Pflege
Sesshoumaru gab sich alle Mühe rational nachzudenken, aber das war schwer. Zum einen lag das an seinen dumpfen Kopfschmerzen, die er noch nie empfunden hatte, zum anderen an seiner verzweifelten Lage. Er konnte sich nicht bewegen, war gefangen im eigenen Körper – und dort draußen rannte jemand herum, der ihn mit gewisser sadistischer Freude rätseln ließ, wie er ihn und vor allem, wer ihn umgebracht hatte. Denn besiegt, nein da irrte der Unbekannte. Er war nicht besiegt. Vielleicht umgebracht, aber nicht besiegt. Er würde sich rächen. Dieser Mistkerl würde ebenfalls nicht überleben.
Schritte draußen ließen ihn dennoch innerlich zusammenzucken. Kam sein Mörder – oder Mörderin, denn nicht einmal das hatte er herausfinden können – zurück? Das war nicht Sakura, eher...ja, ein Menschenmann. Und Sakura, wie er als nächstes doch ein wenig beruhigter erkannte.
Dann jedoch fiel ihm ein, wie ungemein demütigend das war hier vollkommen unbekleidet und hilflos zu liegen – kein Mensch würde ihn nach diesem Anblick doch je wieder achten, geschweige denn fürchten...
Die Schritte verharrten vor der Tür.
Sakura, ahnungslos ob der Tatsache, dass ihr so stiller Patient wenigstens alles um sich hören konnte, nahm dennoch an, dass er es nicht schätzen würde, bekäme ihn jemand außerhalb der Heilerzunft oder seinen Eltern so zu Gesicht. Um ehrlich zu sein war ihr sogar schon der Gedanke gekommen, dass er selbst ihr das übel nehmen könnte, aber sie hoffte doch durch den Befehl seines Vaters gedeckt zu sein. So wandte sie den Kopf zu dem menschlichen Diener, der ihr den Wassereimer bis hierher getragen hatte:
„Danke, setze ihn dort vor der Tür ab.“
Der Mann gehorchte, durchaus erleichtert nicht in die Privaträume des gefürchteten Erbprinzen gehen zu müssen. Sicher, da Neigi und Sakura bei ihm gewesen waren, war der vermutlich krank, aber man wusste ja, wie sich schon kranke Menschenmänner benahmen....Womöglich war der jetzt noch gefährlicher. „Brauchst du noch etwas, Sakura?“
„Nein, danke.“ Sie hatte beide Arme voll mit Tüchern und einer kleinen Flasche, die ihr ihr Lehrer noch rasch besorgt hatte. „Ich komme schon zurecht.“
Der Diener ging, drehte sich aber noch einmal um. Da er sah, wie sie vor der Tür niederkniete, vermutete er nicht, dass Seine Lordschaft nicht aktionsfähig war.
Sie schob die Pforte auf, ehe sie mit beiden Händen wieder ihre Last aufnahm und sich erhob.
„Ich bitte eintreten zu dürfen, Lord Sesshoumaru,“ sagte sie, weniger, weil sie annahm er könne sie hören, als vielmehr, weil ihr Lehrer sie eingeschärft hatte, dass man bewusstlose Patienten immer ansprechen sollte, um sie unbewusst zu beruhigen und nicht zu erschrecken. „Ich habe das Wasser und die Tücher für Euch mitgebracht...“ Sie erhob sich und kam heran, legte sie neben ihm nieder, ehe sie deutlich mühsamer den schweren Wassereimer hereinholte und abstellte, die Tür hinter sich schloss.
„Ich werde Euch nun kühlen,“ erklärte sie, bereits ein Tuch in den Eimer werfend: „Zunächst Eure Beine... - Nicht erschrecken, es dürfte sich für Euch kalt anfühlen....“ Sie kniete neben dem Eimer und seinen Beinen nieder, unbekümmert ob der Tatsache, dass sie schon einmal gedacht hatte, so unbekleidet sei er einfach perfekt, uneingedenk ihrer Verliebtheit. Er war ein Patient und sie die Heilerin. Professionelle Nüchternheit, die ihr schon immer gelegen hatte, war durch Neigis Ausbildung noch verdeutlicht worden – und durch eine gewisse Schulung seitens Seiner Lordschaft höchstselbst, der Emotionen so gar nicht schätzte.
