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PredElection

von

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Part IX - The last High

Kaum zu glauben, aber wahr: Hier ist der letzte Teil von PredElection! It's finally... over. Falls noch jemand auf das Ende gewartet hat, tadaa, hier werden hoffentlich alle Fragen beantwortet. ^^ Vielleicht sind Jesse, Tatsumi und co. ja dem einen oder anderen ein wenig ans Herz gewachsen. Wenn es jemanden interessiert, meine größten musikalischen Inspirationen für PredElection waren She will be loved von Maroon 5 und Everything you want von Vertical Horizon. So, und jetzt viel Spaß beim Lesen - und DANKE für alle Kommentare!
 

Der Anblick des Schlachtfeldes in meiner Kabine hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie eine glühende Zigarette in die Haut. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich jedes Detail dieser alptraumhaften Szenerie vor mir, und ich glaube, dass ich dieses Bild und dieses Gefühl, als ob ich abstürzen würde, niemals vergessen werde. Manchmal verfolgt es mich in meinen Träumen, noch heute, obwohl doch eigentlich längst schon alles vorbei ist. Die Minuten, die danach kamen, sind dafür so verschwommen, als ob ich im Drogenrausch gewesen wäre. Ich weiß noch, dass ich aus der Kabine hinaus auf den Gang und dann wieder zurück in die Kabine gelaufen bin. Irgendwo auf halbem Wege habe ich wohl Mi-Cha aufgegabelt, aber daran erinnere ich mich nicht mehr so genau. Jedenfalls stand sie neben mir, als ich das nächste Mal die Verwüstung anstarrte, immer noch total unter Schock. Sie machte ein entsetztes Geräusch, ein Keuchen vermutlich, und das riss mich ein bisschen aus meiner Trance.

„Verdammt“, fluchte sie mit einer Aufrichtigkeit in der Stimme, für die ich sie noch jetzt küssen könnte, „ich hätte sie niederschlagen sollen, als ich sie vorhin gesehen hab. Tut mir leid, Jessie, wirklich.“

„Nein, du… ich… sie…“ Ich brach ab, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen. Stattdessen presste ich meine Lippen fest aufeinander, als das Bedürfnis, in Tränen auszubrechen, beinahe übermächtig wurde. Das Einzige, was mich davon abhielt, war das Wissen, dass Barbie mich sehen würde, und diesen verdammten Triumph gönnte ich ihr einfach nicht.

„Jessie, du musst zu den Veranstaltern gehen. Du musst denen das erzählen. Ich meine… damit darf diese Schl… schreckliche Frau nicht durchkommen!“

„Aber das kann ich nicht!“ Jetzt schluchzte ich doch noch, zwar nur einmal, aber dafür nicht gerade leise. Ich krallte meine perfekt manikürten Fingernägel in die Handinnenflächen und verfluchte mich dafür, dass ich sie so kurz geschnitten hatte, dass es gar nicht mehr richtig weh tat. Trotzdem lenkte es mich wenigstens ein kleines bisschen davon ab, dass ich gerade knapp vor dem Nervenzusammenbruch stand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich wie verrückt am ganzen Körper zitterte. Und leider auch meine Stimme, als ich weitersprach: „Sie… sie hat was gegen mich in der Hand, okay? Wenn ich sie verrate, kann ich gleich mein Zeug packen und gehn. Aber ich sag’s dir, ich schlag jetzt dieser dummen kleinen Schlampe ihre abgefuckte Hurenvisage ein, bis sie sich wünscht, nie geboren worden zu sein!“

Ich sollte an dieser Stelle vielleicht anmerken, dass ich mich nicht unbedingt um einen leisen Tonfall bemühte – ich sah auch keinen Grund dazu, ganz im Gegenteil. Sollte Silikonbarbie ruhig meine Kampfansage hören, und ehrlich gesagt, die entgeisterten Blicke von so etwa siebenundneunzig Prozent meiner Konkurrentinnen gingen mir zielsicher am (entschuldigen Sie den Ausdruck) Arsch vorbei. Fehlte nur noch, dass sich mir vor Kampfeslust die Nackenhaare zu einem bedrohlichen Kamm aufrichteten, so wütend und, ja, gefährlich war ich. Immerhin einen Erfolg konnte ich schon in diesem Moment verzeichnen: Ich hatte es tatsächlich geschafft, dass all diese Modepüppchen ihre eifrigen Stylingbemühungen unterbrachen, und dass sich alle Augen zeitgleich auf mich richteten. Manche wirkten erschrocken, gar verängstigt, andere mussten sich ganz offensichtlich das Lachen mühsam verkneifen. Damals brachte mich das nur noch mehr in Rage, heute kann ich es ihnen nicht mehr verdenken. Da stapfte ich in meiner Abendrobe auf meine Todfeindin zu wie die letzte Ghetto-Bitch, breitbeinig und mit zornesrotem Gesicht. Eines kann ich Ihnen sagen – ich wäre unter Garantie bei denjenigen gewesen, die gelacht haben.

Barbie hingegen lachte nicht. Fürchten tat sie sich leider genauso wenig, sie empfing mich vielmehr ganz ruhig und gelassen. Schon dafür hätte ich sie verprügeln können, und schon dafür hatte sie es mit Sicherheit verdient. Eines merkte ich jedenfalls ganz genau: Diese Frau spielte nicht nur das Unschuldslamm, sie fühlte sich auch so. Sie sah mir in die Augen und sie war sich keiner Schuld bewusst, weil sie in ihrer Welt einfach das Recht dazu hatte, eine Konkurrentin mit derart hinterfotzigen Mitteln aus dem Weg zu räumen. Umso mehr eine Konkurrentin wie mich, die in ihren Augen vollkommen wertlos war.

„Ich bring dich um, du gottverdammte Schlampe“, begann ich, wenig diplomatisch, das Gespräch. „Ich zertrümmer dir deine Hackfresse, bis jedem aus der Jury bei deinem Anblick das Kotzen kommt!“

Oh mein Gott, bist du peinlich, antwortete Barbie mit einem bloßen Hochziehen ihrer rechten Augenbraue. Ein wütendes Schnauben bahnte sich den Weg durch meine Nasenlöcher, und dann schlug ich zu – mit der Faust auf den Tisch, fürs Erste. Die Schminktuben, Nagellackfläschchen und Lidschattendöschen machten einen kurzen, erschrockenen Hüpfer.

„Was soll das?!“, keuchte die Blondine in offensichtlich gespieltem Entsetzen, unterbot diese schauspielerische Tiefstleistung aber gleich darauf mit einem Gesichtsausdruck, der wohl Verständnis darstellen sollte, dem die boshafte Schadenfreude aber überdeutlich anzusehen war. „Hey, ich weiß, wir sind alle nervös, aber komm mal wieder runter. Keine Ahnung, was der Auftritt hier soll, ich hab kein Problem mit dir, Drama-Queen, also reg dich nicht künstlich auf.“

„Du hast mein Kleid kaputt gemacht, du elendes Flittchen!“, zischte ich, die Hände immer noch zu Fäusten geballt.

„Na sicher doch, Mrs. Verfolgungswahn“, flötete sie, begleitet von einer wegwerfenden Handbewegung. „Weißt du, im Gegensatz zu dir spiele ich fair und muss nicht versuchen, meine Konkurrentinnen fertig zu machen, nur um selbst zu gewinnen!“

Einen Moment lang dachte ich ernsthaft darüber nach, ob ich wirklich noch weitersprechen oder ihr einfach gleich die Nagelfeile in die Kehle rammen sollte. Da dies jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit meinen Ausschluss vom Wettbewerb bedeutet hätte, ließ ich es bleiben. Stattdessen zog ich, zitternd vor Wut, meine große Trumpfkarte aus dem Ärmel.

„Ich kann es beweisen, Schlampe! Jemand hat ein Bild von dir gemacht, deine Unschuldsnummer kauft dir kein Mensch mehr ab, Pech gehabt.“

„Tja, dann geh halt zur Jury und verpetz mich, Jesse Maguire. Ich kann gerne mitkommen und mich auch ein bisschen mit ihnen unterhalten, hm?“ Sie lächelte, ohne einen Funken Kälte in den Augen, so unschuldig, als ob sie mir gerade eine Liebeserklärung gemacht hätte. Dann sprach sie weiter, noch freundlicher als davor, und erst in dem Moment begriff ich, dass sie die letzten beiden Sätze deutlich leiser gesprochen hatte, nur für meine Ohren bestimmt. „Ich bin mir sicher, das ist ein Missverständnis und wird sich bald aufklären. Aber jetzt konzentrieren wir uns bitte wieder auf den Wettkampf, in Ordnung?“

In dem Moment war es um meine Selbstbeherrschung geschehen. Ich fühlte mich so hilflos und wütend wie selten zuvor – abgesehen davon, dass Barbies lipglosspinker Schmollmund und ihre exaltierte Weise, jedes einzelne Wort völlig übertrieben zu betonen, einfach so sehr zum Reinschlagen animierten. Und wenn ich hundertmal disqualifiziert werden würde, es interessierte mich nicht mehr. Der Blutrausch war stärker als jeder klare Gedanke, ließ mich einen Satz auf die Silikonkönigin zumachen, ausholen und mit voller Wucht zuschlagen.

Leider (oder besser gesagt, zum Glück) traf meine Faust nicht ihr Ziel. Was sie aufhielt, war allerdings nicht meine Vernunft, sondern Mi Cha, mein rettender Engel. Todesmutig sprang sie in die Schusslinie, krallte sich förmlich in meinen Arm und riss mich mit dem Mut der Verzweiflung zurück. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge, und im selben Moment wurde mir schwindlig. Später, das versichere ich Ihnen, habe ich mich überschwänglich bei Mi Cha für ihren engagierten Körpereinsatz bedankt, doch erst einmal konnte ich nur auf dem Absatz kehrt machen und zurück in meine verwüstete Kabine stürzen. Dort schlug ich mehrmals fest gegen die Wand, schnappte nach Luft und sank dann reglos in mich zusammen.

In diesen schrecklichen Sekunden war ich so verzweifelt, dass ich keine Hoffnung mehr für mich sah. Meine Motivation lag tot am Boden, und ich verdankte es wiederum nur der tatkräftigen Unterstützung meiner neu gewonnen Mitstreiterin, dass ich es überhaupt noch schaffte, mich in meinen sündteuren Kimono zu quälen. Sie half mir beim Anziehen, Schminken und Haare hochstecken, und was noch wichtiger war: Sie lenkte meine Gedanken von blanker Mordlust wieder etwas mehr zur eigentlichen Aufgabe. Ehrlich, es erscheint mir im Nachhinein unglaublich, dass schon wieder ein Mensch aus dem Nichts aufgetaucht war, um mich zu retten. Keine Ahnung, ob man’s Schicksal nennen kann. Das ist so ein schrecklich esoterisches Wort, aber andererseits, wie viele unglaubliche Zufälle können wirklich noch Zufall sein? Vermutlich werde ich niemals eine Antwort auf diese Frage bekommen, und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Dieser Zauber des Unerklärlichen, der meine ganz persönliche Geschichte umgibt, bestärkt mich manchmal, wenn ich mich frage, ob ich tatsächlich das Richtige getan habe.

