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Seelenschatten

HPYGO
von

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Spielstart


 

Spielstart

 

 
 

*

 

 

Professor Dumbledore hatte sich entschlossen, Yugi Mutou die Wahrheit zu erzählen … Natürlich nicht die ganze Wahrheit. Einerseits, weil es sehr schwer war, festzumachen, welche Behauptung der Wahrheit entsprach. In vielerlei Hinsicht waren die Grenzen zwischen Wahrheit, Vermutung und Lüge zu undurchsichtig, um eine Aussage einer einzelnen dieser Kategorien zuzuschreiben. Manchmal konnte sie Merkmale aller drei aufweisen; manchmal fand sich weder Wahrheit, Vermutung noch Lüge in ihr wieder, was, wie Professor Dumbledore feststellte, höchst kurios war. Andererseits hatte Professor Dumbledore noch keinen Entschluss gefasst, wie vertrauenswürdig Yugi Mutou war. Albus Dumbledore war selbst ein Experte der Geheimniskrämerei, weswegen es ihm leichtfiel, gleichgesinnte Gemüter zu erkennen, wenn sie ihm gegenübersaßen. Und es stand außer Frage, dass Yugi Mutou wenigstens ein Geheimnis barg. Dies mochte nicht unbedingt ein Grund sein, ihm mehr Vertrauen zu schenken, doch für mehr Aufmerksamkeit und Faszination genügte es allemal. 
 

So jedenfalls erzählte Professor Dumbledore Yugi alles, was er für unabdingbar hielt. Er schilderte Lord Voldemorts irrsinnige Weltanschauungen und die Untaten, die er beging, um diese in die Tat umzusetzen, verschwieg ihm jedoch die schrecklichen Experimente, die Lord Voldemort auf seinem Weg zur Unsterblichkeit durchgeführt hatte. Auch berichtete er von Voldemorts Vorhaben, Harry Potter zu töten, als dieser noch ein Kleinkind gewesen war; wie Lily und James Potter gestorben waren, Harry den Fluch aber überlebte und dieser stattdessen auf Voldemort zurückfiel, welcher daraufhin seine Kraft einbüßte und floh. Wiederum überging er die verhängnisvolle Prophezeiung oder wie es Lord Voldemort möglich gewesen war, an diesem Abend nicht zu sterben, und dessen darauffolgender erbärmlicher Zustand. Stattdessen fuhr er mit dem Exil Voldemorts fort, das viele Mitbürger der magischen Bevölkerung dazu verleitet hatte, anzunehmen, er hätte diese Halloween-Nacht tatsächlich nicht überlebt, ließ dabei einige jüngere Geschehnisse, wie das Schicksal des bedauernswerten Professor Quirills oder die Geschehnisse in der Kammer des Schreckens, aus, und ging sofort zu dem über, was im vergangenen Sommer vorgefallen war. Er unterrichtete Yugi über Voldemorts Rückkehr, dem damit verbundenen tragischen Tod Cedric Diggorys und Harrys Entkommen, welches dazu geführt hatte, dass Professor Dumbledore umgehend reagieren konnte. Hier wurden seine Erklärungen ausführlicher und er verschwieg lediglich Informationen, die nur dem Orden des Phönix vorbehalten waren, machte aber um dessen Existenz keinen Hehl. Außerdem bemühte er sich um eine möglichst detailgenaue Schilderung des schwelenden Konflikts mit dem Zaubereiministerium. Es war notwendig, dass Yugi die Folgen begriff. 

Und während er all dies tat, achtete er genauestens auf Yugis Reaktionen. Gelegentlich meinte er, wieder zu erkennen, wie sich etwas in Yugi verschob. Dann wurden seine Lippen schmaler; seine Körperhaltung steifer und der Ausdruck in seinen Augen durchdringender. Doch dieses Gebaren war von so flüchtiger Natur, dass Albus Dumbledore nicht festpinnen konnte, was sich dahinter verbarg, obwohl er so einen vagen Verdacht hatte. Wann immer sich die Gelegenheit bot, studierte Albus Dumbledore den klobigen Anhänger in Form einer goldenen Pyramide, die Yugi Mutou offenbar ständig zu tragen pflegte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sich dahinter mehr verbarg als ein einfaches Schmuckstück. Doch bis zum Ende ihres Gesprächs war es Professor Dumbledore unmöglich, die genaue Sonderlichkeit zu identifizieren. 
 

»Nun«, sagte Professor Dumbledore, als er seine Erzählung beendete, »ich nehme an, dies dürfte fürs Erste alles sein, was von Bedeutung ist.«
 

Er faltete die Hände zusammen und sah Yugi eindringlich an. Dieser war in den vergangenen Stunden deutlich blasser geworden, hielt sich ansonsten ob der Neuigkeiten aber unerwartet gut, was Professor Dumbledore sehr interessant fand. 
 

»Das heißt also…«, schlussfolgerte Yugi, »Professor Umbridge ist hier, um darauf aufzupassen, dass niemand erzählt, dieser … dieser Lord Voldemort sei zurückgekehrt … oder überhaupt noch am Leben. Sie will ein Auge auf Sie werfen … und auf alle Lehrer.« Seine Stimme war ruhig, aber in seinen Augen blitzte die vage Andeutung von Furcht auf. »Deswegen will sie auch mit mir reden.«
 

Als Professor Dumbledore die Annahme mit einem knappen Kopfnicken bedachte, konnte er beobachten, wie Yugi schwer schluckte. Sein Blick flackerte zu einem unbesetzten Stuhl hinüber. Es war nur ein kurzes Zucken in seinen Augen gewesen, doch hatte es lange genug angehalten, um Professor Dumbledore glaubhaft zu machen, Yugi könne dort etwas wahrnehmen, was dem Schulleiter entging. 
 

»Also …«, folgerte Yugi weiter, sehr langsam, weil er offenkundig darauf achtete, nicht jeden seiner Gedanken in Worte zu fassen, »… wäre es gut, wenn ich mir bis Freitag eine Geschichte zurechtlege, die ich Professor Umbridge erzählen kann, denn ihr die Wahrheit zu sagen, wäre bestimmt kein guter Einfall.«
 

Professor Dumbledore fragte sich, auf welche Wahrheit sich Yugi bezog, gab ihm aber ansonsten vollkommen recht. 

»Das wäre in der Tat eine sehr ratsame Entscheidung. Ich fürchte, bei Dolores handelt es sich nicht um einen sonderlich verständnisvollen Menschen«, sprach er. Er machte einen Seufzer, den er wohl platzierte, und eine dramatische Geste mit den Händen. Als er dann fortfuhr, hatte er einen schwerfälligen Tonfall angeschlagen und einen betrüblichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ich bedauere es, Sie in diese Situation gebracht zu haben, Yugi. Ich hatte nicht angenommen, dass Cornelius in seinem Wahn so weit gehen und sich in die Angelegenheiten Hogwarts einmischen würde. Doch beklagenswerterweise hat ihn die Angst vor der Wahrheit für selbige blind gemacht.«
 

»Aber warum?«
 

»Können Sie sich das nicht vorstellen?« Professor Dumbledore blickte Yugi aufmerksam an. Dieser dachte darüber nach. Wieder glitten seine Augen zu dem unbesetzten Platz hinüber, als würde sich dort eine Erkenntnis offenbaren, die sich wenig später auf seinem Gesicht manifestierte.
 

