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Seelenschatten

HPYGO
von

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Von Geistern, Gespenstern und Monstern


 

Von Geistern, Gespenstern und Monstern

 
 

*

 

Draußen läutete die Schulglocke. Aber niemand rührte sich. Niemand sagte etwas. Es war so still, dass man den Wind an den Fensterläden rütteln und durch die zugigen Dichtungen pfeifen hören konnte.

Schließlich brach Atemu als Erster das Schweigen.

»Du siehst mich?« Sein Gesichtsausdruck war gespenstisch gleichgültig. Er hatte ein perfektes Pokerface aufgesetzt. Nur Yugi konnte er damit nicht täuschen. Weil Yugi genau wusste, dass es sich um ein Pokerface handelte.
 

»Natürlich«, sagte Myrte.
 

»Wie?«, fragte Atemu.
 

Myrte glotzte ihn an. »Du verarschst mich.« Ihre Lippen bebten unheilverkündend.
 

»Nein.«
 

Myrte entfuhr ein verächtlicher Laut. »Dann kannst du nicht besonders helle sein.«

 

Rasch tauschten Yugi und Atemu einen Blick aus, der so vielsagend war, dass er ein ganzes Gespräch abbildete. Sie brauchten keine Worte, um einander zu verstehen.

Yugi trat einen unsicheren Schritt auf Myrte zu. »Wir legen dich nicht rein. Wieso sollten wir-«

 

»Oh ja, klar«, unterbrach Myrte ihn verächtlich. Sie rümpfte die Nase. »Ständig kommen Leute her, um mich zu hänseln. Warum sollte es bei euch anders sein?«
 

»Weil wir gar nicht wussten, dass du hier lebst. Wir wollten nur ungestört miteinander reden.«
 

»Ja, ihr wolltet über mich reden! Hinter meinem Rücken! Uhuuuuuu!« Myrte heulte auf. Große, dicke Tränen rollten über ihre Wangen und fielen vor ihren Füßen zu Boden, wo sie sich in silbrigen Dampf auflösten.
 

»Wir wollten wirklich nicht- … Es tut uns leid«, sagte Yugi in dem Bemühen, Myrte zu beruhigen. Doch es war zwecklos. Myrtes Klagen besaßen die Durchschlagskraft von Sirenenlärm. Das karge Badezimmer öffnete ihr zusätzliche akustische Möglichkeiten.  

Nervös spähte Yugi über seine Schulter, um die Tür im Auge zu behalten. Er bekam es mit der Angst zu tun. Er war bereits spät dran und wenn ein Schüler Myrte hörte – und dies war quasi unumgänglich in Anbetracht ihrer Lautstärke – und ihn hier entdeckte, dann wäre er gezwungen zu erklären, was er in diesem defekten, heimgesuchten Badezimmer in erster Linie zu suchen hatte.

 

»Geh zurück«, sagte Atemu und machte eine ruckartige Kopfbewegung zur geschlossenen Tür.
 

»Aber was ist mit …« Hilflos blickte Yugi zu Myrte.
 

»Ich kümmere mich darum.«
 

Verdutzt sah er Atemu an. »Du?«
 

Atemu machte ein Gesicht, als läge ihm ein saurer Geschmack im Mund. Aber er stand zu seiner Entscheidung. »Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Jemand muss zu den Schülern zurück und vor ihren Augen können wir nicht tauschen.«
 

»Funktioniert das überhaupt? Du bist immer noch an das Puzzle gebunden«, meinte Yugi skeptisch. Im Kopf versuchte er, den Abstand zwischen Badezimmer und Klassenraum abzuschätzen. »Ist die Entfernung nicht zu groß?« 
 

»Seitdem Zorc vernichtet wurde, hat sich der Radius, in dem ich mich frei bewegen kann, deutlich vergrößert. Für diese Zwecke sollte er ausreichen.«
 

Erneut blickte Yugi zu Myrte, die sich offenbar mit dem allergrößten Vergnügen ihrem Selbstmitleid hingab. Ihr Schluchzen traf ihn bis ins Mark. Yugi gefiel der Gedanke nicht, Atemu mit einem hysterischen Geistermädchen allein zu lassen. Atemu war ein brillanter Stratege, doch gelegentlich mangelte es ihn am nötigen Feingefühl, wenn er auf menschlicher Ebene agierte. In dieser Hinsicht war er Seto Kaiba oftmals ähnlicher als beide es offen zugaben.

Aber Yugi wusste auch, dass es keine andere Möglichkeit gab.
 

»Und du kommst wirklich zurecht?«, versicherte er sich besorgt.
 

Atemus Kiefermuskulatur spannte sich an. »Ich muss sicherstellen, dass sie niemanden von meiner Existenz erzählt. Wenn mir das nicht gelingt, müssen wir uns eine neue Vorgehensweise überlegen.«
 

Das war keine Antwort auf Yugis Frage, aber er gab sich damit zufrieden. Außerdem rann ihnen die Zeit davon.
 

»Okay. Aber pass auf dich auf, ja?«
 

»Du bist derjenige, der in ein Klassenzimmer voller halbausgebildeter Magier zurückkehrt«, gemahnte Atemu und ließ sich zu einem spitzbübischen Grinsen hinreißen, »Du solltest auf dich achtgeben, Partner.«

 

Yugi lächelte nervös, bevor er das Badezimmer verließ.

 
 

*

 

Als Yugi fort war, gefror Atemus aufgesetztes Lächeln. Auch ihm missfiel diese Situation. Denn er war sich vollkommen im Klaren darüber, dass er keine geeignete Person war, um ein emotional aufgewühltes Mädchen zu beruhigen. Erfahrungsgemäß goss er eher Öl ins Feuer, als selbiges zu löschen.
 

Myrte schien ähnliches Missfallen an ihrer Lage zu empfinden.

»Warum bist du noch hier?«
 

Atemu hatte nicht erwartet, dass man sein Verbleiben so schnell zur Kenntnis nahm. Doch er verbarg seine Überraschung hinter einer einstudierten Maske der vollkommenen Gleichgültigkeit. »Ich habe noch Fragen an dich.«
 

»Wer sagt, dass ich mit dir reden will?«, fragte Myrte und schob schmollend die Unterlippe vor.  
 

Atemu überging ihren Einwand. Er verschränkte die Arme; hob das Kinn in geübter Manier. Sein Gebaren unterstrich, dass er keinen Widerspruch zuließ. »Warum siehst du mich?«
 

Myrte zögerte und beäugte ihn argwöhnend. Offenbar überlegte sie, ob es nicht deutlich klüger war, einzulenken. Schließlich gab sie nach. »Weil alle magischen Menschen Gespenster sehen. Und ich war eine Hexe, bevor ich … bevor ich gestorben bin!« Sie gab einen wehleidigen Laut von sich.  