Erst mal stand ich aber da, ganz verloren in all den kostbaren Stoffen, und fühlte mich so gar nicht zauberhaft. Bei der Vorstellung, jetzt vor Jury und Publikum treten zu müssen, packte mich das kalte Grausen. Und doch – ich tat es. Wie in Trance ließ ich mich hinter die Bühne bringen, hörte, wie mein Name angesagt wurde und die ersten Klänge meiner Musik durch die Halle schallten. Ich hatte mich für ein traditionelles japanisches Stück entschieden, das mehr aus Geräuschen als aus Tönen bestand. Es war auf eine fremdartige Weise schön, genauso, wie mein Freestyle-Walk eigentlich auch hätte sein sollen. Ob er es war, keine Ahnung, ich war geistig vollkommen abwesend, während mein Körper in oft trainierter Weise über den Catwalk schwebte. Ich hatte gehofft, dass die Routine meine Verzweiflung vertreiben würde, doch sie tat es nicht. Mir war, als ob ich unter meinen engen, wunderschön gemusterten Obi kaum mehr atmen könnte. Wissen Sie, ich wollte mich ja zusammenreißen, aber ich konnte es nicht. Mir wuchs alles über den Kopf, und ohne dass ich es hätte verhindern können, merkte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich versuchte, sie unauffällig wegzublinzeln, erreichte aber nur, dass mir quälend langsam zwei dicke Tropfen über die Wangen liefen und mein Make-up ruinierten.

Jetzt ist alles aus, dachte ich nur, auf eine seltsam distanzierte, sachliche Weise. Ich wusste einfach, dass der Wettbewerb für mich nun endgültig gelaufen war, und irgendwie war es absurderweise auch eine Erleichterung. Ich meine, ich hatte bis zum Umfallen trainiert, aber mit der Zerstörung meines Kleides war der große Auftritt so oder so ruiniert gewesen. Jetzt musste ich mir wenigstens keine Gedanken mehr machen, ob die Situation doch noch irgendwie zu retten war. Nennen Sie’s feige, aber nach diesem Tiefschlag war ich einfach müde geworden, noch weiter zu kämpfen.

Ich konnte ja nicht ahnen, dass das Publikum wenige Sekunden später zu klatschen beginnen würde. Auch nicht, dass ich auf den Gesichtern der Juroren nicht herablassendes Mitleid, sondern eine merkwürdige Art der Faszination erkennen sollte. Als ich so vor ihnen stand und wie ein Schlafwandler posierte, die mit Blumen verzierten Silbernadeln in meinen kunstvoll hochgesteckten Haaren leise klimpernd, die tiefroten Lippen fest aufeinander gepresst, die Wangen nicht nur von der hellen Schminke bleich wie Schnee, da sah ich, wie einer von ihnen anerkennend nickte. Anerkennend? Ich konnte es nicht glauben, blinzelte einige Male mit meinen tiefschwarz umrandeten Augen, und doch: Der Traum löste sich nicht auf, er wurde sogar noch absurder!

„Sehr ausdrucksstark“, murmelte eine Frau undefinierbaren Alters, die aussah, als ob jeder Millimeter ihres Gesichtes schon mindestens einmal vom Schönheitschirurgen bearbeitet worden wäre. Es war schwer zu sagen, ob ihre Stirn so unglaublich glatt war, weil sie mehrere Liter Botox intus hatte, oder ob die Haut vielmehr von den unglaublich streng zurückfrisierten Haaren unbarmherzig gestrafft wurde. Doch trotz ihrer völligen Unfähigkeit, mit dem Gesicht noch irgendwelche Gefühle auszudrücken, erschien mir ihre Mimik im weitesten Sinne positiv. Jetzt war ich, vorsichtig ausgedrückt, verwirrt. Da stand ich auf dem Catwalk, oder stand eigentlich eher neben mir, und versaute mir die wichtigste Mission meines Lebens, weil ich mich verdammt nochmal schon wieder nicht unter Kontrolle hatte. Und was passierte? Den Zuschauern gefiel’s! Das war so absurd, dass ich mich mit einem Mal beherrschen musste, nicht laut zu lachen. Finden Sie nicht auch, dass das Leben manchmal einen wirklich abartigen Sinn für Humor hat?

Jedenfalls war ich wie bekifft, als ich vom Laufsteg wieder runterkam und mit meinen hohen hölzernen Geta hinter die Kulissen stöckelte. Ich fühlte mich wie im freien Fall, so durcheinander war ich – und so ratlos. Als ich im Backstage-Bereich angekommen war, setzte ich mich erst mal einfach nur in das Chaos, das einmal meine Umkleidekabine gewesen war, zog Tatsumis Kimono aus und drückte den schimmernd türkisblauen Stoff fest an mich. Plötzlich wünschte ich mir so sehr, ihn bei mir zu haben, dass es schmerzte wie ein Messer in der Brust. Trotz der Ernsthaftigkeit der Aufgabe war mit ihm alles viel einfacher gewesen. Es war ein furchtbar nostalgischer Moment, ich meine, die ganze Sache war unser gemeinsames Projekt gewesen, und das wollte ich so gerne wiederhaben. Es hätte die Katastrophe erträglicher gemacht für mich.

Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als ich plötzlich eine mir fremde Stimme hörte. Fremd? Nein, nicht ganz – es war meine persönliche Assistentin, die mich in der ersten Runde schon auf Vordermann gebracht hatte. Das Styling für unseren Freestyle-Walk hatten wir alleine bewältigen müssen (das Ding hieß ja nicht umsonst Freestyle!), aber in Runde Drei, die ja eigentlich noch viel freier war als so ein bisschen Laufen im selbst ausgedachten Kostümchen, ließen sich die Veranstalter dann seltsamerweise wieder dazu herab, uns in Form ihrer freundlichen Schminksklaven zur Hand zu gehen. Im Moment war ich von dieser Unterstützung allerdings wenig begeistert, da ich keine Ahnung hatte, wie ich Mrs. Lockenkopf das Stoffmassaker in meiner Kabine hätte erklären sollen.

„Alles in Ordnung?“, fragte mein Personal Coach noch einmal, und diesmal verstand ich sie sogar.

„Eh… ja. Sofort. Ich komme gleich!“, stammelte ich, legte mit einer vorsichtigen Bewegung den Kimono in seine Schachtel und nahm dann meinen ganzen Mut zusammen. Ruckartig zog ich den Vorhang zur Seite, grinste schief und deutete auf das zerfetzte Cheerleaderkleidchen. „Ich… also… ich fürchte, ich habe da ein kleines Problem. Als ich vorher zurückgekommen bin, da war das hier so, ich… ich weiß nicht, wer… ich meine…“

„Das gibt’s ja nicht“, fiel mir die Rothaarige ins gestammelte Wort, wobei ihr Blick überdeutlich sagte, dass sie mir keinen einzigen Ton glaubte. „Ich hab schon Gerüchte gehört, dass es vorher hinter der Bühne wegen einem angeblich kaputten Kleid fast zu einer Schlägerei gekommen wäre, aber ich hätte nicht gedacht, dass es ausgerechnet dein Kleid gewesen ist… und dass es wirklich kaputt ist. Also, sowas von kaputt!“

Sie strich sich energisch eine ihrer feuerroten, gekringelten Haarsträhnen aus der Stirn, und irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck machte mir ein bisschen Angst.

„Ich will echt keinen Ärger machen“, lenkte ich hastig ein. „Ich meine… ich… ich kann ja nicht beweisen, wer das getan hat“ – Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer mir diese Lüge fiel, und wie sehr mir jedes Wort in der Seele wehtat, aber ich wollte mir nicht schon wieder eine Erklärung aus den Fingern saugen müssen, warum ich Barbie trotz des sehr wohl vorhandenen Beweises nicht melden konnte – „und ich will auch nicht anders bewertet werden als die anderen oder so, wenn die Jury das erfährt. So von wegen Mitleidsnummer. Oder am Ende werfen sie mich noch raus, wenn ich ihnen sage, dass ich kein Kleid mehr hab und nicht auftreten kann! Ich… ich muss nur… irgendwie…“

Ja, was musste ich eigentlich? Etwas retten, das nicht mehr zu retten war? Ich hatte keine Ahnung wie es weitergehen sollte, und wären mir die lustige Lady mit dem Lockenkopf und Mi Cha nicht zur Seite gestanden, wäre ich vermutlich bis ans Ende meiner Tage hilflos und verzweifelt in der verwüsteten Kabine gesessen. Die beiden ersetzten mir meinen in Schockstarre gefallenen Kampfgeist, dabei musste sich meine koreanische Verbündete doch selbst noch auf ihren Auftritt vorbereiten! Aber verrückterweise hatte ich den Eindruck, dass sie jetzt viel weniger nervös war als zuvor – erfüllt von Tatkraft, nicht mehr von Panik, mutig und zu allem entschlossen. Ich bewunderte sie dafür und ich ließ mich dankbar von ihrer Motivation anstecken.

„Das bekommen wir hin!“, verkündete auch meine Stylistin, ohne jeden Zweifel in der Stimme. „Ich hol uns ein paar Sicherheitsnadeln und Haarnadeln, und dann, meine Liebe, wird gezaubert.“
 

Also, Zaubern war definitiv eine ziemlich gute Umschreibung für das, was Madame Rotschopf in den folgenden Minuten mit mir und meiner Kleiderleiche anstellte. Nachdem ich mich in das gequält hatte, was von meinem Cheerleaderdress noch übrig geblieben war, wurde mit sämtlichen Einzelteilen wild improvisiert. Die abgeschnittenen Schleier wurden um mich herumgewickelt, um die Schnitte im Stoff zu verdecken. Längere Teile wurden als improvisierte Mini-Schleierchen an meine Arme gebunden. Einige Schleifchen, die das Abreißen einigermaßen heil überstanden hatten, wurden mit Sicherheitsnadeln wieder an passenden Stellen befestigt.

Das Endergebnis war, ehrlich gesagt, wenig berauschend – kein Vergleich zum ursprünglichen Zustand. Gut, immerhin sah ich wieder so halbwegs angezogen aus, ein bisschen wie die Billigversion des eigentlichen Outfits, doch das war natürlich besser als gar nichts. Das Wichtigste aber war, dass ich meinen Mut zurückgewonnen hatte, und vor allem meinen trotzigen Stolz. Barbie sollte schon sehen, dass sie mich mit ihrer lächerlichen kleinen Sabotageaktion nicht kleinkriegen würde. Der Anblick des zusammengeflickten Kleides, das einmal ein so vollkommenes Kunstwerk gewesen war, machte mich auf eine beflügelnde Weise wütend. Ich wusste, ich durfte mir von dieser Wut nicht den Kopf vernebeln lassen, ich musste sie für mich nutzen, und in dem merkwürdigen Moment vor dem Spiegel glaubte ich fest daran, dass ich das schaffen würde.

