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Who do you think you are, huh?

Die Reise der Aeria Crinis
von

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Es war zu heiß.

Die Sonne brannte erbarmungslos auf die Stadt hinunter und am wolkenlosen blauen Himmel war nichts, um sie davon abzuhalten.

Der Asphalt glühte, die Luft flirrte und nur hier und da sah man einige spärlich bekleidete Gestalten von einem Schatten zum anderen, vom einen kilometerhohen Hochhaus zum anderen flitzen. Man nannte sie Wolkenkratzer. Viele Leute taten das. Doch die junge Frau, die sich an diesem Spätnachmittag mit gesenktem Kopf durch die Straßen schleppte, wusste, dass das eine Lüge war.

Kein Gebäude konnte so hoch sein, dass es die Wolken kratzen konnte, das war ganz einfach unmöglich. Ganz zu schweigen davon, dass man Wolken nicht kratzen konnte, weil sie eine nebelartige Konsistenz hatten. Oder davon, wie man bei einem Himmel wie diesem, wo keine einzige Wolke weit und breit zu sehen war, überhaupt eine kratzen wollte.

Wolkenkratzer waren eine Lüge. Genau wie all diese Leute hier in dieser verlogenen Stadt voller Wolkenkratzer. Sie behaupteten strahlend und schweißglänzend, die Hitze mache ihnen nichts aus, und man solle den Sommer genießen, solange er noch da war. Aber sobald man den Kopf abwandte, krochen sie ächzend und schwer keuchend weiter, als hätten sie Fieber. Hohes Fieber.

Wenn man so darüber nachdachte, hatte die ganze Stadt Fieber. Sie schwitzte und stöhnte und wartete auf den Herbst, der einfach nicht kommen wollte.

Es war zu heiß.

Die junge Frau, die gerade noch über die verlogenen Wolkenkratzer nachgedacht hatte, ließ sich in der Nähe der Schule auf eine rot angestrichene Holzbank fallen. Zum Glück für sie hatte diese bisher im Schatten eines Baumes gestanden, und Holz war sowieso ein ganz schlechter Wärmeleiter. Heiß war sie trotzdem, sodass die junge Frau hastig ihre nackten Arme von der Bank hob und sie stattdessen in ihren Schoß legte. Dann entspannte sie sich und schloss die Augen.

Die junge Frau war ein etwas merkwürdiger Anblick. Es war nicht ihre gebräunte Haut, es war nicht ihre etwas schiefe Nase und es waren auch nicht ihre vollen Lippen. Es waren ihre Haare.

Ihre Haare waren streng zurückgekämmt und an ihrem Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr bis zur Taille reichte.

Und sie waren rot. Nicht hellrot oder rotorange wie ein loderndes Feuer, sondern eher tiefdunkelrot, wie ein verfärbtes Blatt im Spätherbst. Dann waren da noch zwei helltürkisblaue Strähnen in ihren dunkelroten Haaren. Und hätte die junge Frau ihre Augen geöffnet, hätte man gesehen, dass ihr rechtes Auge wie die Haarsträhnen helltürkisblau war, ihr linkes Auge aber hellgrün.

Aeria Crinis war wirklich ein etwas merkwürdiger Anblick.

Ich muss wohl einen etwas merkwürdigen Anblick bieten, dachte Aeria Crinis. Das wusste sie. Und sie wusste auch, woran das lag. Es waren ihre Haare und ihre Augen.

Aber Aeria hatte nicht vor, auch nur das Geringste dagegen zu unternehmen. Zumindest nicht gegen ihre Haare. Die hatte Aeria sich selbst gefärbt, kurz nach dem Tod ihrer Eltern, mit einem Spezialfärbemittel, das frühestens in ein paar Jahren wieder herausgehen würde.

Sie hatte dunkelrot gewählt, weil es immer schon ihre Lieblingsfarbe –und die ihrer Mutter- gewesen war. Und helltürkisblau, weil sie fand, dass es gut zu dem Dunkelrot passte.

