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Ein ungewöhnlicher Mitbewohner

von
Koautor:  Caracola

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20. Kapitel

Am nächsten Morgen dröhnte sein Schädel wie das Innere einer schlagenden Glocke. Das helle Licht vor seinem Fenster stach ihm regelrecht in den Augen. Er hatte einen ekligen Geschmack im Mund und ihm war schlecht. Ja, so fühlte sich definitiv ein ausgewachsener Kater an.

Einen Moment blinzelte Adrian, um die Uhrzeit ablesen zu können. Irgendetwas mit zwei Uhr Nachmittags musste es sein, er war sich allerdings nicht sicher. Sein Gehirn kam nur stotternd in die Gänge, aber dafür arbeitete sein Körper bereits auf Hochtouren. Er musste dringend wo hin. Also schlug er langsam die Decke zur Seite und wollte sich aufrichten.

Überrascht starrte er auf die fremde Hand, die da warm auf seinem Bauch lag.

Mit einem Schlag fiel Adrian alles wieder ein und die Erkenntnis schien seinen Kopf zum Explodieren zu bringen.

„Scheiße.“, stöhnte er gequält und presste seine Hände gegen die Schläfen, während er die Augen fest verschlossen hielt. Trotzdem. Er musste jetzt unbedingt ins Badezimmer!

Also legte er sanft die Hand zur Seite und schlüpfte aus dem Bett. Die Bodendielen knarrten, als er wie ein Geist ins Bad wanderte, um seiner Blase einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Danach putzte er sich erst einmal ausgiebig die Zähne, um den ekligen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Sein nächster Gang war unter die eiskalte Dusche, um wieder einen klaren Kopf und muntere Lebensgeister zu bekommen. Danach ging es ihm schon wesentlich besser.

Nur noch mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, kochte er starken Kaffee, richtete zwei Gläser mit Aspirin her, stellte noch genügend Mineralwasser bereit und setzte sich dann an den Küchentisch. Sein Kopf sank mit der Stirn auf die Holzplatte. Er war ja so was von fertig.

Natürlich hatte er Emily in seinem Bett nicht vergessen, aber er wollte sich nur einen Moment von seinem Kater erholen, danach würde er sich anziehen und sich den Dingen stellen, die da mit absoluter Sicherheit kamen.
 

Die Klospülung und das anschließende Rauschen der Dusche weckten Emily endgültig auf. Als Adrian aufgestanden war, hatte sie noch beschlossen das Tageslicht einfach zu ignorieren und sich die Decke lieber bis zu den Ohren nach oben zu ziehen, sowie die Augen gar nicht erst aufzumachen. Da Adrians Abwesenheit sich allerdings hinzog, schlug Emily doch irgendwann die Augen mühsam auf und suchte im Zimmer nach einer Uhr. Auf dem Nachtkästchen am anderen Ende des Bettes fand sie einen Wecker, der halb drei Uhr nachmittags anzeigte.

Ganz vorsichtig drehte sie sich auf den Rücken, da sie wusste, dass ihr Magen bei einem Kater ihr absoluter Schwachpunkt war. Das letzte Mal war sie auch nicht überrascht gewesen, nach der Sauftour mit Julie am nächsten Morgen über der Kloschüssel hängend zu enden. Heute wollte sie das allerdings dringend vermeiden.

So unter Adrians Decke in seinem Zimmer, das sie bis jetzt mehr oder weniger erst dreimal betreten hatte, kam sie sich fremd und ein wenig Fehl am Platze vor. Alles roch nach ihm, vor allem seine Bettwäsche, sodass sie sich von seiner Gegenwart völlig eingeschlossen fühlte, obwohl er gar nicht im Raum war. Und anscheinend hatte er auch nicht unbedingt vor, zurück zu kommen. Zumindest hörte sie ihn auf dem Flur vom Bad in die Küche laufen und kurze Zeit später das Glucksen der Kaffeemaschine.

Was erwartete oder erhoffte sich Adrian jetzt von ihr? Dass sie aus seinem Bett aufstand und zu ihm in die Küche kam? Oder dass sie auf ihn wartete? Vor allem die Tatsache, dass er bereits geduscht hatte, scheuchte sie schließlich aus dem Bett und zog sie ebenfalls ins Bad, wo sie nur schnell unter die Dusche sprang, um sich anschließend wieder den Pyjama über zu ziehen. Außerdem holte sie das Zähneputzen nach und trank schon jetzt ein paar Schlucke Wasser, um ihren Magen ein wenig zu beruhigen. Er fühlte sich nicht so aufgewühlt an, wie beim letzten Mal, aber wenn sie an das Gespräch dachte, das ihnen bevorstand, war sie sich verdammt sicher, dass sich das schnell ändern konnte.

Emily zitterte vor Anspannung, als sie in die Küche trat, wo sie Adrian allerdings nicht vorfand. Dankbar schüttete sie eines der vorbereiteten Aspirin-Getränke hinunter und kaute auf einem trockenen Stück Brot herum. Setzen konnte sie sich nicht, denn ihr ganzer Körper schien unter Strom zu stehen, auch wenn sie gleichzeitig völlig ausgelaugt war.

Emily wollte Adrian nicht in sein Zimmer nachlaufen, also trug sie die Getränke, die er vorbereitet hatte, auf einem Tablett ins Wohnzimmer und hüllte sich dort in eine Decke. Umziehen würde sie sich später. Im Moment fiel ihr für diese Anstrengung kein triftiger Grund ein. Ihre Finger spielten nervös an einem losen Faden der Decke herum, während sie auf Adrian wartete. Schon bei dem Gedanken, dass er bald in der Tür auftauchen könnte, schlug ihr das Herz bis zum Hals.
 

Nachdem er Emily ins Bad gehen hörte, hob er mühsam seinen zentnerschweren Kopf von der Platte und stand widerwillig auf. Das war jetzt ein guter Zeitpunkt, sich etwas anzuziehen, bevor sie sich endgültig gegenüber standen. Allein der Gedanke daran, ließ sein Herz schneller schlagen und Adrian hatte Angst. Dennoch hatte er sich gestern geschworen, sein Leben zu ändern, nicht davonzulaufen und sich den Dingen zu stellen, die da auf ihn zukamen. Für Emily war das bestimmt ebenso schwierig, darum wollte er es nicht noch schlimmer machen, in dem er sich drückte. Auch wenn er am Liebsten in irgendein Loch gekrochen wäre, um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen. Obwohl, was war jetzt eigentlich nun die Wahrheit?