 

»Also sind alle Schüler imstande, dich wahrzunehmen?«
 

»Ja«, antwortete Myrte. Geräuschvoll schnäuzte sie in ihren Umhang. »Sie kommen her und geben mir Spitznamen und werfen Sachen durch mich hindurch. Manchmal mache ich mich unsichtbar, aber sie wissen trotzdem, dass ich hier bin, weil das mein Badezimmer ist, und warten auf mich.« Erneut brach Myrte in Tränen aus, die über ihre aufgedunsenen Wangen rollten.
 

Atemu bemaß dem Badezimmer eine halbherzige Inaugenscheinnahme. Angesichts der zersprungenen Kacheln, der zugigen Fenster, der stockfleckigen Spiegel und des zertrümmerten Mobiliars schien ihm sogar das einstige Labyrinth seines Seelenraumes eine angenehme Herberge gewesen zu sein.
 

»Kannst du diesen Ort verlassen?«
 

»Ich könnte …«, meinte Myrte vage.
 

»Warum tust du es nicht?«
 

Dieses Mal erhielt er keine Antwort, sofern ein ihm plötzlich zugewandter Rücken nicht eine hinreichende Antwort war. Der Geist des Millenniumspuzzles musste ernsthaft dem Drang widerstehen, mit den Augen zu rollen. Dafür knirschte er so stark mit den Zähnen, dass es ihm in einem Körper sicher unangenehm gewesen wäre. Vielleicht lag es an ihrem frühen Tod, vielleicht war Myrte bereits zu Lebzeiten so gewesen … welcher Umstand auch immer dazu geführt, dass aus ihr eine derart anstrengende Persönlichkeit geworden war, Atemu neigte dazu, diesen Grund zu verdammen.

Er bemühte sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken … oder es in irgendeiner Form überhaupt aufrechtzuerhalten. Aber Myrte zeigte sich wenig überraschend völlig unkooperativ. Sie hielt ihm weiterhin den Rücken zugewandt.

Als Atemus Frustration drohte, sich deutlich kenntlich zu machen, gab er es auf. Unter diesen Umständen war es wahrscheinlicher, dass er die Situation vollständig festfuhr. Ruckartig machte er kehrt und schickte sich an, mit wehenden Umhang und weiten Schritten das Badezimmer zu verlassen. Er war bereits an der Tür.
 

Es gab einen lauten Knall; gefolgt von einem klirrenden Geräusch. Myrte kreischte schrill. Jemand anderes keckerte gehässig.
 

Instinktiv zog sich Atemu eine dunkle Ecke zurück. Von dort überprüfte er das Badezimmer. Er entdeckte Myrte, die sich mitten in der Luft zusammengekauert hatte; den Kopf tief zwischen die Schultern geduckt und die Arme darüber verschränkt. In einer Pfütze zu ihren Füßen glänzten Bruchstücke eines frisch zerbrochenen Spiegels und ein vom Wasser feuchter, faustgroßer Stein. Ein Spiegel, der zuvor noch intakt gewesen war, hing zertrümmert über der Reihe Porzellanwaschbecken. Und direkt dort drüber schwebte eine groteske, menschenähnliche Gestalt. Atemu fühlte sich entfernt an einen Zirkusclown erinnert. Der Mann war klein und untersetzt; auf seinem Kopf saß ein seltsamer Glockenhut, der bei jeder Kopfbewegung klingelte. Unter seinem Kinn war eine orangefarbene Fliege befestigt, die eigenständig rotierte. Es sah lächerlich aus.
 

»Hallo Myrte«, sagte der Mann in einem hochgradig vergnüglichen Tonfall. Seine Haut wirkte schrecklich fahl, aber im Gegensatz zu Myrte war seine Erscheinung körperlich. Trotzdem fehlte ihm die Präsenz eines lebenden Menschen.
 

»Peeves, was willst du?«

 

»Och …«, gab Peeves gespielt harmlos zurück, »Du bekommst so selten Besuch, da dachte ich, du würdest dich über meine Gesellschaft freuen.« Peeves schenkte ihr ein schrecklich breites Grinsen, welches seine fauligen Zähne entblößte. Es war das Lächeln eines Löwen, dem man eine verwundete Gazelle vor die Nase gesetzt hatte.
 

»Lass mich in Ruhe!«, kreischte Myrte und flüchtete zwischen die Überreste ihrer bevorzugten Toilettenkabine. Nervös spähte sie zwischen zwei zerborstenen Holzlatten hindurch.
 

»Oh, wie unhöflich du doch bist.« Peeves Augen, welche von einem widernatürlichen Orange waren, funkelten tückisch. Der dahinter schlummernde Wahnsinn leuchtete auf. »Kein Wunder, dass dein Tod niemanden aufgefallen ist … wann haben sie das Mädchen geschickt, um nach dir zu suchen?« Er legte auffordernd die Hand an ein Ohr.
 

»Hör auf!« Tränen schossen in Myrtes Augen. In Erwartung des Kommenden drückte sie sich die Hände auf die Ohren.  
 

Peeves gackerte vor Schadenfreude. Er stimmte einen hämischen Singsang an:

»Myrte, oh, Myrte,

Gestorben ist sie hier;

gefunden erst nach Stunden derer vier.

Ihr Körper war da schon am Verwesen.

Und der Voldi, ja, der ist’s damals gewesen.
 

Myrte, oh, Myrte,

so sieh es endlich ein.

Ewig bleibst du ganz allein.

Niemand wird dich je vermissen

denn alle haben dich vergessen.«
 

Myrte stieß ein klagend schluchzendes Geräusch aus, das Peeves große Genugtuung verschaffte. Erneut gab er ein Keckern von sich. Sein Kopf rotierte widernatürlich auf den Schultern. Er löste sich auf und tauchte hinter Myrte wieder auf, wo er an ihren Zöpfen zog.
 

Atemu reichte es. Er hatte genug mitbekommen. Seine Mimik veränderte sich; wurde düsterer und bedrohlich. Er kannte Menschen, die wie dieser Peeves waren. Als er noch angenommen hatte, Yugi zu sein, war er vielen wie ihm begegnet. Menschen, die die guten Menschen verachteten, die Schwachen unterdrückten und die Unschuldigen misshandelten.  Damals hatte sich Atemu ihrer angenommen und sie für ihre Handlungen zur büßen lassen. Inzwischen war er sich des Unrechts seiner eigenen Tat bewusst. Aber seine Überzeugungen hatten sich nicht verändert. Ungerechtigkeiten tolerierte er nicht.  

Energischen Schrittes trat er aus dem Verborgenen. Seine Schultern waren gestraft und sein Umhang wehte dramatisch. Sein Auftritt schien etwas in der Atmosphäre zu verschieben. Er musste kein Wort verlieren, um sich der Aufmerksamkeit von Peeves und Myrte gewiss zu sein. Peeves drehte den Kopf in seine Richtung.
 

