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Cake & Scissors

Diary of a mad girl
von

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Entry 5

Mein Leben war von dem Tag an nicht mehr dasselbe wie bisher. Es war als ob jemand einen Schalter umgelegt und dem Bösen Einlass in meinen Kopf gewährt hätte. Jeder Tag war für mich ein neuer böser Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte oder besser gesagt, nicht konnte. Nach dem ersten Vorfall nach dem Fest habe ich die Anfälle noch weitesgehend kontrollieren können, doch sie wurden von Tag zu Tag schlimmer, bis ausschlaggebende Fragen zu meinem täglich Brot gehörten.

„Wieso bewegen sich die Schatten an den Wänden? Wieso wird es schwarz um mich herum? Wieseo verschwimmen die Gesichter auf den Gemälden zu hässlichen Fratzen? Wieso habe ich Blut an den Händen? Was wollte ich mit der Schere in meiner Hand?“

So schnell, wie diese Dinge auch passierten, so schnell war es meist auch wieder vorbei. Anfangs versuchte ich noch mit diesen Anfällen zurecht zu kommen, um meinen Eltern keine Angst zu machen, doch sobald eines dieser Dinge eintrat, fing ich an laut zu schreien, dass meine Stimme die Stimmen in meinem Kopf übertünchten. Zuerst war es nur ein leises Flüstern, dann wurde es zu einem lauten Schrei, der immer schriller wurde. Es war, als och ich Scherben in meinem Kopf hätte und sie andauernd in meinen Schädel und in die darüber liegende Haut schnitten. Wenn es unerträglich wurde, begann ich an meinen Haaren zu zerren bis ich mir einzelne Büschel rausgerissen hatte.

Besonders schlimm war es als Vater an einem Tag mit mir wieder das Zeichnen an Porträts üben wollte. Ich war gerade dabei das Gesicht eines Mannes im mittleren Alters zu zeichnen, es fiel mir mittlerweile nichts mehr schwer Gesichter auf die Leinwand zu bringen und das Gemälde war so gut wie fertig als sich plötzlich anfingen, die Farben zu bewegen und vor meinen Augen zu zerfließen. Aus dem hübschen Gesicht wurde eine mich angrinsende Fratze mit leeren Augenhöhlen, es war, als ob sie mir trotz des leeren Blickes bis tief in den Abgrund meiner Seele schauen würde. Plötzlich bemerkte ich Bewegung in den leeren Höhlen und rote Farbe wie Blut lief in dickflüssigen Tropfen aus dem schwarzen Tiefen des Mannes wie blutige Tränen. Ich ließ vor lauter Panik den Pinsel fallen und starrte auf meine zitternden Hände, die ebenfalls mit roter Farbe beschmiert waren. Aus Angst, es könne sich dabei um Blut handeln, fing ich erneut an zu schreien. Immer wieder brüllte ich „Raus aus meinem Kopf!“, bis ich die warme Umarmung meines Vaters spürte und die Wahnvorstellung schwand. Als ich die Augen öffnete, war da kein rote Farbe an meinen Händen und auch das Gesicht des Mannes war wieder normal. Andreas hielt mich ganz fest umklammert und ich erwiderte mit pochendem Herzen seine Umarmung.

„Meine kleine Emilie, ich bin da! Was hast du nur, mein Kind? Ich mache mir solche Sorgen um dich.“ Er tat mir so furchtbar leid. Ich hatte das Gefühl, dass Andreas mehr unter meinen Anfällen litt als ich. Noch nie hatte ein Mensch sich solche Sorgen um mich gemacht.

Was mir sehr half gegen die Ängste anzukämpfen, waren die Nachmittage, die ich mit Papa Chatan im großen Garten verbrachte. Dort erzählte er mir viel über seine Herkunft, wie es so ist an dem Ort, wo er herkam, banden Lederketten mit Federn und zeigte mir, entgegen den des Verbots von Andreas, wie man auf Bäume kletterte. Es war ein befreiendes Gefühl wenn wir hoch oben in der Krone des Baumes saßen und wir den Sonnenuntergang beobachteten. Eine von ihm gebundene Blumenkette legte er mir ins Haar.