Während Adrian sich eine graue Jogginghose und ein schwarzes Shirt anzog, versuchte er das gestrige Gespräch in der Küche noch einmal Revue passieren zu lassen. Hatte ihn Emily wirklich gefragt, ob er mit ihr zusammen sein wollte? Irgendwie glaubte er noch immer, dass er sich das nur eingebildet hatte, oder das alles nur Wunschdenken war. Irgendwas war da auch noch mit Richard gewesen, was in ihm sofort wieder diese heftige Eifersucht zuschlagen ließ. Er konnte den Typen nicht ausstehen und das war eine Tatsache. Wenigstens hatte er eine schwierige Sache schon hinter sich. Emily wusste jetzt, dass er nicht schwul war. Ein Problem weniger. Blieben noch unendliche mehr.

Adrian zog sich noch weiche Socken an, ehe er sich auf die Suche nach seiner Mitbewohnerin machte, die er dann auch schon im Wohnzimmer antraf. Sein Herz wollte sich gar nicht mehr beruhigen und das ganze Adrenalin führte zu noch heftigeren Kopfschmerzen, aber das hatte er verdient.

„Gute Morgen.“, nuschelte er also leicht geknickt, ehe er um die Couch herum schlurfte, sich sein Glas mit dem Aspirin nahm, es in wenigen Zügen leerte und sich dann mit einer weiteren Decke auf seine Seite der Couch setzte. Erst dann wagte er, Emily anzusehen, was ihm unglaublich schwer fiel, doch er hielt dieser Prüfung stand.

„Zuallererst habe ich das Bedürfnis, mich dafür zu entschuldigen, dass ich dir gestern den schönen Abend versaut habe. Ich hatte wirklich Spaß.“ Er rieb sich über das stoppelige Kinn, ehe er sich mit beiden Händen die Schläfen massierte, was vielleicht seine Kopfschmerzen milderte, aber sicherlich nicht seine Gefühle beruhigen konnte. Es fühlte sich so an, als stünde er gerade unter einer heißkalten Dusche an Emotionen, die seinen Körper durchschüttelten. Einerseits war da die Angst, es könnte alles noch schlimmer werden, andererseits erinnerte er sich noch haargenau an den Kuss und welche Dinge da auf einmal in ihm explodiert waren. Gefühle von denen er geglaubt hatte, dass es sie nicht wirklich gab. Anscheinend hatte er sich verdammt noch mal geirrt.

„Es tut mir auch leid, dass ich dich wegen meiner sexuellen Ausrichtung im Unklaren gelassen habe, aber als ich bei dir einziehen durfte, hätte ich niemals erwartet, dass sich die Dinge so entwickeln würden. Ich hoffe doch, dass du trotzdem nicht annimmst, ich könnte dir etwas antun, während du schläfst oder andere Dinge, vor denen du dich klugerweise vorsiehst.“ Zwar konnte er nicht von Emily verlangen, dass sie ihm nach all diesen Dingen vertraute, aber er würde ihr doch niemals etwas antun, sie bestehlen oder gar ermorden.
 

Emily hatte nicht damit gerechnet, dass Adrians Anblick sie gleich derart aus dem Takt bringen würde. Beinahe hätte sie sich an dem Kaffee verschluckt, an dem sie gerade genippt hatte, als er in der Wohnzimmertür auftauchte und ihr einen guten Morgen wünschte. Als er sich ein wenig umständlich hinsetzte, musste Emily sich mit Gewalt zwingen keine Schutzhaltung anzunehmen, sondern ihn einfach nur anzusehen, während er es sich gemütlich machte.

Sobald sich ihre Blicke trafen, musste sie lächeln.

„Guten Morgen.“ Am liebsten hätte sie das schon vorhin im Bett gesagt, aber dass er geflüchtet war, hatte seine Vorteile. Sich hier – so zu sagen auf neutralem Boden – zu unterhalten war Emily wesentlich lieber als in Adrians Zimmer oder sogar in seinem Bett.

Am liebsten hätte sie seine Entschuldigung mit einer leichten Geste weggewischt, weil eigentlich klar war, dass er gar nichts versaut hatte. Sie, Emily, war es doch gewesen, die ihn an sich gezogen und ihn geküsst hatte. Bei der Erinnerung daran und vor allem, an seine Reaktion schien irgendetwas in ihrem Magen auf und ab zu hüpfen.

Sie spürte deutlich, dass es Adrian wichtig war, zu sagen, dass ihm der Abend gefallen hatte. Allerdings fühlte sie sich ein wenig so, als würde er ihr den schwarzen Peter zuschieben, indem er nicht über das sprach, was nach ihrem Heimkommen passiert war. Aber das war auch von Anfang an ihr eigenes Werk gewesen, also war es wohl legitim, dass sie mit diesem Thema rausrückte. Sie dachte am besten gar nicht darüber nach, was im schlimmsten Fall passieren konnte.

„Du hast gar nichts versaut.“ Sie sah ihm mit einem Lächeln in die Augen. „Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich hatte auch viel Spaß.“

Emily biss sich sichtlich auf die Unterlippe, während sie überlegte, wie sie auf seine zweite Entschuldigung reagieren sollte.

„Ich glaube dir, dass du nichts Schlimmes vorhattest, als du hier eingezogen bist.“ Sein letzter Kommentar, der sich tatsächlich etwas besorgt angehört hatte, brachte sie sogar ein wenig zum Lachen. Aber mit sehr ruhiger, leiser Stimme fuhr sie fort und wusste, dass sie sich nun unweigerlich zu dem Thema hintastete, das ihnen beiden wohl schwer im Magen lag.

„Denkst du wirklich, dass ich Angst vor dir habe? Immerhin habe ich in deinem Bett übernachtet… Adrian, ich…“ Ihr Herzschlag schien ihre Stimmbänder außer Gefecht gesetzt zu haben, denn sie musste sich kurz räuspern, bevor sie mit leicht kratziger Stimme fortfahren konnte. „Ich hab die Frage gestern ernst gemeint.“

Sie hatte unter der Dusche noch einmal gründlich darüber nachgedacht. Adrian hätte ihr sicher die Möglichkeit gegeben, alles wieder ungeschehen zu machen. So wie Emily es jetzt tat. Seine Antwort gestern lag ihr noch in den Ohren, aber im nüchternen Zustand konnte er eventuell ganz anders denken. Sie bereitete sich jetzt schon einigermaßen auf seine Zurückweisung vor, auch wenn sie es nicht würde ertragen können. Deshalb wandte sie auch den Blick von ihm ab und harrte der Antwort, die da kommen würde.
 

Da er noch immer nicht ganz fassen konnte, was hier gerade vor sich ging, war es schwierig einen passenden Ansatz zu finden. Aber mit irgendetwas musste Adrian beginnen, sonst würde Emily glauben, sein Schweigen wäre Antwort genug und er würde sie abweisen. Natürlich tat er das nicht. Obwohl er sich seiner Gefühle nicht im Klaren war, so war er doch mehr als nur bereit, herauszufinden, wohin sie beide das alles führte.

