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Federschwingen

von

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Es war seltsam so neben ihm zu sitzen. Zu wissen, was er für sie empfand. Dasselbe für ihn zu empfinden … und es dennoch abzulehnen … Kyrie fühlte sich schrecklich. Und daran lag es wohl, dass sie einfach schweigend nebeneinander saßen. Nichts zueinander sagten. … Aber heute würde er wieder mitkommen sollen. Es … es musste wieder alles wie früher werden … Also … durfte sie sich nicht durch diese negativen Gefühle aufhalten lassen. Sie mussten wieder gemeinsam lachen … Immerhin … war es dieses Glücksgefühl, das sie miteinander verband … Und … er brauchte heute auch nicht frühzeitig nach Hause. Nathan würde nicht kommen, genauso wenig wie Thi … Sie konnten also gemeinsam lernen …

„Bald sind die Abschlussprüfungen für dieses Semester“, brachte Kyrie leise hervor. Um sie herum herrschte Lärm, doch für sie durchbrach sie eine elendige Stille.

Er sah sie an. „Ja, da sollten wir uns dreifach beim Lernen anstrengen.“ Er wirke ernst.

Sie nickte. „Ich hoffe, dass wir durchkommen“, meinte sie, „Dann können wir weitermachen. Unsere Träume verwirklichen.“

Ray betrachtete sie jetzt nachdenklich. Aber er antwortete: „Genau. Wir können … Dinge ändern, die uns nicht gefallen.“

War das jetzt ihre Chance? … Sie hatte weder gestern noch vorgestern etwas dazu beigetragen, ihr Versprechen an Maria einzulösen – vielleicht sollte sie heute damit anfangen. Das würde sie! „Ja“, stimmte sie ihm zu, „Je mehr man besitzt, desto mehr kann man teilen.“

Plötzlich huschte ein Lächeln über seine Lippen. „War das jetzt ein weiser Heiligenspruch?“

„Ein Grundsatz“, erklärte sie, „Auf dem basieren zum Beispiel Spenden.“

Er nickte. „Spenden sind etwas für die Leute, die helfen wollen, aber nicht in der Lage sind, wirklich zu helfen.“ Er schloss die Augen. „Sie sind Entschädigung für Machtlosigkeit.“

Kyrie starrte ihn perplex an. … Er schaffte es aber auch, alles negativ zu sehen! „Dein Vater spendet an die Kirche“, warf sie ruhig ein. … Wobei ihr nicht ganz klar war, ob das jetzt gut oder schlecht enden würde.

„Habe ich mir fast gedacht“, murmelte er, „Diejenigen mit der größten Schuld sind auch diejenigen mit der größten Tasche.“

„Du denkst also, dass er nur spendet, weil er ein schlechtes Gewissen hat?“, fasste Kyrie seine Worte ungläubig zusammen. Wie … wie konnte er nur so darüber denken? Radiant wirkte so ehrlich und aufopferungsvoll! Er wollte wirklich, dass es Maria wieder gut ging – dabei war sich Kyrie sicher! Warum versperrte Ray sich dann vor diesem Wissen?

„Ganz genau.“ Er sah sie an. „Und deshalb will ich mich nicht nur mit Spenden zufrieden geben. Ich will aktiv etwas tun.“

Sie rang mit sich. Wenn er dieses Argument brachte, dann nützte es wahrscheinlich überhaupt nichts, wenn sie ihm verriet, dass er auch in die Medizin hineinzahlte, um den Fortschritt zu garantieren. Er würde Radiant doch nur als faul und feige bezeichnen …

Sie kniff die Lippen zusammen.

„Dir liegt was auf der Zunge“, stellte Ray lächelnd fest, „Raus damit.“

Sie beobachtete ihn nachdenklich. Doch dann nahm sie all ihren Mut zusammen und atmete tief durch. Schnell sagte sie: „Er spendet auch an die Medizin.“

Ray hob seine Augenbrauen. „Und weiter?“

„Er ist daran interessiert, dass es deiner Mutter gut geht!“, klärte sie ihn auf, „Dass man sie …“

Er unterbrach sie barsch: „Fang du mir bitte nicht auch wieder damit an.“

Sie runzelte die Stirn. „Was?“

Er erhob sich und stellte sich vor sie. „Kylie hat das letzte Woche versucht. Liz will damit weitermachen – und jetzt auch noch du?“

Wer war Liz!? „Womit denn?“, wollte Kyrie stirnrunzelnd wissen. Wollten sie ihn alle davon überzeugen, dass Radiant ein netter Mann war? … Wenn das so war, dann hätte Ray einen guten Grund, es zu glauben.

