt etwas Zeit vergangen, seit er in Tranquila angekommen ist - er musste sich ja noch nach Phils Angriff erholen. ^.~
Ach ja, hier aber gleich noch eine Kleinigkeit aus Kapitel 4: Zuerst steht da, dass Shinya in Haída als Kind immer ausgeschlossen wurde (wobei seine Vergangenheit nur kurz angesprochen wird ohne erklärt zu werden >.< *wissen will*), und dann steht wiederum irgendwo da, dass die Leute in Haída die dunklen Estrella nicht so anstarren wie in anderen Orten, weil sie da wegen Hafen an Absurditäten gewohnt sind.
Wobei sich auch diese Sache erklären lässt, da die Leute vielleicht daran gewohnt sind, dass einiges an ihnen vorbei reist, aber nichts von den seltsamen Dingen in ihr eigenes Leben richtig aufnehmen wollen - das wäre auch irgendwie menschlich.

Ach ja, und etwas.... was sehr wahrscheinlich nur mich gestört hat. Also, eine Sache, die ich auch nicht verstanden hab, bei der ich mir aber vorstellen kann, dass man sie auch verstehen kann. ^^; Wenn das Schiff am Ende des Kapitels in Hoshiyama ankommt, da geht die Zeit zuerst ganz schnell vorbei und dann doch wieder ganz langsam: "... als er mit einem Mal die grauenhafte Veränderung bemerkte, die binnen weniger Sekundenbruchteile mit der Zeit vor sich gegangen war. [Absatz ^^;] War selbige nämlich eben noch leichtfüßig und munter dahingeeilt, so schien sie nun irgendwo zwischen Schiffskörpern und Holzstegen gestürzt zu sein und ..." Da ließ ich mich davon verwirren und dachte zuerst: "Hä? Wer ist leichtfüßig und munter dahingeeilt? Wer ist gestürzt und hat sich einen Beinbruch zugezogen? Meint sie Misty?" ^^;;; und: "Wie nun? Veränderung, die binnen weniger Sekundenbruchteile vor sich gegangen war oder Veränderung, die mit der Zeit vor sich gegangen war?" Weil eben Veränderungen auch mit der Zeit vor sich gehen können (oder? können sie doch?), auch wenn sich etwas anderes verändert als die Zeit, wie "mit der Zeit ist das Haus alt und brüchig geworden" oder so. ^^; Aber vielleicht habe ich die Stelle nicht aufmerksam genug gelesen und bin da deswegen "gestolpert".

So, jetzt bin ich fast am Ende des Comments angekommen und mir fällt auf, dass ich noch gar nichts zu Misty geschrieben habe, wo sie doch in diesem Kapitel aufgetaucht ist. Naja... vermutlich liegt das daran, dass Misty... einfach Misty geblieben ist. ^^; Es hat sich in meiner Vorstellung nichts verändert und es weicht auch nichts von dem Bild ab, das ich noch von ihr in Erinnerung hatte. Sie redet weiterhin in dritter Person von sich, der Wald, in dem sie wohnt, ist wunderschön und passt zu der kleinen waii Illusionsmagierin, und alles was sie macht, ist einfach ... Misty eben. Irgendwie kann ich es mir kaum vorstellen, dass dieses Kind dann im 20. Kapitel auch bei dieser Schlacht mitmacht, gegen lebende Menschen kämpft. Aber das wurde ja, glaube ich, irgendwo im "alten" Equinox auch schon angesprochen (das "neue" Equinox habe ich ja noch nicht so weit gelesen ^^;), von Shinya glaube ich, dass er es sich noch nicht vorstellen kann, dass sie dann gegen die hellen Estrella, also gegen Menschen kämpfen sollen. Und bei Misty ist es irgendwie... noch extremer.
Eine Sache allerdings ist mir doch bei Misty aufgefallen: Ich hätte inzwischen beinahe vergessen, dass es in Youma Tien-Tiens gibt! Natürlich weiß ich sofort, was ein Tien-Tien ist, wenn ich das Wort lese, aber dann hatte das bei Kapitel 4 so einen "Aha!"-Effekt: "Stimmt ja, die gab's ja auch noch!" ^^;;; Wir hatten sie schon so lange nicht mehr erwähnt.... ich finde, wir sollten mal wieder in einem Rollenspiel einem Tien-Tien begegnen. Das ist zwar oft absolut nutzlos für die Handlung, aber das kam schon sooooo lange nicht mehr vor, dass ich's schön fände. =^_^=
(Hmm.... stimmt ja, Lalit ist auch so ein Charakter, der mich immer an Tien-Tiens erinnert ^.^ im Gegensatz zu Misty muss man mich da nicht extra daran erinnern. *drop*)