»Doch …«, sagte er, »… doch … ich glaube, das kann ich.«
 

»Sehr gut.« Professor Dumbledore nickte anerkennend, bevor er wieder ernst wurde. »Aber nun lassen Sie uns zu jenen Dingen zurückkehren, denen ich im Moment größerer Bedeutung beimesse als Cornelius Starrhalsigkeit. Ihren Äußerungen entnehme ich, dass Dolores bereits eine Unterredung anberaumt hat. Das ist betrüblich; ich hatte gehofft, ihr zuvor zu kommen, denn es schränkt die weiteren Handlungsmöglichkeiten doch erheblich ein. « Er neigte leicht den Kopf. »Vorausgesetzt natürlich, Sie sind gewillt, an dieser Schule zu bleiben.« 
 

»Wie meinen Sie das?«, fragte Yugi, dessen Überraschung über die letzte Bemerkung offenkundig war.
 

»Nun, es wäre ausgesprochen unhöflich und auch vermessen meinerseits, von Ihnen zu verlangen, weiterhin hier als Lehrer tätig zu sein, wo ich Ihnen doch Informationen wissentlich vorenthalten habe, deren Konsequenzen sich nun bemerkbar machen. Sollten Sie also das Bedürfnis haben, diese Schule verlassen zu wollen, so steht es Ihnen frei, dies zu tun.«
 

»Nein«, lehnte Yugi das Angebot prompt ab, »Ich bleibe.«
 

Professor Dumbledore war ob der Entschlusskraft in der Stimme reichlich erstaunt und es veranlasste ihn dazu, nach Anzeichen zu suchen, ob sich abermalig in Yugi etwas verschoben hatte. Aber diesmal schien er ganz Herr seiner Selbst zu sein. Es waren definitiv Yugis Augen, die Professor Dumbledore studierte, wenngleich mit fast schon befremdlicher Entschlossenheit beseelt. Er wunderte sich, woher diese stammte. Sicherlich schätzte er als Schulleiter den Eifer, doch die Schnelligkeit und die Entschiedenheit der Entscheidung ließen ihn zweifeln, ob es bloß dieser war, der Yugi Mutou antrieb. Dolores war ein unangenehmer Mitmensch und es stand außer Frage, dass sie beabsichtigte, Yugi auf den Zahn zu fühlen. Und trotzdem zog Yugi es vor – ja er insistierte beinahe darauf – an der Schule zu verbleiben. Das war beinahe so interessant wie Yugis eigentümlichen Anwandlungen. 
 

Sie führten das Gespräch fort, indem sie Möglichkeiten erörterten, wie Yugi künftig mit Professor Umbridge verfahren konnte. Sie kamen zu dem Schluss, dass ihnen in der Tat keine Wahl blieb, außer Dolores eine etwas angepasste Lebensgeschichte aufzutischen. Professor Dumbledore bot seine Hilfe an, doch Yugi lehnte ab. Er sagte, er käme schon zurecht. Er würde einfach ein paar Recherchen durchführen. Professor Dumbledore mochte sich irren, doch er gewann den Eindruck, Yugi sei deutlich in sich gekehrter als zuvor – so, als hinge er seinen ganz eigenen Gedanken nach. Dementsprechend einsilbig waren seine Antworten, bis der Schulleiter entschied, dass Gespräch zu beenden. Er bedankte sich bei Yugi für dessen Entscheidung, in Hogwarts zu verbleiben; lud ihn zum Abendessen ein, was Yugi allerdings ablehnte, und wünschte ihm einen angenehmen Abend. Yugi stand auf und verabschiedete sich mit einer schnellen und steifen japanischen Verbeugung. Er war bereits an der Tür, als Professor Dumbledore noch etwas in den Sinn kam. 
 

»Ah, eine Sache noch«, rief er Yugi zurück, der – eine Hand schon am Türgriff – stehen blieb und sich umdrehte, »Ich wollte Sie fragen, ob es sonst noch etwas gibt, womit ich Ihnen helfen kann?«
 

»Mir helfen?«, wiederholte Yugi, in seiner Stimme lagen unverkennbar Nervosität und Argwohn. 
 

Dies machte Professor Dumbledore hellhörig. Er formulierte sein Anliegen konkreter. »Gibt es etwas, was Sie bedrückt, Yugi? Vollkommen gleich, worum es sich dabei handelt.«
 

Sollte Yugi zuvor nervös gewesen sein, kroch ihm nun die Panik in die Knochen. Ihm war die Farbe aus dem Gesicht gewichen, seine Augen waren vor Angst leicht geweitet. In diesem Zustand bedurfte es keiner Legilimentik, um die Lüge zu identifizieren, die sich anbahnte. 
 

»Nein, Professor, nichts.«
 

Yugi bedankte sich nochmals und ging endgültig.

 

 
 

*

 

 

Schätzungsweise war es nach Mitternacht, als Atemu seinen Seelenraum verließ. Er rollte den Nacken, als wäre er eben einem sehr beengenden Raum entkommen, dann suchte er aus Gewohnheit nach Yugi. Er lag im Bett und schlief, die Hände dabei intensiv um das Millenniumspuzzle geklammert, aber seine Gesichtszüge waren ohne jedes Zeichen von Sorge oder Angst.

Der Anblick ließ die Anspannung, von der Atemu bisher gar keine Notiz genommen hatte, von ihm abfallen. Er hatte sich gefragt, ob Yugi überhaupt Schlaf finden würde. Nun war er erleichtert, dass es ihm gelungen war. 

Nach dem Gespräch mit Professor Dumbledore hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Yugi war nicht zum Abendessen gegangen. Er hatte behauptet, keinen Hunger zu haben und sich in einige der Bücher vergraben, die sie auf Professor Dumbledores Empfehlung in der Winkelgasse erworben hatten. Sogar Atemu räumte ein, dass ihr Inhalt bisweilen sehr spannend war, allerdings bezweifelte er, er sei so fesselnd, um einen knurrenden Magen zu vergessen. Aber ihn darauf hinzuweisen, war hier ebenso sinnlos gewesen wie in Ägypten. Yugi wollte sein Vorhaben durchziehen. Da kümmerte er sich weder um sein eigenes Wohlergehen noch um die Gefahr, in die er sich manövrierte. Aber Atemu tat es. Er tat es, weil er nicht zulassen konnte, dass sich Yugi diesem Leid aussetzte. Oder sich in Gefahr brachte. Und das tat er zweifellos, solange er an dieser Schule blieb. Die Offenlegung der Wahrheit hatte diese Annahme bestätigt, gleichwohl Atemu seine berechtigten Zweifel besaß, ob es sich dabei tatsächlich um die ganze Wahrheit gehandelt hatte, aber es hatte sich zunächst um genug Informationen gehandelt, um sie als solche zu betrachten. 
 