„Meinen Vater schön zu reden“, antwortete er bissig.

Kyrie zuckte bei seinem Wortlaut zusammen – und sofort schlich sich ein entschuldigender Ausdruck auf sein Gesicht. Aber er sagte nichts.

„Tut mir leid …“, murmelte Kyrie, „Es ist nur-…“ Sie stockte. Beinahe hätte sie ihm erzählt, dass seine Mutter ihr das aufgetragen hatte. Dass sie die komplette Geschichte kannte. … Aber das hätte unweigerlich zu Fragen geführt. Wohl auch zu der Frage, weshalb sie erst jetzt damit kam.

Er legte den Kopf schief. „Ja?“

„Er sieht immer so traurig aus“, improvisierte sie, „Ich denke … er mag dich.“

Ray starrte auf den Boden. „Ach ja?“

„Und es quält ihn, dass du ihn hasst“, fuhr sie sanft fort.

„Dann hätte er sich einfach mehr um seine Frau und seine Kinder kümmern sollen“, zischte er leise in den Boden hinein, „Und sich nicht einfach eine neue Familie gründen brauchen!“ Er stampfte auf und wandte sich schnell um. Sie hörte, wie er tief durchatmete.

… Vermutlich sprach er von Kim …

„Wer ist Liz?“, wollte Kyrie wissen.

„Meine Stiefschwester“, antwortete er, „Kims erste Tochter. Und das zweite Kind wird auch bald kommen.“

Kyrie sah ihn überrascht an. „Deshalb ist sie nicht mehr zur Kirche gekommen?“

„Keine Ahnung“, knurrte er, „Mir egal. Themawechsel.“

Kyrie sank in sich zusammen. … Das war dann wohl ihr erster Fehlschlag … Sie sah zu Ray. Wie er dastand, wie er sich zusammenreißen musste … Der Drang, ihn zu umarmen, stieg in ihr auf. Aber … würde ihm das nicht wieder falsche Hoffnungen machen? … Hoffnung, die sie ihm nicht antun wollte … Und sich selbst auch nicht.

Sie wandte sich ab. … Wie sollte sie nur so weitermachen?
 


 

Sie hatten gestern wirklich gelernt. Sie hatten sich kaum ablenken lassen, kaum miteinander gesprochen … Sie waren wirklich in ihrem Zimmer gewesen und hatten sich auf die Bücher konzentriert. Bis zum Abendessen. Sie wusste nicht, ob es der Hunger gewesen war, der Ray und sie hatte schweigen lassen – aber auf alle Fälle hatten sie wieder angefangen, miteinander zu sprechen. Zu lachen. Scherze zu machen.

Sogar so sehr, dass ihre Eltern sie beide seltsam angeschaut hatten. Anders seltsam. … Im Auto – wo sie beinahe schweigend nebeneinander ausgeharrt hatten – hatten sich die beiden noch Sorgen gemacht, dass etwas nicht mit ihnen stimmte. Dann allerdings … hatten sie ein Brettspiel ausgepackt und bis in die Nacht hinein gespielt! Und plötzlich hatte Ray ziemlich viel Kuchen ausgepackt. Seinen Geburtstagskuchen. … Sie hatten ihm alles Gute gewünscht, gesungen … seinen Geburtstag sozusagen nachgefeiert! Und der Kuchen war köstlich gewesen. Auch wenn er von Kylie war. Aber sie hatte ein gutes Händchen.

Sogar ihre Mutter, die eigentlich immer als erste müde wurde, hatte mitgegessen und mitgespielt.

John hatte diesmal allerdings darauf bestanden, dass er Ray nach Hause brachte, weil er um diese Zeit keinen alleine vor die Tür lassen wollte. Schon gar niemanden, der so guten Kuchen mitbrachte. Also waren sie noch eine nächtliche Runde gefahren – und das war das erste Mal, dass Kyrie die riesige Villa begutachten durfte, in der Ray lebte. … Radiant hatte also wirklich die Wahrheit gesagt. Er hatte nicht damit übertrieben, dass er eine riesige Firma leitete. … Man sah, dass er das tat.

Sie ließen Ray aussteigen. Und sie winkten einander zu. Keine Umarmung, kein Gar-Nichts. Nur Winken. Ödes Winken und Lächeln. Und wie sie ihn hatte davonziehen sehen, hatte sie ihn schon vermisst … Wie ihr Herz geschmerzt hatte, als er hinter der Tür verschwunden war …

John hatte danach das Auto gestartet, war davon gefahren … und bevor sie um die Kurve bogen, sah sie im ersten Stock ein Licht angehen und eine Gestalt am Fenster stehen … Und sie hatte weiter gewunken.