„Vermisst du deine Familie manchmal, Papa Chatan?“ Eine Weile blieb es still, dann antwortete er nickend. „Ja, sehr sogar. Meine Gedanken sind jeden Tag bei meinem Volk und meinem Bruder. Natürlich seid ihr, du, Andreas und dein Großvater Ludwig auch meine Familie, ich verdanke Andreas mein Leben! Wer weiß, wo ich ohne ihn damals gelandet wäre. Als Sklave in einer gehobenen Familie oder vielleicht sogar in einem Freudenhaus. Aber Andreas...er hatte mich so herzlich aufgenommen. Er hatte keine Vorurteile gegenüber meiner Art und akzeptierte mich so, wie ich war.“ Ein verlegenes Lächeln huschte über sein hübsches Gesicht. „Ich war aber auch ein Wildfang. Man merkte, dass zwischen uns Welten lagen. Es war anfangs schwer, sich in diese Gesellschaft einzufügen aber mithilfe von Andreas' Unterricht sowie von Ludwig wurde aus mir ein Mann der Etikette. Emilie, du kannst mir glauben, dass ich sehr glücklich hier bin und auch, wenn es in unserer Welt verboten ist, ich liebe Andreas über alles. Ich würde ohne zu zögern mein Leben für ihn geben! Auch dich liebe ich wie mein eigen Fleisch und Blut. Aber manchmal blicke ich zum Horizont und höre mein Volk, wie es singend um das Feuer tanzt, eingehüllt in Federn und und die Gesichtsbemalung stolz tragend und vorne an mein Bruder, der seit einigen Jahren dort Häuptling ist. Ein Häuptling ist wie ein König, damit du es dir besser vorstellen kannst. Dyami...er ist sicher ein Häuptling, der seinesgleichen sucht. Ich würde ihn so gerne wiedersehen. Manchmal denke ich an die Zeit als Kind zurück und frage mich, ob ich es vielleicht irgendwann bereue, diesen Weg gegangen zu sein. Das Leben bei meinem Volk war unbeschwert, wie hatten unsere Regeln und jeder passte auf jeden auf, bis die Weißgesichter kamen und unser Volk durch einen Brand ausmerzten und mich entführten. Nicht alle Weißgesichter sind schlecht, das weiß ich jetzt aber wir hätten in Frieden weiterleben können. Mittlerweile, das weiß ich durch die Briefe, die mir mein Bruder zukommen lassen hat, haben sie das Dorf wieder aufgebaut und es herrscht Frieden dort.“

Eine Weile schaute ich Chatan traurig an. Sein sehnsüchtiger Blick glitt immer mehr in die Ferne, die ungewöhnlichen hellblauen Augen weit zum Horizont gerichtet.

„Dann lass uns doch eines Tages dorthin fahren! Ich würde sehr gerne deine Welt kennenlernen, Papa Chatan und ich könnte deine Familie kennenlernen und du könntest deinen Bruder wiedersehen. Außerdem würde ich sehr gerne mal mit einem Schiff fahren.“ Beinah erschrocken blickte Chatan mich an, tätschelte dann aber zärtlich meinen Kopf. „Ja, das könnten wir eines Tages vielleicht sogar machen. Das wäre schön. Aber nehm die Schiffsfahrt nicht so leicht hin, Emilie, als ich damals nach Deutschland verschleppt wurde, waren wir knapp an die 76 Tage unterwegs. Ich frage mich nur, ob Andreas das zulassen würde wenn wir fahren. Er hatte schon seinerzeit seine Bedenken geäußert, dass er Sorge hätte, dass ich wieder zu meinem Volk zurückwolle und nicht mehr mit nach Deutschland kommen möchte. Aber ich denke, seine Bedenken sind unbegründet. Ich bin ein anderer Mensch geworden, ich denke nicht, dass mein Volk mich heute so wieder aufnehmen würde. Außerdem...habe ich jetzt meine eigene Familie.“ Er fasste vorsichtig an meinen Hinterkopf und drückte seine Stirn sanft gegen meine. Ich schenkte ihm ein Lächeln und küsste seine Wange.