Offenbar fand das aber niemand außer ihr. Die Reaktionen hatten von überrascht und vorsichtig „Oh, hallo Aeria, das ist aber eine… interessante Haarfarbe, die du da hast“ bis zu direkt und ziemlich beleidigend „Hey Aeria, tut mir leid, dass ich dir das so ins Gesicht sagen muss, aber deine Haare sehen echt total bescheuert aus!“ gereicht.

Doch egal, was die anderen sagten: Aeria mochte ihre Haare so, wie sie waren, und sie war ja wohl diejenige, die darüber zu entscheiden hatte.

Gegen ihre verschiedenfarbigen Augen allerdings hätte Aeria nur zu gerne etwas unternommen. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte ihr Vater immer gesagt: „Du bist etwas ganz Besonderes“ und ihre Mutter hatte gesagt: „Es ist ein Geschenk des Schicksals.“

War es etwas Besonderes? Und ob. War es ein Geschenk? Nicht wirklich. Aeria konnte sich bessere Geschenke vorstellen als Ausgrenzung und Beleidigungen. „Mutantin“ und „behindertes Kind“ waren noch die harmlosesten gewesen. Natürlich, sie hätte Kontaktlinsen oder so etwas benutzen können. Aber bei Kontaktlinsen spielten Aerias Augen verrückt, sie röteten sich und tränten und taten noch empfindlicher, als sie ohnehin schon waren.

Aeria sah auf und schaute hinüber zu der Schule, in die sie auch vor gar nicht mal so langer Zeit gegangen war. Wie damals war sie immer noch ein grauer, seelenloser Betonklotz, ein paar Fenster bunt bemalt im verzweifelten Versuch, ihm etwas Leben einzuhauchen. Vor der Schule befand sich ein riesiger Schulhof, viel zu groß, so dass die drei Jugendlichen, die vor der Schule standen, eher verloren als cool wirkten. Verloren in einem Meer aus Asphalt.

Aeria sah einen großen Wal aus dem Asphalt auftauchen. Er stieß eine hohe Fontäne aus seinem Atemloch aus und zwinkerte Aeria zu. Sie winkte zaghaft zurück, der Wal schlug zum Abschied eine seiner Brustflossen auf den Asphalt, dass es nur so spritzte, und tauchte wieder ab.

Aeria blinzelte. Auch das war einer der Gründe, warum sie merkwürdig war: Sie sah manchmal Dinge, die gar nicht da waren oder die niemand außer ihr sehen konnte.

Zum Beispiel sah sie manchmal überfahrene Drachen auf der Straße, oder riesige durchsichtige Goldfische, die am Himmel schwebten, oder Wale, wo gar keine sein sollten. Diesen hier kannte sie bereits aus ihrer Schulzeit, er war immer der Einzige gewesen, der sie verstanden hatte. Aeria ließ ihren Blick weiter über den Schulhof schweifen, hinüber zu dem Basketballkorb.

Dort spielten ein paar Kinder, ihren unerschütterlichen Bewegungsdrang ausübend, in Ermangelung eines Balls mit einer herumliegenden Getränkedose Fußball. Irgendjemandem war wohl der Mülleimer, der genau fünf Meter rechts neben dem Basketballkorb stand, nicht aufgefallen.

An jedem anderen Tag wäre Aeria aufgestanden und hätte den Müll in den Mülleimer geworfen, dorthin, wo er hingehörte. Einfach nur, um etwas zu tun zu haben.

Aber nicht heute, wo es viel zu heiß war, wo jede Bewegung eine zu viel war.

Aeria starrte wieder auf den Boden.

Und dann, ganz plötzlich, waren sie da. Aeria erstarrte. Normalerweise machten Menschen Geräusche, wenn sie sich näherten. Selbst wenn sie sich alle Mühe gaben, ihre Schrittgeräusche zu verbergen, verrieten sie sich durch ihr Atmen, Husten oder Gelenkeknacken. Aber die Person mit den schwarzen Lederstiefeln, die jetzt genau in ihrem Blickfeld standen, hatte kein Geräusch gemacht. Kein einziges.

Aus reiner Reflexhandlung heraus wollte Aeria sofort nach oben schauen, um die Person zu sehen.