So, und zum Schluss noch etwas, das zwar nichts mit dem 4. Kapitel zu tun hat, aber mal wieder mit Equinox allgemein. Und bis ich an der Stelle bin (zwischen Kapitel 20 und 21 ^^;), habe.... ich's bis dahin nicht vergessen, weil ich's aufgeschrieben hab, aber vielleicht denke ich bis dahin anders, man kann so was nie im Voraus wissen. Deswegen schreibe ich's einfach jetzt.
Wir haben vor kurzem mal wieder über das 21. Kapitel gesprochen und da hast du mal gesagt, dass du über eine Frage, die in dem Kapitel gelöst werden soll, selbst sehr lange nachgrübeln musstest (irgendwie erinnert mich das jetzt an Kapitel 7 - die Autorin weiß selbst nicht, wie es weitergeht, hilfe! ^^;) und ich wollte nicht verstehen, um welche Frage es genau geht.
Eigentlich weiß ich nicht, ob ich's nicht verstehe oder nicht verstehen will. Denn eigentlcih gibt's wohl in Equinox eine ganz besonders wichtige Frage, allerdings gibt's neben ihr noch soooooooooo viele andere größere und kleinere Fragen, dass ich es gern zulasse, dass sie sich in meinen Gedanken vermischen und mir gleich wichtig erscheinen.
Ich möchte nicht in Gedanken vorgreifen, wie es weitergeht. Ein paar Ahnungen und Ideen zu vielen dieser Fragen habe ich zwar, aber ich will sie nicht mal zu Ende denken. Und weil ich das nicht tue, denke ich, dass ich vom letzten Kapitel nicht enttäuscht werden sollte (wobei mir dieser Gedanke auch ganz neu war, als du's angesprochen hast - selbst konnte ich mir so was nicht mal vorstellen), weil ich im Prinzip nichts davon erwarte - außer vielleicht, dass die Geschichte komplett und abgerundet zu Ende geht. Wobei du oft Enden, die ich nicht mag, auch nicht magst, von daher müsste ich hier in diesem Punkt auch nicht enttäuscht werden.
Der neuen Equinox-Version gegenüber konnte ich zwar nicht von Anfang an ganz offen sein, weil ich irgendwie Angst hatte, sie würde mir die alte irgendwie wegnehmen oder so. Aber allgemein Equinox gegenüber bin ich ganz offen, unvoreingenommen und vor allem sehr neugierig. Also lasse ich mich einfach vom Ende überraschen. ^_^
Aber zuerst muss ich natürlich bis zum Ende lesen - und während wir heute in der Stadt waren - Geld abheben, nach der AnimaniA schauen, in der Mensa zu Abend essen und Fotos machen, ist mir endlich ein guter Vergleich eingefallen, warum ich das "neue" Equinox inzwischen doch akzeptiert zu haben scheine und es sogar sehr mag und es mir nicht vorstellen kann, nur das letzte Kapitel zu lesen und alles davor auszulassen. Es ist so als wäre Equinox ein Bilderbuch, das ich - bis auf die letzte Seite - kenne. Jedoch in Schwarz-Weiß. Und jetzt während ich die neue Version lese, wird plötzlich eine Seite nach der anderen bunt, also ergänzt. Und ich kann doch nicht das fertige letzte Bild anschauen ohne die ganzen Seiten davor in ihrer fertigen Version gesehen zu haben.
Jetzt bin ich in der ersten Hälfte der 9. Word-Seite [nach dem wiederholten Durchlesen und Ergänzen wurde es die erste Hälfte der 10. Word-Seite *drop*] und habe endlich alles aufgeschrieben, was in meinem Block steht und in meinem Kopf herumgeistert. Also kann ich hier aufhören und das morgen in der UB hochladen. Und ich weiß schon, was ich heute Abend wieder lesen darf. *freufreufreu* Zum Glück sind die Kapitel jetzt so herrlich lang, dass ich auch erst mal wieder nicht sparen muss, sondern wirklich so lang lesen bis ich müde werde und gut einschlafen kann. ^_^
Und morgen.... kann ich dann endlich mit der Hausarbeit anfangen - juhu! (<-- bitte nicht ernst nehmen -.-) Naja, das wird schon irgendwie.
Dann...
mata bald hier in der WG, nehm ich an. ^-^

ek han Pilt und miau,
tía
Von:  Winterrose
2006-02-14T16:14:18+00:00 14.02.2006 17:14
Hi Yue-Chan!!