Dieser Anflug einer Hochstimmung schlug extrem brutal ins genaue Gegenteil um, als wir uns nach mehr oder weniger erfolgreichem Styling wieder hinter der Bühne versammelten und ich die perfekten Kleider der anderen Mädchen bewundern durfte. Von Cheerleadern über bunt glitzernde Cowgirls bis hin zu einem wild geschminkten Rollschuhmädchen war alles vertreten, und jede einzelne war durchgestylt von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln. Auch Mi Cha war fast beängstigend schön. Sie trug koreanische Tracht mit einem sehr weiten, unter der Brust angesetzten Rock in leuchtendem Rot und einem weißen, kimonoähnlichen Oberteil mit bunt verziertem Kragen und tiefblauen, schön gemusterten Ärmeln. Auf der Brust saß eine große dunkelrote Schleife, deren eines Ende lang, fast bis auf den Boden hinabhing. Ihr schwarzes Haar war schön geflochten und mit Blumen geschmückt. Sie wollte einen traditionellen Tanz vorführen, und ich bedauerte wirklich, dass ich ihn nicht sehen konnte, da Mi Cha nach mir auftreten würde, wenn ich schon wieder hinter der Bühne sitzen und zittern musste.

Der absolute Hammer aber war Barbie. Oh mein Gott war vermutlich in jeder Hinsicht der perfekte Satz, um ihr Erscheinungsbild zu beschreiben, denn Mrs. Silikon trug ein bodenlanges, schneeweißes, mit glitzernden hellrosa Sternchen verziertes Kleid. Der Abschuss waren jedoch die zwei Engelsflügel, die auf ihrem Rücken befestigt waren. Ihre wasserstoffblonde Haarpracht fiel ihr in entzückenden Ringellöckchen über die Schultern und war ebenfalls mit Glitzerkram geschmückt. Mit ihren silbrig weiß geschminkten Lippen und den glitzerrosa umrahmten, mit Strasssteinchen verzierten Augen sah sie in der Tat wie ein Himmelswesen aus, allerdings mehr wie ein Alien als wie ein Engel. Ich musste mir größte Mühe geben, mich bei diesem Anblick nicht vor versammelter Mannschaft zu übergeben.

Das Beste war, Barbie stand nur zwei Plätze vor mir, ich hatte ihr Flügelwerk also quasi direkt im Gesicht. Großartiges Gefühl. Damit hatte ich für meinen Auftritt schon mal den heiligen Segen der Schönheitsindustrie. Wissen Sie, unter anderen Umständen hätte ich mich über diese peinliche Aufmachung totgelacht – ein wandelndes Silikonimplantat im Engelskostüm, bitte, stellen Sie sich das doch mal vor! Ich jedoch war viel zu aufgeregt, um an sowas wie Lachen auch nur zu denken. Es ist mir unmöglich, zu beschreiben, wie nervös ich in diesem Augenblick war. Selbst wenn ich noch ein ganzes Jahr am Laptop sitzen würde, es gibt einfach keine Worte für das, was ich während der Wartezeit im sterilen Gang hinter der glamourösen Bühne durchgemacht habe. Ich war so verloren mit meinem notdürftig zusammengeflickten schwarz-roten Kleid und dem schmucklosen Barhocker in der Hand. Soviel zum Thema Kampfgeist! In diesem Moment wollte ich einfach nur noch wegrennen.

Ich ahnte ja nicht, dass mir der schlimmste Augenblick erst noch bevorstand. Vielleicht können Sie sich’s schon denken, falls nicht: Es war Barbies Performance, die alles andere an Schrecklichkeit übertraf. Ich konnte sie von meinem Warteplatz aus unangenehm gut beobachten – besser, als mir lieb war –, und sie war grässlicher als alles, was ich mir jemals in meinen grauenvollsten Alpträumen hätte ausmalen können. Für sich allein gesehen, und weil sie mich außerdem begreifen ließ, wie unglaublich fehl am Platz ich mit meiner Tanzeinlage doch war. Mit ihrem Vortrag, daran zweifelte ich keine Sekunde lang, hatte Barbie den Wettbewerb gewonnen.

„Tolles Outfit!“, raunte sie mir noch zu, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Auftritt machte, ein gezielter, schmerzhafter Schlag in mein ohnehin schon angeknackstes Ego. Als ob es ein Kommando gewesen wäre, ging genau in diesem Moment das Licht im Saal aus. Barbie trippelte, etwas beschwert von der Last ihrer Engelsschwingen, in die Mitte der Bühne. Ein einzelner Spot flammte auf und hüllte die himmlische Erscheinung in gleißendes Licht. Ihre Hände hielt sie züchtig vor der operierten Brust gefaltet.

„Hier ist unsere nächste Teilnehmerin, Trish Hedger, und sie singt uns ein Lied, das sie selbst geschrieben hat!“, verkündete eine Lautsprecherstimme, und mir fiel spontan die Kinnlade runter. Barbie sang?! Ich wollte es nicht glauben, doch tatsächlich begann die Silikonblondine mit unvergleichlich kitschiger, musicalmäßiger Stimme zu trällern, jedes Wort begleitet von einer untermalenden Geste:
 

I love my Dad, I love my Bro

I like my teacher, too

But there’s one man, that I love most

I’m gonna tell you who…
 

Eine kurze Pause in der Musik, im Gesang, bevor es dann richtig losging. Barbie drehte sich mitsamt ihrer Flügel einmal um die eigenen Achse, öffnete die Arme, als ob sie das ganze Publikum in selbige schließen wollte, und dann sang sie, den Blick verklärt gen Himmel gerichtet:
 


 

I’m in love with Jesus

And he’s in love with you

I only think of Jesus

No matter what I do
 

In summer, in spring

If I’m near or far

I’m in love with Jesus

Like he loves America
 

Aber das ist nicht fair!, wollte ich am liebsten schreien. Das ist Betrug, das ist Manipulation, das…

Das war ein verdammt kluger Schachzug. Keine halbwegs vernünftige Jury eines solchen Wettbewerbes konnte es verantworten, ein High School-Mädchen nicht gewinnen zu lassen, das von ihrer Liebe zu Jesus und von Jesus‘ Liebe zu Amerika sang! Dies hier war also das offizielle Ende meines Traumes. Die Nummer mit dem zerschnittenen Kleid hätte sich Barbie bei dieser Performance eigentlich auch sparen können.

Der Auftritt direkt vor mir war vergleichsweise belanglos – Stepptanz, ich hab ehrlich gesagt kaum was davon mitbekommen –, und dann, noch bevor ich es geschafft hatte, dieses Jesus-Liedchen wieder aus meinen Gehirnwindungen zu vertreiben (I’m in love with Jesus, and God bless America!, hatte die Schlussstrophe gelautet), war ich an der Reihe. Können Sie sich das vorstellen? Ich hatte so lange auf diesen Tag hingearbeitet, trainiert, gebangt, gezittert und gelitten. Sie sehen ja selbst, durch wie viele Zeilen Sie sich schon quälen mussten. Aber in diesem Moment hatte ich trotzdem das Gefühl, dass alles viel zu schnell gegangen war. Ihnen geht’s da vermutlich ganz anders, und Sie zählen mit Sicherheit schon die Seiten, bis Sie’s endlich hinter sich haben. Ich hingegen wünschte mir nichts mehr, als einfach noch ein, zwei Wochen länger Zeit zu bekommen, auch wenn’s natürlich vollkommen sinnlos gewesen wäre. Doch die aufgesetzt euphorische Ansager-Stimme kannte sowieso keine Gnade mit mir:

„Und jetzt Bühne frei für unsere nächste Kandidatin, Jessica Maguire, mit einer Tanznummer!“

Tanznummer? So konnte man es auch nennen. Vorerst fühlte es sich jedenfalls eher an wie ein Trauerspiel, als ich mit zittrigen Knien, in meinen Flickenteppich gehüllt, ins Scheinwerferlicht stöckelte. Über meine Haut liefen pausenlos Schauer, als ob mich jemand nebenbei mit Elektroschocks foltern würde. Ich konnte in diesem Zustand nicht auftreten, das war ganz ausgeschlossen, aber ich spürte, wie hunderte von Augenpaaren aus dem Publikum mich fixierten und genau das von mir erwarteten. Wie in Trance stellte ich meinen hässlichen schwarzen Barhocker exakt in der Mitte der glanzvollen Stage ab (irrte ich mich, oder starrte mich die Jury tatsächlich halb entsetzt, halb verächtlich an? Ich konnte es dank der Scheinwerfer nicht genau erkennen) und setzte mich, den Rücken zum Publikum gewandt, auf die Lederfläche. Dann wurde es dunkel.

Ein letzter Atemzug, und es ging los. Mit dem ersten Beat meiner Hintergrundmusik flammte ein einzelner, gleißend heller Spot auf. Schwungvoll drehte ich mich samt Sitzfläche um, drückte mich in die Höhe und blickte verführerisch in die graue Masse der Zuschauer. Ich legte eine Hand auf den Hocker, stolzierte einmal um diesen herum, bereitete mich innerlich auf den ersten kritischen Moment vor. Muskeln in Armen und Beinen anspannen, so fest ich konnte, dabei weiterhin umwerfend lächeln – dann drückte ich mich vom Boden ab und ging in einen Handstand auf dem Sitz, der sich weiterhin drehte und mich in eine kopfstehende Spieluhrballerina verwandelte. Nicht nach unten sehen, befahl ich mir ein ums andere Mal, nicht nach unten sehen und bloß nicht dem Schmerz in den Armen nachgeben, der dir sagt, die überanstrengten Muskeln locker zu lassen.

Glücklicherweise hatte das harte Training meinem Körper ungeahnte Kräfte verliehen, und so hielt ich durch, ließ meine Beine langsam, bis in die Zehenspitzen gestreckt wieder zu Boden sinken. Es blieb allerdings keine Zeit zum Durchatmen, denn nach einem kurzen Hüftschwung nahm ich wieder Platz. Lehnte mich zurück und schlug erst das linke Bein über das rechte, dann umgekehrt – wie ein Showgirl. Sollte doch die ganze Jury vor Entsetzen einen Herzinfarkt bekommen! Das ließ mich nur umso anzüglicher Lächeln. Trotzige Angriffslust erwachte in mir, während ich mich auf der Bühne bewegte. Also gut, Barbie war ein Engel, der Jesus und das Vaterland liebte, schön für sie. Dann war ich eben das Teufelchen… ihr gefallenes Gegenstück. Sieben Todsünden zum Preis von einer.

Und es ging ohne Pause weiter mit der Show, denn schon war ich mit einem Satz wieder auf den Beinen, griff zwischen selbige und umfasste den schlanken Fuß des Hockers, um ihn ein Stück weit nach vorne zu ziehen. Ich beugte mich vor, suchte Halt mit der Schulter, und drückte wieder meine Beine nach oben, das eine angewinkelt, das andere ausgestreckt. Im Absprung gab ich dem Barhocker erneut Schwung, drehte mich in einer schnellen Pirouette. Die Stoffbahnen formten keine so schöne Figur, wie das eigentlich der Fall hätte sein sollen, aber sie tanzten doch tapfer mit mir, umspielten mich in halbtransparenten Schleiern. Angespornt von ihrem Mut legte ich mich gleich noch mehr ins Zeug und kam, jeden Muskel in meinem Körper angespannt, elegant wieder zu Boden. Ich versetzte der Sitzfläche einen weiteren kräftigen Stoß – und riss sie dann mit einer raschen Bewegung vom Stuhlbein herunter.