„Ich würde gerne ja sagen, Emily. Weil ich zumindest weiß, dass du mir mehr bedeutest, als Tyson, der wie ein Bruder für mich ist. Aber fairerweise solltest du wissen, dass ich noch nie … auf diese Art mit jemandem zusammen war. Oder besser gesagt, ich weiß nicht, wie eine normale Beziehung auszusehen hat. Diejenige die ich hatte, erschien mir damals normal, heute weiß ich, dass sie das absolut nicht war.“ Er goss sich von dem Mineral ein und nahm einen großen Schluck, um seine trockene Kehle zu befeuchten. Dieses Thema war ihm verdammt unangenehm, da es noch dazu ziemlich aktuell zu sein schien. Leider.

„Natürlich bin ich bereit, zu lernen, mich anzupassen, dir entgegen zu kommen, mich … zu öffnen. Aber willst du es mit mir überhaupt versuchen, wenn du all meine Fehler, Macken, Geheimnisse und vergangene Erlebnisse kennst?“

Nervös spielte er mit dem Verschluss der Flasche herum, während er sich dazu zwang, weiter zu sprechen, auch wenn er sich am liebsten selbst zum Schweigen gebracht hätte. Doch er würde Emily nicht mehr hintergehen. Es war zwar ein ganz schöner Brocken, was er so als Gesamtpaket darstellte, aber das war nun einmal er. Sie sollte die Chance haben, zu entscheiden, ob sie das alles wirklich haben wollte, oder ob sie sich doch lieber einen unkomplizierteren Typen suchen sollte.

„Außerdem ist da noch Richard.“, fügte er vorsichtig noch an, bevor er die Bombe loslassen konnte. Wenn dieser Typ zwischen ihnen stand, konnte er sich die ganze Wahrheit sparen. Dann wäre es besser, wenn sie nicht alles von ihm wusste. Zumindest könnte das ein halbwegs normales Zusammenleben garantieren, auch wenn er jedes Mal halb wahnsinnig wurde, wenn er an ihren Boss und sie zusammen dachte.
 

Emily musste ihn nach den Momenten, die quälend langsam vergingen, einfach wieder ansehen. Adrian konzentrierte sich aber scheinbar auf die Mineralwasserflasche und überlegte sich seine Antwort sehr genau. Als er schließlich anfing zu sprechen, klopfte Emilys Herz irgendwo in der Magengegend weiter, was sich sehr unangenehm anfühlte und ihr noch dazu elend werden ließ.

Was er sagte und noch dazu seine Haltung überzeugten Emily nicht davon, dass Adrian sie wirklich haben wollte. Er würde gerne ja sagen. Das hörte sich wie eine nett verpackte Abfuhr an. Allerdings überwand sie sich und hörte ihn weiter an, bis er sie mehr oder weniger fragte, ob sie sich denn sicher war, dass sie ihn tatsächlich haben wollte.

Emily setzte gerade zu einer Antwort an, als Adrian ihr im übertragenen Sinne mit einem Hammer gegen die Brust schlug.

Richard.

Jetzt konnte sie dem Drang wirklich nicht mehr widerstehen und zog ihre Knie an die Brust, die sie mit den Armen umschlang. Wie viel sollte sie Adrian denn erzählen? Was wollte er denn wissen?

„Ich liebe Richard nicht.“ Das war die reine Wahrheit und das hatte Emily schon von Anfang an gewusst. Sie hatte darauf gehofft, dass sie in die Beziehung mit dem älteren Mann irgendwie mit der Zeit hinein wachsen würde, aber eigentlich war es schon zu Ende gewesen, bevor es angefangen hatte.

„Gestern Nacht…“ In dem Kuss war alles gewesen, was Richard ihr nie würde geben können. Emily schluckte schwer und stützte ihr Kinn auf den Knien ab, bevor sie weiter sprach. „Es wäre nicht fair von mir, weiter zu machen. Egal, was … zwischen uns passiert.“ Warum fiel es ihr bloß so schwer darüber zu sprechen? Warum konnte sie noch nicht einmal dieses kleine Wörtchen ‚uns’ aussprechen, ohne dass ihr Innerstes sich zusammen zog und ihr Herz angstvoll klopfte?

Weil Adrian noch nicht ja gesagt hatte. Es gab noch kein ‚uns’. Noch war die Gefahr groß, dass es gar kein ‚uns’ geben würde.

„Ich mache Schluss mit Richard.“ Das räumte hoffentlich zumindest dieses Hindernis aus dem Weg.

Emily zitterte leicht und konnte den Druck kaum mehr aushalten. Was würde Adrian ihr denn noch sagen? Irgendetwas lag ihm offensichtlich noch auf dem Herzen, das ihm mehr zu schaffen machte, als die Tatsache dass er noch keine befriedigende Beziehung gehabt hatte.
 

Die Sache mit Richard erleichterte ihn so unendlich, dass es sich anfühlte, als würde man ihm einen riesigen Felsbrocken von der Brust nehmen. Bis gerade eben war er sich nicht sicher gewesen, ob Emily nicht doch zu Richard gehen würde. Der Kerl sah anständig aus, hatte sicherlich die Qualitäten, um ihr ein gutes Leben bieten zu können und vermutlich könnte man ihn heilig sprechen. Ganz anders als Adrian.

„Ich werde nicht weiter wegen ihm nachfragen. Das geht mich nichts an. Ich bin nur froh, dass du nach gestern Nacht … die Sache mit ihm beenden willst.“ Sie hatte ohnehin nie vor Glück übergesprüht, wie eng konnte diese Beziehung schon gewesen sein? Bestimmt enger, als seine bisherigen, aber was wusste er schon von der Liebe…

Zittrig fuhr er sich durchs Haar und vermied mehr denn je, den Blick mit ihr, damit er nicht noch mehr Schwäche zeigte. „Um ehrlich zu sein. Es hat mich wahnsinnig gemacht, dich bei ihm zu wissen. Ich wusste bis dahin noch nicht einmal, wie sich rasende Eifersucht anfühlt.“ Seine Stimme wurde immer leiser, doch schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Emily zu, um ihr in die Augen sehen zu können.

„Dieses Wissen hat … es hat mich ganz schön zerfressen.“ Beschämt senkte er den Blick und schluckte hart. „Darum war ich in letzter Zeit so komisch. Ich hatte … Probleme die Fassung zu bewahren. Aber das ist … jetzt nicht so wichtig…“
 

Das war es also gewesen. Sofort machte sich schlechtes Gewissen in Emily breit. Ein Gefühl, das sie in der Gegenwart von Adrian allmählich gewohnt zu sein schien. Aber diesmal half er ihr es relativ schnell verschwinden zu lassen. Sie hatte nichts von seinen Gefühlen für sie gewusst, wie hätte sie denn auch? Genau darum hatte sich Adrian doch bemüht und es meisterhaft hinbekommen, dass sie nicht die Spur einer Ahnung davon gehabt hatte, dass er sie auf diese Art und Weise mochte.
 