Erschrecken, dachte er ingrimmig. Und das musste er sich von einem Mädchen sagen lassen! Einem Menschenmädchen! Wahrlich, der Wunsch seines ominösen Mörders schien in Erfüllung zu gehen, er vor seinem Tod noch jede erdenkliche Demütigung erfahren müssen.
Ja, bei dem Kampf, nun, das war es kaum zu nennen gewesen, eher Beseitigung von Lebensmüden, hatte er etwas hinter sich gespürt. Eine Person, ja. Magie? Womöglich. War es etwa ein magischer Angriff gewesen und hatte Neigi darum keine Spur einer Verletzung gefunden? Aber es gab eigentlich nichts, was ihm derart zusetzen konnte. Und der Unbekannte schien ja sicher zu sein, dass er selbst sterben würde. Was also hatte der oder die getan? Allein schon ihm auflauern zu lassen war eine bodenlose Dreistigkeit. Aber dann auch noch von hinten eine Attacke führen...Und warum nur? Nein, suche nicht das Warum. Suche das Wie.
Es musste jemand sein, der diese Streuner anheuern konnte, jemand aber auch, der an der Wache vorbei in den Privattrakt gelangen konnte – oder zumindest hier einbrechen. Wen würde ein Hundedämonenkrieger zu seinem oder auch Vaters Schlafzimmer laufen lassen? Das musste der Schlüssel zu dem Wer sein. Und wie hatte der ihn umbringen wollen oder auch können? Es war dort im Wald geschehen, die Lähmungen hatten nur kurz danach eingesetzt, als sich der Rest des Streunerrudels hastig zurückgezogen hatte. Er hatte drei oder vier von ihnen getötet, ja. Und dann...?
Sein Genick....da war eine vage Erinnerung. Nur, was? Neigi hatte keine Verletzung gefunden...Oder hatte er keine finden können, weil es bereits verheilt war? War die Wunde an sich gegenwärtig verschwunden und er litt nur unter den Nachwirkungen – allerdings waren diese tödlich?
Sakura wrang das Tuch aus, ehe sie leise sagte: „Es wird Euer Lordschaft kühlen...Das rechte Bein...“ Sie legte den Stoff auf den Unterschenkel und wickelte ihn herum. Dabei musste sie das Bein anheben. Wieder fiel ihr auf wie vollkommen schlaff der sonst so kraftvolle Körper wirkte. Tollwut war schon eine schreckliche Sache. Und ein grausamer Tod. Wieso nur konnte es auch einen so starken Dämon treffen? Oder lag eine andere Krankheit vor? Hatte der Inu no Taishou Recht? „Das linke Bein...“ erklärte sie dennoch: „Und jetzt werde ich herumrutschen und Euer Lordschaft die Füße wärmen.“
Auch das noch, dachte der unwillige Patient. Das war wirklich kalt und die Tatsache, dass sich Sakura nun zu seinen Füßen setzte, diese anscheinend zwischen ihre Oberschenkel nahm um sie warm zu halten....Nein, das war....ah!
Sie fuhr fort: „Die unterschiedlichen Temperaturreize sollen Euren Körper anregen, die Lähmungen verlangsamen.“
Das klang nicht schlecht, gab er doch zu, zumal er spürte, dass sein Blut deutlich in die Beine floss. Vielleicht war das nur ein Zeitgewinn, aber immerhin das. Und sie behandelte ihn sachlich, höflich, als ob er wach sei. Sie war wirklich ehrlich. Nun, sie hätte ihn nie anlügen können, hatte es aber auch, seit sie sich kannten, noch nie nur versucht. Ehrlichkeit zu finden war schwer, das hatte Vater auch immer gesagt.