Atemu grimassierte. Endlich verstand er. Albus Dumbledore hatte von Anfang mit Yugi gespielt.

Er machte eine ruckartige Bewegung und setzte sich auf die Kante des Bettes. Erneut sah er zu Yugi. Er musste sich versichern, dass es ihm gut ging. Gerade jetzt wurde Yugis Sicherheit umso wichtiger. 

Dann widmete er sich wieder seinen Überlegungen. Ja, Professor Dumbledore hatte mit Yugi gespielt. Jede Tat und jedes gesprochene Wort seinerseits waren wohlweißlich gewählt gewesen. Er hatte Yugi an diese Schule gelockt – und ihnen war es nicht aufgefallen. Dabei hatte es Andeutungen gegeben. Als Professor Dumbledore Yugi in Luxor aufgesucht und ihm von der magischen Parallelgesellschaft berichtet hatte, hatte er von der Fairness eines Spiels gesprochen. Damals hatte Atemu diesen Worten wenig Bedeutung beigemessen, aber nun verstand er die Andeutung, die sich dahinter verbarg. Er hätte es eher begreifen müssen. Seine damaligen Worte hatten ein Spiel eingeläutet, von dessen Existenz sie zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Ahnung besessen hatten, und fortan befanden sie sich mittendrin. 

Es galt nur noch zu klären, um welche Art von Spiel es sich handelte. Welche Ziele verfolgte Professor Dumbledore? Warum war es ihm so wichtig, Yugi an dieser Schule zu behalten? Er hatte zwar Yugi das Angebot unterbreitet, diesen Ort zu verlassen, aber er war sich vollkommen im Klaren darüber, dass dies eine reine Formalität gewesen war. Professor Dumbledore musste gewusst haben, dass Yugi es niemals angenommen hätte. Vielmehr musste Yugis schnelle Ablehnung ihn bestärkt haben – in welcher Annahme auch immer. 

Dies führte ihn unweigerlich zurück zu seinem Ausgangspunkt: Was wusste Albus Dumbledore über Yugi? Oder was glaubte er zu wissen? 

Die Antworten darauf waren so vielzählig wie einzelne Sandkörner in der Wüste. Er hätte von Yugis Nachforschungen Wind bekommen können. Man hätte ihn auch über die zahlreichen magischen Vorkommnisse in Kenntnis setzen können, die sich noch in Domino ereignet hatten. Wenn es eine magische Regierung in Großbritannien gab, dann musste dementsprechend auch in Japan eine existieren. Unweigerlich zuckten Atemus Mundwinkel. Ihn belustigte die Vorstellung, dass in dem Land, in welchem Seto Kaiba lebte und seine Strippen zog, eine magische Parallelgesellschaft existierte und vor allem praktizierte, ohne dass dieser Kenntnis davon besaß. Atemu fragte sich, wie groß Kaibas Entsetzen wohl wäre, wenn man ihm dies eröffnete, und spielte mit dem Gedanken, selbst der entsprechende Bote zu sein. Doch er hatte sich kaum an diesem Szenario erfreut, als ihm wieder klar wurde, wie brenzlig ihre eigene Lage dadurch wurde. Eine magische Regierung musste von all der Magie erfahren haben, die aus den Schattenspielen hervorgebrochen war. Aber warum war es dann Professor Dumbledore, der ein Auge auf Yugi warf, wo er doch mit der Regierung gebrochen hatte? Und warum jetzt? Die letzten Schattenspiele lagen Jahre zurück …  
 

Atemus Kopf ruckte plötzlich hoch. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Es musste einen Zusammenhang mit Lord Voldemort geben. Warum sonst hätte man Yugi ausgerechnet zu einer Zeit einladen sollen, in der die magische Welt von einem böswilligen Magier heimgesucht wurde? War dieser Lord Voldemort etwa hinter Yugi her? Hatte er irgendwie von den Millenniumsgegenständen erfahren? Atemu hatte zu Zeiten seiner Regentschaft befohlen, fast alles Wissen über die Millenniumsgegenstände zu vernichten. Fast alles, aber nicht alles. Es hatte den Clans der Grabwächter oblegen, dieses unsägliche Wissen über Generationen hinweg weiterzureichen. Sie hätten es im Geheimen tun sollen. Aber war es auch so geschehen? Menschen machten Fehler. Das lag in der Natur der Dinge. Er hatte zahllose begangen. Die Ishtars ebenso. Schah Dee auch. Das Wissen, welches unter der Erde hätte versiegelt bleiben sollen, hätte an durch Risse an die Oberfläche gelangen können und …
 

Ein leises Geräusch ließ Atemu aus seinen Gedanken fahren, die sofort wie weggeblasen erschienen. Er sprang auf, die Augen schmal, indessen er den Raum überprüfte. Fast schon erwartete er, die riesigen, lampenartigen Augen des Katers Krumbein zu entdecken, die sich im Schatten lauernd auf ihn gerichtet hatten. 

Aber da war kein Kater, der geheimnisvoll durch die Nacht pirschte. Da war nur Yugi, der sich im Schlaf bewegte. 
 

Atemu schellte sich selbst, ob seiner wachsenden Paranoia. Sicherlich, der Kater mochte seine Existenz erahnen. Tiere – ganz besonders magische – besaßen womöglich hinreichend Feingefühl, um die subtilen Differenzen zwischen ihren Persönlichkeiten zu registrieren. Aber der Kater war keine Gefahr für Yugi. Er durfte sich vom ihm nicht aus der Bahn werfen lassen. Seine innere Unruhe musste sich auf Yugi übertragen haben. Eine Seele, die sich in einem Zustand der Entspannung befand, war viel empfänglicher für die Gefühle, welche sich über ihre mentale Verbindung kanalisierten. 

Vorsorglich entfernte sich Atemu und durchmaß in weiten Schritten die Räumlichkeiten. Physische Distanz linderte die Symptome nicht, aber die Bewegung gestattete es Atemu, auf andere Gedanken zu kommen. 
 

Er passierte das gelöschte Kaminfeuer und erreichte den Schreibtisch, als Yugis Schlaf sich wieder normalisierte. Atemu wurde langsamer, bis er auf Höhe des Fensters stehen blieb. Er blickte hinaus und seine Gesichtszüge versteinerten. Draußen auf der Fensterbank saß Krumbein. Und dieses Mal war er ganz bestimmt kein Gespinst seiner überbordenden Fantasie. Die gelben Katzenaugen leuchteten wie Suchscheinwerfer durch die Finsternis. Sie erfassten Teile des Raumes, während der Rest in tieferer Dunkelheit versank. 