Ging da ein kurzes Raunen durch die Menge? Die Musik tönte so laut, dass ich mir nicht sicher sein konnte, und meine Konzentration galt ohnehin dem Tanz. Langsam hob ich das Polster über meinen Kopf, ließ es direkt vor mein Gesicht sinken. Blickte auf beiden Seiten daran vorbei, vollführte eine schnelle Drehung, und schließlich zog ich die Lederhülle weg. Zwischen dem polsternden Bezug und der stützenden Sitzfläche aus Kunststoff waren nämlich zwei halbrunde, fächerförmige Plastikplatten versteckt. Es war der erste große Überraschungseffekt in meiner Show – eben noch stand ich da mit diesem hässlichen, plumpen Sitz in den Händen, im nächsten Moment zauberte ich daraus zwei hauchdünne schwarze Plastikfächer hervor. Den überflüssigen Ballast ließ ich unauffällig fallen, dann überkreuzte ich die Arme, hob die Fächer mit kunstvollen Schwüngen vor mein Gesicht, drehte sie, beschrieb Kreise und Achten, während ich die Hände vom Körper wegführte. Es war ein langsames Innehalten in meiner sonst so kraftvollen, schnellen Performance. Ich bewegte mich über die Bühne wie eine Tempeltänzerin, geschmeidig und geheimnisvoll, meine Fächer mal mir folgend, mal mich verdeckend, mal nach ihrem ganz eigenen Willen tanzend.

Schließlich kehrte ich mit einer mehrfachen Drehung in die Mitte der Spiegel-Stage zurück, streckte die Arme nach beiden Seiten hin aus und ließ die Fächer zu Boden sinken. Unmerklich stieß ich die Luft zwischen den Zähnen hervor. Den mit Abstand schwierigsten Teil der Choreographie hatte ich jetzt vor mir – den Teil, bei dem jede falsche Bewegung alles ruinieren konnte, der nicht nur höllisch anstrengend und gefährlich war, sondern auch allerhöchste Konzentration erforderte. Kurz mischte sich in die Routine doch wieder ein Anflug von Aufregung. Ich spürte, wie mir die Handflächen ganz nass wurden, und das war eine Katastrophe. Verdammt, ich musste mich zusammenreißen, wenn ich nicht noch alles ruinieren wollte!

Ich lenkte meine Gedanken voll und ganz auf das Einzige, das in diesem Augenblick zählte: Die Überreste des Stuhles, der massive Sockel und das umso schlankere Bein. Dieses stand nun im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich strich behutsam mit den Fingerspitzen darüber, drehte es dabei ein wenig, um es zu lockern. Mit einer Hand hielt ich es fest, ging um den enthaupteten Hocker herum, drückte mich dann kraftvoll vom Boden ab und drehte mich auf der Stange im Kreis, mit durchgestreckten Armen abgestützt, die Beine gespreizt wie eine Ballerina im Sprung. Ich hatte kaum Halt, es tat höllisch weh in den Handinnenflächen, und sie können sich vielleicht vorstellen, was alles hätte passieren können, wenn mir die Kraft versagt hätte und ich auf diese Stange gefallen wäre. Ein hässliches Zittern jagte mir von den Handgelenken bis zu den Schulterblättern, gefolgt von einem noch hässlicheren Ziehen. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte, mir das nicht im Gesicht anmerken zu lassen – weiterlächeln, nur immer weiterlächeln. Im Geiste zählte ich die Sekunden, die mir wie Jahrzehnte vorkamen, doch dann war die Drehung vorbei und ich landete sicher wieder auf dem Boden.

Die Anstrengung ließ mir einen Moment lang übel werden. Ich gab dem aber nicht nach, sondern kämpfte mich tapfer durch den Auftritt. Ein weiteres mal drehte ich das lange, schwarze Stuhlbein, bis ich spürte, dass es locker genug war. Eine einzige Bewegung, und dann, mit Schwung, zog ich es aus der Halterung und hielt es wie einen Stab vor mich. Ich begann, diesen in den Fingern zu wirbeln – Gott, meine Hände waren immer noch ganz verschwitzt, ich stand Todesängste aus. Im Geiste sah ich schon, wie mir das verdammte Ding entglitt und eines der Jurymitglieder pfählte. Trotzdem drehte ich es so schnell, als ob ich das Publikum damit hypnotisieren wollte – erst vor mir, dann zur rechten und zur linken Seite, dabei marschierte ich auf der Stelle, als ob ich eine Orchesterparade anführen würde. Danach riss ich den Stab über meinen Kopf, tanzte über die Bühne wie eine elegante Kämpferin, die in leichtfüßigem Wettstreit einen unsichtbaren Gegner bezwang. Ein Ruck, und ich stellte den Stab auf den Boden, ließ die Hüften kreisen und verwandelte mich von der Kriegerin in eine Showtänzerin. Schließlich riss ich den Stab wieder hoch, drehte ihn erneut mit Hochgeschwindigkeit und ging diesmal sogar wirklich vorwärts, direkt auf die Jury zu.

Mein Kopf war hoch erhoben, mein Blick zu allem entschlossen, mein Körper gestrafft und aufrecht. In diesem Moment fühlte ich mich plötzlich so stark wie selten zuvor. Das gab mir Kraft für den letzten Akt – den wirbelnden Stab vor mich halten, meine Konzentration sammeln… es ging um alles oder nichts. Kräftig warf ich den Stock in die Luft, drehte mich einmal, und dann kam die Sekunde, in der ich meinen schwarzen Tanzpartner hinter dem Rücken wieder auffangen sollte. Doch meine Hände waren glatt, der Stock in voller Fahrt, und ich spürte, dass er meinen Fingern entglitt. Mein Herz setzte ungelogen mehrere Schläge lang aus. Ich wusste, dass ich jeden Moment sterben würde, wenn es mir jetzt nicht gelang, dieses verdammte Stück Leichtmetall zu fassen zu bekommen. Ich krallte meine Finger um den Stab und in meine Handfläche, und dann riss ich, ohne Rücksicht auf Verluste, den Arm samt Stuhlbein zur Seite weg, genau in dem Moment, in dem der letzte Ton meiner Musik durch die Lautsprecher hallte. So stand ich da, die Arme ausgebreitet, völlig außer Atem und mit einem Herzschlag, der lauter und heftiger hämmerte als ein Schlagbohrer. Mir wurde schwindlig, aber ich blieb stehen, vollkommen reglos.

Und dann kam der Applaus. Eine Woge von Applaus, die mich fast umhaute, im wahrsten Sinne des Wortes. Ehrlich, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich meine Sachen zusammengepackt und hinter die Bühne geschafft habe. Plötzlich war ich wieder in meiner Kabine – stellte fest, dass ich ein Schleifchen verloren hatte und hoffte, dass keine nachfolgende Konkurrentin darüber stolpern und sich den Hals brechen würde. Gut, es wäre eine Rivalin weniger gewesen, aber ich wollte ja nicht, dass man mir am Ende noch einen Mord anhängen würde. Ich wusste nicht, wie ich auf der Bühne ausgesehen hatte, aber es hatte sich gut angefühlt. Keine größeren Patzer, verdammt nochmal, ich hatte sogar den Stock gefangen! Die Drehungen hatten funktioniert, mir hatten nicht die Arme nachgegeben, ich hatte mich weder vor den Augen des Publikums aufgespießt noch mit irgendeinem Utensil niedergeschlagen. Das war immerhin ein erster Erfolg. Ich hatte anders ausgesehen, als es hätte sein sollen, aber das wusste außer mir (und Barbie) ja niemand. Was den Rest des Auftritts anging, hatte sich das harte Training wirklich gelohnt. Wenigstens ein Trost, das wusste ich jetzt, würde mir bleiben, egal, wie die ganze Sache ausging:

Ich hatte mein Bestes gegeben – der Rest lag in den Händen der Jury.
 

Der letzte Gang vor genau diese Jury fühlte sich allerdings eher an wie ein Gang zum Schlachter. Wir wurden wieder in die Abendkleider gesteckt, die man für uns ausgesucht hatte. Offenbar traute uns das Lucky Karma-Team nicht zu, einen besseren Kleidergeschmack zu haben als sie, oder vielleicht wollten sie auch einfach nur ein möglichst glamouröses Bühnenbild haben. Für mich war das die Hölle, weil in diesen verdammten Roben leider wirklich jede von uns so unglaublich gut aussah. Jede? Ah, nein, es gab natürlich eine Ausnahme, und das war Mrs. Silikon. Die sah auch im edlen Glitzerkleid noch aus wie frisch vom Straßenstrich, strahlte dabei aber schon wie eine Gewinnerin. Ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht! Vielleicht wäre das ja auch eine Performance gewesen, die der Jury richtig gut gefallen hätte. Wahrscheinlich hätte mich die Sache aber eher direkt in den Knast gebracht, also ließ ich es, bedauerlicherweise, doch lieber bleiben.

Wie zur Belohnung für so viel Disziplin betrat eine alte Bekannte die Bühne. Melinda Farley in ihrem leuchtend roten Kleid, das greller strahlte als jede Signalrakete. Mit dem blendenden Grinsen einer Homeshopping-Verkäuferin winkte sie, selbst ganz Beauty Queen, ins artig applaudierende Publikum.

„Ist hier vielleicht irgendjemand gespannt, ob wir eine Gewinnerin haben?“, flötete sie völlig überflüssigerweise – nein, die Zuschauer interessierte es natürlich nicht, wer diesen verdammten Wettbewerb gewinnen würde, die hatten sich nur zum Spaß stundenlang in dieser blöden, kitschigen Halle den Hintern plattgesessen. Ja, ich gebe zu, ich war ungeduldig, und ja, das dümmliche Gerede und das debile Grinsen von Lady Föhnfrisur machten mich aggressiv. Oder war es doch eher Barbies unschuldiger Augenaufschlag? Im Endeffekt tat ich wohl beiden Unrecht. Ich war einfach nervös bis zum Abwinken, und irgendwie machte ich plötzlich jedes Mädchen dafür verantwortlich, dass sie allesamt gar nicht begreifen konnten, was dieser Sieg für mich bedeutete, wie sehr ich ihn brauchte. Mi Cha bildete da die einzige rühmliche Ausnahme, für ihre Gegenwart war ich wirklich dankbar. Ich hätte gerne ihre Hand genommen, doch das ging natürlich nicht. Man musste ja stark sein, Haltung bewahren, schön das Lächeln auf dem Gesicht festtackern. Ich hielt mich tapfer aufrecht, auch wenn mir schwindlig war, als ob ich zehn Vodkaflaschen auf ex geleert hätte.

„Aber zuerst ein glitzernd glamouröses Dankeschön an unsere fantastische Jury!“ Ja, sie sagte es genau so, mit exakt diesen Worten: glitzernd glamourös. Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht hysterisch aufzulachen. Allerdings schien auch Melinda dieser Dank nicht allzu viel wert zu sein, denn sie ließ das Publikum nicht mal fertig applaudieren. Offenbar hatte sie es eilig, mit der Show durchzukommen, denn schnell, mit festgefrorenem Lächeln, zückte sie drei Umschläge. Gold, Silber und Bronze, damit es auch der letzte Depp im Publikum kapierte, worum es dabei ging. Die Frau mit den knallroten Lippen fand diese Aufgabe wohl nicht ganz so einfach – es war deutlich zu sehen, wie sie einen Moment lang zögerte und überlegte, welches nun der goldene und welches der bronzene Umschlag war. Glücklicherweise wendete sie einen möglichen Skandal aber gerade noch ab, öffnete den richtigen Umschlag für Platz drei und zog in schlecht gespieltem Erstaunen die dünn gezupften Augenbrauen hoch.