Vater! Wo blieb der nur? Fanden sie nichts im Wald? Aber die Toten müssten doch da herumliegen.
Gleich. Er musste nachdenken.
Wen würde die Wache in den Privattrakt lassen, für harmlos halten?
Einen anderen Hundedämon, der vorgab einen Auftrag zu haben? Möglich. Einen Kameraden, einen anderen Krieger?
Eine Hundedämonin, die angab zu ihm bestellt worden zu sein? Obwohl eigentlich einige Leute gesehen haben sollten, dass er, Sesshoumaru, zumindest verletzt war? Möglich. Je nachdem, was Vater öffentlich gemacht hatte – und das war wohl eher weniger.
Aber kaum jemand anderen. Das grenzte die Suche schon einmal ein. Ein Hundedämon, ja. Aber warum sollte ein Gefolgsmann seines Vaters ihn umbringen wollen? Oder auch eine Frau? Nicht den Grund suchen, ermahnte er sich wieder. Nur das Wie. Für eine Frau aus dem Schloss wäre es schwierig sich ein Rudel Streuner zu suchen und sie zu bezahlen. Für einen Krieger allerdings ebenso, so gut zahlte Vater nun auch wieder nicht. Es müsste ein höherrangiger Hundedämon sein, jemand, der sich womöglich Chancen ausrechnete selbst das Erbe antreten zu können?
Jemand also von außerhalb des Schlosses, der sich hier gut auskannte. Und, der ihn selbst nicht leiden konnte. Nun, da mochte es einige geben, die neidisch auf ihn und seine Stärke waren.
Er wäre um ein Haar zusammengezuckt, als sich die Tür ohne Vorwarnung öffnete, dann spürte er, wie sich Sakura eilig nach vorn neigte, so weit, dass er ihre Haare an seinen Knien fühlte. Und es konnte nur eine Person geben, die da kam, denn Vater war es nicht.
Mutter.
Hoffentlich fiel ihr etwas ein. Hoffentlich wusste sie etwas mehr über diese Sache. Sicher, sie war nicht unbedingt das, was man aufopfernd nennen konnte, aber soweit sollte sie sich doch um ihren Sohn kümmern.
Er hörte, dass die Tür geschlossen wurde, langsam, als ob seine Mutter sich für einen Augenblick sammeln musste.
Da vernahm er ihre Stimme: „Bericht.“
Sakura richtete sich etwas auf, hielt wohlweislich aber den Blick auf ihren Patienten gerichtet: „Wünscht Ihr es ausführlich, Herrin? Oder seid Ihr bereits informiert?“ Oh je. Die Fürstin war schon immer ein wenig schwierig zu behandeln, aber mit ihrem Eintritt schien die Temperatur im Raum schlagartig gefallen zu sein. Dämonische Macht zeigen. Auch eine Form der mütterlichen Sorge.
„Ausführlich.“
„Darf ich dabei weiter arbeiten?“ Die Heilerschülerin war sich bewusst, dass die Fürstin das kaum verneinen würde, aber sie wollte lieber fragen, als sich einer, wenn auch leichten, Bestrafung auszusetzen. Aus dem Schweigen erkannte sie eine Zustimmung. Die Übung bei Seiner Lordschaft trug Früchte. Während sie berichtete, nahm sie die Wadenwickel wieder ab, und legte neue um die Arme des Hundeprinzen, nicht, ohne ihm das zuvor - mitten im Bericht - anzukündigen. Sie hoffte, diese gewisse Unhöflichkeit sei durch die Genehmigung weiterarbeiten zu sollen gedeckt.
Sesshoumaru kannte die Geschichte nur zu gut. Die Kälte an seinen Armen gefiel ihm nicht, aber er spürte, wie erneut sein Körper auf diesen Reiz reagierte. Nun, Neigi verstand wohl wirklich etwas von seinem Handwerk, das sollte er sich merken. Er hörte, wie seine Mutter sich wortlos neben ihm niederließ. Warum nur konnte er nicht reden? Sie konnte sicher wittern, wer hier im Raum gewesen war, würde der Spur folgen können, seinen Mörder fassen...