Sein Brustkorb hob und senkte sich deutlich, während er sich mit tiefen Atemzügen innerlich sammelte, um jetzt mit den eigentlichen Problemen aufzuwarten. „Das gestern Nacht mag vielleicht im Rausch passiert sein, aber es war garantiert nicht der Alkohol, der mich dazu getrieben hat, den Kuss zu erwidern. Er hat mir vielleicht die Hemmungen genommen, aber die Wahrheit ist, dass du Empfindungen in mir auslöst, die mir fremd sind. Es hat sich … um ehrlich zu sein … verdammt gut angefühlt, dich zu küssen und ich würde es jederzeit wieder tun. Das sollst du wissen. Denn das ändert sich nicht, egal wie du dich am Ende entscheidest. Ich bin mir sicher.“

Seine Stimme klang ernst und aufrichtig, als er das sagte, dann zog Adrian sich die Decke bis zu den Hüften hinab, drehte sich leicht zur Seite und zog sein Shirt aus.

„Das hier ist ein Teil meiner Vergangenheit…“, begann er mit kühler, distanzierter Stimme zu erzählen, da er versuchte, es nicht emotional an sich heran zulassen, was Alexandra ihm vor kurzem angetan hatte. Dabei strich er über die langen Kratzspuren auf seiner Seite und dem Rücken, während er ins Leere starrte.

„Das ist die Handschrift meiner einzigen Zusammenkunft mit einer Frau, die man wohl Beziehung nennen könnte. Alex hat mich vor kurzem aufgespürt und mir damit ihren Beweis der Zuneigung erbracht. Du kannst dir also vorstellen, wie unser Verhältnis zueinander aussah."
 

Als er ihr nun mehr als deutlich sagte, dass er sie gern geküsst hatte, es wieder tun wollte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie hätte ihm gern gesagt, dass sie das freute.

Aber bevor sie noch etwas erwidern konnte, zog er sich das Shirt über den Kopf und die Stimmung änderte sich schlagartig. Sein Körper war von Kratzspuren übersät, von denen vor allem die ins Auge sprangen, die von seiner Seite bis auf seinen Rücken verliefen. „Das hat dir eine Frau angetan?“ Ihre Stimme war so leise, dass er sie vielleicht gar nicht gehört hatte.

Emily schob ihre Füße unter sich, um sich nach vorn zu lehnen und ihn zu berühren, aber Adrian warf sein Shirt auf den Boden und wickelte sich in die Decke ein, bevor sie ihn über die kurze Distanz zwischen ihnen auf dem Sofa überwinden konnte.
 

"Was ich dir eigentlich damit sagen will, ist, dass das hier ein vergleichsweise harmloser Teil meiner Vergangenheit ist.“ Er konnte Emily bei diesen Dingen einfach nicht in die Augen sehen. Vielleicht hätte sie dort mehr gesehen, als gut für sie war.

„Ich habe dir erzählt, ich sei von Zuhause abgehauen, als ich sechzehn war.“, begann er nun leiser, jedoch ebenso kühl. „In diesen Jahren bis zu meinem 19. Geburtstag bin ich durch die mir selbst auferlegte Hölle gegangen. Du hättest mich nicht wieder erkannt...“

Für einen Moment hielt er mit seinen Worten inne, ehe er nur noch leise flüsterte: „Ich weiß, dass ich es dir sagen sollte, sagen muss, wen du da eigentlich vor dir hast. Aber die eigentliche Frage ist, ob du es auch wirklich hören willst? Denn danach gibt’s kein Zurück mehr.“ Endlich blickte er ihr in die Augen. Angst hatte seine Pupillen geweitet und das Blau verdunkelt, doch es lag auch Entschlossenheit darin.
 

Sie war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis ihn einfach in die Arme zu nehmen, während er sprach und ihm aus dieser kleinen Entfernung, die er von selbst nicht überwunden hatte, nur zuzuhören.

Emily konnte fast sehen, wie er eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen hochzog. Nein, sie sollte ihn nicht berühren. Im Moment ging es Adrian darum, dass er wissen wollte, ob sie ihn noch berühren wollte, wenn er ihr alles erzählt hatte. Also würde sie ihm zuhören und dann entscheiden, auch wenn sie sich jetzt noch ziemlich sicher war, wie die Entscheidung ausfallen würde.

Wieder lehnte sie sich zurück und setzte sich in offener Haltung vor ihn hin. Wenn er sich ihr schon offenbaren wollte, dann hatte sie nicht vor, ihm das noch schwerer zu machen. Allerdings nahm sie sich ihre Kaffeetasse, um sich zumindest an irgendetwas festhalten zu können.

„Ich höre dir zu.“, sagte sie schwach nickend.
 

Sie würde ihm also zuhören und er würde reden. Adrian setzte damit alles auf eine Karte. Er wusste, er müsste ihr nicht alles sagen. Immerhin waren das Dinge aus seiner Vergangenheit, mit denen er größtenteils abgeschlossen hatte. Aber wie, wenn nicht so, sollte sie verstehen können, warum er nicht wie andere Männer war?

Adrian kuschelte sich noch enger in die Decke und legte seinen Kopf nach hinten, so dass er das Aquarium beobachten konnte, während er versuchte, den ganzen Informationen in seinem Gehirn, eine geordnete Reihenfolge zu geben. Der gelbe Fisch war wieder einmal dabei, den Plastikturm zu erobern, was Adrian ein schwaches Lächeln abrang, ehe er ernst wurde und zu erzählen begann.

Er berichtete Emily ausführlich die erste Zeit nach seiner Flucht. Wie er sich vor der Polizei versteckt hatte, da seine Eltern ihn natürlich suchen ließen. Er war von einem Ort zum anderen weiter gezogen, immer weiter weg von zu Hause.

Den ersten einsamen Winter verbrachte er hauptsächlich frierend auf der Straße beim Trampen. Nach einer Weile war ihm das Geld knapp geworden. Es war ihm jedoch gelungen, noch etwas Miete für ein kleines Zimmer aufzubringen. Die Wohnung teilte er sich mit zwei arbeitslosen Typen, die den ganzen Tag schliefen und nachts immer unterwegs waren. Adrian hatte nie wirklich mitbekommen, was seine Mitbewohner so trieben, da er sich drei Jobs besorgt hatte, um über die Runden zu kommen, aber es reichte kaum zum Leben.

Schon damals war ihm klar geworden, dass er nun zwar frei und eigenständig war, aber noch weniger Zeit für sich alleine hatte, als bei sich zu Hause. Wenn er gekonnt hätte, er wäre damals wieder zu seinen Eltern zurückgegangen, doch da war es bereits zu spät gewesen.

Er arbeitete fast rund um die Uhr. Morgens trug er Zeitungen aus, mittags stand er am Fließband einer Verpackungsfabrik, abends jobbte er in einer Bar als Kellner.