Doch gerade noch rechtzeitig hielt sie sich davon ab und hielt den Blick weiterhin stur auf die schwarzen Lederstiefel gerichtet.

„Du bist Aeria Crinis?“, fragte eine Stimme, die Aeria nicht kannte und zunächst noch nicht einmal als männlich oder weiblich einordnen konnte. Die schwarzen Lederstiefel begannen, auf und ab zu wippen.

Aeria schwieg. Das war der Trick: nichts sagen und einfach nicht ansehen, sondern an den Boden oder die Decke starren und sie ignorieren. Irgendwann gaben selbst die Hartnäckigsten auf.

Die schwarzen Lederstiefel wollten Aeria jedoch scheinbar gar nicht erst zu Wort kommen lassen.

„Es war gar nicht mal so schwer, dich zu finden, wie ich mir das vorgestellt hatte.“ Diesmal war Aeria sich sehr sicher, dass es eine weibliche Stimme war. „Ich musste exakt drei Leute in dieser Stadt fragen, um genau zu wissen, wie du aussiehst, wann du geboren wurdest, wo du wohnst, wo du dich zu dieser Tageszeit aufhalten könntest, was du am liebsten isst, wie deine familiäre Situation aussieht, welchen Beschäftigungen du am liebsten nachgehst und was dein Sternzeichen ist.“ Die schwarzen Lederstiefel tänzelten kurz nach rechts und machten dann einen großen Schritt nach links. Jetzt standen sie wieder genau an ihrem Ausgangspunkt.

Aeria versuchte, die Stimme zu ignorieren. Es funktionierte nicht.

„Na gut, das mit dem Sternzeichen war übertrieben. Aber da ich ja dein Geburtsdatum kenne, kann ich es mir auch einfach so herleiten.“ Eine kurze Pause entstand, in der Aeria die Stille genoss. „Du bist Zwilling, stimmt's?“

Aeria wusste es nicht genau, aber es konnte so ungefähr hinkommen. Sie machte sich nicht viel aus solchen Dingen. Wie sollten die Sterne denn wissen, welches Schicksal ihr bevorstand? Das war nur eine weitere große Lüge.

„Egal. Schließlich bin ich nicht so weit gereist, um mit dir über dein Sternzeichen zu reden.“

Reden? Wer redete denn hier bitte? Die Einzige, die redete, war ja wohl die Lederstiefel-Besitzerin. Aeria hätte ihr das gerne ins Gesicht gesagt, aber dann wäre ja ihr vorgetäuschtes Ignorieren aufgeflogen.

Die schwarzen Lederstiefel begannen jetzt, vor ihr auf und ab zu gehen.

„Ach ja, alle Leute, mit denen ich über dich gesprochen habe, haben mir gesagt, du hättest sie nicht mehr alle und ich sollte mich lieber von dir fernhalten. Hier scheint dich niemand wirklich zu mögen, oder?“ Die schwarzen Lederstiefel hielten kurz in der Bewegung inne und Aeria konnte praktisch spüren, wie ihre Besitzerin gerade mitleidig auf sie herabsah.

Aeria mochte es nicht, bemitleidet zu werden. Es machte sie so klein und hilfsbedürftig.

„Um genau zu sein, weiß ich alles über dich. Auch die eher unangenehmen Sachen. Und ich würde dir raten, mich besser nicht zu ignorieren. Ich hasse es, ignoriert zu werden.“

Na und? Aeria hasste es auch, von einer ihr völlig unbekannten Person, die man nicht ignorieren konnte, ein Ohr abgekaut zu bekommen.

„Fangen wir an: Du bist mehr oder weniger arbeitslos, ergo bist du fast vollkommen pleite.“ Das stimmte. Und ja, es war ziemlich unangenehm.

„Du hast keine Freunde und bist bei jedem in dieser Stadt entweder sehr unbeliebt oder als geistig verwirrt abgestempelt.“

Das saß. Aeria zuckte krampfhaft mit ihrem rechten Auge. Ignorieren... einfach ignorieren...