»Sieh mal einer an, Myrte. Du hast ja bereits Gesellschaft«, posaunte Peeves höhnend und ließ von Myrte ab. »Was für eine ehrliche Überraschung …« Er sank tiefer, bis er sich mit Atemu auf Augenhöhe befand. Abschätzend beäugte er dessen Erscheinung, die kaum weniger fremdländisch war als Peeves eigene. Ein hässliches Hohnlächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Was soll der lächerliche Aufzug?«
 

Atemu erinnerte sich entfernt an eine Redewendung, die in direktem Zusammenhang mit einem Glashaus stand. Ohne auf Peeves einzugehen, wandte er sich an Myrte. »Gehört er zu denen, die dich schikanieren?«
 

Die Augen der maulenden Myrte wurden hinter den dicken Brillengläsern groß wie Untertassen. Für einen Moment schien sie aufrichtig überrascht. »Das ist Peeves!«, erklärte sie letztendlich, »Er hat mich schon geärgert, als ich noch am Leben war. Er hänselt alle Schüler!«
 

»Verleumdung!«, rief Peeves empört dazwischen. Sein schiefes Grinsen sprach jedoch mehr Wahrheit. »Ich will ihnen doch nur was Gutes tun. Ständig sind die lieben, kleinen Racker so ernst. Sie machen Hausaufgaben, lernen oder trainieren Quidditch. Sie wissen gar nicht mehr, was Spaß ist. Ich versuche lediglich, sie aufzuheitern.« Rittlings warf er sich auf den Rücken. Er schwebte durch die Luft, als läge er auf einer Luftmatratze.
 

»Das sind ehrenwerte Absichten«, bemerkte Atemu, »Allerdings scheint es mir, sie stoßen nicht auf sehr viel Gegenliebe.« Demonstrativ machte er eine Handbewegung in Myrtes Richtung.
 

Peeves keckerte verhalten. »Och, die ist doch nur verklemmt.« Er setzte zu einem Purzelbaum an.
 

»Verstehe.« Atemu sprach betont langsam. Die Verachtung, die in seinen Worten mitschwang, war somit deutlicher. »Trotzdem wirst du es künftig unterlassen.«
 

Peeves blieb kopfüber in der Luft hängen. Seine Lider flatterten überrascht.
 

»War das ein Befehl?«
 

»Gut erkannt.«
 

»Uh, wie ungehobelt.« Auf Peeves Gesicht trat ein hässlicher, fratzenhafter Ausdruck; ungewöhnliche spitze Zähne kamen zum Vorschein. Er hob einen Zeigefinger und wedelte mahnend damit. »Hat dir niemand beigebracht, dass man anderen keine Befehle erteilt?«
 

»Ich befürchte, das Gegenteil war der Fall.« Atemus selbstgefälliges Lächeln stand dem von Peeves in Nichts nach. Er gestand sich ein, dass ihm diese Konfrontation deutlich mehr Vergnügen verschaffte, als es angebracht gewesen wäre. Wenn er Yugi von den Geschehnissen berichtete, sollte er sicherstellen, ihm diesen Umstand besser zu verschweigen.
 

Peeves geriet aus dem Konzept. Widerwillig kehrte er in seine Ausgangsposition zurück. Sein Gesicht war nicht wiederzuerkennen. Jedes Zeichen seiner frevelhaften Freude war längst abgewischt worden. Seine Lippen hatten sich verärgert verzogen. Zorn loderte in seinen verengten Augen.
 

»Wer bist du?«, zischte er harsch, »Ich kann mich nicht erinnern, dich hier schon einmal gesehen zu haben …«
 

»Du wirst sie von nun an in Ruhe lassen«, hielt Atemu unbeeindruckt dagegen.
 

»Ach? Und wenn nicht?«
 

»Nun, in diesem Fall …« Atemu lächelte dunkel und begann, einen alten Zauber zu rezitieren. Die Worte klangen fremd und waren in einer Sprache verfasst, die schon vor Jahrhunderten begraben worden war. Dann machte er eine wischende Handbewegung. Die Magie wirkte. Aus dem Nichts erschien ein braunes, kugelförmiges Wesen mit zotteligem Fell. Es besaß vier grüne, krallenbesetzte Pfoten und große, violette Kulleraugen, mit denen es überrascht blinzelte.
 

Peeves argwöhnte das Geschöpf.
 

»Das ist Kuriboh«, erklärte Atemu, »Er ist … eine Art Haustier.«
 

Kuriboh stutzte, als sein Name fiel. Neugierig purzelte er um die eigene Achse; entdeckte seinen Beschwörer und ruderte fröhlich mit seinen Pfötchen.
 

»Kuriiiiii!«
 

Peeves nahm dies zum Anlass, in ein schallendes Gelächter zu verfallen.

»Du drohst mir mit einem Kuscheltier?!«, rief er gehässig aus, »Oh, wie furchteinflößend! Ich zittere vor Angst.« Er krümmte sich vor Lachen und hielt sich den Bauch. Die Schellen an seinem Hut klingelten schrill.
 

Kuriboh bemerkte, dass man ihn verhöhnte. Erbost darüber plusterte er sich auf. Sein Fell sträubte sich wie bei einer wütenden Katze. Er fuchtelte wild mit seinen Gliedmaßen. Es war, zugebenermaßen, nicht sonderlich einschüchternd.
 

Peeves stieß ein schrilles Wiehern aus. Er klopfte sich auf die Schenkel.

Seine Erheiterung hielt jedoch nur solange an, bis Kuriboh auf ihn zuschoss. Ihm blieb keine Zeit zu reagieren. Kuriboh vergrub seine kleinen, spitzen Zähne in einem von Peeves Waden. Peeves schrie vor Schmerz auf. Heftig schüttelte er das Bein. Aber Kuriboh hatte sich fest darin verbissen. Seine Hartnäckigkeit war eine der Eigenschaften, weswegen Atemu Kuriboh bevorzugt beschwor. Außerdem war seine Handlichkeit ein Vorteil. Andere Bestien hätten sehr wahrscheinlich die Grenzen des Badezimmers gesprengt; zumal ihre Beschwörung mehr magische Kraft kostete.  
 

»Lass los!«, keifte Peeves. Er wandte sich wie eine Schlange. Sogar einen Looping drehte er. Nur ließ sich Kuriboh dadurch nicht abschütteln. Er versenkte seine Zähne tiefer in Peeves Unterschenkel. Schließlich wandte sich dieser zornig an Atemu und spie ihn an: »Pfeif es zurück!«
 

Atemu zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Du weißt, was du zu tun hast.«
 

Peeves zog eine grässliche Fratze. Unverkennbar war der Zorn, der in seinen Augen brannte. »Schön, ich verschwinde!«, schrie er.
 

Sofort zog sich Kuriboh zurück und kehrte an Atemus Seite zurück.

Peeves untersuchte den angerichteten Schaden. Die Spuren der Attacke waren deutlich sichtbar. Sein Hosenbein war mit kleinen Löchern perforiert. Wütend starrte er Atemu an.
 

Dieser hob lediglich eine Augenbraue – eine knappe, aber deutliche Aufforderung. Neben ihm stieß Kuriboh ein warnendes Knurren aus. Zähneknirschend nahm es Peeves zur Kenntnis. »Das wirst du mir büßen«, versprach er, bevor er sich davonmachte. Er stieß einige frevelhafte Flüche aus und verschwand durch eine dicke Mauer.
 