Es war so schrecklich! Mama!
Er erinnerte sich gut an einen Zwischenfall in seiner Welpenzeit. Sehr klein war er noch gewesen und Mutter hatte ihn im Wald nur kurz allein gelassen, um eine seltsame Spur zu überprüfen. Da war ein anderer Dämon aufgetaucht, der ihn fressen wollte. Er hatte im Schreck nur kurz aufgejault – und Mutter war gekommen. Der törichte Angreifer hatte wohl nicht einmal mehr bemerkt, dass er starb. Sie würde ihm doch sicher auch hier helfen....
Ach, wenn sie nur wüsste, dass er wach war, alles mitbekam...
Sakura kniete zwischenzeitlich neben seinem Oberkörper: „Der edle Fürst sucht im Wald nach Spuren des Zwischenfalls,“ erklärte sie abschließend. „Euer Lordschaft, ich werde Euch nun einige Tropfen einflössen, die Eure Kopfschmerzen lindern dürften, von denen mein Lehrer annimmt, dass Ihr sie habt.“
„Halt!“ befahl die Fürstin.
Sakura erstarrte gehorsam, sah jedoch fragend ein wenig zur Seite.
„Tollwut sagtest du. Soweit ich informiert bin, hat ein Patient eine Abneigung gegen Wasser.“
„So ist es, Herrin. Darum soll ich Lord Sesshoumaru auch nur wenige Tropfen einflössen. Diese dürften seine Kehle hinunterrinnen.“
„Welches Mittel?“
„Ein Extrakt der Tollkirsche.“ Oh je. Ob die Fürstin wusste, dass die Dosis das Gift machte? Es half gegen Kopfschmerzen aber auch und vor allem gegen Lähmungen und ihr verehrter Lehrer hoffte damit den Fortschritt zumindest zu verlangsamen.
„Wie viele Tropfen?“
„Zwanzig für einen Dämon, Herrin.“
„Und für einen Menschen?“
„Fünf.“
„Dann nimm du fünf.“
Wie bitte? Sakura benötigte ihre gesamte Selbstbeherrschung um die Hundedame nicht anzustarren. Aber das war eine klare Anweisung. So öffnete sie das Fläschchen mit etwas zitternder Hand, wagte dann jedoch aus Sorge die Folgen könnten ärger sein als das, was die Fürstin bei Weigerung mit ihr machen würde: „Ich werde gehorchen, Herrin, bitte jedoch darum, dass Ihr dem Fürsten mitteilt, aus welchem Grund ich nicht weiter arbeiten konnte.“
Das Ding wagte es ihr zu drohen? Nun, natürlich würde der Inu no Taishou es nicht schätzen, wenn eine Heilerin die er selbst zu seinem Sohn befohlen hatte, einschlief oder ähnliches und sie bestrafen. Aber war das etwa ihr Problem? Ihres war die eigenartige Witterung hier im Raum, fast an ihrem Sohn. Unbekannt und suspekt. Diese Tropfen? „Nimm sie.“
Sakura hob ihre Linke um mit Rechts die Tropfen dort hineinlaufen zu lassen und abzuzählen. Es war Gift, wenn auch ein Heilmittel – aber sie war nicht krank. Das würde leichte Vergiftungserscheinungen hervorrufen. Und ganz sicher konnte sie nicht weiter arbeiten. Der Herr würde das kaum mit Nachsicht hinnehmen, gleich, in welcher Zwickmühle sie gerade saß. Gehorchte sie nicht würde die Fürstin sie bestrafen – gehorchte sie, dann der Fürst. Oh du liebe Güte! Diese Hundeherrschaften! Aber, es half nichts. So hob sie die Hand um die Tropfen abzulecken.
„Genug,“ befahl die Fürstin: „Gib es meinem Sohn.“ Also wohl kein Gift. Aber irgendein seltsamer verdächtiger Geruch lag hier in der Luft...