So sah sein Tagesablauf sieben Tage die Woche aus. Adrian kam vielleicht auf höchstens vier Stunden Schlaf pro Tag. Deswegen hatte er schließlich eine Tablette von seinem Mitbewohner angenommen, die ihn wieder fit machte. Allerdings bekam er so immer mehr Probleme mit dem Einschlafen, weshalb er sich schließlich jeden Tag nach der Arbeit auch noch eine Schlaftablette rein zog, um überhaupt zur Ruhe zu kommen. Morgens dann wieder die Tablette für den Start. Mittags eine kleine Aufmunterung in Form einer Pille und so begann sich der Teufelskreislauf zu schließen, bis er eines Tages beim Kellnern einfach zusammen gebrochen war, da sein Körper diese Belastung nicht mehr länger hatte ertragen können.

Daraufhin hatte sein Boss ihn fristlos entlassen. Das Geld für die Miete und die Pillen reichte nun nicht mehr, weshalb er Probleme mit seinen Mitbewohnern bekam, die ihn schließlich raus schmissen.

Eine Zeit lang war er noch bei ‚Freunden‘ unterkommen, die ihn in die schöne schmerzfreie Welt des Heroins einführten, da die Tabletten Adrians Sorgen nicht mehr hatten tilgen können. So bekam er auch seinen ersten Job als Dealer, damit er sich den Stoff überhaupt noch leisten konnte, aber zu mehr reichte es nicht. Weder Essen noch Kleidung waren so wichtig, wie der nächste Schuss.

Anfangs hatte Adrian noch gedacht, er könnte jederzeit damit aufhören, doch als die Polizei eine Razzia im Park durchführte und sein Lieferant verhaftet worden war, war er dazu gezwungen worden, mehrere Tage ohne H auszukommen, was ihn fast umgebracht hätte. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Von da an war ihm seine Sucht bewusst geworden.

Irgendwann reichte es von vorne bis hinten nicht mehr. Also versuchte er sich mit seinen Bezugsquellen irgendwie anders zu arrangieren. Was ihn schließlich zu seinem ersten Blowjob brachte, den er für minderwertigen Stoff als Gegenleistung vollzog.

Nachdem er sich dazu überwunden hatte, erkannte er eine neue Einkommensquelle im Verkauf seines eigenen Körpers, um sich seinen Vorrat an Drogen zu sichern.

Jetzt brauchte er das Heroin nicht mehr nur, um seine Sucht zu befriedigen, sondern auch um seinen neuen Job ertragen zu können. Seine Freier waren immer nur Männer. Manchmal waren es ganz nette Typen, aber an anderen Tagen wurde er fast zu Tode gequält. Doch das war egal gewesen. Durch die Drogen hatte er sich selbst nicht mehr richtig gespürt und er musste auf den Strich gehen, da er immer höhere Dosen brauchte, um überhaupt noch in diesen Zustand der Sorglosigkeit zu kommen, nachdem er sich nach all dem Mist so sehr sehnte.

Es war um die Zeit seiner Volljährigkeit gewesen. Jede Dröhnung hätte seine letzte sein können, doch einer seiner besonders brutalen Freier kam dem goldenen Schuss zuvor.

Adrian erinnerte sich nicht mehr an die Stunden der Misshandlung. Im Krankenhaus erzählte man ihm später, dass er halbtot auf der Straße gefunden worden war. Er hatte sowohl innere, als auch äußere Verletzungen davon getragen und wäre fast verblutet. Dennoch erstattete er keine Anzeige. Das war der Tag, an dem er Gabriel – einen unglaublich netten Typen von der Sozialhilfe für Stricher – kennen gelernt hatte.

Es war Gabriel gewesen, der Adrian mit seinen einfühlsamen Worten wachgerüttelt hatte. Der ihm sagte, dass er sein Leben noch ändern könnte, wenn er es denn wirklich wollte. Ein Leben ohne Sucht, ohne Gewalt und ohne Hunger.

Lange nachdem Gabriel gegangen war, hatte Adrian noch wach gelegen und über die Möglichkeit eines Entzugs nachgedacht. Damals hatte er nicht mehr genug innerliche Stärke besessen, um sich wirklich dafür entscheiden zu können. Also ließ er es auf das Ergebnis seines Befundes ankommen.

Wenn ihm die Ärzte gesagt hätten, er würde ohnehin bald an allen möglichen Krankheiten sterben, die er sich mit seinem Lebenswandel eingefangen hatte, hätte er das Krankenhaus verlassen und ohne zu zögern, so lange weiter gemacht, bis er wirklich tot war.

Doch das Schicksal hatte mit ihm Anderes im Sinn gehabt. Seine Verletzungen würden heilen, die Unterernährung konnte behoben werden und ansonsten war er den Umständen entsprechend gesund. Kein Hepatitis, kein HIV und auch kein Aids. Also entschloss er sich für den langen Weg des Entzugs.

Dort musste er erst wieder lernen, was es hieß, in einem sozialen Umfeld zu leben. Er lernte wieder zu lachen und auch zu weinen. Man hörte ihm zu und verurteilte ihn nicht. Niemand sah ihn schräg an oder zeigte mit dem Finger auf ihn und vor allem hatte er die Möglichkeit, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Sich einen Traum zu suchen, dem er nachstreben konnte.

Tanz war seine Therapie. Die Bewegung tat ihm gut, half ihm über schlimme Phasen des Entzugs hinweg und wurde zu seiner neuen, positiven Droge, der er unbeschwert nachgehen konnte.

Schließlich war er clean. Sein Körper hatte sich erholt und auch seelisch war er lange nicht mehr so belastet, wie noch am Anfang des Entzugs. Nach seiner Entlassung riet man ihm, auch weiterhin zu einem Therapeuten zu gehen, allerdings hörte er nicht auf diesen Rat. Stattdessen ging er seine eigenen Wege.

Anfangs bekam er Unterstützung vom Staat, doch er wollte sich nicht zu lange darauf verlassen. Also suchte er sich wieder Arbeit. Dieses Mal wollte er sich jedoch nicht durch mehrere Jobs zu Tode schuften, weshalb sein erster Weg zum House of Boys ging. Ein professionelles Etablissement für männliche Prostituierte.

Während des Entzugs hatte er mit einigen Gleichgesinnten darüber gesprochen und das man dort nicht nur gut behandelt wurde, sondern auch eine Möglichkeit zum Schlafen hatte. Außerdem wurde dort peinlichst darauf geachtet, dass die Angestellten sauber, gut genährt und mit ausreichend Kondomen ausgestattet waren.

Adrian hatte diesen Weg deshalb eingeschlagen, da das etwas war, von dem er eine Ahnung hatte. Die Bezahlung war um Vieles besser, als er gewohnt war und er hatte genügend Ruhezeiten und freie Tage. Außerdem war der Kundenkreis ein völlig anderer. Für gewalttätige Freier gab es Sicherheitspersonal, das bei Problemen einschritt und so für die Sicherheit der Prostituierten sorgte.