„Deine Eltern beziehungsweise jeder deiner Verwandten ist entweder tot oder zu weit weg, um dir beizustehen und dich zu unterstützen.“ Aeria versuchte immer noch verzweifelt, die Stimme der Person zu ignorieren. Es war zwecklos. Eine einzelne Träne rann ihre Wange hinunter.

„Willst du so wirklich deinen Lebensabend verbringen, Aeria Crinis?“

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es reichte. Aeria war es jetzt egal, was diese andere Person von ihr dachte, sie wollte nur noch, dass sie endlich ihren Mund hielt. Sie sprang auf. „Was denkst du eigentlich, wer du bist?“, fauchte sie, kochend vor Wut. Dann verstummte sie.

Die Person vor ihr sah wirklich derart seltsam aus, dass man einfach nicht anders konnte, als sie anzustarren. Sie war nicht schön, oh nein, sie war noch nicht einmal hübsch, aber als hässlich konnte man sie auch nicht bezeichnen.

Es war eine junge Frau, vielleicht ungefähr so alt wie Aeria, aber einige Zentimeter kleiner. Da waren zuerst die schwarzen Lederstiefel, die Aeria schon kannte. Darunter trug die junge Frau eine Art Leggins mit schwarz-weißen Längsstreifen. Darüber kurze Jeansshorts. Ihr Oberteil, ein enger Pullover, war schwarz, wurde aber größtenteils von einem viel zu langen dunkelrot-hellblau gestreiften Wollschal verdeckt. Diese Kleidungsstücke wirkten wie auf die Schnelle zusammengewürfelt, als hätte jemand nicht viel Zeit gehabt, und alles in allem sehr seltsam.

Dann erst sah Aeria den Umhang.

Ja, bei einer gefühlten Temperatur von fünfzig Grad trug diese verrückte Frau einen Umhang. Er war tiefschwarz, wenn auch etwas ausgebleicht, gerade so lang, dass er dramatisch im Wind flattern konnte, aber doch so kurz, dass er nicht hinter ihr auf dem Boden durch den Dreck schleifte.

Und als Letztes war da ihr Gesicht.

Die Haut war unnatürlich blass, erst recht für jemanden, der ja schon mindestens mehrere Stunden, wenn nicht sogar Tage in dieser Hitze unterwegs war. Niemand hier hatte so blasse Haut.

Das Gesicht war oval, doch das Kinn war ziemlich spitz. Es wurde von hellblonden Haaren umrahmt, die man fast schon gelb nennen konnte und auf der rechten Seite eine schwarze Strähne aufwiesen.

Die Haare wurden von einem breiten hellblauen Stirnband unter Kontrolle gehalten, dennoch fielen ein paar Strähnen bis in das Gesicht und verdeckten das linke Auge halb.

Die Nase war spitz, daneben lagen die leicht schräg stehenden und irgendwie dreieckig wirkenden Augen. Diese wurden von nach oben geschwungenen Augenbrauen, ebenso gelb wie die Haare, und sehr kurzen Wimpern umrahmt. Das alles war schon ziemlich ungewöhnlich und seltsam, aber dann sah Aeria in ihre Augen – und blinzelte ungläubig.

Aeria selbst mochte ja schon merkwürdig wirken mit ihren verschiedenfarbigen Augen, aber diese Augen übertrafen wirklich alles, was Aeria je gesehen hatte.

Die Pupillen waren extrem klein, selbst für das helle Licht, das hier überall herrschte. Das rechte Auge strahlte in einem tiefen, satten Himmelblau, während das linke bernsteingelb schimmerte.

Und gerade, als Aeria dachte, dass das ja wohl das Allerseltsamste war, das sie jemals gesehen hatte, verzog die junge Frau ihre schmalen Lippen zu einem Lächeln und entblößte eine ganze Reihe scharfer, spitzer, raubtierartiger Zähne.

Das… ist gruselig. Sehr gruselig sogar. Wer ist das? Was ist das überhaupt? Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein? Ja, das ist es. Schließlich ist es unmöglich, so seltsam auszusehen. Diese ganze seltsame Kreatur ist nur ein weiteres Produkt meiner Fantasie.