Sogleich ließ Atemu die gestrafften Schultern sinken.

Neben ihm gab Kuriboh einen fröhlichen Laut. Er schob sich näher an seinen Beschwörer heran. Sein Kopf stieß dorthin, wo bei einem materiellen Körper die Rippen sein mochten.

Überrascht sah Atemu zu ihm hinab. »Richtig«, sagte er, als er Kuribohs stumme Bitte verstand. Er streckte eine Hand aus, um Kuriboh zu streicheln, der daraufhin selig gurrte. Es war kein wirklicher physischer Kontakt, doch einem Ka-Monster genügte es. »Ich danke dir, mein Freund. Das hast du gut gemacht. Und verzeih mir bitte, dass ich dich als Haustier bezeichnen musste. Aber es wäre nicht klug gewesen, ihm zu erklären, was du bist.«
 

Die Ka-Bestie schmiegte sich noch einmal an seinen Herren, dann verschwand sie so plötzlich, wie sie zuvor erschienen war. Atemu sah Kuriboh lange nach, als könnte er ihn auf der anderen Seite noch erblicken.
 

»Du …«
 

Atemu wurde von Myrte aus seinen Gedanken gerissen. Sie hatte sich endlich aus ihrem Versteck gewagt. Langsam schwebte sie auf ihn zu. Ihre Tränen waren getrocknet; ihre Augen hinter den Brillengläsern schrecklich vergrößert. Sie sah aus wie blasses Insekt.  
 

»Du …«, sagte sie erneut.
 

Atemu gab ihr keine Antwort. Er hatte ihre Anwesenheit beinahe vergessen. Argwöhnend beobachtete er sie.  
 

Myrte zog einen Schmollmund, weil er ihr nicht antwortete. »Du hast mir geholfen«, erklärte sie.
 

»Stimmt.«
 

Das Geistermädchen machte ein Gesicht, als hätte sie ihn für diese dämliche Antwort am liebsten angeschrien. Doch schließlich besann sie sich eines Besseren. Sie holte tief Luft und meinte frustriert: »Na, schön, was willst du wissen?«

 
 

*

 

»Also gibt es verschiedene Formen von Geistern?«
 

Yugi saß am Fußende seines Bettes. Im Kamin brannte ein Feuer und auf dem Schreibtisch stand eine altmodische Laterne. Beides hatte bereits gebrannt, als Yugi den Raum betreten hatte, was sein Glück war. Er hatte keinen Schimmer, wie man ein Feuer aus dem Nichts heraufbeschwor. Draußen war es dunkel. Die Nacht setzte so weit oben im Norden recht früh ein, obwohl es nun doch schon auf Mitternacht zuging.

Yugi gegenüber saß Atemu. Das warme Licht fiel durch seine Form ohne einen Schatten zu hinterlassen. Zwischen ihnen hatten sie auf einem provisorischen Tisch aus dicken Büchern ein Schachbrett aufgebaut. Es war ein magisches Schachspiel, welches sie in der Winkelgasse aufgetrieben hatten.
 

»Das ist zumindest meine Annahme«, sagte Atemu. Konzentriert studierte er das Schachbrett. »Bauer nach E5.«
 

Yugi gab den Befehl an Atemus Figuren weiter. Ein schwarzer Bauer bewegte sich schleppend vorwärts. Laut stellte er den Geisteszustand Yugis infrage, weil dieser gegen sich selbst spielte. Yugi ignorierte ihn und fragte Atemu: »Wie viele?«
 

»Mir fallen zunächst drei Kategorien ein, aber durchaus möglich, dass noch mehr existieren.«
 

»Verstehe«, sagte Yugi. Er wies seinen Springer an, auf F4 vorzurücken. Dann begann er, alle Geister, die ihm bekannt waren, an einer Hand aufzuzählen: »Peeves, Myrte und … du. Peeves ist ein Poltergeist, das heißt …«
 

»… er ist tot, besitzt aber eine physische Präsenz wie ein lebender Mensch. Außerdem ist er an dieses Schloss gebunden. Bauer ebenfalls nach F4.«
 

Der schwarze Bauer johlte plump; er zückte zwei ansehnliche Säbelschwerter und zerschlug Yugis Springer in einer geschmeidigen Bewegung in Stücke.

Geistesabwesend sammelte Yugi die Trümmer vom Feld. »Myrte wiederum ist ein Gespenst«, sprach er weiter, »Sie ist farblos und durchsichtig und kann nur mittels Magie mit der materiellen Welt interagieren. Und sie wurde zu einem Gespenst, weil sie sich weigerte, ins Jenseits einzukehren.«
 

»Das war zumindest ihre Behauptung. Sie ergibt insofern Sinn, dass sie erklärt, warum es zu meiner Zeit wohl nur sehr wenige Gespenster gegeben hat.«
 

»Weil die Vorstellung, jemand könnte sich weigern, ins Jenseits überzutreten, nicht mit dem zu vereinbaren ist, was euer Glaube euch gelehrt hat.«
 

»Ganz genau«, bestätigte Atemu, »Ich möchte nicht bestreiten, dass es nicht vorgekommen ist, doch diese Fälle dürften rar gewesen sein und waren gewiss nie jemanden zu Ohren gekommen, der mit dem Palast in Verbindung stand und als allerletztes dem Pharao. Die damit verbundene Schmach dürfte zu groß gewesen sein, um dieses Risiko einzugehen.«
 

»Hm.« Abwesend strich Yugi mit dem Daumen über den zerbrochenen Springer, den er noch in der Hand hielt. Er spürte, wie sie sich magisch selbst zusammensetzte. Unter seiner Haut schlossen sich die Risse. »Und was ist mit dir?«
 

»Was das betrifft, bin ich mir nicht ganz sicher. Ich besitze weder einen physischen Körper wie Peeves noch bin ich farblos wie Myrte. Außerdem kann ich nicht von den Schülern gesehen werden …«
 

»… aber dafür sowohl von Myrte als auch von Peeves«, beendete Yugi den Satz. Er stellte die reparierte Schachfigur neben das Spielbrett, von wo aus sie energisch ihre Kameraden anfeuerte. Yugi hatte seinem Läufer die Anweisung gegeben, Atemus Bauern anzugreifen, der sich überraschend heftig zur Wehr setzte. »Glaubst du, dass hängt damit zusammen, dass ihr alle … naja …«
 

»Dass wir tot sind?«, bot Atemu hilfreich an. Er wirkte deutlich unbekümmert, was diesen Umstand betraf. Unbeeindruckt verfolgte er das Scharmützel auf dem Spielfeld. »Möglich. Andererseits war auch der Grabräuber tot und obwohl er sich ständig in Ryous Nähe herumgetrieben hat, haben wir einander nie gesehen.«
 

Yugi zog ein Knie dichter an seinen Körper und legte sein Kinn darauf.

Irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Die maulende Myrte hatte Atemu erklärt, dass alle magischen Menschen, und Geister selbst zählten ebenfalls in diese Kategorie, Geister sehen konnten. Aber kein Schüler und auch nicht Professor Dumbledore hatte je Atemu wahrnehmen können. Außerdem hatte Myrte darauf bestanden, dass diese Fähigkeit ausschließlich magischen Menschen vorenthalten war. Denn offenbar hatten ihre Eltern, die Muggel gewesen waren, den Geist ihrer Tochter nicht sehen können, als sie von ihrem Tod erfuhren hatten. Das erklärte zwar Myrtes Gemütszustand, warf aber neue Fragen auf. Yugi war ebenfalls nicht magisch, aber er hatte die maulende Myrte trotzdem gesehen. Er fragte sich …
 

»Glaubst du, Myrte könnte mich auch sehen?«
 

»Wie?« Atemu blinzelte perplex.  
 

»Wenn wir tauschen, meine ich«, erklärte Yugi seinen Gedanken, »Theoretisch bin ich ja dann nicht tot …«
 

Atemu dämmerte, worauf er hinauswollte.
 

»Das wäre tatsächlich interessant zu erfahren«, sagte er nachdenklich, »Aber dafür müssten wir Myrte bitten, uns noch einmal zu helfen. Und ich weiß nicht, ob sie dazu bereit wäre. Ihre Verfassung ist ziemlich instabil. Sie hat meine Fragen auch nur beantwortet, weil ich ihr diesen Peeves vom Leib gehalten habe, vor dem du dich übrigens in Acht nehmen solltest.«
 

»Ist er so schlimm?«
 

»Er macht sich einen Spaß daraus, Schwächere zu misshandeln«, gab Atemu grimmig zurück. Die Art, wie er sprach und das Gesicht zu einer Grimasse verzog, machte deutlich, dass er Peeves gern eine prägendere Lektion erteilt hätte.
 

Yugi missfiel das. Aber er sprach es nicht aus. »Ich werde aufpassen«, versicherte er bloß.
 

»Gut. Und noch etwas. Peeves hat angedeutet, dass Myrte von diesem Voldemort ermordet wurde.«
 

Yugi öffnete den Mund, aber nun wollte ihm kein Wort mehr hinauskommen.  
 

»Ich habe sie danach gefragt«, fuhr Atemu fort, »Sie sagte, es stimme. Vor fünfzig Jahren ist sie in diesem Badezimmer gestorben. Allerdings wusste sie lange Zeit nicht, wer sie umgebracht hat. Der Fall hat sich erst vor zwei Jahren aufgeklärt. Und maßgeblich daran beteiligt war dieser Harry Potter.«
 

»Was?« Yugi riss die Augen weit auf. Ausgerechnet der Junge, der zufällig Lord Voldemorts Fluch überlebt hatte, sollte nun ebenfalls in der Aufklärung eines Mordfalls verstrickt gewesen sein, den Voldemort vor fünfzig Jahren verantwortet hatte? »Das ist kein Zufall, oder?«
 

»Schwerlich.«
 

Plötzlich erhob sich Atemu. In einer fließenden Bewegung glitt er vom Bett und schritt zum Fenster hinüber. Er blickte hoch in den Nachthimmel, wo unzählige Sterne den mitternachtsblauen Grund bedeckten.
 

»Glaubst du«, begann Yugi und ihm war bewusst, dass er ein heikles Thema anschnitt, »Professor Dumbledore weiß mehr darüber?«
 

»Mit Sicherheit. Aber er wird einen Teufel tun, uns alle Zusammenhänge zu erklären.« Atemu schnaubte verächtlich. Weiterhin sah er zu den Sternen hinauf.
 

Weil Yugi Atemu kannte und ihm klar war, dass dem Pharao heute wohl nicht mehr danach stand, ihr Spiel zu beenden, entschied er, es für heute zu beenden. So rutschte er ebenfalls vom Bett und räumte das Schachbrett und die Bücher fort. Die Spielfiguren beklagten sich. Nun müssten sie die ganze Nacht und den nächsten Tag auf ihren Positionen verharren. Yugi bot ihnen an, den aktuellen Stand zu notieren, aber dies lehnten sie kategorisch ab. Offenbar verstieß dies gegen ihren Stolz als verzauberte Schachfiguren.

Yugi dachte, dass falscher Stolz und Eitelkeit unnötiges Elend heraufbeschworen; ließ sie links liegen und trat zu Atemu ans Fenster. Silbernes Mondlicht ergoss sich über die Schlossgründe und die angrenzenden Ländereien. Er sah die urigen, hohen Bäume, die den verbotenen Wald markierten, und dahinter die ungezähmte Landschaft des schottischen Hochlandes. Yugi war von so viel unberührter Natur beeindruckt. Es war nicht vergleichbar mit dem engbesiedelten Japan oder der etwas kärglichen Umgebung Ägyptens. Eigentlich gefiel es ihm hier. Wenn doch nur nicht alles so furchtbar kompliziert wäre …
 

Yugi schob den Gedanken fort. Es war nicht klug, sich ausgerechnet in dieser Nacht den Kopf zu zerbrechen. Morgen hatte er sein Gespräch mit Umbridge, danach kam das Wochenende. Dann würde er ins Dorf gehen, wo sein Telefon hoffentlich funktionierte. Er würde Anzu und die anderen anrufen. Das munterte ihn auf.

Er beschloss, sich bettfertig zu machen.
 

»Wollen wir tauschen?«, schlug er Atemu vor, als er sich umgezogen hatte.
 

Dieser sah ihn fragend an.
 

»Du warst die ganze Woche nachts allein«, sagte Yugi, »Wenn du möchtest, dann können wir tauschen. Du kannst schlafen und ich-«
 

»Nein!«, fiel Atemu ihm unerwartet ins Wort, was Yugi erschrocken zusammenfahren ließ.
 

Der Geist schien seinen Fehler bemerkt zu haben. In einem Versuch, darüber hinwegzutäuschen, räusperte er sich.
 

»Nein«, sagte er erneut, dieses Mal gefasster, aber nicht weniger bestimmt, »Du wirst diesen Schlaf brauchen. Morgen hast du diesen Termin mit Professor Umbridge.«
 

»Ja, aber ich könnte die Zeit nutzen, um nochmal alles durchzugehen und …« Yugi sah Atemu in die Augen, sah die grimmige Entschlossenheit darin, und gab es auf. Er wusste, wann eine Diskussion mit seinem anderen Ich zwecklos war. Enttäuscht ließ er die Schultern hängen. »Wie du meinst …«
 

»Danke für das Angebot«, sagte Atemu freundlich, dem Yugis Gebaren nicht entging, »Aber es ist wirklich nicht notwendig. Ich werde die Nacht im Puzzle bleiben, versprochen. Gute Nacht.«
 

Atemu zog sich in das Puzzle zurück. Yugi konnte nichts anderes tun, als kleinbeizugeben und selbst ins Bett zu kriechen. Unerklärlicherweise fühlte er sich, als hätte er ein entscheidendes Spiel verloren.