Atemu trat näher ans Fenster heran. Etwas in Krumbeins eigenartig eingedellten Gesicht zuckte. Sein Fell sträubte sich. Sein aufgebauschter Katzenschwanz schleuderte unheilverkündend wie ein Lasso. Er fauchte. Speichel tropfte ihm vom Kinn.  
 

Dann brach plötzlich – wie in der Nacht zuvor – gleißende Helligkeit die Nacht und durchströmte das Zimmer.

 

 
 

*

 

 

Yugi hatte einen eigenartigen Traum. 

Seltsame Wesen zogen sich hindurch. Unsichtbare Pferde galoppierte durch einen nächtlichen Himmel. Yugi konnte sie nicht direkt erkennen, aber er hörte den Trab ihrer Hufe auf zu fester Luft und sah heißen Dampf aus ihren Nüstern steigen und wie die Sterne, die den Himmel überspannten, sich wie unter Hitze verformten, wenn die Pferde vor ihnen erschienen. 

Während Yugi auf einer abfallenden, taufeuchten Hangwiese saß, zogen die Tiere ihre Runden. Ihr Auftritt wirkte einstudiert. Lange geübt. Anzu hatte ihm mal von einer Theateraufführung erzählt, in der Pferde tanzten. Er konnte sich nicht an den Namen erinnern. A…

Dann stoben die unsichtbaren Pferde auseinander, als hätte eine andere unsichtbare Kraft in ihre Reihen geschlagen. Aus ihrer Mitte tauchten der schwarze Magier und das dunkle Magiermädchen auf. Sie wirbelten gemeinsam durch die Luft. Für einen absurden Augenblick dachte er, sie tanzten, bis er die Angst auf dem Gesicht des Magiermädchens erkannte. Sie tanzten nicht. Sie flohen. Hinter ihnen erhob sich ein Schatten. Yugi wusste, dass es ein Schatten war, weil die Sterne unter ihm verblassten, als spannte sich ein blickdichtes Tuch darüber. Der Schatten windete sich wie eine Schlange. Und er hatte auch das Gesicht einer Schlange. Ein lippenloser Mund, eine Nase wie Nüstern und rotglühende Augen, die zu Schlitzen zusammengekniffen waren. Yugi keuchte. Plötzlich stand er, doch er lief nicht davon. Er wartete auf den Schatten Lord Voldemorts, der immer höher wucherte. Er war größer als Yugi; größer als die Bäume, die einige Meter entfernt standen; größer als das Schloss Hogwarts, welches sich auf dem Zenit einer Hügelkuppe erhob. Fast bedeckte er den gesamten Himmel. Um ihn herum war alles Rabenschwarz. Yugi bekam es mit der Angst zu tun. Endlich kam ihn der Gedanke, wegzurennen. Dann wurde es auf einmal hell um ihn herum. Lichtstrahlen brachen gleißend durch den Nachthimmel. Sie durchstachen den Schatten wie scharfe Messerklingen und fielen auf den Rasenhang. Dort, wo sie den Schatten berührten, schienen sie Löcher in sein Tuch zu brennen. Die Löcher fraßen sich durch die Dunkelheit, verkohlten sie restlos. 
 

Als Yugi dann das nächste Mal die Augen öffnete – er konnte sich überhaupt nicht erinnern, sie geschlossen zu haben – befand er sich nicht mehr draußen auf den Schlossgründen. Er war in seinem Zimmer im Schloss. Und das helle Licht war ebenfalls dort. Es blendete ihn, so dass er die Augen zusammenkniff, um überhaupt etwas zu sehen. Er suchte nach dem Fenster. Er wollte wissen, ob es bereits morgen war. Vielleicht hatte er verschlafen. Doch dort, wo sich die Fenster befanden, gab es kein Licht. Nur Schatten. Ein besonders großer Schatten hockte direkt hinter dem Fenster auf dem Sims. Erst glaubte er, es sei der gleiche Schatten, der zuvor draußen gewütet hatte, bis er bemerkte, dass der neue Schatten Fell besaß. Es schimmerte orange-rötlich. Außerdem war da ein zuckender, buschiger Katzenschwanz und gelbe Katzenaugen. Das war kein unförmiger Schatten. Das war ein dicklicher Kater. Krumbein. 

Yugi bekam es mit der Angst zu tun. Krumbein hatte das Puzzle angegriffen. Er hatte Atemu verletzt. Sofort suchte er nach dessen geisterhaften Erscheinung. Er entdeckte ihn nicht weit vom Fenster entfernt. Das Licht umfasste ihn, womit er beinahe aussah wie eine christliche Heiligengestalt. Lichtreflexionen glitzerten auf seinen antiken Schmuckstücken, hinter ihm flatterten Lichtflecken über die Wände. 

Das war eigenartig. Seit wann brach sich Licht auf seinem Schmuck? Yugi wollte sich mehr auf Atemu konzentrieren, doch das gestaltete sich schwierig. Seine Sicht klärte und verschwamm ständig, als könnten sich seine Augen nicht für die richtige Schärfe entscheiden. Deswegen mochte er sich täuschen, als er meinte zu erkennen, dass Atemu viel körperlicher war als sonst. Er war immer noch durchsichtig. Daran gab es keine Zweifel. Und dennoch wirkte seine Erscheinung fester. Yugi konnte nur schwerlich den Kamin hinter ihm erkennen. Außerdem war dort auf dem Boden ein Schatten. Kein Schatten wie das Monster zuvor, sondern ein ganz gewöhnlicher Schatten, der entstand, weil das helle Licht auf Atemu traf. Es war Atemus Schatten. Aber Atemu konnte keinen Schatten besitzen. Dafür bräuchte er einen Körper. 
 

Plötzlich kehrte die Dunkelheit mit einem Schlag zurück. Das Licht verschwand von einem Augenblick zum nächsten und mit ihm Krumbein, Atemu und der Schatten.

 

 
 

*

 

 

Als Yugi am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich kaum noch an den Traum. Da waren bloß einige Bruchstücke – wie Scherben eines zerbrochenen Tellers, die sich in Ritzen und Fliesenfugen festsetzten, wenn man den Schutt beseitigte. Er wusste noch, dass Lord Voldemort – als böse, schlangenhafte Fratze –, ein ziemliches helles Licht und Atemu darin vorgekommen waren. Dafür hatte er ziemlich heftige Kopfschmerzen. Er rieb sich über die Stirn. Atemu hatte wohl die ganze Nacht über gegrübelt, weswegen er sich an seinen Kopfschmerzen nicht störte. Schon gar nicht nach dem, was sie gestern gehört hatten. Er wunderte sich, ob es in der magischen Welt Aspirin oder andere Kopfschmerzmittel gab, und schob sich die Decke vom Körper. Als er schließlich aufrecht saß, stellte er fest, dass Atemu sich gar nicht im Raum aufhielt. Das Millenniumspuzzle lag neben ihm auf einem Kissen gebettet. Er nahm es, zog sich die Eisenkette über den Kopf und blickte es erwartungsvoll an. 

Nichts passierte. 