„Wow!“, gab sie in einem unbeschreiblich übertriebenen Tonfall von sich, „wir haben einen dritten Platz! Dieses Mädchen gewinnt einen randvoll gefüllten Kosmetikkoffer von Lucky Karma, mit unserer gesamten neuen Produktserie!“ Spontan rutschte mir das Herz in allertiefste Körperregionen. Ein Kosmetikkoffer? Na, damit wäre Mum ja ganz toll geholfen! Und ich meine, von all diesem Schönheiten den dritten Platz zu machen, das war schon mal nicht schlecht, ganz und gar nicht. Es war eine ziemliche Leistung, und in diesem grässlichen Moment war ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt das geschafft hatte. „Und unsere Drittplatzierte ist…“

Pause. Trommelwirbel vom Band. Und dann, begleitet von einem Tusch und einem Scheinwerferwirbel, die Stimme unserer ganz privaten Glücksfee:

„Alisha McAllister!“

Ein unterdrückter Freudenlaut ertönte, und ein zierliches Mädchen mit brünettem Pagenkopf machte, die Hände vor den Mund geschlagen, einen Schritt nach vorne. Die Kleine schien sich über ihren Platz zu freuen, jedenfalls strahlte sie über das ganze Gesicht, als sie von einem älteren Herren mit solariumtiefbrauner Knitterhaut eine Schärpe umgehängt und einen Blumenstrauß in die Hand gedrückt bekam. Sie wirkte ein bisschen wie eine arabische Prinzessin mit ihrem blaugoldenen Kleid, wirklich sehr hübsch. Wenn diese Schönheit nur den dritten Platz belegte, wer sollte denn dann noch vor ihr liegen? Mein Selbstbewusstsein jagte sich unweigerlich eine Kugel in den nicht vorhandenen Kopf. Die Drittplatzierte war umso glücklicher, und obwohl ich ihre Platzierung nicht hatten haben wollen, beneidete ich sie um ihre Erleichterung. Man gönnte der orientalischen Königin ihre dreißig Sekunden im Rampenlicht, dann wurde ihr Freudentaumel jäh beendet und sie von dem unangenehm freundlichen Jurymenschen beiseitegeschoben, um wieder für Melinda und ihre beiden noch verbliebenen Umschläge Platz zu machen.

„Es gab zwei Girls, die unserer Jury ganz besonders aufgefallen sind“, trällerte sie ins Mikrofon, ohne ein einziges Wort des Glückwunsches an das Mädchen von Platz Drei zu richten. „Ich rufe diese beiden Mädchen jetzt nach vorne, und dann werde ich die Zweitplatzierte und die Gewinnerin verkünden. Für den zweiten Platz gibt es einen traumhaften Strandurlaub, doch nur unsere Siegerin bekommt den begehrten Geldpreis und die Chance auf weitere tolle Modelaufträge!“

Höflicher Applaus aus dem Publikum, da Miss Farley das offenbar erwartete, dann wieder gespanntes Schweigen. Die Zuschauer wollten endlich das Ergebnis hören, und mir ging es nicht anders. Ich konnte nicht mehr. Ich fühlte mich wie kurz vor dem Zusammenbrechen, und ich hatte das Gefühl, dass die Anspannung mich umbringen würde, wenn ich nicht bald erlöst wurde. Wissen Sie, Mums Leben ruhte in diesem Moment einzig und allein auf meinen Schultern. Wenn ich versagt hatte, war die vielleicht letzte Chance, sie zu retten, endgültig verloren. Ich hatte das die ganze Zeit über irgendwie ausgehalten, aber jetzt wurde es einfach zuviel. Das Publikum, die Lichter, die Arena, alles begann vor meinen Augen zu flackern. Ich wusste nicht, wie lange ich mich noch aufrecht halten könnte, und ich betete innerlich, dass bald endlich alles vorbei war.

„Und die beiden Mädchen, die von der Jury die meisten Punkte bekommen haben, sind… Trish Hedger und Jessica Maguire!“

In diesem Moment bin ich gestorben. Wirklich, ich hätte mich freuen wollen, aber ich tat es nicht. Ich konnte es nicht. Ich glaube, ich schaffte es gerade noch, zusammen mit Barbie nach vorne zu treten, danach hatte ich einen Filmriss, oder zumindest so etwas Ähnliches. Ich sah, wie Melinda ihre signalroten Lippen bewegte, doch ich hörte sie nicht mehr, keinen einzigen Laut. Wie die Blondine in der Talkshow, die ich damals bei Tatsumi auf dem Bett gesehen hatte. In meinen Ohren tönte nur noch ein unangenehm lautes Rauschen und Pfeifen, und mir wurde so schlecht, dass ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Ich war wirklich kurz vorm Umkippen, aber diese Peinlichkeit wollte ich mir ersparen, mit allen Mitteln. Krampfhaft krallte ich mir die Fingernägel in die Handinnenflächen, ja, ich ging sogar so weit, meinen Blick auf Barbie zu richten, um mich wütend zu machen, weil mir das jetzt nur helfen konnte. Die Strategie ging auf – als ich ihren triumphierenden Gesichtsausdruck sah, flammte spontan wieder heftige Mordlust in mir auf. Ich stand da, zerfressen von Angst und Selbstzweifeln, während Barbie einfach ganz gelassen war, weil sie wusste, dass sie gewinnen würde. Sie wusste es, und ich wusste es auch. Rasch wandte ich mich wieder von ihr ab, sah stattdessen Melinda an. Was sagte sie? Was hatte ich in den letzten Sekunden verpasst? Großer Gott, die Frau sah aus, als ob der große Moment kurz bevorstehen würde!

„…und das ist… surprise, surprise, Sie werden vielleicht nicht damit gerechnet haben: Es ist Trish Hedger!“

Nein!, schrie es in mir auf, so laut, dass mir von innen heraus das Trommelfell zu platzen schien. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Ich hatte doch alles getan. Mir so große Mühe gegeben, so sehr gekämpft wie nie zuvor in meinem Leben, und jetzt? Jetzt hatte Barbie gewonnen. Die Frau, die es überhaupt nicht nötig hatte. Die das Geld nicht brauchte, die vermutlich nie in ihrem Leben Geld gebraucht hatte, und die diese nette Finanzspritze doch eh nur in noch eine Körbchengröße mehr investieren würde. So viel zum Thema Gerechtigkeit! Aber was hatte ich denn erwartet? Was half es, ein kleines akrobatisches Kunststück aufzuführen, wenn sich so ein blondiertes Flittchen mit Engelsflügeln auf die Bühne stellte und ein christlich-patriotisches Liedchen sang? I’m in love with Jesus, like he loves America. Verdammt, ich hatte doch genau gewusst, dass man das gar nicht mehr überbieten konnte!

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich wollte ausrasten, wollte Barbie und Melinda durch den verspiegelten Catwalk prügeln, wollte am liebsten die ganze Halle mitsamt Jury und Publikum in die Luft springen. Nein, ich bin kein Mörder und auch kein Terrorist, aber vielleicht verstehen Sie ja, wie unglaublich wütend ich war. Weil nun alles, alles vorbei war, und weil das Leben in diesem Moment einfach so viel ungerechter war, als ein Mensch es aushalten konnte. Dieses elende Miststück hatte gelogen, betrogen, sabotiert… hatte mir alles kaputt gemacht, viel mehr noch als den Wettbewerb. Und jetzt sollte sie als Gewinnerin aus der ganzen Sache herausgehen? Das war zuviel, das war einfach zuviel. Ich war so niedergeschlagen wie vielleicht noch nie zuvor in meinem Leben.

Bis ich bemerkte, dass Barbie gar nicht strahlte, als man ihr eine Schärpe umhängte und ihr einen üppigen Strauß in die Hände drückte. Ganz im Gegenteil – ihr Gesicht war eine erstarrte Maske, das Lächeln verkrampft, die Augen nicht freudig, sondern hasserfüllt blitzend. Nun war ich verwirrt, umso mehr, als ich bemerkte, dass alle Blicke nicht auf Mirs. Silikon, sondern auf mich gerichtet waren. Auch Melinda sah mich auffordernd, mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich blinzelte mehrmals, versuchte, zu verstehen, was da gerade vor sich ging, als die Königin der Föhnfrisuren erneut ihr Mikrofon an die üppigen Lippen setzte.

„Und damit, Sie ahnen es mit Sicherheit schon, ist unsere Erstplatzierte, unsere Siegerin die bezaubernde Jessica Maguire!“

Oh Gott, war alles, was ich jetzt noch denken konnte. Ich starrte Melinda an, als ob sie das Monster von Loch Ness, der Yeti oder sonst ein übersinnliches Phänomen wäre, weil ich einfach nicht glauben konnte, was ich da hörte. Ich hatte mich bereits geschlagen gegeben, da kam dieser Triumph einfach viel zu plötzlich, zu unerwartet, als dass ich es gewagt und geschafft hätte, daran zu glauben. Dabei war es doch eigentlich so logisch! Unsere Ansagerin hatte den zweiten Platz zuerst genannt. War gar nicht so schwer, darauf zu kommen, aber ich war mir so sicher gewesen, dass nur Barbie diesen Wettbewerb gewinnen konnte, dass ich mir keinen Funken Hoffnung mehr erlaubt hatte. Ja, verdammt, ich habe aufgegeben, und darum war es mir unmöglich, zu begreifen, dass ich dieses hinterhältige Flittchen am Ende doch besiegt haben sollte. Dass ich sie besiegt hatte, und dass sie nichts dagegen ausrichten konnte, weil ich sie mit Mi Chas Foto genauso in der Hand hatte, wie sie mich mit ihrem gefährlichen Wissen in der Hand hatte. Ich hatte es geschafft! Ich war für meine Mum in den Krieg gezogen, und ich war siegreich aus der Schlacht hervorgegangen.

Aus irgendeinem Grund konnte ich trotzdem nicht aufhören, zu weinen. Ich war noch nicht erleichtert, konnte es nicht sein, als man mich energisch dem Publikum entgegenschob, mir eine breite Schärpe umhängte und mich mit einem Strauß beglückte, der sogar noch prunkvoller und dekadenter war als der von Barbie. Nur ganz langsam, zögerlich, vorsichtig, stieg ein Gefühl in mir auf, das gleichzeitig heiß und kalt und unglaublich berauschend war. War es Triumph? Vermutlich, denn ganz plötzlich musste ich lächeln. Ich ging nach vorne, den Catwalk entlang, um mich der jubelnden Menge zu präsentieren. Sofort entflammte ein Blitzlichtgewitter zu meinen Füßen. Ich ging diesem Licht entgegen, immer noch fassungslos, aber mehr und mehr erfüllt von einem so ungetrübten, überwältigenden Glück, wie ich es selten zuvor gespürt hatte. Ich breitete die Arme aus, und es fühlte sich an, als ob ich fliegen würde. Das war mein Moment. Mein Abend. Ich war im zerschnittenen Kleid auf die Bühne gegangen, und ich hatte trotzdem gewonnen. Das war so wunderbar, dass es für ein paar Minuten einfach alles andere verschwinden ließ. Alles Schlimme, alles Traurige. Für diese Augenblicke, als ich über den Laufsteg aus blitzendem Licht schwebte, war die Welt perfekt.