„Was ich denke, wer ich bin?“, wiederholte die Kreatur nachdenklich, dann sah sie Aeria spitzbübisch an. „Das ist hier nicht die Frage. Die Frage ist: Was denkst du, wer du bist?“

Jetzt war Aeria komplett verwirrt. Was sie dachte, wer sie sei? Nun, sie war Aeria Crinis, oder etwa nicht?

„Du bist nur ein weiteres Produkt meiner Fantasie, richtig?“, fragte sie und trug auf diese Weise zum ersten Mal wirklich zum Gespräch bei.

„Ja… und nein“, antwortete die Kreatur und hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen.

„Das musst du mir jetzt näher erklären.“

„Na schön. Also: Ich bin durchaus wegen deiner Fantasie hier, aber man kann nicht behaupten, dass ich ein Produkt deiner Fantasie wäre. Oder können Halluzinationen so etwas?“

Plötzlich sprang die junge Frau und rammte Aeria ihren Zeigefinger genau in die Mitte der Brust. Aeria schrie auf, sowohl vor Schreck als auch aus Schmerzen. „Au! Nein, ich vermute nicht. Aber was bist du dann, wenn du keine Halluzination bist?“

„Eine gute Frage. Aber zuerst hätte ich da eine Frage an dich.“

Aeria presste noch immer die Hand gegen ihr Brustbein. Nach der Heftigkeit der Schmerzen zu urteilen, musste es angebrochen sein. Mindestens.

„Aaargh. Ja, schön, stell deine Frage.“

„Du bist todkrank, stimmt's?“

Aeria erstarrte. Nur wenn man genau hinsah, konnte man ihre Finger zittern sehen.

„Ja.“ Ihre Stimme klang hölzern, nicht nach ihr selbst.

„Eine seltsame Krankheit hast du da, nicht wahr?“, fragte die junge Frau, das Gesicht abgewandt. „Nicht die geringsten körperlichen Symptome, aber du wirst im Laufe der Zeit immer schwächer werden. Nicht körperlich, oh nein. Das wäre heilbar. Es ist dein Gehirn, an dem das Virus interessiert ist. Es wird dein Gehirn lähmen, langsam, aber sicher. Kurz vor deinem Tod würdest du noch dazu in der Lage sein, einen Marathon zu laufen, aber du könntest mir nicht mehr sagen, wie du heißt. Die Ärzte haben dir gesagt, es gäbe kein Gegenmittel, nicht wahr?“

„Ja.“ Aeria schluckte schwer, um den Kloß in ihrem Hals wegzubekommen. „Ja, das haben sie.“

„Und du hast ihnen vertraut?“, fragte die andere. Ihre Stimme klang irgendwie lauernd, gefährlich.

Aeria wusste keine Antwort.

Nach einer Weile drehte sich die junge Frau urplötzlich wieder zu Aeria um, den Mund zu einem Grinsen verzogen. Die spitzen Zähne jagten Aeria einen kalten Schauer den Rücken hinunter.

„Was würdest du sagen, wenn ich dir sage, dass es ein Gegenmittel gibt, Aeria Crinis?“

Für einen Moment lang keimte so etwas wie Hoffnung in Aeria auf, dann jedoch schüttelte sie sie ab und ließ sich entmutigt zurück auf die Bank fallen. „Das ist unmöglich. Es gibt kein Gegenmittel.“

„Und was, wenn ich um mein Leben mit dir wetten würde, dass es eins gibt?“

Aeria überlegte kurz. „Dann würde ich sagen, dass dir dein Leben sehr wenig wert ist.“

„Hm. Und was, wenn ich dir sage, dass es nicht nur Avera gibt?“

„Avera? Was bitte ist das?“

Die junge Frau hob amüsiert eine Augenbraue. Die rechte. Jetzt erst sah Aeria die helle Narbe, die die Augenbraue in zwei Hälften teilte.

„Was Avera ist? Nun, es ist die Welt, in der du lebst. Deine Dimension. Deine Version des Universums.“

„Und du willst mir jetzt sagen -falls es überhaupt so etwas wie Dimensionen gibt- dass unsere nicht die Einzige ist??“

„Ganz genau.“ Die junge Frau schien zufrieden.