„Genauso wie Andreas bist auch du mein Papa und ich liebe dich genauso wie Andreas. Ich wünsche mir, dass du bei uns bleibst. Du bist ein wundervoller Mensch mit einer außergewöhnlichen Schönheit und einem sanften Wesen. Bitte bleib bei uns.“ Ich denke, damit hatte ich sein Herz berührt, denn ich sah Tränen vor Freude und Rührung in seinem Blick und merkte, wie er mich in den Arm nahm.

„Kleine Emilie, ich werde euch nie verlassen! Ich liebe euch! Ich möchte dir diese Kette schenken. Es ist eine traditionelle Bindetechnik meines Volkes. Sie wird dich auf allen deinen Wegen beschützen und egal, was passiert, du bist nicht alleine!“ Vorsichtig legte Chatan mir die Lederkette mit den farbigen Perlen und und der Feder um. Seine Worte rührten mich so sehr. Wir stiegen darauf langsam vom Baum hinunter und verloren gegenüber Andreas natürlich kein Wort darüber.

Ich wünschte mir so sehr, dass Chatan's Kette mich beschützen und mir seinen Segen geben würde aber die Schatten und Kreaturen und die Stimmen in meinem Kopf hielt sie leider nicht auf.

Von Tag zu Tag wurden diese Zustände schlimmer, beinahe passierte es mir als mir mein Kopf vorgaukeln wollte, dass Blut in meiner Tasse statt Tee wäre, dass mir das Teeservice beinahe zu Boden gegangen wäre. Wenn ich baden ging, tauchte ich tief ins Wasser, um die Stimmen um mich herum nicht zu hören. Dabei vergass ich beinahe einmal das Atmen und wenn Papa Andreas nicht gerade in der Nähe gewesen wäre, wäre ich wohl ertrunken.

Wenn es Abend wurde, spielte ich meistens noch ein paar Stücke auf meiner Violine auf der Fensterbank sitzend und hoffte, somit die bösen Gedanken zu verjagen, damit ich wenigstens mal eine Nacht vernünftig schlafen konnte. Doch sie kamen immer wieder. Ich begann mit mir selbst zu reden und mich zu beruhigen, bis ich das Gefühl bekam, jemand würde meinen Rufen antworten.

„Du bist nicht normal! Du bist wahnsinnig genau wie wir alle hier! Du wirst nie normal sein und den Menschen um dich herum nur weiter weh tun wie du es schon als Kind getan hast! Warum erlöst du dich nicht einfach selbst?“ Ich sah in den Spiegel und sah...mich...doch meine Haare waren blutrot zu einer Hochsteckfrisur mit dicken Locken zusammengebunden, mein Kleid war teils zerrissen und meine Haut kreidebleich als wäre ich schon tot. Mein Selbst grinste mich durch den Spiegel mit einer hässlichen Fratze an und es sah so aus, als ob es versuchen wollte mich zu greifen und durch den Spiegel zu kriechen. Ich schrie vor lauter Panik. „LASS MICH IN RUHE!“

Ich holte aus, die Stimmen in meinem Kopf wurden zu einen schrillen Schrei und als meine Faust im Spiegel landete, dieser in tausend Teile zersprang und die Scherben kreischend zu Boden gingen, erfüllte Schweigen und Stille den Raum. Das einzige, was ich hörte, was mein eigener Atem, der schwer und zitternd ging. Ich bemerkte nicht, wie meine Hand blutete, erst als Andreas und Chatan in mein Zimmer mit Angst in den Augen stürmten und mich ergriffen.

„Emilie, was ist geschehen? Um Gottes Willen, du blutest ja! Emilie, was ist passiert?“ Ich blickte Andreas schon fast geistesabwesend an. In meinem Kopf hallte das Klirren der Scherben wider und meine Stimme gleich einen leisen Wimmern, welches von einem Zittern durchzogen wurde.