Mühsam zog er sich die grobe Eisenkette über den Kopf und bettete das Puzzle neben sich. Es glänzte golden in einem Streifen Mondlicht. Lichtflecken funkelten über die Wände. Yugi betrachtete es traurig. Ihn ließ das verbitterte Gefühl nicht los, dass nicht nur Professor Dumbledore ihm Teile der Wahrheit verschwieg.   

 
 

*
 

»Ein Monster?« Professor McGonagall packte fassungslos die Armlehnen ihres Stuhls, als könnte sie dies die Neuigkeit vergessen lassen, die man ihr eben offenbart hatte. Ihr spitzer Hexenhut saß schief auf ihrem ordentlich gerichteten Haar.
 

»Nein«, sagte Professor Dumbledore gelassen. Er lehnte sich auf seinem hohen Stuhl zurück. Beinahe lächelte er. Er fand, die Szenerie hatte etwas surreal Vertrautes. »Zwei Monster. Peeves hat darauf bestanden, dass es zwei Monster waren, die ihn attackierten. Wenn uns der gute Peeves schon einmal die Wahrheit erzählt, so sollten wir doch sicherstellen, dass wir sie auch korrekt wiedergeben.« Er gluckste unbekümmert, woraufhin ihn Professor McGonagall einen Blick versetzte, der eine Mischung aus Entsetzen und Ärger widerspiegelte. Ihr fiel es schwer, das Vergnügen des Schulleiters an diesem Fall zu teilen. Falls Peeves Bericht wirklich stimmte und er diesen Monstern im Badezimmer im ersten Stock begegnet war, dann …
 

»Albus, das hat doch hoffentlich nichts mit der Kammer zu tun?« Professor McGonagall klang ernstlich besorgt.  
 

»Oh, das bezweifle. Mir haben mehrere Quellen versichert, dass der Basilisk definitiv sein Ende gefunden hat und dass dort nichts mehr haust, wovor es sich zu fürchten gilt.« Mit einer schweifenden Handbewegung deutete Professor Dumbledore auf einen majestätischen Vogel, der auf einer Stange hockte. Fawkes, der Phoenix, stieß einen krächzenden Laut aus und schüttelte sein Gefieder. Es hatte die Farbe von brennender Glut.
 

Professor McGonagall entspannte sich sichtlich. Sie ließ die Armlehnen ihres Stuhls los, bemerkte, dass sich ihr Hut ihrer sonst makellos akkuraten Erscheinung widersetzte, und richtete ihn. »Nun, wenn es sich bei diesen Monstern nicht um etwas aus der Kammer des Schreckens handelt, was war es dann?«
 

»Eine interessante Frage«, bemerkte Albus Dumbledore. Er sprach in einem amüsiert-heiteren Tonfall, als wären zwei Monster in einem Badezimmer, wo einst eine Schülerin von einem Basilisken ermordet worden war, eine unerwartete Banalität – wie ein Schneesturm im Sommer oder ein Sieg der Chudley Cannons.   
 

Professor McGonagall sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. Es war ganz offenkundig, dass sie sein Vergnügen nicht teile. Sie wartete, dass er weitersprach.
 

»Ich habe mir diesbezüglich bereits einige Gedanken gemacht.« Professor Dumbledore richtete sich auf und legte die Kuppen seiner langen Finger gegeneinander. Endlich sprach er, als hätten sie nun den geschäftlichen Kern dieser Unterredung erreicht. »Minerva, was wissen Sie über das Kartenspiel, für das Yugi Mutou solch eine Schwäche besitzt?«
 

»Wie bitte?« Professor McGonagall sah ihn verständnislos an, was sie in diesem Büro wesentlich öfter tat, als man es annehmen würde. »Was hat ein Muggel-Kartenspiel damit zu tun? Oh, doch nicht etwa …« Plötzlich zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und ihre Augen wurden schmal und scharf wie die eines Raubvogels auf Beutezug. »Wollen Sie damit sagen, Yugi Mutou hat dieses Monster heraufbeschworen?«
 

Professor Dumbledore gab ihr keine Antwort. Müde drückte er sich von seinem Schreibtisch hoch. »Wissen Sie, wo dieses Kartenspiel seinen Ursprung hat?«
 

»Oh, ja, in der Tat«, sagte Professor McGonagall schroff. Mit einem Mal klang sie reichlich aufgebracht. Sie taxierte Professor Dumbledore eindringlich. »Es wurde von einem gewissen Pegasus J. Crawford entwickelt. Einem Mann, der …«
 

»… der nach seiner Begegnung mit Yugi tot aufgefunden wurde. Ja, das ist mir bereits zu Ohren gekommen. Aber darauf will ich nicht hinaus.« Albus stieß ein schwermütiges Seufzen aus. Langsam durchschritt er sein rundes Büro. Die Porträts an den Wänden verfolgten die Runde, die er zog. »Mr Crawford gilt zwar als Erfinder des Kartenspiels, doch eigentlich lassen sich dessen Wurzeln bis ins antike Ägypten zurückverfolgen.«

 

»Das antike Ägypten?«, wiederholte Professor McGonagall. Das war das Themengebiet, mit dem sich Yugi bevorzugt beschäftigte.  
 

Professor Dumbledore nickte betrübt. Er trat zu Fawkes heran, streckte die rechte Hand aus und fuhr dem Phönix durch das Gefieder. Kleine Funken stoben davon und Asche viel zu Boden. »Pharaonen und Priester bedienten sich einer Magie, die sie selbst als Schattenmagie bezeichneten. Sie gingen davon aus, dass in jeder menschlichen Seele sowohl das Gute als auch das Böse existierte. Beide Seiten standen sich in einem harmonischen Gleichgewicht gegenüber, so wie es durch die göttliche Ordnung vorgegeben war. Wenn ein Mensch eine böse Tat beging, so glaubten die Ägypter, dass die Seele dieses Menschen aus dem Gleichgewicht geraten war. Um dies wiederherzustellen, brachte man ihn an den königlichen Hof, wo der Pharao und seine Priester mittels eines magischen Rituals das überschüssige Böse aus der Seele zogen. Es wurde dann in Form eines Monsters in Steintafeln gebannt, welches bei Bedarf durch den Pharao im Kampf eingesetzt werden konnte.«
 

»Sie haben das Böse aus einer Seele gezogen?«, fragte Professor McGonagall schockiert, »Das ist möglich?«
 

Professor Dumbledore machte ein verächtliches Geräusch; eine Kombination aus Schnauben und freudlosen Lachen. »So bezeichneten sie es. Aber im Grunde taten sie nichts anderes, als die Seele zu spalten. Sie rissen den vermeintlich bösen Teil heraus und sperrten ihn fort. Die Folgen daraus waren nicht selten fatal, denn eine gespaltene Seele ist eine höchst instabile Angelegenheit. Wesentlich gefährlicher als ein Ungleichgewicht der Seiten. Heute zählt diese Praxis zu der abscheulichsten und dunkelsten Magie, die wir kennen. Sie wäre verboten, wenn wir sie nicht längst schon ausgestorben wähnten.«
 

Gedankenverloren betrachtete er durch ein Fenster die in der Dunkelheit liegenden Schlossgründe. Sie lagen ruhig da. Die abfallenden Hänge waren mit rechteckigen Lichtflecken gesprenkelt.
 