Yugi blinzelte verwirrt. »Atemu?« 

Wieder keine Reaktion. 

Manchmal war Atemu zu sehr in seinen eigenen Gedanken gefangen. Vorsichtig stupste er das Puzzle an. »Mein anderes Ich?«
 

»Partner?« Atemu klang müder, als Yugi es erwartet hatte, »Alles in Ordnung?«
 

»Das wollte ich eigentlich dich fragen. Hast du diese Nacht geschl- … dich ausgeruht?«
 

Die Antwort war ein undefinierbares Geräusch. Also hatte er es nicht getan. Yugi war keineswegs überrascht, verkniff sich allerdings eine weitere Bitte, dies zu tun. 

Seufzend stand er auf, zog sich um und suchte nach den Aufzeichnungen, die heute benötigte. Sein heutiger Tag war deutlich geschäftiger als der gestrige, was schlecht für seine Vorbereitungen für Freitag war. Heute war Dienstag. Bis Freitag musste er sich eine Geschichte zurechtlegen. Das dürfte einiges an Arbeit abverlangen. Je mehr Zeit er in seine Recherchen investierte, desto sicherer war er vor dieser Umbridge. Er war nicht sonderlich glücklich darüber, weil es ihn unnötig Zeit kostete, die er hätte nutzen können, um Atemu zu helfen. Aber wenn das der Preis war, den er zahlen musste, um den Rest des Schuljahres für die Suche nach einer Lösung zu haben, war er bereit, ihn zu bezahlen. Eine Woche war kein Vergleich zu einem Jahr. Oder zu dreitausend Jahren. Oder der Ewigkeit. 

Er packte seine Sachen zusammen und brach auf.
 

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Yugi blieb stehen. Er hatte das Zimmer noch nicht verlassen, die Hand aber schon an der Tür. »Ist alles in Ordnung?«
 

»Ja«, sagte Yugi überrascht, »Ja, alles gut. Ich hatte nur einen ziemlich merkwürdigen Traum. Dieser Typ, von dem Professor Dumbledore uns gestern erzählt hat, kam darin vor.«
 

Er öffnete die Tür und trat auf einen Flur hinaus. So früh waren die Korridore menschenleer. Die Schüler waren noch nicht unterwegs, um zum Frühstück oder in die Klassenzimmer zu pilgern.  
 

»Lord Voldemort?«
 

»Genau. Er war ein Schatten, der aussah wie eine Schlange.«
 

»War das nicht die Beschreibung, die Harry Professor Dumbledore gab, nachdem er ihn gesehen hatte? Schlangenähnliche Gesichtszüge?«
 

»Deswegen wusste ich, dass er es war«, erklärte Yugi. Er spürte, den Stimmungsumschwung, der sich ankündigte, und setzte hinzu: »Mach dir keine Sorgen. Es war nur ein Traum. Ich kann mich auch nicht sonderlich gut daran erinnern.« Yugi überlegte angestrengt. Viele Erinnerungen an den Traum hatte er nicht mehr. »Als das Licht kam, war er nicht mehr da.« 
 

»Das Licht?« 
 

»Ja, da war viel Licht. Wirklich viel Licht. Ich weiß nicht, woher es kam. Es war so hell, dass ich kaum etwas sehen konnte.« Er dachte über den Traum nach. Er wollte sich an mehr Details erinnern. »Du kamst auch darin vor.«
 

Atemu sagte nichts, aber Yugi war zu beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken, um seinem Schweigen sonderlich Beachtung zu schenken.
 

»Du standst im Licht«, sagte Yugi und sein Gesicht hellte sich auf. Er wollte sich zu Atemu umwenden, doch der war bloß die Stimme in seinem Kopf. »Glaubst du das ist ein gutes Zeichen? Es gibt Leute, die fast gestorben wären und sagen, sie hätten ein Licht gesehen. Vielleicht heißt das, dass wir einen Weg finden werden, wie du … wie du … « Yugi brach ab. Er konnte sich nicht dazu überwinden, den Satz laut zu beenden. Tat es allerdings in seinem Kopf. 
 

… wie du vollständig sterben kannst. 
 

Es schauderte ihn. Und es ärgerte ihn. Langsam sollte er sich an den Gedanken gewöhnt haben. Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Erst einige Treppen später, als er die Große Halle fast schon erreicht hatte, fiel ihm auf, dass Atemu kein Wort mehr verloren hatte.  
 

»Hey …«, begann Yugi unsicher, »Ist alles … Stimmt etwas nicht?«
 

»Ja, nein, alles in Ordnung«, antwortete der Geist abwesend, »Ich muss nur über etwas nachdenken.« 
 

»Okay.« Die Art, wie Atemu seine Antwort formuliert hatte, ließ Yugi an der Aufrichtigkeit dieser zweifeln. Aber womöglich machte er sich nur zu viele Gedanken um Nichtigkeiten. »Wenn was ist …« Es war nicht notwendig, den Satz zu Ende zu führen. Er spürte eine vertraute, angenehme Wärme durch ihre Verbindung fließen. 
 

»Ich weiß, danke.«

 

 
 

*

 

 

Den Rest des Tages sprachen sie wenig miteinander, was Yugi Zeit gab, sich zunächst mit den Schülern und im Folgenden mit seinen Nachforschungen zu beschäftigen. Er hatte Professor Dumbledores Angebot, ihm bei der Entwicklung einer fingierten Geschichte für Dolores Umbridge zu helfen, ausgeschlagen, weil er sich auch mit Atemu abstimmen musste und er hatte vermeiden wollen, dass der Schulleiter noch mehr seiner ‚Selbstgespräche‘ belauschte. 

Nach dem Unterricht – das Abendessen ließ er wegfallen, weil er mit englischen Küche ohnehin nicht viel anzufangen wusste – verzog er sich deshalb in die Schulbibliothek, welche erstaunlich groß war. In deckenhohen Regalen reihten sich klobige, in altes Leder gebundene Wälzer so dicht beieinander, dass nicht einmal eine Spielkarte zwischen sie gepasst hätte. Da das Schuljahr erst begonnen hatte, war die Bibliothek gespenstisch leer, was Yugi zu schätzen wusste. Er wäre in eine ziemlich peinliche Angelegenheit, wenn ein Schüler ihn dabei ertappt hätte, wie er Bücher über magische Grundkenntnisse las. 

Er nahm sich einige Bücher aus den Regalen, deren Titel vielversprechend klangen, und balancierte den Stapel, der locker über die Spitzen seiner Haare reichte, zu einem Tisch. Es gab einen ziemlich lauten Knall, als er den Stapel auf die Platte fallen ließ. Dann setzte er sich und begann zu arbeiten. 

Gelegentlich warf Atemu einen Blick über seine Schulter, hob bei einer interessanten Passage kommentierend eine Braue oder rollte verachtend mit den Augen, wenn er etwas entdeckte, was nach seiner Einschätzung absolut absurd war. Offenbar hatte sich der magische Wissensschatz in den vergangen dreitausend Jahren erheblich erweitert. Dann zog er sich wieder in seine eigenen Gedanken zurück. Yugi spürte es. Es war wie ein Hintergrundrauschen. Ein Tinnitus, der sich nicht in seinem Ohr, aber dafür direkt in seinem Kopf aufhielt. 
 