Ich hatte das Geld für Mums Therapie gewonnen, und ich wusste einfach, dass von jetzt an alles gut werden würde.
 

Drei Tage später ist Mum abgehauen.

Ich hatte hin- und herüberlegt, wie ich die Sache mit dem Entzug am besten regeln konnte. Mum durfte das Geld nicht in die Hände bekommen, denn ich wusste ganz genau, dass sie ja doch nur wieder Drogen davon kaufen würde. Die Sucht war einfach stärker als Vernunft oder Dankbarkeit. Sie ahnen ja nicht, wie schwer es mir gefallen ist, meinen Gewinn in die Wohnung zu schmuggeln und meine Freude ganz für mich zu behalten. Ja, ich war die neue Miss Lucky Karma, aber ich hatte keinen einzigen Menschen, mit dem ich das feiern konnte. Ich musste oft daran denken, wie Tatsumi und ich nach meinen ersten, vergleichsweise unwichtigen Sieg wie betrunken durch die Nacht getaumelt waren, feiernd und singend. We are the Champions. Jetzt war ich es wirklich, aber ich fühlte mich viel weniger so als damals.

Jedenfalls kam ich zu dem Entschluss, dass es das Beste war, selbst im Krankenhaus anzurufen und einen Termin für Mum zu vereinbaren. Kann sein, dass sie etwas davon mitbekommen hat. Vielleicht hat sie mein Telefonat belauscht, vielleicht einen Brief abgefangen, vielleicht gab es auch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Gut möglich, dass sie in dem Moment, da ihre große Chance zum Greifen nahe gewesen war, doch noch kalte Füße bekommen hat. Mit Sicherheit war auch ihr neuer Lover nicht ganz unschuldig an der ganzen Sache. Ich hatte mal mitbekommen, wie die beiden sich voll Sehnsucht über ein Leben am Meer unterhalten haben. Vermutlich haben sie sich an irgendeine Küste abgesetzt. Fest steht nur, dass die beiden ein Auto geklaut haben und so aus der Stadt getürmt sind. Das hat die Polizei herausgefunden, die ich eingeschaltet habe, als von Mum nach vier Tagen immer noch jede Spur fehlte. Das gestohlene Auto wurde auf einem Parkplatz nahe der Staatengrenze entdeckt, die beiden Diebe waren und blieben verschwunden. Ich habe meine Mutter niemals wiedergesehen. Die Frau, für die ich all diese Mühen auf mich genommen hatte, war ganz heimlich, still und leise aus meinem Leben geschlichen.

In den folgenden Tagen stand ich völlig neben mir. Ich befand mich im freien Fall, hoffte darauf, wenigstens irgendwann auf dem Boden aufzuschlagen, doch selbst darauf wartete ich vergebens. Da war ich, ganz allein mit einer Menge Geld und ohne jegliches Ziel, an dem ich mich noch festhalten konnte. Das, wofür ich gekämpft hatte, war gleichzeitig erreicht und zerschlagen. Jetzt gab es keinen Grund mehr für mich, in eine weitere Schlacht zu ziehen. Ich konnte und ich wollte nicht mehr. Alles, was ich tat, war stundenlang durch die Stadt zu streifen, ohne auf den Weg zu achten, während mein Jackpot unberührt in meinem Zimmer vergammelte. Irgendwann, in einem Moment absoluter Resignation, als ich begriff, dass Mum nicht mehr zurückkommen würde, habe ich noch in der Klinik angerufen, um den Termin wieder abzusagen. Das war die einzige sinnvolle Handlung, zu der ich fähig war, ansonsten gab es nichts als meine einsamen Streiftouren.

Ehrlich, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich mich nicht irgendwann, bewusst oder unbewusst, zu Tatsumis Haus verirrt hätte. Es war ein hässlicher grauer Tag, die Luft widerlich nasskalt, weil es schon seit Stunden ununterbrochen geregnet hatte. Bitte glauben Sie mir, ich bin nicht mit Absicht dorthin gegangen. Ich bin vielleicht mit Absicht dort geblieben, das gebe ich zu, aber mein Weg dorthin war reiner Zufall. Trotzdem kam ich mir vor wie ein Stalker, als ich vor dem großen weißen Märchenschloss stand und auf dessen perfekte Fassade stand, während mir der Regen in Strömen über das Gesicht lief. Die Haare klebten mir in der Stirn, meine Kleidung war wie eine zweite, ekelhaft aufgeweichte Haut. Ich zitterte am ganzen Körper, aber ich ging trotzdem nicht weg. Ich stand einfach da und wartete auf ein Wunder, das aber nicht kommen sollte.

Nicht an diesem Tag. Ach verdammt, ja, ich bin wiederkommen. Mehr als einmal. Mich wunderte es damals wirklich, dass mich nicht irgendwann die Polizei weggeschleppt hat. Seltsamerweise kam ich gar nicht auf die Idee, dass das Haus gerade leer stehen könnte, obwohl während meiner langen Wartezeiten kein einziges Mal jemand herausgekommen oder hineingegangen war. Diese Einsamkeit schob ich auf das Wetter, denn es blieb grottenschlecht, aber das störte mich nicht. Irgendwie passte es sogar. Um mich selbst für meine Treibjagd zu bestrafen, um jeden hässlichen Gedanken durch bloßes Frieren zu vertreiben. Und weil ich mir aus tiefstem Herzen einen Mike-Moment wünschte. Damals, als er stundenlang im Regen vor meinem Haus auf mich gewartet hatte, war ich so unbeschreiblich gerührt gewesen, dass mir der Gedanke daran, auch heute noch, immer noch auf eine seltsame Art und Weise wehtut. Ich hoffte ganz egoistisch, dass auch Tatsumi so einen Moment erleben würde, wenn er mich sah, und dass er mir allein deswegen alles verzeihen könnte.

Um es kurz zu machen: Irgendwann ist mir Tatsumi tatsächlich begegnet, nur leider sah er dabei nicht unbedingt gerührt aus. Eine Sekunde lang wirkte er vielmehr eigenartig entsetzt, danach versteinerte seine Miene so schnell und gründlich, dass an ihr überhaupt nichts mehr abzulesen war. Das war nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte. In meinem Kopf hatte es genau zwei mögliche Wiedersehensszenarien gegeben, die sich dort quasi pausenlos abgespielt hatten: Einmal eine herzzerreißende Versöhnungsszene, wie man sie eben so aus Hollywoodschnulzen kennt. Mit kissing in the rain, einer Menge Tränen und allem, was sonst noch so dazugehört. Die zweite Version war die absolute Katastrophe – Tatsumi rastet völlig aus (ja, in meiner Vorstellung tat er das, auch wenn es zugegebenermaßen nicht unbedingt seine Art ist), schreit mich an, beleidigt mich aufs Übelste und jagt mich dann, notfalls mit Gewalt, von Haus und Hof. In der Realität war ich nun irgendwo in einem undefinierbaren Bereich dazwischen gefangen und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.

„Was machst du hier?“, lautete, wenig romantisch, seine Begrüßung. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also stand ich einfach weiter da und starrte ihn an. Muss ziemlich gruslig gewesen sein, und ich rechne es ihm noch heute hoch an, dass er mich nicht spätestens jetzt von den netten Männern mit den lustigen weißen Jacken hat abholen lassen. Ich verstand erst mit kurzer Verspätung, dass er es vermutlich nur deshalb nicht tat, weil er mich in den Tagen zuvor noch gar nicht gesehen hatte, wie ich ihm pausenlos vor seiner Villa aufgelauert hatte. Langsam ging mir ein Licht auf, dass das Haus wohl nicht nur wie ausgestorben gewirkt hatte, sondern war es auch wirklich gewesen war. Ich hatte tagelang ganz umsonst in der Eiseskälte gewartet, aber ich war nicht enttäuscht darüber, sondern erleichtert.

„Ich… ich weiß nicht“, antwortete ich schließlich doch noch, als mir klar wurde, dass Tatsumi mir die unangenehme Aufgabe, als Erster weiterzusprechen, nicht abnehmen würde.

„Gut, dann solltest du jetzt besser verschwinden, weil ich nämlich keine Zeit habe“, meinte er knapp und machte Anstalten, einfach an mir vorbeizugehen, dem Hauseingang entgegen.

„Nein, warte, bitte!“ Ich konnte ihn jetzt nicht gehen lassen. Mir war klar, dass dann wirklich alles verloren gewesen wäre. Da mir aber dummerweise zu dieser brillanten Erkenntnis kein passender genialer Plan einfiel, wie ich ihn hätte zurückhalten sollen, versuchte ich es einfach mal mit der Holzhammermethode. Hinterherlaufen, am Arm packen, flehenden Blick aufsetzen. Ziemlich billig, das bestreite ich nicht, aber das Schlimmste daran war, dass ich es nicht mal aus bloßer Berechnung tat, sondern weil ich einfach nichts Besseres auf Lager hatte. „Tatsumi, bitte, es tut mir leid. Es tut mir so furchtbar leid.“

„Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?“, entgegnete er kühl. Bei diesen Worten sah er mich nicht an, aber immerhin blieb er stehen, und damit hatte ich das wichtigste Ziel ja schon erreicht. Ist Ihnen auch mal aufgefallen, dass die schlechtesten, unsubtilsten Strategien meistens am besten funktionieren?

„Ja. Nein. Ich meine… ich… ich dachte nur, du willst vielleicht wissen, dass… der Wettbewerb…“

„Ich weiß“, unterbrach er mich. „Ich weiß, du hast gewonnen. Gratuliere. Und jetzt lass mich los.“

„Woher weiß du das?“

„Stand in der Zeitung. Komisch, dass die nicht mal recherchiert haben, dass es überhaupt keine Jessica Maguire gibt, hm? Ziemlich mieser Journalismus hierzulande, das sag ich schon seit Jahren. Soweit alles bekannt, also geh endlich, ich hab es eilig.“

„Wieso hast du es so eilig?“ Ich fragte, weil ich aus irgendeinem Grund spürte, dass Tatsumi mich nicht einfach nur möglichst schnell loswerden wollte. Er hatte es eilig, und er wirkte auf eine merkwürdige Weise gehetzt, wie ich es bei ihm noch nie gesehen hatte und wie ich es ihm auch niemals zugetraut hätte. Ich sah, wie seine Augen immer wieder die Straße absuchten, als ob er nach feindlichen Spionen Ausschau halten würde, die sich hinter jedem noch so harmlos scheinenden Busch verbergen konnten. Das war nicht gespielt, das war eindeutig echt. Hätte er in diesem Moment nicht so ausgesehen, dann wäre ich vermutlich wirklich gegangen, dann hätte ich aufgegeben und eingesehen, dass es zu spät war. Doch so blieb ich und ließ meine Finger beharrlich um Tatsumis Oberarm geschlossen.

„Warum willst du das wissen?“, fragte er, immer noch mit diesem abweisenden Tonfall, aber ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. Schon deshalb ließ ich nicht locker.