So, dann gebe ich auch mal meinen Senf dazu! :D

Erstmal finde ich's super dass die endgültige Version von Equinox endlich steht!!! *freu*
Ich kann mich zwar nicht mehr in allen Einzelheiten an den Storyverlauf erinnern, aber ich weiß noch, dass ich unbedingt wissen wollte, wies ausgeht (und du uns alle noch mächtig lange auf die Folter gespannt hattest! ;) )

Tja.. ich habe jetzt ca. 40 Seiten gelesen und gerade das dritte Kapitel begonnen - Moment mal, 40 Seiten??? *mal eben die alte Equinox Version aufruf* *auf Seite 40 Scroll*
...
Kapitel Sieben???

Man merkt jedenfalls ganz eindeutig, dass du alles noch mal ausführlichst überarbeitet und ergänzt hast! ^_^;;;;
Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt dass du (vor allem in der ersten Version) einen ähnlichen Erzählstil wie Wolfgang Hohlbein hast? (Oder geht das jetzt nur mir so? ^^; ) Allerdings im positiven wie im negativen Sinn. Negativ meine ich insofern, dass die Story stellenweise extrem ausschweifend detailliert geschrieben ist, zumindest das erste Kapitel empfand ich dadurch als etwas arg in die Länge gezogen. Das zweite Kapitel ist zwar noch weit aus länger geworden als das Erste, aber hier kommt widerum auch das Positive an deinem Erzählstil durch; du kannst so spannend erzählen, sodass man locker flockig zehn Seiten lesen kann ohne zu merken, wie die Zeit vergeht! ^__^
Man merkt auch, dass sich dein Stil irgendwie weiterentwickelt hat; wie gesagt, er erinnert nicht mehr so arg an Hohlbein wie früher, die Story wird auf ihre eigene, spannende Art erzählt! 

Ich freue mich auf jeden Fall tierisch, dass ich jetzt wieder etwas zu lesen habe, nachdem ich nun Harry Potter und AS ausgelesen habe! Ich habe immer ein riesengroßes Loch, wenn ich ein gutes Buch zu Ende gelesen habe, umso mehr freue ich mich, jetzt wieder etwas Schönes lesen zu können! Thx! ^-^ ^-^ ^-^ ^-^
Von:  Helmchen
2006-02-10T12:19:23+00:00 10.02.2006 13:19
Ohaaayooo, meine liebe Yu-chan!
Juhu, endlich komme ich dazu, Equinox zu kommentieren... nachdem ich es mittlerweile schon zwei Jahre lang kenne *schääääm*
Aber dank Tías Drohung... ääääh. Vorschlag, dass ich einen Kommi an deinem Geburtstag schreiben soll, erhältst du ihn jetzt endlich ^__^ (Nicht, dass ich das jetzt widerwillig tue, die Idee ist toll!)
*grins* Der Anfang ist schon mal echt genial und spannend. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal das erste Kapitel (*drooop* Schon wieder was doppelt!)gelesen habe und ganz aufgeregt und neugierig wurde, vor was er denn davonläuft. Ich dachte dabei an irgendwelche netten Soldaten oder andere sympathische Gestalten, die nur darauf aus sind, Shinya umzubringen. Nun, in diesem Punkt sind alle meine Vorstellungen irregeleitet gewesen ^ ^;;
*freuuu* Und es ist so schön geschrieben! Du weißt ja hoffentlich, wie gerne ich deine Geschichten lese, weil sie für mich all das vereinbaren, was ich an einem guten Schreibstil schätze: schöne bildhafte Wörter, Nebensätze und - ganz wichtig! -Humor. Und außerdem... ist es einfach Yu-chan und einfach Equinox und das macht es auf alle Fälle mehr als reizvoll , es zu lesen. Wenn dein Buch auf dem Markt erscheint, werde ich wahrscheinlich viele Exemplare kaufen und verschenken, sodass viele Menschen in den Genuss von Equinox kommen können ^____^
Also Yu-chan, wir warten alle schon sehnsüchtig auf das letzte Kapitel... oder auch nicht? Aaargh, will ich eigentlich wissen, wie es weitergeht??!!?? Hilfe, ist das eine Zwickmühle! Ich meine, natürlich will ich es auch weiter lesen, aber dann... ist Equinox ja zu Ende *heuuul* Trotzdem, "mein Herr und Meister", erwarte ich schon sehnsüchtig den Tag, wo ich die ganze Geschichte in Händen halte.
Nun einen Gruß und ein letztes Anfeuern "YUUUU-CHAAAAN, YUUUU-CHAAAAN!!!" und ich schließe mit Tías Worten:
"Wir werden bestimmt nicht die Einzigen sein, die am 10. Februar versuchen, nach den Sternen zu greifen!"
In diesem Sinne noch ein "HAPPY BIRTHDAY TO YOU!!" und ich hab dich ganz doll lieb!! *umknuddl*
Marron-chan =^ . ^=


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