Dort erhielt Adrian auch zum ersten Mal einen weiblichen Kundenkreis, der so ganz anders, als die Männer waren. Es gab Frauen, die einfach nur seine Gesellschaft schätzten und den Sex als das Sahnehäubchen eines gelungenen Tages betrachteten. Manche wollte noch nicht einmal mit ihm schlafen, sondern einfach nur von ihm unterhalten werden. Da er wohlerzogen war, konnte sich Adrian einer wachsenden Beliebtheit im House of Boys erfreuen, bis er schließlich Natasha kennen lernte. Eine üppige Frau Mitte vierzig, die ihm gerne beim Strippen zusah. Sie war einst selbst eine Stripperin gewesen und konnte ihm somit einiges über dieses Handwerk beibringen.

Eines Tages nahm sie ihn in einen Stripclub mit, dessen Inhaber ein guter Freund von ihr war. Sie erzählte ihm von Adrian und dass er das Potential zum Stripper hatte, wenn er noch etwas übte und zugleich seine Ausdauer, seine Beweglichkeit und Geschmeidigkeit trainierte. An diesem Abend durfte Adrian vortanzen und bekam wenige Wochen später den Job, als ein anderer Stripper gekündigt hatte. Das war das Ende vom House of Boys und Adrians Anfang als erotischer Tänzer. Die erste Arbeit, die er je geliebt hatte.

Von dieser Arbeit konnte er sich jedoch nur eine ganz schäbige Wohnung leisten, also behielt er einige seiner weiblichen Kunden bei, die nichts dagegen hatten, ihn privat zu bezahlen. Durch dieses zusätzliche Einkommen fühlte er sich finanziell halbwegs sicher und das war ihm sehr wichtig gewesen. So konnte er langsam aber sicher seinen Lebensstandard erhöhen. Er wechselte die Stripclubs, arbeitete sich in immer bessere Lokale hoch, bis er schließlich beim Shadow gelandet war, das sehr gut bezahlte und somit seinen Job als Callboy langsam überflüssig machte.

„Außerdem fällt es mir seit der Beziehung mit Alexandra unglaublich schwer, meinen Körper auch weiterhin zu verkaufen.“, setzte er schließlich zum letzten Teil seiner Geschichte an, die bisher nur so aus ihm heraus gesprudelt war.

„Sie war die erste Freundin nach meinem Entzug, mit der ich es versucht habe. Ich habe ihr vertraut. Habe ihr von meiner Vergangenheit erzählt. Für mich war der Sex mit ihr etwas Besonderes, da es einmal nicht zu meinem Broterwerb gehörte. Doch nach einem Streit, erklärte sie mir, dass sie nur deshalb mit mir zusammen war, weil ich gut im Bett bin und sie außerdem meinen Körper scharf findet. Von Liebe oder Zuneigung war nie die Rede gewesen. Weshalb ich mit ihr Schluss machte, was ihr natürlich gar nicht gefallen hat. Aber noch nie in meinem Leben bin ich so verletzt worden, wie von ihr. Denn selbst als Stricher habe ich eine Gegenleistung für meine Dienste bekommen. Sie hingegen, hat mich restlos ausgenutzt und genau dort zugeschlagen, wo es mir am aller meisten wehtut.“

Erschöpft schloss Adrian die Augen. „Ich habe im Augenblick leider auch einige psychische Probleme, Emily.“, setzte er müde an. „Seit Alex war mir jede Art von körperlicher Intimität zuwider, da es ohnehin nichts mehr mit meinen eigenen Gefühlen zu tun hatte. Dieses Empfinden hat sie mir völlig genommen, nach dem sie mich so ausnutzte. Doch dann traf ich dich und mit einem Mal ist es mir so, als würde ich wieder richtig zu leben beginnen. Der Kuss gestern … das war so … überwältigend…“

Zitternd legte er sich den Arm über die Augen. Kein einziges Mal hatte er Emily ansehen können, während er erzählte, da er sich für all das so unendlich schämte. Selbst jetzt noch, wo das Meiste hinter ihm lag. Denn so oder so, er war nicht gut genug für sie. Sie hatte jemanden verdient, der emotional nicht so verkrüppelt war wie er.

„Zum ersten Mal … habe ich bei einem Kuss den Wunsch verspürt, er möge nicht der letzte gewesen sein…“, flüsterte er leise, während sich seine Brust regelrecht zuschnürte. Das alles hatte ihn ganz schön ausgelaugt.
 

Emily hatte zugehört. Sie hatte unter der Decke auf ihrem Sofa gesessen, mit der Kaffeetasse in der Hand und hatte sich Adrians Geschichte angehört. Eine Geschichte voller Gewalt, Drogen und psychischen Verletzungen. Irgendwann im Verlauf seiner Erzählung hatte sie ihn nicht mehr ansehen können.

Wie seltsam kam es ihr vor, dass ein Bild, dass man sich von einem Menschen machte, so trügen konnte. Inzwischen wusste Emily gar nicht mehr, was sie am Anfang über Adrian gedacht hatte. In den letzten paar Stunden hatte sich alles, aber auch wirklich alles, was sie über ihn gedacht hatte, als falsch heraus gestellt.

Adrian hatte ihr alles anvertraut, was ihn ausmachte. Es kam ihr so vor, als wären es nur schlechte Dinge, die er ihr berichtet hatte und mit Verzweiflung krallte sie sich an den Dingen fest, die vielleicht den Adrian zu dem zusammen setzen konnten, was sie kannte. Oder zumindest zu dem, den sie geglaubt hatte zu kennen.

Sie saß immer noch völlig still vor ihm und versuchte darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte. Er hatte ihr gerade erzählt, dass er seinen Körper für Drogen verkauft hatte. Sie konnte akzeptieren, dass er das hinter sich hatte – er war clean. Sie brauchte ihn nicht einmal prüfend anzusehen, um ihm das zu glauben. Aber was war mit den Dingen, die sie betrafen, sollte sie sich dazu entscheiden, es auf eine Beziehung ankommen zu lassen?

Eine Sache schnürte ihr den Magen besonders zusammen. Adrian hatte nicht etwa gesagt, dass es ihm schwer gefallen war, sich während seiner Beziehung zu Alexandra zu prostituieren. Nein, er hatte von danach gesprochen. Danach war jetzt.

Augenblicklich stürzten so viele Emotionen auf sie ein, dass sie das Zittern ihrer Hände in den Wellen des Kaffees sehen konnte, der beinahe über den Tassenrand schwappte.