»Das heißt, diese Monster, die Peeves gesehen hat, waren Splitter menschlicher Seelen?«
 

»In ihrem Ursprung, ja.«
 

»Und Yugi hat sie heraufbeschworen?«
 

»Nein, das ist nicht möglich«, widersprach Professor Dumbledore, »Die Anwendung der Schattenmagie setzt voraus, dass derjenige, der sie zu praktizieren gedenkt, über eine magische Begabung verfügt – und Yugi besitzt keinerlei magischen Fähigkeiten. Er kann diese Kreaturen nicht heraufbeschworen haben.«
 

»Wer dann, Albus?«
 

»Was das betrifft …« Ein letztes Mal fuhr er durch Fawkes ansehnliches Federkleid. Dann kehrte er zu seinem Platz hinter dem Schreibtisch zurück. Er setzte sich. »Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass sich Yugis Persönlichkeit verschiebt?«
 

Anstatt auf seine Frage zu antworten, sah Professor McGonagall ihn mit einem schrecklich entgeisterten Gesichtsausdruck an. Das genügte Albus Dumbledore.
 

»Ich habe es nun einige Male miterlebt«, sprach er weiter, »Es waren nur flüchtige Momente. Kurze Eindrücke, in denen etwas Fremdartiges in Yugi in Erscheinung getreten ist. Als der gute Phineas ein wenig zu freimütig seine Gedanken über die nicht-magische Bevölkerung kundtat …« Das Bildnis von Phineas Nigellus gab einen empörten Laut von sich, wurde aber weitestgehend ignoriert. »…  hat es sich am deutlichsten gezeigt. Es war, als würde dieses Etwas in Yugi die Beherrschung verlieren und herausbrechen.«
 

Professor McGonagall öffnete den Mund, doch im ersten Moment schien sie nicht fähig, einen Ton herauszubringen. Fassungslos starrte sie ihn an. Blankes Entsetzen stand auf ihren Zügen geschrieben.
 

»Albus«, begann sie schließlich, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, »Wollen Sie damit sagen, dass Yugi besessen ist?«
 

»Das nehme ich an.«
 

»Und was auch immer von ihm Besitz ergriffen hat, ist in der Lage, diese Monster heraufzubeschwören … ist in der Lage, Schattenmagie zu gebrauchen?«
 

Professor Dumbledore nickte gedankenversunken.
 

»Und ist dieses Wesen«, fragte Professor McGonagall barsch weiter, »auch dafür verantwortlich, was Yugis Mitschülern, Lehrern und Freunden zugestoßen ist?«
 

»Möglich«, gab Professor Dumbledore zu. Er tat einen tiefen Atemzug. »Ich würde sogar behaupten, in Anbetracht der Umstände ist es sehr wahrscheinlich.«
 

Professor McGonagall sprang sofort auf. Abermalig verschob sich ihr Hut, doch sie war zu aufgebracht, um es zur Kenntnis zu nehmen. »Dann müssen wir es aufhalten!« Sie machte Anstalten, zügig das Büro verlassen zu wollen.
 

»Minerva …«
 

»Grundgütiger, nicht schon wieder! Nach dem, was mit dem armen Quirinius geschehen ist … und im Jahr darauf war es Miss Weasley … Wir müssen sicherstellen, dass den Schülern nichts zustößt …« Professor McGonagall eilte zur Tür. Ihr schottengemusterter Umhang wehte voller Tatendrang.
 

»Minerva …«
 

»Oh, Albus, halten Sie ihn nun immer noch für ungefährlich?« Professor McGonagall hatte die Tür erreicht. Energisch riss sie sie auf.  
 

»Minerva!« Die Stimme von Albus Dumbledore dröhnte durch das Büro. Sie war von solch einer Gewalt, dass die Porträts der ehemaligen Schulleiter allesamt gleichermaßen zusammenschraken. Professor McGonagall blieb wie angewurzelt stehen. Sie blickte ihn mit Augen an, die eulengroß waren. Ihre Brille saß schief auf ihrer Nase.  
 

»Bitte hören Sie mir zu«, bat Professor Dumbledore sie ruhig. Er sprach, als hätte er nie die Stimme erhoben. »Ich schätze Ihren Eifer. Doch bevor wir Yugi und das, was von ihn Besitz ergreift, aufscheuchen und damit unnötige Scherereien heraufbeschwören, sollten wir zunächst in Erfahrung bringen, was sich genau abgespielt hat.« Höflich wies er auf den freien Stuhl, von dem Professor McGonagall soeben aufgesprungen war. Sie zögerte. Sie hatte den Mund verkniffen, als würde es ihr zutiefst widerstreben, dort Platz zu nehmen.
 

»Bitte, Minerva.«
 

Professor McGonagall tat einen tiefen Atemzug, bei dem sich ihre Nüstern aufblähten wie bei einem Drachen, der zum Feuerspeien ansetzte. Dann kehrte sie zurück und setzte sich. Sie saß auf ihrem Stuhl wie auf glühenden Kohlen; jederzeit dazu bereit, wieder aufzuspringen und zur Tat zu schreiten.
 

»Peeves hat mir den Schaden gezeigt, den eines der Monster angerichtet hat«, erklärte Professor Dumbledore ihr und schmunzelte aberwitzigerweise, »Um ehrlich zu sein, Hagrid beherbergt Kreaturen, die wesentlich schlimmere Verletzungen anzurichten vermögen.«
 

Professor McGonagall räusperte sich vernehmlich. Professor Dumbledore gab vor, es nicht gehört zu haben.
 

»Deswegen möchte ich, dass Sie erst einmal mit Myrte Warren reden«, fuhr er fort, woraufhin sie erstaunt beide Augenbrauen hob, bis sie über dem Rand ihrer Brille schwebten.   
 

»Die maulende Myrte?«
 

»Genau die. Die Auseinandersetzung trug sich in ihrem Badezimmer zu. Da sie es nur selten verlässt, hoffe ich, dass sie aufklären kann, was sich abgespielt hat und wie gefährlich diese Monster tatsächlich waren.«
 

»Gut«, sagte Professor McGonagall knapp. Sie blickte Albus unverwandt an, als wartete sie auf eine weitere Anweisung.
 

