Kai war am Telefonieren, als Boris aus dem Umkleideraum kam. Er war noch nicht da gewesen, als der letzte Trainingskampf beendet worden war, aber nun stand er da, als ob er sein Leben lang nirgendwo anders gestanden hatte und überdies den ganzen Laden besaß. Das war zumindest heute bei Trainingsbeginn noch nicht der Fall gewesen.
Als Boris in sein Sichtfeld trat, sah Kai flüchtig zu ihm, nickte ihm zu und wandte sich dann ab. Er sprach auf Japanisch, sodass Boris nichts verstand außer dem Auf und Ab seiner Stimme, die auf Japanisch noch weicher klang als auf Russisch - und dabei sprach Kai das weichste Russisch, das Boris jemals gehört hatte. Und er wirkte hier in diesem Vorraum des Boxzentrum, der wirklich schon bessere Zeiten erlebt hatte und sicher seit der stalinistischen Ära nicht mehr renoviert worden war, in seinem Anzug absolut fehl am Platz. Während Boris in Tanktop und Lederjacke mit Motorradhelm unterm Arm und Sporttasche in der anderen Hand daherkam, stand Kai entspannt und wie aus dem Ei gepellt da in seinem Hemd mit aufgerollten Ärmeln, Anzughose mit perfekten Bügelfalten und einem Sakko, das er locker mit der freien Hand über die Schulter geworfen hatte und dort festhielt. Er war aufwandslos schön, und Boris wollte nichts mehr als ihn zu packen, in den Staub zu drücken und mit den Zähnen festzuhalten, bis er so richtig besudelt war.
Kai beendete seinen Anruf, drehte sich zu ihm und hob eine Augenbraue, um Boris schweigend zu mustern. Aber er kannte das interessierte Aufblitzen in den roten Augen und es fuhr wie ein heißer Strahl durch seine Magengrube.
„Na, Business für heute beendet?“, fragte er und trat einen Schritt näher. Kai blickte auf seine abgewetzten Springerstiefel, dann hinauf in sein Gesicht, ehe er das Handy einsteckte. Boris mochte es, dass Kai zu ihm hochsehen musste. Nicht, dass er diesen Gedanken jemals laut geäußert hätte.
„Das Business schläft nie“, sagte der andere rau. Wie aufs Stichwort hörte Boris sein Handy vibrieren, aber Kai griff nicht danach, sondern warf stattdessen Boris sein Sakko zu, der es nur aus Reflex auffing, um ihn dann erbost anzufunkeln. Kais Mundwinkel zuckten, dann sagte er: „Lass uns gehen. Ich bin am Verhungern.”
Ich auch, dachte Boris, den Blick auf Kais Hintern gerichtet, als der ohne auf ihn zu warten hinausmarschierte. Natürlich folgte Boris ihm. Er folgte ihm immer, und er dachte nicht gerne über diese Tatsache nach.
„Bist du mit dem Auto da?“, wollte er wissen.
Kai schüttelte den Kopf. „Taxi. War nur kurz in der Wohnung und hab den Koffer abgestellt, dann bin ich hergekommen.“
Boris zog die Augenbrauen zusammen, kurz aus dem Konzept gebracht. „Bist du bescheuert? Du musst doch todmüde sein.“
Kai zuckte mit den Achseln und blieb vor Boris‘ Motorrad stehen. „Hast du einen zweiten, äh, Dings?“
Nur schwer verbiss Boris sich ein Lachen. Kai musste halbtot sein, denn dann fiel ihm der Wechsel vom Japanischen ins Russische oder umgekehrt immer besonders schwer, was jedes Mal von Neuem erheiternd war. „Einen zweiten was?“
Ihm wurde prompt der Mittelfinger gezeigt.
Boris lachte ihn aus und holte aus dem Helmfach seiner Maschine tatsächlich einen zweiten Helm, um ihn Kai zu reichen. „Du brauchst was zu essen, sonst bist du unausstehlich.“
„Dann mach mir was. Ich will heim.“
Boris spürte, wie etwas in seiner Brust bei dem Wort ‚Heim‘ warm wurde und biss sich einen Moment lang auf die Lippen. Dann sagte er rau: „Wer bin ich, die Küchenfee?“
Kai, der gerade den Helm hatte aufsetzen wollen, senkte ihn nun, hob dafür eine Augenbraue und starrte ihn herausfordernd an. „Was, ist das zu schwierig für dich oder wie?“
Boris hatte das Gefühl, dass ihm eine Ader platzte. „Pass auf, Arschloch, wir fahren jetzt heim und dann mache ich dir einen so großen Stapel Bliny, dass du platzt. Und dann lache ich dich aus, wenn du dich vollgefressen vor meinen Füßen krümmst.“
„Das werden wir ja sehen“, sagte Kai zufrieden und setzte nun doch den Helm auf. Er ignorierte Boris‘ Gegrummel und wartete, bis dieser mit dem eigenen Helm am Kopf die Sporttasche verstaut und sich auf das Motorrad geschwungen hatte, dann kletterte er hinter ihm in den Sitz.