Wie hatte sie das alles nicht mitbekommen können? Sie hatte doch nur eine Mitbewohnerin für das leere Zimmer gesucht… Und jetzt hatte sie nicht nur einen Mann in ihrer Wohnung, nein, er verkaufte seinen Körper an Frauen, war drogenabhängig gewesen und sie hatte sich in ihn verknallt. Das setzte ihr am meisten zu, denn es war die Wahrheit. Seine letzten Worte hatten mehr in ihr ausgelöst als seine ganze tragische Geschichte. Es mochte selbstsüchtig und herzlos sein, aber Emily hatte bei seinem Geständnis vor allem zu dem Zeitpunkt etwas empfunden, zu dem er ihr sagte, dass sie ihm etwas bedeutete. Ihr völlig verwirrtes Herz hatte in diesem Moment noch verstanden, dass genau das am Wichtigsten war und war in ihrer Brust herum gesprungen wie ein Pingpong-Ball.

Emily stellte ihre Tasse auf dem Couchtisch ab, zog sich ein Kissen heran und drückte es sich vor den Bauch. Ihr Blick ruhte auf den Fransen der Decke, die zusätzlich um ihren Körper geschlungen war und sie doch nicht warm hielt. Sie holte tief Luft, während die Gedanken in ihrem Kopf hin und her rasten, so dass sie selbst überhaupt nicht folgen konnte. Am liebsten hätte sie sich Block und Stift geholt und eine Pro- und Contra-Liste erstellt.

Erst als sie tatsächlich so weit war, etwas zu sagen, fiel ihr auf, dass es hier nicht um sie ging. Verdammt noch mal, wie herzlos konnte sie denn sein?

In einem Anflug von Panik presste Emily die Lippen aufeinander und legte das Kissen wieder neben sich auf das Sofa. Sie hörte noch Adrians Worte in ihren Ohren, dass ihm körperliche Intimität zuwider war. Scheißegal. Sie schlug ihre Decke zurück und stand auf. Nach zwei Schritten stand sie neben ihm und fuhr mit der Hand hinter seinen Rücken, dabei darauf bedacht, nicht direkt mit seiner Haut in Berührung zu kommen, sondern die Decke zwischen ihnen zu lassen. Adrian zuckte ein wenig zusammen, was sie allerdings erwartet hatte und sah sie verständnislos an. Mit ihrer Hand bedeutete sie ihm nach vorne zu rutschen und ihr Platz zu machen, was er nach kurzem Zögern auch tat. Sie hatte immer noch nichts gesagt und tat es auch nicht, als sie sich hinter Adrian setzte, beide Arme um ihn schlang und ihren Kopf gegen seinen lehnte.

„Es tut mir so leid.“
 

Sein Herz schlug wild und schnell, als sie sich hinter ihn setzte, ihn mit ihren Armen umschlang und ihren Kopf gegen seinen lehnte. Adrians Augen waren vor lauter Unglauben weit aufgerissen, was sie natürlich nicht sehen konnte. Als Emily sagte, es täte ihr leid, ließ die Verspannung in seinem Körper nach und er lehnte sich gegen ihre Wärme. Ein Arm legte sich um die ihren, während seine andere Hand zu ihrem Gesicht wanderte, sich auf ihre Wange legte und zärtlich darüber strich.

Unendlich erleichtert ließ er es zu, dass sie ihn tröstete. Ließ zu, dass sein Körper heftig zu zittern begann und sich seine Augen vertrauensvoll schlossen.

Heiße Tränen zogen ihre Spur über seine Wangen, doch er gab keinen Laut von sich und sein Gesicht war ruhig und entspannt. Was auch geschehen mochte, diesen Augenblick des Friedens konnte ihm keiner mehr nehmen.

Eigentlich hätte er ihr gerne gesagt, es müsse ihr nicht Leid tun. Mitleid war nicht das, was er von ihr wollte. Doch vielleicht ging Mitleid mit Verständnis einher, darum sagte er nichts dazu, sondern schmiegte sich stattdessen noch enger an sie, als würde er sich in ihrer Wärme und dem Wohlbehagen baden. Es tat so unendlich gut, ihr so nahe zu sein. Wie könnte er ihr das jemals klar machen?

Ja, er verabscheute unverbindlichen Sex und derlei Spielchen, aber das hier berührte einen Platz in ihm, wo bisher noch kein Mensch gewesen war. Der Platz, dem noch nie jemand etwas hatte anhaben können. Es war der Ort den er freiwillig für Emily weit öffnete, egal ob sie eintreten würde oder nicht, er gehörte bereits ihr allein.

„Auch wenn du mir das vielleicht nicht glaubst…“, begann er ruhig zu flüstern. „…aber in diesem Augenblick bin ich glücklich…“
 

Emily konnte spüren, wie Adrian in ihren Armen anfing zu zittern. Sie schrieb es der Anspannung zu, die sich über so lange Zeit in ihm aufgebaut haben musste. Vielleicht fiel sie gerade jetzt von ihm ab, wo er seine Geschichte endlich offen hatte legen können.

Sie hielt ihn einfach eine Weile fest, ohne sich zu bewegen oder auf seine Worte zu reagieren, die bestimmt eine Antwort verdient hätten. In Adrian hatte sich der Sturm von Gefühlen vielleicht gelegt; in Emily hatte er sie mit seiner Geschichte erst angefacht. Es war nicht so, dass es ihr schwer fiel, ihn in den Armen zu halten oder dass sie sich dazu überwinden musste. Wenn es ihm gut tat, würde sie stundenlang so mit ihm sitzen bleiben. Aber das änderte noch nichts daran, dass sie eine Entscheidung zu fällen hatte. Bei jedem Anderen hätte sie angeboten, es einfach locker zu versuchen und zu sehen, was passierte. Bei Adrian hatte sie das Gefühl, dass das nicht ging. Mit ihm konnte und wollte sie nichts Unverbindliches anfangen, das sich unter vielen guten Umständen zu einer ernsthaften Beziehung entwickeln konnte. Wenn, dann müssten sie es gleich ernsthaft angehen. Mit allem, was dazu gehörte und damit meinte Emily vor allem exklusiv.

Sie musste es ihm sagen. Gerade jetzt kam ihr der Zeitpunkt furchtbar schlecht vor, doch sie wusste auch, dass kein besserer kommen würde. Emily hoffte, dass sie ihm nicht noch mehr wehtun würde, mit dem was sie fragen und sagen wollte, aber wenn sie es nicht aus der Welt schaffte, dann hätte dieses zerbrechliche ‚wir’ von Anfang an keine Chance.

„Adrian?“ Ihre Stimme klang überraschend fest und klar, als hätte sie sich durch ihr Schweigen ausgeruht, um nun die Kraft für das zu haben, was noch kommen würde.

Glücklicherweise konnte er ihre Augen nicht sehen, die sich noch mehr ins Schwarze verfärbten, als sie weiter sprach.