„Weil ich es eben wissen will, also sag schon. Wenn du es mir sagst, dann gehe ich. Sofort. Versprochen!“

Er zögerte noch immer, aber schließlich, nach einem kurzen Verziehen der Lippen, antwortete er mir doch:

„Okay. Gut. Wenn du’s unbedingt wissen willst: Ich haue ab. Meine Eltern sind grad im Urlaub, und die Gelegenheit muss ich nutzen. Sie hatten mich zu einem Praktikum abgeschoben, aber ich bin weggelaufen. Ich weiß nur nicht genau, wann sie zurückkommen, also sollte ich, wenn möglich, nicht noch übermorgen hier vor dem Haus dumm herumstehen.“

„Du gehst weg.“ Diese Antwort versetzte mir einen Stich, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Nein, wollte ich schreien, nein, nicht auch noch du, aber ich brachte keinen Ton mehr hervor. Ich musste mehrmals heftig schlucken, bevor ich weitersprechen konnte. Meine Finger spielten irgendein absurdes Spiel miteinander, und mein Hals fühlte sich an, als ob man ihn von innen mit Reißnägeln gespickt hätte. „Warum? Wieso… wohin willst du überhaupt gehen?“

„Zu einem Kumpel… erst mal. Ich hab in den letzten Tagen alles geregelt, ich bin nur noch hier, um ein paar Sachen abzuholen.“ Es klang so endgültig, wie er das sagte. Vielleicht wäre es leichter für mich gewesen, wenn sein Blick, seine Stimme… irgendetwas an seinem Verhalten mir gesagt hätte, dass er noch wütend auf mich war. Dass er mich hasste. Damit hätte ich umgehen können, aber nicht mit dieser Ungewissheit. Das Schlimmste war jedoch, dass trotz allem, schon während dieser wenigen Worte, sofort wieder diese… Zwanglosigkeit zwischen uns war. Wie damals, als er mich am Flussufer gefunden hatte. Als wir gefeiert hatten. Als wir uns zusammen zahllose grottige Horrorfilme angesehen und dabei einfach die Zeit vergessen hatten. Wäre es völlig anders gewesen als in unserer kurzen gemeinsamen Zeit… hätte ich gespürt, dass alles endgültig verloren und vorbei war, dann wäre das zwar verdammt traurig gewesen, aber nicht unerträglich. Unerträglich war das, was ich jetzt spürte, und deshalb lief ich weg.

Ja, sie lesen richtig: Ich hatte tagelang auf Tatsumi gewartet, auf genau so eine Gelegenheit wie diese. Nun war der große Augenblick gekommen, eine Chance, miteinander zu sprechen und vielleicht doch noch etwas zu retten. Ich merkte sogar, dass Tatsumi eigentlich ganz froh darüber war, jemandem zum Reden zu haben, auch wenn er das vermutlich niemals zugegeben hätte. Etwas Besseres hatte ich realistischerweise nicht erwarten können, aber was machte ich? Abhauen! So wie meine Mutter es getan hatte, und so wie mein ehemaliger Ritter in der strahlenden Rüstung es bald tun würde. Ich konnte nicht anders, als sie beide in diesem Moment dafür zu hassen. Ehrlich, ich fühlte mich wie der einsamste Mensch auf dem ganzen Planeten, verraten und von allen im Stich gelassen. Auch wenn ich vermutlich nicht das Recht dazu hatte, ich hoffe, Sie verstehen wenigstens ein kleines bisschen, dass mir die Sache einfach über den Kopf gewachsen ist. Jedenfalls machte ich auf dem Absatz kehrt und lief in den kalten Regen hinein, ohne mich noch einmal umzudrehen, um Tatsumi wenigstens ein allerletztes Mal sehen zu können.

Sehr weit kam ich allerdings nicht, denn es passierte etwas, womit ich um nichts in der Welt gerechnet hätte. Ehrlich, ein vom Himmel stürzendes Klavier, das mich unter sich begrub, hätte mich wohl weniger überrascht als das, was tatsächlich geschah. Tatsumi rief mir nämlich etwas hinterher, das mich wie vom Blitz getroffen stehen bleiben ließ:

„Warte mal, Jesse!“

Schlagartig hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Mein Stolz schrie mich an, dass ich einfach weiterlaufen sollte, doch meinem Körper war das vollkommen egal. Immerhin schaffte ich es gerade noch, die Arme vor der Brust zu verschränken, während ich mich umdrehte. Das war aber auch schon alles, was ich an offener Gekränktheit hinbekam.

„Was denn?“, fragte ich und versuchte, dabei wenigstens ein kleines bisschen trotzig zu klingen, was mir aber nicht so recht gelingen wollte. Ich weiß, dass dieser Zorn sowieso ziemlich kindisch und falsch war, weil Tatsumi ja, objektiv betrachtet, wirklich jedes Recht der Welt hatte, bis in alle Ewigkeiten wütend auf mich zu sein. Ich hatte ihn auf eine Weise belogen und benutzt, die schäbig und verdammt egoistisch gewesen war. Nicht alles, was ich getan hatte, war aus bösem Willen heraus geschehen, sondern weil ich die Wahrheit einfach sehr lange erfolgreich verdrängt hatte. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob das irgendetwas besser macht. Trotzdem nahm ich mir das Recht heraus, verletzt zu sein, und das wollte ich auch zeigen. Seltsamerweise sah Tatsumi aber gar nicht so aus, als ob er mir meinen Tonfall übel nehmen würde. Er strich sich eine seiner triefnassen blonden Strähnen hinters Ohr, und dann kehrte völlig unerwartet dieses gottverdammte arrogante Lächeln auf seine Lippen zurück, das ich mehr vermisst hatte, als ich es überhaupt in Worte fassen kann.

„Für einen Kerl hast du ziemlich heiß getanzt.“

Er sagte nur diesen einen (ziemlich dämlichen) Satz, doch mehr musste in diesem Moment auch nicht gesagt werden. Ich musste nicht mehr fragen, woher er wusste, wie genau ich getanzt hatte. Woher er wusste, dass ich gewonnen hatte. Ich wehrte mich mit aller Macht dagegen, doch ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Bei dem Regen konnte man sie sowieso nicht sehen, aber eigentlich war das auch gar nicht so wichtig. Bevor ich irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte, war ich schon auf Tatsumi zugelaufen und hatte mich ihm um den Hals geworfen. Weil er mich nicht hasste. Weil er da gewesen war. Weil er mich, trotz allem, bei dem großen Finale doch nicht ganz alleingelassen hatte. Es war alles in allem nicht die Versöhnungsszene, die ich mir in meinen Tagträumen ausgemalt hatte, aber wen kümmerte das schon? Es war perfekt, gerade deshalb, weil es nicht perfekt war. Und es gab mir etwas zurück, dass ich in den vergangenen Tagen schon fast verloren geglaubt hatte.

„Wolllust“, flüsterte ich gegen Tatsumis Brust und verzog dabei die Lippen zu einem schiefen Grinsen.

„Wolllust?“

„Ja. Deine Todsünde für heute. Weil du immer nur an das Eine denkst. Sogar jetzt denkst du nur an das Eine. Weißt du eigentlich, wie abartig das ist?“

„Danke“, entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust – keine Ahnung, ob er damit protestieren oder doch wieder ein bisschen auf Distanz gehen wollte, ich konnte es ihm beides nicht verdenken. Natürlich bildete ich mir nicht ein, dass ich einfach einen Schalter umlegen konnte, der die ganze Sache vollkommen vergessen machte. Dass zwischen uns schlagartig alles wieder genau wie früher wäre. Sowas passierte eben doch nur in Filmen, und deshalb gab es keinen Kuss im Regen, kein tränenreiches Happy End. Aber damit konnte ich leben. Ich konnte es, weil ich verstanden hatte, dass es nicht nur für mich, sondern offenbar auch für ihn irgendetwas gab, etwas zwischen uns, das stärker war als Logik und Stolz und Vernunft. Nennen sie es, wie sie wollen. Mir war und ist das egal, solange es nur dafür gesorgt hat, dass dieses einsame Treffen im Regen nicht die letzte Begegnung von mir und Tatsumi gewesen ist, ohne dass wir uns dabei nur einziges Mal in die Augen gesehen hatten.

„Was ist eigentlich deine Sünde für heute?“, schob sich Tatsumi mit erhobener Augenbraue zwischen mich und meine Gedanken. Ich hob den Kopf. Sah ihn an. Und dann musste ich plötzlich lachen, als ich wahrheitsgemäß antwortete:

„Es… ich… ich hab keine Ahnung.“

„Keine Ahnung?“ Er strich sich mit einer Hand durch die Haare und grinste ebenfalls – nicht ohne eine gewisse Unsicherheit im Blick, die ich zuvor niemals in seinen dunklen Augen gesehen hatte, die mich nach allem, was passiert war, aber auch nicht weiter verwunderte. „Tja, das heißt dann wohl, dass ich gewonnen habe.“

„Ja“, nickte ich nach einer kurzen Pause. „Du hast gewonnen.“

„Du hattest von Anfang an keine Chance gegen mich. Aber hey, diesen und von mir aus auch deinen Sieg feiern wir bitte drinnen, weil es nämlich verdammt kalt hier draußen ist, falls du’s noch nicht bemerkt hast. Außerdem will ich immer noch gerne weg sein, bevor meine Alten hier vorfahren. Dann wäre hier nämlich wirklich die Hölle los, da brauchst du keine Todsünden mehr.“

Er öffnete die Pforte zu dem riesigen Märchengarten, und ich musste unweigerlich an die Nacht denken, als ich zum ersten Mal hier gewesen war. Seltsamerweise hatte das Haus seine einschüchternde Wirkung in all der Zeit nicht verloren, auch jetzt nicht. Ich denke, wenn ich wirklich noch einmal die Gelegenheit bekommen werde, dieses Anwesen zu betreten, werde ich immer noch die Schultern hochziehen und versuchen, sogar das Atmen lieber bleiben zu lassen. Wenn ich ganz ehrlich bin, ich hätte dort auch nicht leben wollen, und wenn es hundertmal ein Palast war. Das war aber nicht die einzige Erkenntnis, die mich auf dem Weg durch den Vorgarten überkam. Da war noch etwas: Ein ganz verrückter Gedanke, der jedoch beängstigend schnell in meinem Kopf heranwuchs und der mir sagte, dass das, was mir vor wenigen Augenblicken noch als halber Weltuntergang erschienen war, vielleicht in Wahrheit eine Chance für mich sein konnte.

„Sag mal, Tatsumi“, begann ich ganz vorsichtig, „hättest du eigentlich was dagegen, wenn ich auch abhauen würde?“

Tatsumi blieb so plötzlich stehen, dass ich um ein Haar in ihn hineingelaufen wäre. Er blickte über die Schulter zurück, offensichtlich überrascht, und trotz des immer noch strömenden Regens schien er völlig zu vergessen, dass wir das schützende Dach über dem Kopf ja noch gar nicht erreicht hatten.