Erneut fühlte Boris die glühende Enge in seiner Brust und seiner Magengrube, als Kai die Arme um ihn schlang und sich gegen seinen Rücken presste. Er fuhr in jenem halsbrecherischen Tempo los, das Kai am liebsten hatte, und dachte daran, dass er ihm eigentlich sagen wollte, dass er ihn vermisst hatte. Irgendwie nahmen ihm der Fahrtwind, der ankriechende Moskauer Sommer und Kais Gewicht hinter ihm nur die Stimme. Also schwiegen sie, während sie sich durch den Moskauer Verkehr schlängelten und Boris konzentrierte sich auf nichts als die Straße und Kais Arme um ihn, bis sie vor seiner Wohnung angekommen waren.
Theoretisch war Kai auf Wohnungssuche in Moskau.
Allerdings war er das schon seit Monaten. Erst hatte Boris sich bitterlich darüber beschwert, dass Kai ihm einen Zweitschlüssel abgenommen hatte und seine ganzen Sachen bei ihm bunkerte, aber mittlerweile musste Kai berufsbedingt so viel zwischen unterschiedlichen Ländern pendeln, dass Boris seinen Widerstand stillschweigend unter den Tisch hatte fallen lassen.
Kais Fingerspitzen streiften seinen Arm, als sie die Treppen hinaufgingen und Boris fühlte sich alleine durch diese simple Berührung wie elektrisiert. Er konnte ein Grollen nicht unterdrücken und Kai schenkte ihm einen Blick unter halb gesenkten Augenlidern hervor, der ihn in Flammen setzte. Egal, was alles beschissen zwischen ihnen lief, die körperliche Ebene funktionierte immer. Mit dem Sex hatte es immerhin auch begonnen, und dann hatten sie einfach nicht mehr damit aufgehört. Egal, wie frustrierend Boris Kai fand, den er einfach nie wirklich verstehen würde. Egal, wie angepisst Kai in schöner Regelmäßigkeit von ihm zu sein schien. Egal, wie schlecht sie zueinander zu passen schienen, wie Zahnräder in einer Maschine, die nicht ganz ineinander griffen, sondern einander nur immer wieder streiften, genau so weit, dass man sich vorstellen konnte, wie es wäre, wenn die Maschine richtig laufen würde, ohne es jemals wirklich zu erreichen.
Gott, aber Boris wollte ihn.
Kais Handy vibrierte mit einem Anruf, als Boris ihn gegen die Vorzimmerwand drückte und den Mund auf seinen krachen ließ. Es wurde vollkommen ignoriert, weil Kai lieber die Arme um ihn schlang und die Fingernägel in seine Lederjacke grub, während er den Kuss so hitzig erwiderte, als ob er nur darauf gewartet hatte. Dann fiel es zusammen mit dem Sakko und der Lederjacke auf den Boden, wo das Vibrieren vom Stoff erstickt wurde. Als Boris Kais Hemd so gewaltvoll öffnete, dass ein Knopf abgerissen wurde, biss Kai ihm zur Strafe fest genug auf die Lippe, dass er Blut schmeckte. Er gab ein Grollen von sich, das eine Mischung zwischen Ärger und Lust war, öffnete Kais lächerlich teuren Hugo-Boss-Gürtel und riss ihn halb aus den Schlaufen in seinem Bedürfnis, näher zu kommen. Kai atmete heiß gegen seine Wange, biss ihn in den Unterkiefer und zog ihm dann das Tanktop über den Kopf.
„Hast es wieder nötig, hm?“, raunte Boris und lachte atemlos, als Kai irgendetwas auf Japanisch knurrte, das er nicht verstand, nur um dann mit der flachen Hand gegen seinen Rücken zu schlagen, als Boris eine Hand in seiner Hose verschwinden ließ. Sie waren so dicht aneinander gepresst, dass nicht einmal mehr ein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte, dennoch schaffte Kai es unter einem weiteren gezischten Fluch, gleiches mit gleichem zu vergelten.
Gott, sie waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber manchmal brannte Kai so lichterloh, dass der Gedanke in Flammen aufging und fruchtbare Asche hinterließ, in der Boris sich vergrub und dachte: Vielleicht. Vielleicht.
Und manchmal, zwischen Kais Glut und seinen Fingern, die ihn so gewaltvoll packten und festhielten, dass er am nächsten Morgen noch davon brannte, dachte er sogar: Hoffentlich.