Hoffentlich würde es heute so weitergehen wie gestern. Freundlich. Freundschaftlich.

Sie schaute die Straße entlang und machte den braunhaarigen Jungen sofort aus. Er winkte ihr zu, eilte weiter zu ihr.

„Guten Tag“, begrüßte er sie lächelnd.

„Hallo“, grüßte sie zurück und deutete auf den Platz neben sich.

„Ah, ist heute ausnahmsweise einmal Platz neben dir“, stellte er amüsiert fest, wobei er sich neben sie fallen ließ. „Und damit ist die Schneesaison wohl auch schon vorbei.“

Er sprach wohl von der Sonne, die bereits wieder die Welt wärmte. Sie brauchten keinen Schal, keine Handschuhe und keine Mütze mehr. In der Nördlichen gab es immer nur ein bis zwei Wochen, in denen man diese Kleidungsstücke benötigte. Danach brach schon wieder Frühling von der Stange. Und wenn der vorbei war, kam der lange, schöne Sommer.

„Ja“, stimmte sie zu, „Vermisst du den Schnee?“

„Ich habe mich eigentlich an das Grün mittlerweile gewöhnt“, erklärte er lächelnd, „Es … gefällt mir sogar richtig gut.“

„Aber hier wird man leider nur sehr selten Schneemänner bauen können“, bemerkte Kyrie.

„Das stimmt wohl“, meinte er, „Aber das bringt mich auf eine Idee: Im nächsten Winter bauen wir zusammen einen Schneemann!“

Kyrie schaute ihn mit großen Augen an. „Das wäre bestimmt toll!“ Aber ihr wurde schnell etwas klar. „Falls es dafür genug Schnee gibt.“

„Ich kann Kylie sonst welchen importieren lassen“, scherzte er, bevor er zu lachen anfing.

Sie stimmte in das Lachen mit ein. „Viel Spaß dabei.“

„Es wird schon schneien“, vermutete er, „Immerhin … hat es heuer kaum geschneit! Das wäre sonst ja unfair.“

„Das Leben ist nicht immer fair“, ermahnte Kyrie ihn, „Haben wir gerade heute gelernt.“

„Wir hatten das schon letzte Woche durch“, erklärte er zwinkernd.

Und sie lachten weiter.

… Kyrie bedauerte, dass sie heute so früh schon getrennte Wege gehen mussten. Immerhin … wollte sie die Zeit mit ihm nutzen.
 


 

Als Nathan in Kyries Zimmer erschien, schreckte diese von ihrem Bett auf.

„Du bist du schon hier?“, rief sie überrascht. Dann wanderte ihr Blick zur Uhr.

„Ich denke, du hast verschlafen“, stellte Nathan belustigt fest, „Wir müssen mit unserem Training wohl doch fortfahren“, verkündete er, „Sonst wirst du ja noch zum Müßiggänger!“

Kyrie sah ihn an. „Darüber … wollte ich mit dir reden …“ Plötzlich wurde sie wieder so ernst. Eine Mischung aus Ernst und Traurigkeit überkam sie. Was sie wohl … bedrückte?

„Was ist denn los?“, fragte er, wobei er seine Flügel einzog. Er ließ sich auf den Schreibtischsessel fallen und rollte damit vor Kyrie, sodass ihr ins Gesicht sehen konnte.

„Ich … denke, wir können das Schwerttraining sein lassen …“, murmelte sie, wobei sie auf den Boden blickte.

„Du … willst das einfach lassen?“, prüfte er nach, „Warum? Fühlst du dich sicher?“

Eine lange Pause erstreckte sich zwischen ihnen.

Nathan wartete einfach geduldig, bis sie zu einer Antwort ansetzte. Warum entschied sie sich plötzlich so? Sie brauchte das Training doch! Wie sollte sie sich sonst jemals wehren können? Natürlich könnte sie ihn auch einfach immer rufen, um in den Himmel zu gehen, aber … Er war sich einfach nicht sicher, ob er wirklich ewig Zeit für sie haben würde. Diese Woche hatte ihm aufgezeigt, wie viel er eigentlich zu tun hatte. Aber für seine Freunde musste man sich immer Zeit nehmen!

„Ja“, murmelte sie, „Es … wird schon gehen …“ Sie klang alles andere als sicher.

Er fasste an ihren Kopf und legte seine Hand sanft darauf ab. „Du Dummerchen“, erklärte er sanft, „Du störst mich nicht. Das weißt du doch, oder?“

Plötzlich blickte sie auf. Betrübtheit stand in ihrem Blick. „Ich will nicht mit dem Schwert kämpfen“, brachte sie leise heraus, „Ich will gar nicht kämpfen …“

„Aber … wenn die Halbengelhasser …“, begann er.