„Sag mal, woher kommt denn das jetzt plötzlich?“, fragte er zweifelnd. „Du willst weg von zuhause? Was ist mit deiner Mum? Ich hatte immer den Eindruck, ihr beiden seid so dicke miteinander.“

Ja, verdammt, das war ein Stich mitten in die Brust. Ich hatte das Gefühl, sofort wieder in Tränen ausbrechen zu müssen. War das ein Wunder? Ich denke nicht, trotzdem wollte ich nicht schon wieder zum heulenden Elend mutieren. Weil ich so sehr genug davon hatte, und weil ich befürchtete, in diesem Moment vielleicht mehr die Kontrolle zu verlieren, als es gut für unsere vorsichtige Annäherung gewesen wäre. Also zwang mich zu einem Lächeln, und ich war überrascht davon, wie gut das nach kleineren Anlaufschwierigkeiten funktionierte. Als ich meine Mundwinkel erst einmal nach oben gezogen hatte, spürte ich einen Anflug von etwas, für das ich mich damals hasste, das ich aber heute, mit etwas Abstand, durchaus verstehen kann: Erleichterung. Unendlich tiefe, befreiende Erleichterung.

„Ich glaube, meine Mum braucht mich jetzt nicht mehr“, antwortete ich. „Außerdem… ich hab da noch so ein bisschen Geld übrig, von dem Wettbewerb. Ein bisschen viel Geld sogar. Und ich hatte bis gerade eben keine Ahnung, was ich damit machen sollte. Also, wenn du zufällig noch ein bisschen Bares für eine Wohnung brauchst…“

„Ne, ich dachte eigentlich daran, im Wald zu schlafen. Wo doch gerade so herrliches Wetter ist! Was ist, willst du immer noch mitkommen?“

Es folgte ein herausforderndes Lächeln, und damit war das Thema, wenigstens vorerst, für ihn erledigt. Tatsumi fragte nicht weiter nach, was zwischen Mum und mir geschehen war, und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Wir gingen einfach nach drinnen und ich habe, in eine warme Decke eingewickelt, Tee getrunken, während er seine Sachen zusammengepackt hat. Die folgende Nacht hat er bei seinem Kumpel verbracht, ich in meiner Wohnung. Am nächsten Morgen haben wir Tatsumis Auto mit Gepäck vollgestopft und dann die Stadt, meine Heimat, mit all ihren tausend Erinnerungen für immer verlassen.
 

Und damit komme ich zum Ende meiner Erzählung, meines Berichtes… meiner Rechtfertigung. Ich habe ihnen alles geschrieben, von vorne bis hinten, und zwar so ehrlich, wie sie es sich vielleicht gar nicht gewünscht haben. Wenn ich sie irgendwo beleidigt oder gar verletzt habe, tut es mir leid. Wenn ich sie zu Tode gelangweilt habe, dann nicht, denn dies hier war im Endeffekt ja ihre Idee, da müssen Sie auch mit den Konsequenzen leben. Nein, im Ernst: Seien Sie mir nicht böse. Das hier ist ein Friedensangebot von mir, weil ich möchte, dass Sie mich und vor allem auch Tatsumi besser verstehen können. Entschuldigen, dass es derart ausführlich geworden ist.

Wissen Sie, wir leben jetzt seit fast drei Jahren zusammen. Aus einer verrückten Idee heraus haben wir beschlossen, es mit einem Journalismus-Studium zu versuchen, und bislang läuft es auch so einigermaßen. Tatsumi macht nebenher immer noch Musik, ich schreibe und zeichne, und auch wenn wir noch auf unsere große Entdeckung warten, wir kommen ganz gut über die Runden. Ich kann mir schon denken, dass wir in Ihren Augen Versager sind, aber wissen Sie was? Wir sind glücklich. Wir haben jedes mal einen Heidenspaß dabei, in Tatsumis Angeberkarre vor der Uni vorzufahren und die neidischen Blicke der Kommilitonen zu genießen. Als ob wir weiß Gott wie viel Geld hätten. Haben wir nicht, aber ich denke, solange wir recht bequem durchkommen, ist es in Ordnung.

Das Geld vom Schönheitswettbewerb haben wir im Endeffekt in unsere Wohnung und das Studium investiert. Es hat mir wehgetan, aber ich denke, dass wir es damit ganz gut angelegt haben. Ich frage mich oft, ob ich Mum nicht doch hätte retten können, wenn ich nur irgendetwas anders gemacht hätte. Auch wenn ich mir hundertmal sage, dass es nicht meine Schuld ist, wie sich die Dinge im Endeffekt entwickelt haben, das schlechte Gewissen lässt sich niemals ganz vertreiben. Trotzdem, ich habe jetzt mein eigenes Leben, und darum war das, was ich getan habe, nicht umsonst. Ich konnte Mum nicht helfen, aber ich konnte mir selbst helfen. Vielleicht wird sie irgendwann wieder auftauchen, doch unsere gemeinsame Wohnung gibt es jetzt nicht mehr. Ich bin mir sicher, sie ist nicht mehr im Land, sonst hätte die Polizei sie ja irgendwie ausgegriffen. Ich wünsche ihr, dass sie es ans Meer geschafft hat und dass sie glücklich ist, auf ihre Weise. Trotz allem wird sie immer einen Platz in meinem Herzen haben, genauso wie die anderen Menschen, die mir auf meinem Weg geholfen und mich begleitet haben. Wie Geenia, wie Mi Cha, und natürlich wie Mike.

Einmal habe ich ihn wiedergesehen, als ich mit Tatsumi in der Stadt unterwegs war. Er hat mich nicht erkannt. Ich musste lächeln, als mein Chaosengel an mir vorbeigeschwebt ist, den Wind in den zerzausten Haaren, obwohl es ganz tief in meiner Brust auch ein bisschen wehtat. Nicht, weil binnen einer einzigen Sekunde unzählige Erinnerungen durch meinen Kopf rasten – Mike, wie er nur für mich strahlte, Mike, wie er mir in dieser einen schicksalhaften Nacht der Vorentscheidung zur Rettung eilte, Mike, wie er im Regen vor meinem Haus stand und wartete, und dazwischen immer wieder Mike und ich auf dem Rad, wie wir dem perfekten Sommerhimmel entgegengeflogen sind.

Was mich traurig machte, war der Gedanke, dass ich ihn belogen hatte. Ich hatte ihm gesagt, dass ich ihn nicht liebte, aber das stimmte nicht. Ich, Jesse Maguire, war es, der Mike nicht liebte. Jessica würde für immer nur ihm gehören. Ich denke oft darüber nach, ob ich ihm nicht auch einen Brief schreiben und ihm alles erklären soll. Jetzt, wo ich es bei Ihnen geschafft habe, erscheint es mir nicht mehr als ein Ding der Unmöglichkeit. Vielleicht werde ich mich ja, nachdem ich diese Zeilen beendet habe, gleich an die nächste Aufgabe machen. Aber erst einmal will ich das hier richtig abschließen.

Wissen Sie, ich habe Tatsumi inzwischen alles erzählt, und ich merke, dass es ihn traurig gemacht hat. Nicht nur meinetwegen, da bin ich mir sicher. Auch wenn er natürlich versucht, sich nichts anmerken zu lassen, ich bin mir sicher, dass er auf eine Weise eifersüchtig auf die Beziehung ist, die ich zu meiner Mutter gehabt hatte. Und das Verrückte ist: Ich kann ihn verstehen. Inzwischen kann ich es. Ich glaube auch nicht, dass er Sie wirklich hasst, das hat er nie getan. Er ist weggelaufen, weil er selbst über sein Leben bestimmen wollte, das ist alles. Ich bitte Sie, versuchen Sie, dafür wenigstens ein bisschen Verständnis zu haben. Tatsumi hat so viel für mich getan, das habe ich jetzt begriffen: Er hat mir ein Selbstbewusstsein gegeben, das ich ohne ihn niemals gehabt hätte. Er hat mir bei dem Wettbewerb geholfen, und er hat mir eine zweite Chance gegeben. Manchmal treibt er mich in den Wahnsinn, aber ich würde ihn um nichts in der Welt wieder hergeben.

Darum, ihm zuliebe, möchte ich Sie bitten: Geben Sie sich einen Ruck und melden Sie sich bei uns. Sie sind doch seine Eltern, und vielleicht bin ich ja auch ich gar nicht mehr so schlimm, wenn Sie mich mal ein wenig besser kennengelernt haben. Unsere Adresse kennen Sie, und ich werde Ihnen jetzt noch unsere Telefonnummer schreiben, falls Sie Tatsumi mit einem Besuch, einem Brief oder einem Anruf überraschen wollen. Wenn diese Zeilen hier dazu beitragen, dass Sie unsere Entscheidung… unsere Flucht nur ein kleines bisschen verstehen können, war es all die Mühe, die Zeit und die Heimlichtuerei vor Tatsu wert.

Falls Sie das hier wirklich noch lesen: Danke, dass Sie so lange durchgehalten haben. In einigen Punkten, die Sie offenbar um den Schlaf gebracht haben, kann ich Sie ja auch beruhigen: Keiner von uns ist kriminell geworden, wenn man mal davon absieht, dass meine Teilnahme am Schönheitswettbewerb so insgesamt als Betrug durchgehen könnte. Sie müssen also nicht die Polizei rufen, wie Sie das in ihrem letzten Schreiben angedeutet haben – das Geld, das wir auf, wie Sie es nennen, dubiose Art und Weise aufgetrieben haben, stammt weder aus einem Diebstahl noch aus einem Banküberfall. Darum bitte ich sie inständig, mich nicht ans Messer zu liefern, auch wenn Sie jetzt den passenden Beweis dazu Schwarz auf Weiß in den Händen halten. Aber ich habe mich, nach langem Nachdenken, dazu entschlossen, in diesem Punkt Vertrauen zu Ihnen zu haben. Weil ich denke, dass ich mir dieses Geld, trotz allem, wirklich verdient habe. Vielleicht sehen Sie das ja inzwischen genauso?

Ich weiß nicht, was aus Tatsumi geworden wäre, wenn ich ihm an diesem Nachmittag im Regen nicht vor Ihrem Haus aufgelauert hätte. Ich bin mir allerdings sicher, dass sowohl Sie als auch ich ihn niemals wieder gesehen hätten. Nun, und das kann ich Ihnen versichern, möchte ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Natürlich weiß ich nicht, was nun aus Ihrem Konzern werden wird. Aber wenn es Ihnen um mehr geht als das, und wenn Sie mir zustimmen, dass es größere Katastrophen gibt als die, dass Ihr Adoptivsohn seinen Posten als Ihr Thronfolger aufgegeben hat, um zusammen mit mir ein Leben als mittelmäßiger Schreiberling zu führen, dann könnte, und daran glaube ich ganz fest, am Ende doch noch alles gut werden. Geben Sie sich einen Ruck, bitte. Springen Sie über Ihren Schatten, seien Sie Tatsumi nicht mehr böse, und wenn Sie ganz mutig sind, lernen Sie mich kennen.

Trauen Sie sich?
 

In der Hoffnung, bald nicht von Ihrem Anwalt, sondern von Ihnen persönlich zu hören, und mit ehrlich freundlichen Grüßen,
 

Ihr Jesse Maguire



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2010-10-30T22:57:41+00:00 31.10.2010 00:57
Also dieser Tanz hört sich wirklich nach Quälerei an. Und nach verdammt harter Arbeit im Vorfeld und ich bin nur froh, dass die Jury das auch zu würdigen wusste!

Es ist ein sehr schönes Ende für eine tolle Geschichte! <3

Lg
KaNi


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