„Du bist ja vollkommen verrückt!“, platzte Aeria heraus.

„Danke“, grinste die andere. „Wie auch immer. Ich hörte, du siehst manchmal Dinge, die gar nicht da sind? Die niemand außer dir sehen kann?“

Aeria dachte an den Wal im Asphalt.

„Ja“, sagte sie. „Aber es sind nur Halluzinationen.“ „Stimmt nicht. Es sind keine Halluzinationen. Sie sind real. Und wie sie das sind! Nur eben nicht hier.“

„Du… du meinst, sie existieren in den anderen Dimensionen…?“, fragte Aeria stotternd. Ihr hatte sich soeben eine ganz neue Perspektive eröffnet. Eine, in der sie nicht merkwürdig war.

"Genau das meine ich.“ Die junge Frau schien zufrieden.

„Und… warum bin ich dann die Einzige, die sie sehen kann?“

„Weil du etwas Besonderes bist, Aeria Crinis.“

Aeria runzelte die Stirn und wollte gerade eine scharfe Bemerkung machen, als ihr etwas einfiel.

„Gibt… gibt es in den anderen Dimensionen Wale?“, wollte sie wissen. Sie hatte keine Ahnung, warum, aber Wale sah sie besonders oft und an den unmöglichsten Orten.

Den ersten Wal hatte sie auf hoher See getroffen, auf einem kleinen Fischerboot. Kurz zuvor hatte ein Gewitter gewütet und der Himmel war noch nicht ganz wieder aufgeklart, da hatte sie zufällig nach oben gesehen und ihn bemerkt.

Ein riesiger Wal schwebte in den Wolken, gigantisch und majestätisch. Diesen Augenblick wollte sie nie mehr vergessen, er war einmalig gewesen. Und sooft sie ab diesem Tag nach einem Gewitter im Himmel nach ihm Ausschau hielt, er kam niemals wieder.

Nur die riesigen durchsichtigen Goldfische sah sie. Aber die gab es in den Wolken sowieso in Hülle und Fülle.

„Wale?“, wiederholte die andere nachdenklich. „Ja, die gibt es. Sehr viele sogar, fast schon zu viele für meinen Geschmack. Wie ist es jetzt? Kommst du mit?“

„Mitkommen? Wohin?“

„Auf eine Reise durch die Dimensionen, auf der Suche nach einem Gegenmittel für dich.“ Die junge Frau sah Aeria erwartungsvoll an.

Und diese überlegte. Was war schon dabei? Im schlimmsten Fall gab es diese anderen Dimensionen gar nicht und Aeria würde wieder bis Spätherbst auf ihren Tod warten müssen, aber das hatte sie ja vorher auch schon getan. Selbst der allerschlimmste Fall -der, dass diese seltsame junge Frau eine verrückte Mörderin sein sollte- na und? Dann musste sie wenigstens nicht mehr bis Spätherbst warten. Niemand in dieser Stadt würde Aeria vermissen, wenn sie ging, und auch Aeria hielt hier nichts mehr. Also, was hatte sie schon zu verlieren?

Sie holte tief Luft.

„Ja“, antwortete sie und erhob sich von der Bank. „Ja, ich komme mit dir.“ Und noch während sie es aussprach, wusste sie, dass es richtig war.

„Wunderbar!“, die Miene der anderen hellte sich auf. Auf einmal wirkten ihre spitzen Zähne gar nicht mehr so bedrohlich. "Mir nach!" Sie drehte sich um und rannte die Straße hinunter.

„Moment!" Aeria fiel etwas ein. "Wer bist du eigentlich? Und wo kommst du her? Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe ich das nicht weiß!“, rief sie ihr hinterher und blieb stehen.

Die andere drehte sich um und lächelte auf eine seltsame Weise.

„Ich? Ich bin nur Mira. Und ich komme… nicht von hier.“

„Also gut, Mira“, sagte Aeria. „Lass uns gehen!“

Mira deutete eine Verbeugung an. „Nach dir, Aeria.“

Und so brach das seltsame Paar auf zu einer nicht minder seltsamen Reise.

Auf in eine ungewisse Zukunft.



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