Später, nachdem Kai ein Bad genommen und Boris ohne Übertreibung die besten Bliny der ganzen Stadt gebacken hatte, fand er Kai im seidenen Morgenmantel vor der halbfertigen Skulptur stehen, die er auf einer Plastikplane in dem Eck des Wohnzimmers, das für solche Projekte freigeräumt worden war, stehen hatte. Seine Augen ruhten auf dem himmelwärts gereckten Arm des Tontänzers, während er auf rapidem, harschem Englisch telefonierte, und Boris‘ Augen ruhten auf der Linie seines Halses, als er ihm den Kopf zuwandte.
Ihre Blicke trafen sich.
Kai hörte nicht auf zu telefonieren, als Boris die Schüsseln mit der Füllung auf den Tisch stellte, dann die Bliny selbst. Erst als auch der Wasserkrug am Tisch stand, drückte er den roten Knopf und stand dann weiter vor der Skulptur, das iPhone fest in der Hand. Der Tänzer hatte noch kein Gesicht und auch der untere Teil seines Körpers war von der Hüfte abwärts noch ein grober, unbearbeiteter Tonklotz, aus dem sich sein Oberkörper der Decke entgegenstreckte, als ob er in die Höhe fliehen wollte. Kai wanderte um den ausgestreckten Arm herum, betrachtete ihn von der anderen Seite mit einem Gesichtsausdruck, den Boris nicht deuten konnte. Aber wann hatte er jemals irgendwas an Kai wirklich deuten können?
„Du hattest Hunger“, sagte er, „also setz‘ dich auf deinen hübschen Hintern.“
Die roten Augen wanderten von der Skulptur zu ihm. „Ist die für deine problematischen Jugendlichen?“
Boris zuckte mit den Achseln. „Die sind nicht problematisch, nur unbequem für den Rest dieser Gesellschaft.“
„Du musst dich damit ja auskennen.“
Boris widerstand nur mühsam dem Bedürfnis, Kai eine reinzuhauen. Wie jemand so so schön und gleichzeitig so ein Arschloch sein konnte würde ihm immer ein Rätsel bleiben. „Wenn ich sie jemals hier rausbekomm, vielleicht, sonst mach‘ ich mit denen auch so genug. Ist größer geworden als gedacht.“
„Was, sonst bleibt sie einfach hier stehen?“ Kai schnaubte spöttisch.
Boris hob die Augenbrauen. „Kannst gern versuchen, sie hier rauszutragen, ich schau dir gern dabei zu, wie du dir einen Bruch hebst.“
„Manchmal frage ich mich, ob du echt schon als Arschloch geboren wurdest“, stellte Kai fest und wandte sich nun doch komplett von der Skulptur ab. „Ich weiß echt nicht, wie gerade du sowas erschaffen kannst.“ Er deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Tontänzer.
Boris lachte. „Ist das ein Kompliment? Von deinen Lippen?“
„Einbildung ist auch eine Bildung.“ Kai seufzte tief. Sein Handy vibrierte erneut und er warf einen Blick auf das Display.
„Irgendwann“, sagte Boris impulsiv, „nehm ich das Ding und werf‘s aus dem Fenster, während du eins von deinen elendslangen Bädern nimmst.“
„Dann werf‘ ich dich hinterher“, sagte Kai und begann zu tippen.
„Das Essen wird kalt, Arschloch“, sagte Boris und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, „mir ist es ja egal, aber du bist hier die Prinzessin, die immer was zu mosern hat.“
Kai hörte auf zu tippen, presste die Lippen zu einem dünnen Strich und sah ihn an. Boris starrte unbeirrt zurück, und so maßen sie sich einen Moment lang stumm mit Blicken, bis Kais Handy erneut vibrierte und er zurück auf das Display blickte. Boris biss die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Zähne knirschten. Er hasste Kais Handy. Er hasste es, dass Kai keine gottverdammte Sekretärin anheuerte, er hasste Kais Koffer in seinem Vorzimmer und Kais Augen auf seiner Skulptur, und er hasste es, dass er Kai nehmen, auf seinen Schoß ziehen und festhalten wollte, bis er das Gefühl hatte, dass Kai wirklich hier war.
„Du solltest dir endlich eine Wohnung suchen“, sagte er rau, „ich hab‘s satt, so wie‘s ist.“
Das Tippen hörte erneut auf. Kai sah ihn mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an, dann wanderten seine Augen zurück zum Tontänzer mit seiner himmelwärts gestreckten Hand, ehe sie auf dem gedeckten Tisch ruhen blieben. Gott, sie waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Und in Momenten wie diesen war Boris sich sicher, dass Kai genauso empfand wie er, dass sie beide gefangen waren in einer Schleife, aus der sie sich nicht befreien konnten.
„Morgen“, sagte Kai schließlich. „Ich kümmere mich morgen darum.“
Dann schaltete er das Handy ab und setzte sich zu ihm, und Boris erwischte sich bei der flüchtigen Hoffnung, dass Morgen niemals kommen mochte.