Yugi nutzte die Zeit auch, um den vergangenen Tag Revue passieren zu lassen. Gestern war er zu erschöpft gewesen, um sich mit allem zu beschäftigen, was Professor Dumbledore ihm berichtet hatte. Die Informationsflut hatte ihn schlichtweg überrollt. 

Yugi platzierte die Ellenbogen auf der Tischplatte und stützte seinen Kopf in Händen. Vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch über die magische Gesellschaft Europas. Sein Blick wurde glasig und leer; die lateinischen Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. 

Seine primären Sorgen hatten dem Gespräch am Freitag gegolten, denn dies war die unmittelbarste Gefahr gewesen. Um Lord Voldemort jedenfalls hatte er sich nicht so viele Gedanken gemacht, wie es wohl angebracht gewesen wäre. Nur hatten sich bereits etliche durchgeknallte Bösewichte in sein Leben eingemischt, dass er weniger verängstigt als leicht genervt darüber war. Nun überlegte er, dass diese Einstellung leichtsinnig gewesen war. Ob Atemu deswegen so abwesend war? Zerbrach er sich wegen Lord Voldemort den Kopf? Schließlich hatte meistens er sich mit den bösen Mächten herumgeschlagen, die sie heimgesucht hatten. Yugi hatte oftmals nur zugesehen. Manchmal hatte er sich sogar absichtlich in Schwierigkeiten begeben, die Atemu dann hatte beseitigen müssen. War seine Entscheidung, an dieser Schule zu bleiben, während dort draußen ein böser Magier lauerte, zu selbstsüchtig gewesen? Er brachte sich dadurch womöglich in zusätzliche Gefahr. 
 

Der Mittwoch verging ähnlich trist wie der Dienstag. Atemu verbrachte den Großteil des Tages in seinem Seelenraum und Yugi bestärkte der Verdacht, zu voreilig und egoistisch entschieden zu haben. Am Abend, als er in der Bibliothek saß und abermalig durch ziemlich alte Folianten blätterte,
 

Am Donnerstag beschloss er daher, dass es an der Zeit war, zu reden. Inzwischen war er von seiner Schuld an der Situation überzeugt. Und er vermisste Atemu. Der Geist war sein bester Freund. Ständig befand er sich an seiner Seite. Es tat ihm in der Seele weh, nicht mit ihm zu reden. 

Nach dem ersten Unterrichtsblock folgte er deswegen den lärmenden und überdrehten Erstklässlern aus dem Klassenzimmer. Er konnte sich mit Atemu nicht dort unterhalten, denn jeden Moment konnte die nächste Klasse – die Fünftklässler, die er bereits am Montag getroffen hatte – hineinströmen. Vor ihnen wollte er keine ausführliche Unterhaltung mit jemanden führen, den sie weder sahen noch von dessen Präsenz sie jemals erfahren durften. 

Draußen peilte er – nachdem die Schüler um eine Ecke gebogen waren – ein Badezimmer an, welches außer Betrieb war. Er schob sich an einem großen Schild vorbei, auf dem ‚DEFEKT‘ stand. Die Pause zwischen den Stunden war nicht lang genug, um hoch in sein eigenes Zimmer zu laufen. 

Das Badezimmer war ziemlich heruntergekommen. Der weiß gekachelte Boden stand stellenweise unter Wasser. In den Pfützen versank Yugi bis zu den Knöcheln. Viele der Spiegel, welche über einer langen Reihe Porzellanwaschbecken angebracht waren, waren zersprungen und stockfleckig. Überall lag Schutt herum. Die meisten Toilettenkabinen waren zertrümmert. 

Yugi versicherte sich, dass er wirklich allein. Dann lehnte er sich gegen ein angeschlagenes Waschbecken. 

»Könntest du … Ich meine, würde es dir was ausmachen, rauszukommen?«, fragte Yugi. Er rieb sich nervös die Hände hinterm Rücken. »Ich möchte mit dir reden, bitte.«
 

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Yugi blinzelte und Atemu stand vor ihm. Mit seiner königlichen Garderobe wirkte er in einem abrissreifen Badezimmer fehlplatziert. Er sah besorgt aus. »Was ist los?«
 

»Nichts, also jedenfalls …« Yugi holte tief Luft und sagte dann entschlossen: »Es tut mir leid.«
 

»Was?« Atemu blinzelte heftig und unverkennbar perplex. 
 

»Es tut mir leid«, wiederholte Yugi, der nun nicht minder verwirrt war, »Als Professor Dumbledore mich fragte, ob ich trotz dieses Lord Voldemort hierbleiben will, habe ich ja gesagt ohne dich zu fragen.«
 

»Was hättest du sonst tun sollen?«, entgegnete Atemu und zog eine Braue hoch. »Professor Dumbledore hat dich ständig beobachtet.«
 

»Ja, aber dieser Lord Voldemort ist gefährlich und …«, begann Yugi. Er wollte Atemu erklären, dass seine Entscheidung falsch und egoistisch gewesen war. Dass er seine Entscheidung hätte vertagen sollen. Aber all das blieb ihm im Hals stecken, als er Atemu in die Augen sah. »Du bist nicht wütend?«
 

»Keineswegs«, meinte Atemu leichthin. »Womöglich hast du in dieser Situation sogar die bessere Entscheidung getroffen, als ich es getan hätte.«
 

Yugi starrte ihn bloß an. Ihm fehlten die Worte.
 

»Ich vertraue Professor Dumbledore nicht«, erklärte Atemu, was keineswegs überraschend kam, »Er weiß mehr, als er dir gegenüber zugibt, und ich werde das Gefühl nicht los, dass er etwas plant, was entweder direkt oder indirekt mit dir zusammenhängt. Allerdings bezweifle ich, dass er beabsichtigt, dir Schaden zuzufügen. Wäre dem so, wären seine Chancen, erfolgreich zu sein, größer gewesen, wenn er die magische Welt vor dir geheim gehalten hätte. Zudem hast du ihn mit deiner Entscheidung nun selbst in Bedrängnis gebracht, denn es ist sein Ruf, der zurzeit auf dem Spiel steht. Falls Professor Umbridge erfahren sollte, dass du keine magischen Fähigkeiten besitzt, dürfte sie dieses Wissen in Anbetracht der angespannten Situation eher gegen Professor Dumbledore zur Anwendung bringen als gegen dich. Im Moment ist Professor Dumbledore von dir abhängig.«
 

Yugi gab zu, dass diese Schlussfolgerung logisch klang. Trotzdem runzelte er die Stirn. »Aber was ist mit Lord Voldemort …?«
 

»Nun, die Existenz einer Person ist nicht daran geknüpft, ob man von dieser auch Kenntnis besitzt«, sagte Atemu, »Hättest du nicht entschieden, an diese Schule zu kommen, wüssten wir nichts über ihn, was ungleich gefährlicher für dich wäre.«
 

»Also hast du über Voldemort nachgedacht, als …«
 

»… ich mich zurückgezogen habe? Teilweise.« Plötzlich schien sich Atemu verspannen und er drehte sich weg, um durch ein Fenster zu blicken, das so von Schmutz verkrustet war, dass man kaum sagen konnte, ob es draußen lichter Tag oder tiefe Nacht war. 
 