„Vater, ich kann nicht mehr. Ich bin krank. Ich habe Angst...Angst euch oder jemand anderes zu verletzen. Andauernd höre ich diese Stimmen in meinem Kopf und diese Schreie. Sie verfolgen mich Tag und Nacht. Ich bekomme Nachts kein Auge zu weil sie immer da sind. Ich brauche Hilfe! Bitte helft mir, ich habe solche Angst!“

Andreas' Arme schlossen sich eng um mich. Er versuchte mich zu beschwichtigen und sagte, dass alles gut werden würde. Noch am selben Abend, nachdem meine Väter die Scherben entsorgt hatten besuchte uns ein Arzt, dem Andreas vertraute und untersuchte mich. Er führte diverse Untersuchungen mit mir durch, die ich auch weitesgehend überstand ohne Probleme. Als er mir allerdings eine Injektion mit einem Beruhigungsmittel setzen wollte, begann ich aus lauter Panik vor der Nadel wieder an zu schreien. Als der Anfall verflogen war, entschuldigte ich mich bei dem Arzt und fragte ihn, ob es möglich wäre, die Medizin auch über den Mund aufzunehmen. Er nahm es mir nicht krumm, nichtsdestotrotz war es mir unangenehm.

Später rief er meine Eltern zu uns. „Master von Kaustein, Ihre Tochter leidet an einer manischen Depression, auch bekannt als bipolare Störung. Die Wahnvorstellungen, unter denen sie leidet, rühren wohl von dem Missbrauch ihrer Vergangenheit im Waisenhaus her. Hat Emilie derartige Gefühlschwankungen schon mal vor Ihnen gezeigt?“

Andreas schaute an dem Doktor vorbei in meine Richtung, mein Blick war zum Fenster gerichtet. Ich beobachtete, wie die Gardinen durch den Wind immer wieder im Zimmer auf und ab wehten.

„Ehrlich gesagt...ja, es gab schon häufig solche Momente aber ich habe mir nie etwas dabei gedacht. Kinder sind oft übermütig, ihre Stimmungen können sich von einem auf den anderen Moment ändern. Aber es gab schon manchmal Momente, wo sie älter wurde. In einem Moment war sie voller Euphorie, im nächsten Moment voller Trübsinn. Dann wirkte sie wieder sehr zerstreut und leicht ablenkbar, wieder voller Rededrang und Ruhelosigkeit mit tausenden von Ideen.“

Der Doktor nickte schweigend. „Hat Emilie jemals von ihren Erfahrungen im Waisenhaus erzählt?“ Andreas schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben ihr aber immer die Wahl gelassen. Sie hätte immer mit uns reden können wenn sie das Bedürfnis gehabt hätte. Wir haben ihre Vergangenheit nie hinterfragt weil wir Sorge hatten, dass alte Wunden aufreissen könnten. Wir wollten, dass Emilie ein glückliches und unbeschwertes Leben führen kann. Liegt es an uns, Herr Doktor? Sind wir die Sache falsch angegangen?“

Wie er sich sorgte. Nein, meine Eltern hätte ich nie die Schuld dafür geben können. Als ob der Doktor meine Gedanken hätte lesen können schüttelte er den Kopf. „Nein, Master von Kaustein, sie trifft keine Schuld. Wenn Emilie nicht über ihre Vergangenheit reden wollte, ist das verständlich. Allerdings konnte sie ihre traumatischen Ereignisse nie richtig verarbeiten. Ich bin leider kein Therapeut oder Psychater, Master von Kaustein aber ich empfehle ihnen, sollte sich Emilie's Zustand nicht bessern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich habe ihrer Tochter soeben eine beruhigende Medizin gegeben, damit sie heute Nacht ruhig schlafe kann. Vielleicht wäre der erste richtige Weg zu reden. Gute Abend.“

Damit verließ der Doktor unser Haus, Chatan geleidete ihn noch zur Türe während Andreas sich zu mir ans Bett setzte. Eine Weile blickten wir uns schweigend an.