Professor Dumbledore schloss müde die Augen und seufzte. Es klang furchtbar erschöpft. Auf seinem Gesicht zeichneten sich unverkennbar die Spuren seines Alters ab. Ein fremdartiger Anblick, ohne Frage. »Was Yugi betrifft«, sprach er, »behalten sie ihn vorerst einfach weiter im Auge. Falls Sie dabei Hilfe benötigen, weihen Sie Severus ein, aber achten Sie darauf, dass er Yugi nicht verschreckt. Er und das, was von ihm Besitz ergreift, dürfen nicht erfahren, dass wir sie beobachten.«
 

Falls Professor McGonagall Bedenken an dieser Anweisung hegte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nickte knapp, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort zu verlieren. 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Einzige neue Anmerkung, die ich dieses Mal habe: Jap, das ist der originale Name von Maximillion Pegasus. Ansonsten denkt euch hier bitte mein übliches unzufriedenes Gemecker über das Kapitel. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Votani
2017-10-22T16:43:05+00:00 22.10.2017 18:43
Endlich kam ich zum Lesen! :D Ich freu mich jedes Mal, wenn ein neues Kapitel online kommt, auch wenn ich nicht immer Zeit hab, um es sofort zu lesen. Aber dein Schreibstil ist wirklich angenehm und die Szenen so schoen unterteilt, so dass es einem immer nach einem anstrengenden Tag zu Ruhe kommen laesst. Zudem bleibt es auch weiterhin sehr spannend!
Ich find es toll, wie du alle moeglichen Aspekte der beiden Welten so vermischst und sogar die Geister/Gespenster/Monster-Fragen in Angriff nimmst. Die Begegnung zwischen Atemu und Myrte hat mir gut gefallen. Endlich hat mal jemand Peeves gezeigt, wo es langgeht. :'D Auch Dumbledores Erkenntnisse ueberraschen einen nicht, haben aber super gepasst. Natuerlich wird er irgendwann die Schluesse ziehen, gerade auch, weil er beobachtet hat, wie sich Yugis Persoenlichkeit verschiebt. Das hast du geschickt eingefaedelt!
Was ich besonders an der Geschichte mag ist, dass du nichts hetzt. Die Story wird langsam vorangetrieben ohne die Charaktere oder das Setting unter den Bus zu werfen. Gerade bei Crossovern ist die Atmosphaere wichtig, weil man sich das Verschmelzen der Welten sonst so schwer vorstellen kann, aber du hast einfach ein Haendchen dafuer. :) Ich freu mich schon aufs naechste Kapitel. <3
Antwort von:  Maclilly
04.11.2017 15:56
Huhu!

Erneut danke ich dir für dein Kommi und bin doch ehrlich beeindruckt, wie resolut du immer eines hinterlässt. Viele würden nach über einen Monat vermutlich gar keins mehr schreiben. Vielen Dank dafür. Das ist wirklich toll.
Außerdem freut mich deine Einschätzung bzgl. der Aufrechterhaltung der Spannung. Gelegentlich habe ich da ja so meine Zweifel, weil ich eben nicht der große Action-Schreiberling bin. Ich bevorzuge Spannung auf psychischer Ebene. ^^
Bzgl. Myrte: Sie war tatsächlich einer der Hauptgründe, wieso ich diese FF schreiben wollte. Denn Myrte kann so ein schrecklich unangenehmer Charakter sein und entsprechend habe ich noch großes mit ihr vor. Aber dazu später mehr.
Tss, ich finde es schön, wie du meine Unfähigkeit, etwas auf den Punkt zu bringen und schnell abzuarbeiten, als positiv darstellst. Denn mich persönlich ärgert es manchmal, dass ich so ewig viele kleine Szenen einfüge, die oftmals eher weniger zur Handlung beitragen. Andererseits, wie du es bereits angesprochen hast, ist es bei Crossovern gar nicht so unwichtig, auch die Stimmung entsprechend zu kreieren.
Noch einmal danke ich dir herzlichst für deinen Kommi!
Nächstes Kapitel sollte bald folgen.

LG Maclilly
Von:  Nala
2017-09-10T19:28:31+00:00 10.09.2017 21:28
Ich lese diese FF jetzt schon eine Weile und wollte nun auch einmal einen Kommentar hinterlassen. Ich finde es wirklich wunderbar, wie du es schaffst, beide Welten zu vereinen und sie logisch miteinander zu verknüpfen. In diesem Kapitel gefällt mir besonders gut, wie Dumbldore auf der einen und Yuugi und Atemu auf der anderen Seite ein bisschen umeinander herumtanzen. Dabei würden sie sicher ein gutes Team abgeben, wenn sie zusammenarbeiten würden. Dein Schreibstil gefällt mir sehr, er fügt sich gut in den Schreibstil der HP-Bücher ein und ist doch auch gut im YGO Stil wiederzuerkennen. Ich finde du machst das wirklich toll! x3
Ich bin sehr gespannt auf das nächste Kapitel!
Nala
Helfer der KomMission
Antwort von:  Maclilly
04.11.2017 15:45
Hallöchen!

Ich danke dir ganz, ganz herzlich für deinen Kommentar und bin froh, dass dir die Geschichte bis hierhin gefällt.
Du hast recht, ich finde es auch ganz toll, Dumbledore und Yugi/Atemu gegeneinander auszuspielen. Alle drei sind Strategen und dadurch wiederum prädestiniert, sich gegenseitig zu misstrauen und dementsprechend zu handeln. Dabei würden sie inter Tat, so wie du sagtest, ein gutes Team abgeben. Immerhin kämpfen sie für ähnliche Ziele. Womöglich könnte Dumbledore Yugi und Atemu sogar helfen ... aber das liegt noch in ferner Zukunft.
Auch danke ich dir sehr für das Lab meines Schreibtstils. Das freut mich immer besonders. :D
Das nächste Kapitel sollte bald erscheinen.

LG Maclilly
Von:  Rowanna
2017-09-07T21:29:50+00:00 07.09.2017 23:29
Wieder ein tolles Kapitel. Der Dialog mit Peeves war genial Yu-Gi-Oh-mäßig und fügte sich trotzdem perfekt nach Hogwarts. Ich weiß, ich habe dich schon gefühlt ein dutzend mal für die Verbindung der beiden Welten gelobt, aber ich tue es gerne nochmal! Ansonsten möchte ich Atemu schütteln, dass er endlich den Mund aufmacht und mit Yugi redet. ;)
Antwort von:  Maclilly
04.11.2017 15:27
Huhu!

Ganz herzlichen (verspäteten) Dank für deinen Kommentar. Ich freue mich sehr, dass dir Verbindung dieser Welt noch immer gut gefällt. Das beruhigt mich ungemein.
Ja, Atemu und über seine Probleme reden ... das könnte noch etwas dauern. :P

LG Maclilly
Von:  EL-CK
2017-09-06T16:39:48+00:00 06.09.2017 18:39
Ich fand die Szene mit Peeves iwie lustig...
Und das mit dem Namen hab ich mir schon iwie gedenkt gedacht 😉
Antwort von:  Maclilly
04.11.2017 15:25
Hallo!

Ich danke dir vielmals für deinen Kommi. Es freut mich, dass es dir gefallen hat.

LG Maclilly


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