»Willst du darüber reden?« fragte Yugi auffordernd, der unglaublich erleichtert darüber war, dass seine Befürchtungen sich nicht bewahrheitet hatten. »Das kann helfen, weißt du …«
 

»Ja, ich weiß.« Auf Atemus Zügen zupfte die Andeutung eines Lächelns, welches sich jedoch umgehend wieder verflüchtigte, um der Nachdenklichkeit Platz zu machen. Yugi wusste, wie schwer es dem Geist fallen konnte, über das zu reden, was ihn bedrückte. Manchmal glaubte Atemu noch immer, es sei ein Zeichen von Schwäche, wenn er sich seine Sorgen anmerken ließ. Also ließ er ihm die Zeit. Es hatte noch nicht zur nächsten Stunde geläutet. Ein paar Minuten blieben ihnen hoffentlich noch.  
 

»Erinnerst du dich noch an deinen Traum? Den mit dem Licht, meine ich«, fragte Atemu schließlich.
 

Yugi nickte. 
 

»Gab es noch mehr dieser Träume?«
 

»Ja, jede Nacht seitdem«, sagte Yugi. Er war nicht sonderlich besorgt darüber gewesen. Träume konnten sich festbeißen, das wusste er. Aber die Art, wie Atemu fragte, ließ ihn an diesem Glauben nun zweifeln. »Stimmt mit den Träumen etwas nicht?«
 

Der Geist zögerte. Er biss sich auf die Unterlippe. »Das sind keine Träu-« Plötzlich unterbrach er sich selbst. Er zog die Augenbrauen so tief, dass sich Falten auf seiner Nase bildeten. »Hast du das gehört?«
 

»Äh … Was?«, fragte Yugi verdutzt. Atemu legte einen Zeigefinger an die Lippen. Yugi folgte dem Hinweis und wurde leise. Einige Sekunden herrschte vollkommene Stille. Dann hörte er es auch. Es klang wie ein … Schluchzen. Jemand schnaubte sich geräuschvoll die Nase.
 

»Weint da jemand?«
 

»Klingt so.« Atemu sah sich um, als würde er zum ersten Mal seine Umgebung wahrnehmen. »Wo sind wir?«
 

»In einem Badezimmer … ich glaube, es ist eigentlich ein Mädchenbad. Aber es war abgesperrt. Draußen vor der Tür steht ein Schild«, setzte Yugi rasch hinzu, als er bemerkte, wie sich der Ausdruck auf Atemus Gesicht zu etwas wandelte, was sich bestenfalls als Horror bezeichnen ließ. Seto Kaiba hätte wohl einen erklecklichen Teil seines Vermögens hergegeben, bloß um diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Sogar die dunkle Haut auf seinen Wangen nahm eine leichte Rotschattierung an, was Yugi unter anderen Umständen sicherlich amüsant gefunden hätte. Nun hob er bloß die Hände. »Ich habe vorher geklopft und gerufen. Ich bin sogar alles abgegangen.« Er zeigte auf die Reihe von Kabinen, bei denen die Türen teilweise aus den Angeln gerissen waren. »Da war niemand.«
 

»Aber jetzt ist da jemand«, bemerkte Atemu und deutete knapp über seine Schulter in die gleiche Richtung. 
 

»Richtig …« Yugis Stimme erlahmte. Seine Zunge fühlte sich taub an. Nervös schielte er zu den Kabinen. Vielleicht sollten sie das Badezimmer besser verlassen. Andererseits war es womöglich seine Pflicht, sicherzustellen, dass alles in Ordnung war. 

Er tauschte einen Blick mit Atemu aus, der so unschlüssig aussah, wie Yugi sich fühlte. Er atmete durch, dann trat er einen Schritt vorwärts, wobei er in einer großen Wasserlache versank.  
 

»Anou … hallo«, sprach er nervös in den Raum, »Ist da jemand?«
 

Das Schluchzen verstummte. Dafür war ein ersticktes Schniefen zu hören. 
 

»Wer ist da?«, fragte die Stimme eines Mädchens schrill. Die Tür einer Kabine flog krachend auf; ein Wasserstrahl schoss aus der Toilettenschüssel, bildete kurz eine beeindruckende Fontäne, bevor das Wasser auf den ohnehin schon überschwemmten Boden knallte. Eine Flutwelle ergoss sich. Yugi trat hastig einen Schritt zurück, aber das Wasser rollte trotzdem über seine Schuhe hinweg. 

Der Wasserfontäne folgte etwas, was Yugi bestenfalls als ziemlich fester Nebel beschreiben konnte. Es stieg aus der gurgelnden Toilette empor und blieb über ihr schweben. 
 

Yugi klappte der Mund auf. Auch ohne magische Kenntnisse hätte er erkannt, was er dort vor Augen hatte. 

Über der Toilette schwebte der Geist eines plumpen Mädchens. Ihr gesamter Körper war silbrigweiß und durchsichtig. Sie hatte ein rundliches, trübsinniges Schmollgesicht und ihre Augen, die hinter einer dicken Perlmuttbrille stark vergrößert wurden, glitzerten tränenfeucht. Ihre Haare waren zu zwei losen, zerrupften Zöpfen gebunden. Ihre Nase lief. Sie wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Schulumhanges ab. Dann stemmte sie die Hände in die Hüfte und beäugte Yugi skeptisch. 
 

»Wer bist du?«, fragte sie. Ihre Stimme klang verschnupft und ihre Lippen zitterten. 
 

Yugi blinzelte und musste den Impuls unterdrücken, sich die Augen zu reiben. Er musste regelrecht nach Worten suchen. »Ich bin Yugi … Ich … anou … arbeite hier.«
 

»Du arbeitest hier …«, wiederholte das Geistermädchen ungläubig und schniefte laut. »Bist du ein Lehrer?«
 

Yugi nickte einfach. 
 