„Es tut mir so leid, Papa. Das Letzte, was ich wollte, war, dass ihr euch solche Sorgen um mich machen müsst. Ich bin wirklich eine furchtbare Tochter. Ich hätte von Anfang an mit euch reden sollen aber ich habe mich so geschämt.“

Andreas griff nach meiner Hand und streichelte sanft meinen Handrücken. „Emilie, du brauchst dich für nichts schämen. Ich kann gut verstehen, dass du versucht hast deine Vergangenheit hinter dir zu lassen. Es ist aber auch zum Teil meine Schuld. Ich habe so oft gesehen, wie du gelitten hast und habe nichts getan und gehofft, dass es dir bald wieder besser geht. Ich hätte mit dir reden sollen. Es tut mir so leid.“

Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf Andreas' Schoß. „Kannst du mir durch die Haare streicheln? Das beruhigt mich immer sehr.“ Ich schloss die Augen und ließ die Berührungen auf mich wirken. Sie waren warm und entspannten mich. „Ich habe die ganzen Ereignisse aus meiner Vergangenheit sehr gut verarbeitet nachdem ihr mich aufgenommen hattet, doch...an dem Abend, wo ich vor allen Gästen auf dem Fest spielen sollte, da ist etwas passiert. Da wären einige Mädchen um Lukas herum...dabei...wollte ich doch nur mit ihm reden. Sie fingen an mich zu triezen, hackten auf mir rum, beleidigten und beschimpften mich auf schlimmste Art. Danach...danach kam alles wieder hoch. So wie damals. Aber es war schlimmer als wie ich es als Kind erzählt hatte. Die Schwestern im Waisenhaus...ich denke, sie hatten mich bewusst als Opfer ausgewählt. Sie ließen andauernd ihren Frust an mir aus, schlugen mich mit Händen und Gegenständen, warfen Sachen nach mir, zogen mir an den Haaren. Sie meinten...ich hätte den Teufel auf der Schulter sitzen. Ich würde niemals eine Familie finden, die mich liebt. Sie waren der Meinung, dass ich nie aus dem Waisenhaus kämen und nahmen das zum Anlass, mich zu quälen. Mit den Schlägen kam ich irgendwann zurecht, auch wenn sie ungerechtfertigt waren. Ich bekam sogar Schläge für Dinge, die ich nicht verbrochen hatte. Aber sie taten mir immer wieder weh. Mit der Flamme einer Kerze verbrannten sie meine Hand als ich angeblich Kekse aus einer Keksdose gestohlen hätte. Sie pieksten mich mit einer Nähnadel in die Hand als ich mein einziges Kleid zerrissen hatte beim Toben. Ob ich denn wüsste, wieviel so ein Kleid wert wäre? Mehr als mein Leben, sagten sie. Sie suchten immer wieder Gründe, um mir zu schaden aber...ich ließ nicht zu, dass sie mich brachen. Ich war noch ein Kind aber ich wollte stark sein. Ich wollte die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit nicht aufgeben. Und jetzt...wo ich endlich frei bin...ich sehe andauernd Gesichter im Spiegel, die Wände, die Schatten bewegen sich und immer wieder sind da diese Stimmen und Schreie in meinem Kopf und ich kann nichts dagegen tun. Manchmal...manchmal möchte ich ein Messer oder eine Schere greifen und alles beenden.“

Ich spürte, als ich das sagte, wie Andreas' Hand aufhörte durch mein Haar zu streicheln. Er sagte nichts aber ich hörte seinen Atem, der schwer ging.