Als sie wieder wegschaute, sah er etwas ein: Er zwang sie wirklich in etwas hinein, was sie nicht war. Sie war keine große Kriegerin. Sie wollte kein Schwert. Genauso wenig wie er. Es war auch für ihn eine Möglichkeit, wieder zu seinem waffenlosen Leben zurückzukehren. Dann würde sie ihn einfach jedes Mal rufen, wenn sie zur Erde wollte. Er würde schon kommen, sobald er Zeit hatte. Und genau das schlug er ihr jetzt vor: „Okay. Sobald du in den Himmel willst, sendest du einen Ruf aus“, meinte er lächelnd, „Dann hole ich dich und wir können zusammen die Zeit totschlagen.“

Sie schaute ihn mit großen Augen an. Dankbarkeit war auf ihrem Gesicht zu lesen. „Danke …“, murmelte sie danach, „Danke, dass du mich verstehst …“ Sie lächelte breit – und plötzlich erhob sie sich und umarmte ihn. Er legte seine Arme um sie. „Aber du darfst mich nicht erdrücken!“

Sie ließ ihn los. „Gehen … wir dann in den Himmel? Jetzt?“

Nathan stand auf. „Na dann, los!“
 

Während des Weges hatte er sich bei Kyrie informiert, was sie in der Woche, in der sie sich nicht gesehen hatten, gemacht hatte. Sie war also mit Lernen beschäftigt gewesen, wie sie ihm erklärte. Bald wären die Abschlussprüfungen.

„Aber ich denke, ich werde keine Mittwochstreffen ausfallen lassen“, beendete Kyrie ihre Rede lächelnd. Sie war plötzlich so gut drauf. Scheinbar war ihr wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, als er sie von den Trainingseinheiten erlöst hatte. … Hatte es ihr wirklich immer so weh getan? … Oder hatte sie diese Woche einfach so genossen wie er selbst? Nur ohne harte Büroarbeit.

„Gut, ich habe mir auch für jeden Mittwoch frei genommen“, verkündete er feierlich. Dann deutete er auf die drei Gestalten, die vorne bei einer Treppe saßen, „Und die da drüben scheinbar auch.“ … Fünf. Es waren endlich einmal wieder alle zusammen! Das war schön!

„Gruppenkuscheln!“, rief Nathan, als er zu seinen Freunden flog und die Arme ausbreitete.

Liana kam ihm allerdings zuvor: „Kyrie!“, schrie sie überglücklich, ignorierte ihn glatt und umarmte das schwarzhaarige Mädchen.

„Liana, du bist auch wieder da!“, rief diese erfreut aus.

„Ja!“, kreischte die andere zurück, „Das bin ich!“

„Uh, da freuen sich aber zwei“, bemerkte Thierry amüsiert. Er lächelte. Aber es war ein seltsames Lächeln. Nathan hatte ihn ja schon oft lächeln sehen, aber diesmal … es wirkte so … geheimnisvoll. Als könnte Nathan den Grund dafür nie verstehen …

Oder er hatte das Lächeln seines Freundes einfach vermisst!

Joshua stand neben Thi, sagte aber nichts. Deliora musterte Nathan nachdenklich.

… Scheinbar schien noch immer irgendetwas im Gange zu sein.

„Also gut“, rief er für sie alle hörbar, „Heute ist ein Mittwochstreffen.“

„Was du nicht sagst“, spöttelte Deliora.

„Und das bedeutet, dass wir heute Spaß haben!“, fuhr er unbeirrt fort, „Und an nichts Ernstes, Wichtiges, Trauriges oder … Ernstes denken!“

„Du hast zweimal Ernstes gesagt“, bemerkte Thi, „Du brauchst ein anderes Wort.“

„Deprimierendes“, schlug Liana sofort vor, „Schlimmes, Angsteinflößendes, Entsetzliches …“

„Okay, wir haben es verstanden“, unterband Deliora Lianas Wortschwall.

Plötzlich ertönte Kyries Lachen.

Alle Blicke wanderten zu ihr.

„Ihr seid so …“ Sie starrte von einem zum anderen, schien angestrengt nach einem Wort zu suchen.

Da konnte er natürlich nachhelfen: „Göttlich?“

„Lächerlich!“, schlug Deliora vor.

„Dämlich?“, wunderte sich Thierry.

„Atemberaubend“, meinte Liana überzeugt.

„… toll“, fand sie endlich das gesuchte Wort.

„Der war lahm“, schloss Nathan.

Und ein fröhliches Mittwochstreffen begann.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen!!

Ich hoffe, es gefällt <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen

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