Das Geistermädchen wirkte nicht überzeugt. »Und was machst du in meinem Badezimmer?«
 

»Dein Badezimmer?« Yugi sah sich im zertrümmerten Bad um. »Heißt das, du wohnst hier?«
 

»Ja«, entgegnete sie und reckte herausfordernd das Kinn. »Deswegen ist es auch verschlossen. Die Schüler dürfen hier nicht rein, weil sie mich ständig ärgern. Aber manchmal kommen sie trotzdem her.« Sie jaulte wie ein verletztes Tier und mit jedem Wort wurde ihre Stimme klagender. »Dann nennen sie mich maulende Myrte und fette Myrte und dumme Myrte.« Dicke, graue, gasförmige Tränen quollen ihr aus den Augen. Sie schnäuzte sich die Nase an ihrem Umhang. Dann blickte sie Yugi vorwurfsvoll an. »Bist du auch gekommen, um mich zu ärgern?«
 

»Was?! Nein«, wiegelte Yugi hastig ab, »Ehrlich. Ich dachte, das Bad sei gesperrt. Deswegen bin ich hergekommen, um mit …« Er zögerte. Flüchtig blickte er zu Atemu hinüber, dem der Schock über die unerwartete Gesellschaft ebenso ereilt hatte.
 

Das Geistermädchen zog eine Schnute. Offenbar dauerte ihr die Antwort zu lange. Sie folgte Yugis Blick. Ihre Mundwinkel sanken tiefer. 
 

»Und wer bist du?«, fragte sie verächtlich und musterte Atemu abschätzig. 
 

Draußen läutete die Schulglocke.

 

 
 

*
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Woar, wer hätte das gedacht …
Ich habe es geschafft. Ehrlich, wer hätte das gedacht. Ich habe mich aber auch wirklich schwer mit diesem Kapitel getan. Puh. Findet ihr den Schluss auch zu … zu überhastet? Eigentlich war diese Szene erst viel später geplant, aber dadurch, dass ich ja ewig meinen Arsch nicht hoch bekommen habe, musste ich jetzt auch mal mit der Handlung vorwärts kommen. Oder zumindest mal einen kleinen Plottwist einbauen. Im Übrigen war es tatsächlich von Anfang an geplant, dass Myrte die erste »Person« ist, die Atemu sieht.
Ich fang jetzt besser auch nicht an, all die Dinge aufzuführen, die mich sonst noch an diesem Kapitel stören. Ich kann euch sagen, die Liste ist lang genug.

Ich möchte übrigens noch etwas klarstellen: Ich unterscheide eigentlich zwischen Geistern wie Atemu und Gespenster wie Myrte, weil sie in meinen Augen zu verschiedenen "Gattungen" einer Oberspezies gehören und sich in Kleinigkeiten wie Farbe und Sichtbarkeit und Entstehung differenzieren. Aber da diese Szene aus Yugis Perspektive verfasst ist und ihm viel magischer Background fehlt, konnte ich diese Erklärung noch nicht in der Geschichte liefern. Das werde ich im nächsten Kapitel tun.

An meinen lieben Kommentatoren auf Animexx: Es tut mir leid. Ich habe nicht auf eure zahlreichen Kommis geantwortet. Ich wünschte, ich könnte hier einen tollen Grund angeben, aber eigentlich war ich einfach nur zu faul und zu vergesslich. Trotzdem möchte ich euch wissen lassen, dass ich euch allen sehr dankbar für eure lieben Worte und Unterstützung bin. Ich wünschte außerdem, ich könnte Besserung geloben, aber eigentlich kann ich das nicht. Kommunikation mit Menschen – selbst wenn es nur so etwas triviales ist wie eine Antwort – fällt mir unglaublich schwer und kostet mich grundsätzlich viel Überwindung, ist aber niemals böse oder undankbar gemeint.

(Die Hälfte dieses Kapitels habe ich in meinem Kopf auf Englisch geschrieben und dann mühevoll und ziemlich schlecht übersetzt … ich sollte aufhören, englische FFs zu lesen …)
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Votani
2017-08-06T16:12:48+00:00 06.08.2017 18:12
Wieder ein sehr spannendes Kapitel! Ich weiss gar nicht, was mir am Besten gefallen hat. :'D Ich mag, dass du Dumbledores manipulierende Ader einbringst (und Atemu sich dessen vollkommen bewusst ist). Das passt so gut hier hinein und ist ausserdem unglaublich IC, wobei du ja nie Probleme hast, die Charaktere zu treffen. Jedenfalls kommen sie aus deiner Feder immer gut rueber.
Aber ich mochte auch die Begegnung mit Myrte sehr gern. Meine Guete, ein Schock nach dem anderen fuer Atemu und Yugi. Erst Krummbein, der ihn sehen und auch verletzen kann, und jetzt auch Myrte, die ihn ebenfalls sehen kann. Andererseits befinden sie sich ja nun unter magischen Geistern/Menschen/Tieren und da funktionieren die Dinge scheinbar anders. Ich nehme jetzt einfach mal an, dass das der Grund ist. Ich finds uebrigens toll, dass du schoen daran festhaeltst, dass Yugi eben nicht allzu viel ueber die magische Gesellschaft weiss und nachforscht. Sehr realitaetsnah, das wuerden wir wohl alle an seiner Stelle machen. :'D
Ich war eigentlich nie ein soooo grosser Yugi-Fan, aber hier ist er mir unheimlich sympathisch und ich mag die Interaktionen zwischen ihm und Atemu ebenfalls sehr. Ich freu mich schon ungemein aufs naechste Kapitel und kann eigentlich nur wiederholend sagen, dass das Crossover wirklich wunderbar funktioniert und du dir nicht so viele Gedanken ueber die Kapitel machen solltest. Sie sind gut, das kann ich dir sagen. :D
Antwort von:  Maclilly
06.09.2017 16:07
Huhu!

Wie üblich viel zu spät: Ich danke dir für dein Kommi! Ja, Dumbledores manipulative Spielchen sind unglaublich spannend. Ich schreibe sie auch sehr gerne, eben weil er eigentlich ein guter Charakter ist, aber eben auch ein Arsch.
Myrte wird übrigens noch eine etwas größere Rolle spielen. Ich finde sie einfach cool. :P
Im Übrigen höre ich nicht zum ersten Mal, dass jemand Yugi eigentlich nicht mag, aber mit seiner Darstellung in der FF doch klarkommt. Dürfte ich dich fragen, ob du den Manga gelesen oder "nur" den Anime gesehen hast? Anime-Yugi mag ich nämlich auch nicht so besonders ... was daran liegt, dass die Anime-Macher ihm ganz, ganz viele unglaublich beeindruckende Momente geklaut und einfach an Atemu gegeben haben, weil Atemu ja so viel cooler ist. -.-"
Freut mich jedenfalls, dass dir das Kapitel gefallen hat. Und nimm mein Gejammer im Nachwort bloß nicht zu ernst. Ich brauch das einfach. Ich weiß, es ist eine schlechte Charaktereigenschaft, aber ich liebe es, über mich zu jammern und zu meckern. Das beruhigt mich. Und ist super, falls jemand mein Geschreibe doch mal scheiße findet. :P
Von:  EL-CK
2017-07-16T18:26:02+00:00 16.07.2017 20:26
Ich finde das Kapitel gut... Auch den Schluß finde ich passend dazu... Das mit Myrte ist durchaus passend.
Antwort von:  Maclilly
06.09.2017 16:00
Hallo!
Vielen Dank für dein Kommi! Freut mich, dass es gefallen hat. :)


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