„Ich kann das nicht, wenn du weiter diesen … diesen Job machst.“ Normalerweise war sie keine Frau, die einem Mann, den sie gern hatte, Vorschriften machte, aber das mit seinem Callboy-Geschäft würde sie nicht überstehen. Er musste sich zwischen dem Geld – etwas Anderes schien er laut seinen Worten daraus sowieso nicht zu ziehen – und Emily entscheiden. Sie war nicht Alex. Ihr würde es etwas ausmachen, wenn sie ihn bei anderen Frauen wusste. Das machte ihr sogar im Nachhinein etwas aus und ihr wurde wieder flau im Magen.

Ihre Stimme hatte sich doch zu einem Flüstern gesenkt und zitterte ein wenig. „Ich weiß nicht, ob ich das sein kann, was du brauchst… Aber ich wäre gern mit dir zusammen.“ Warum machte ihr das dann eine solche Angst? Sie hatte vor der letzten Nacht noch nicht einmal wirklich darüber nachgedacht und jetzt würde eine Zurückweisung jeglicher Art ihr Herz brechen. Inzwischen hielt sie nicht mehr Adrian fest, sondern hatte im Gegenteil das Gefühl, sich an ihm zu stützen.
 

Adrian öffnete wieder die Augen, als sie seinen Job erwähnte. Sein Blick war finster und kühl, doch sein Herz flatterte heftig in seiner Brust. Sofort drückte er ihre Arme enger an seine Brust, während er das Gefühl über sich ergehen ließ, was ihre Worte bei ihm auslösten. Erleichterung. Da war definitiv Erleichterung.

Alleine die Vorstellung, er würde auch nur noch einmal gefühllosen Sex haben, bereitete ihm Übelkeit. Er wollte kein Spielzeug mehr sein, auch wenn er sich selbst dazu gemacht hatte.

„Ich will ehrlich zu dir sein. Selbst wenn es dich nicht gebe, ich hätte diesen Job nicht länger machen können. Ich wollte das schon lange nicht mehr. Denn beim letzten Mal ging es mir danach so schlecht, dass ich mir kaum noch ins Gesicht sehen konnte, ohne mein altes Ich wieder zu sehen.“ Er holte einmal tief Luft, damit seine Stimme nicht allzu sehr bebte. „Ich will das nicht mehr. Erst recht nicht, wenn ich dich dadurch verletze.“

Adrian drehte seinen Kopf zu ihr herum, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Seine Hand wanderte zu ihrem Nacken, während er ihr tief in die Augen blickte und sie ernst ansah. „Ich wäre auch gerne mit dir zusammen, denn ich weiß, dass du bist, was ich brauche. Aber ich will nicht nur mit dir zusammen sein, weil ich dich brauche, sondern weil da mehr ist… Ich weiß nicht was… Aber ich bin gerne bereit, es herauszufinden.“ Sein ernstes Gesicht verwandelte sich zu einem sanften Lächeln. „Und zwar jetzt…“

Langsam beugte er sich ohne Eile zu ihr, denn sie sollte wissen, was er vorhatte, als er zärtlich seine Lippen auf die ihren legte, während sein Blick sich mit dem ihren verfing.

Schon alleine diese leichte Berührung ließ sein Herz wild in seiner Brust springen. Sein Magen flatterte, als hätte er einen kleinen Vogel darin und durch seine Adern schossen Endorphine in ihrer reinsten, ursprünglichsten Form.
 

Emily lächelte zurück, als er ihr sagte, dass er mehr für sie empfand, als sie nur zu brauchen. Das bedeutete ihr so viel, dass sie ihn noch einmal fester an sich drückte, bevor er sich weiter zu ihr umdrehte.

Er küsste sie noch sanfter als sie ihre Lippen gestern auf seine gelegt hatte. Allerdings lag nun wesentlich mehr in der Berührung, als es noch in der letzten Nacht der Fall gewesen war. Beinahe konnte Emily es zwischen ihnen knistern hören, auch wenn sie wusste, dass das nur Einbildung war.

Sie wollte ihn küssen, aber noch war da etwas, das sie erledigen musste. Emily war einfach nicht der Typ, der zwei Sachen am Laufen hatte. Auch wenn sich das mit Adrian erst entwickeln musste, wollte sie nicht, dass auch nur eine Kleinigkeit zwischen ihnen stand.

Um ihn nicht doch noch zu erschrecken, streichelte sie Adrian über die Wange und lächelte ihn an, noch bevor sie sich von ihm löste.

„Lass’ mich noch die Sache mit Richard erledigen.“ Mit einem Kuss auf Adrians Stirn schickte sie sich an aufzustehen, hielt dann aber doch noch inne, bevor sie ihn allein ließ. Sie sah ihm in die hellen Augen.

„Ich werde hinfahren. Zumindest soviel muss ich ihm zugestehen.“ Dass Adrian davon nicht begeistert war, konnte sie ihm ansehen, deshalb küsste sie ihn noch einmal kurz auf die Lippen und lächelte ihm zu, während sie seine Hand drückte und dann endgültig aufstand.

„In spätestens zwei Stunden bin ich wieder da. Ich hol uns noch was zu Essen.“

Am liebsten hätte sie ihn gar nicht allein gelassen, aber es würde sie einfach zu sehr belasten, wenn sie Richard im Unklaren ließ. Das musste Adrian jetzt einfach akzeptieren.

Sie zog sich schnell an und verabschiedete sich hastig von ihm, damit sie das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen konnte.
 

Es war nicht gerade angenehm, gerade jetzt an Richard erinnert zu werden, aber Emily hatte Recht und Adrian vertraute ihr. Sie hatte sich sein Vertrauen schon lange verdient, doch nun war er sich dem auch wirklich sicher. Darum ließ er sie gehen, als sie aufstand, um sich anzuziehen.

Vielleicht war das auch ganz gut so, denn in der Zeit, wo sie weg war, konnte er ebenfalls seine Dinge regeln. Er würde jede seiner Kundinnen anrufen, selbst wenn sie sich schon ewig nicht mehr gemeldet hatten und ihnen sagen, dass er nicht mehr auf dem Markt war und auch nie wieder sein würde. Danach würde er die Nummern löschen und nie wieder einen Gedanken darauf verschwenden. Ja, das war eine verdammt gute Idee.

Emily verabschiedete sich und war verschwunden. Danach zog er sich selbst ordentlich an, trank noch ein paar Gläser voll Wasser, um den Kater aus seinem Körper zu spülen. Zum Telefonieren setzte er sich in den Flur, da er keine der anderen Zimmer mit der Erinnerung daran behaftet haben wollte, wie er mit seinem alten Leben abschloss. Der Flurboden konnte sich geehrt fühlen, denn das war ein denkwürdiger Moment.

Es war irgendwie seltsam, zu wissen, dass sich zwischen Emily und ihm plötzlich so viel verändert hatte und daran nur ein einziger Kuss die Schuld trug. Aber wenn Adrian an die Gefühle dachte, die ihn jedes Mal überfluteten, wenn er sie küsste oder sie ihn, dann wunderte ihn gar nichts mehr.

So frisch es noch war. So heftig war es auch.



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