„Papa, bereut ihr es, dass ihr mich ausgesucht habt? Ich mache euch nur Ärger und Kummer, dabei...bin ich so glücklich bei euch und euch so dankbar.“ Bestürzt schaute ich hoch und sah...Tränen! Andreas...er weinte. Dann drückte er mich an sich. „Gott Emilie, wie kannst du nur sowas denken? Du bist meine, unsere Tochter und wir lieben dich über alles! Hätten wir das nur gewusst, hätte ich es gewusst! Ich würde alles dafür tun, um dir zu helfen! Bitte denk nie wieder, dass du uns eine Last wärst! Du bist unsere Tochter, wir wollten dich! Und nein, ich würde es niemals bereuen, dich ausgewählt zu haben! Emilie, für deine Störungen kannst du am wenigstens etwas! Du bist ein wundervolles, wissbegieriges und hübsches Mädchen und unglaublich begabt. Egal, was passiert, Chatan und ich, wir geben dich nicht auf! Wir werden alles tun, damit du ein glückliches Leben führen kannst.“

Ich war so erleichtert und so glücklich. Meine Arme legten sich um Andreas und hielten ihn feste. „Ich habe euch so furchtbar lieb, Papa.“
 

Die Tage darauf packte ich ein paar meiner wenigen Wertsachen ein, die ich fürs erste an den Ort nehmen würde, den ich von da an mein „neues Zuhause“ nennen würde. Wir hatten lange recherchiert und schließlich ein Heim für Geisteskranke gefunden, die dort behandelt werden sollten. Auf eigenen Wunsch wollte ich dort eingewiesen werden, denn ich wusste nicht, zu was ich in meinem jetzigen Zustand fähig wäre. Was wäre, wenn ich Chatan oder Andreas wirklich ernsthaft verletzen würde? Meiner einzigen Familie zu schaden war das Letzte, was ich wollte. Andreas fiel es sehr schwer mich gehen zu lassen. Ich bat inständig darum, kein Wort zum Rest der Familie zu verlieren, insbesondere Lukas nicht. Als Andreas fragte, warum insbesondere Lukas nicht von meinem Aufenthalt erfahren sollte, antwortete ich etwas verlegen und einem Lächeln auf den Lippen.

„Ich möchte, dass Lukas mich in Erinnerung behält, so, wie wir nach meinem Stück miteinander gesprochen hatten. Noch nie...hatte er mich so angelächelt. Ich möchte dieses Lächeln für immer bei mir behalten. Die Erinnerung an diesen Abend, die Erinnerung mit Lukas, dieser Moment gehört nur mir.“ Andreas musste etwas grinsen. „Er scheint dir sehr wichtig geworden zu sein. Liebst du ihn?“

Zaghaft zuckte ich mit den Schultern. „Liebe? Vielleicht. Wenn ich an Lukas denke, fängt mein Herz an zu schlagen. Aber bin jemand wie ich überhaupt im meinem jetzigen Zustand überhaupt in der Lage, jemanden zu lieben? Ich denke nicht, dass ich diejenige bin, die an seiner Seite sein wird. Bestimmt...wird ein anderes Mädchen ihn eines Tages sehr glücklich machen.“

Vorsichtig legte Andreas mir eine Hand auf die Schulter. „Mach dich bitte nicht so fertig, Emilie. Du bist eine wundervolle junge Frau und glaub mir, wenn ich dir sage, dass du mir auf so viele schöne Arten bereits deine Liebe gezeigt hast. Wenn du wieder nach Hause kommst, solltest du Lukas aufsuchen und es ihm sagen.“

Ich sah Andreas hoffnungsvoll an und nickte anschließend. Ein letztes Mal schloss ich meinen Vater in den Arm. „Ich hab dich so lieb, Papa und auch Papa Chatan. Ich bin bald wieder da!“

„Wir lieben dich auch, von ganzem Herzen. Wir warten auf dich, Emilie.

Das sollte fürs erste das letzte Mal sein, wo ich meinen Vater in die Arme schließen sollte. Hätte ich gewusst, welche Hölle auf mich wartete, ich wäre längst wieder aus der Kutsche gestiegen. In dem Moment, als ich die Anstalt betrat, wusste ich, dass es keinen Weg zurück geben würde. Ich hatte die Pforten zur Hölle betreten und mein Leben sollte nicht mehr dasselbe sein wie vorher.



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