Tageszeitung
7. Oktober
- Summer -
Summer hätte vor Freude weinen können, als sie am späten Nachmittag nach ihrer Trainingseinheit an dem geschlossenen Pokémoncenter vorbeiging und erfuhr, dass es zur Nacht hin wieder öffnete. Die Elektronik war neu gemacht worden und die Zimmer der Trainer hatte Schwester Joy notdürftig von dem Wasserschaden gesäubert. Sie fluchte zwar noch immer über die ganze Sache, was Summer für eine Joy unangemessen fand, aber sie beschwerte sich nicht und checkte sogleich für eine Woche ein. Damit hatte sich ihr Aufenthalt in der Pension Papinella erledigt.
Eilig durchquerte sie die Straßen, schnappten sich ihren gepackten Rucksack in der Pension, gab den Schlüssel ab und flüchtete wieder hinaus in den Trubel der engen Gassen und breiten Alleen. Eigentlich war Illumina City eine wirklich hübsche Stadt, wie sie fand. Nur die vielen Touristen, die bunten Reklametafeln und die vielen Menschen verpassten dem Charme einen Dämpfer.
Zurück im Pokémoncenter nahm sie den Schlüssel für ihr Zimmer entgegen. Die begehrten Einzelzimmer waren natürlich schon alle belegt und Summer kannte das Mädchen, mit dem sie sich ihr Doppelzimmer teilen musste, nicht, aber alles war besser als eine weitere Nacht mit Frühstück bei der alten Pensionsbesitzerin. „Sie wissen gar nicht, wie froh ist bin, dass Sie wieder geöffnet haben“, flötete sie gut gelaunt, doch Schwester Joy grunzte nur und ihre dunklen Augenringe ließen vermuten, dass sie die ganze Sache anders sah. Summer hatte noch nie so eine schlecht gelaunte Joy gesehen. Lernten die in ihrer Schwesternschule nicht das übliche Dauerlächeln?
Mit einem schmalen Grinsen auf den Lippen ging sie die Treppe nach oben in den ersten Stock, wo sich alle Schlafräume befanden. Sie musste in den linken Flur, dann bis ganz ans Ende. „Nummer 25, perfekt.“ Das Schloss klemmte ein wenig, doch dann sprang die Tür auf und ein Mädchen schrak von ihrem Bett hoch. „Oh, hey, ich wollte dich nicht erschrecken. Tut mir leid.“
„Nein, schon gut.“ Die Fremde rang sich ein schüchternes Lächeln ab und setzte sich wieder auf ihr Bett. Ihre kurzen, blonden Zöpfe hüpften aufgeregt auf und ab, wenn sie sich bewegte, und ihr Gesicht war kindlich und rund. Sie konnte kaum älter als dreizehn oder vierzehn sein. Sobald sie wieder saß, griff sie nach der Tageszeitung, dem Illumina Kurier, und vertiefte sich in einen Artikel.
„Ich bin Summer.“ Summer grinste noch immer, ließ ihren Reiserucksack auf das freie Bett fallen und sich gleich daneben. „Wie heißt du?“
„Hm?“ Die Blonde schaute von ihrer Zeitung auf. „M-Marie.“
„Schön, freut mich.“ Wieso klemmte schon wieder der verdammt Reißverschluss? Etwas ungehalten zog Summer an dem Verschluss herum, bekam ihn dann mit einem Ruck auf und legte ihren kurzärmligen, dünnen Sommerpyjama auf das Kopfkissen. „Bist du schon lange hier in Illumina City? Ich bin erst vorgestern angekommen und die Stadt erschlägt mich.“
„Ja, Illumina ist wirklich riesig.“ Maries schüchternes Lächeln kehrte zurück und sie faltete ihre Zeitung einmal zusammen – unschlüssig, ob sie sich mit Summer unterhalten oder weiter lesen sollte.
Summer nahm ihr die Entscheidung sofort ab und quatschte einfach weiter. „Stimmt. Der totale Wahnsinn! Überall hängen Plakate oder Bildschirme mit Werbung. Ich habe einen Werbespot mit den Kampf-Chatelaines gesehen und so eine schlanke, blonde Frau winkt ständig von den Zeitschriftencovern. Ah und dann gibt es da noch dieses Relaxo, das für diesen einen Bettenladen Werbung macht. Relaxen wie ein Relaxo oder Geld zurück.“ Ein kurzer Blick huschte über Marie. „Bist du hier, um den Arenaleiter herauszufordern?“
Marie zuckte mit den Schultern. „Ja, eigentlich schon. Citro soll wirklich stark sein, ich weiß nicht, ob ich schon soweit bin.“
„Aber braucht man nicht vier Orden, um gegen ihn antreten zu können?“ Als Marie nickte, stahl sich ein breites, zuversichtliches Lächeln auf Summers Gesicht. „Dann kannst du gar nicht so schlecht sein. Wann hast du deine Reise angetreten?“
„An meinem dreizehnten Geburtstag, das war vor vier Monaten.“
Das machte im Schnitt einen Orden pro Monat. Entweder glaubte Marie wirklich nicht an sich selbst oder sie tat nur so, jedenfalls wusste Summer, dass sie nicht zu unterschätzen war. Egal wie gut oder schlecht man war oder aus welcher Region man kam, die Leiter der Arenen verschenkten die Orden nicht einfach so. „Ich denke, dass du ziemlich gut sein musst. Was für Pokémon hast du?“
Für einige Sekunden huschte Stolz über Maries Gesicht. „Mein Starter hat sich kürzlich zu einem Fennexis entwickelt. Es ist mein stärkstes Pokémon. Dann habe ich noch Wonneira und Girafarig.“
„Kein schlechtes Team für den Anfang.“
„Nein, sicher nicht.“ Marie sprach nun ohne den ängstlichen, nervösen Unterton. „Ich habe mir schon von Anfang an eine Strategie ausgesucht und fange nur Pokémon, die dazu passen. Eine richtige Strategie ist wichtig, sonst kommt man nicht weit. Gut, ein paar Kämpfe kann man auch mit einer normalen Hau-Drauf-Taktik gewinnen, aber spätestens bei den letzten Arenaleitern oder in der Vorauswahl für die Liga braucht man was im Köpfchen. Entschuldige mich jetzt, ich treffe mich noch mit jemandem.“
Etwas verdattert schaute Summer ihr hinterher, als Marie das Zimmer verließ. Die Kleine war nicht nur drei Jahre jünger als Summer, sondern besaß auch schon mehr Orden und legte großen Wert auf Taktik. „Vielleicht sollte ich sie mit Rain bekanntmachen“, murmelte sie mit einem Anflug von Frust. Was Marie so abfällig Hau-Drauf-Taktik genannt hatte, war für gewöhnlich genau der Kampfstil, den Summer verfolgte.
Sie schnappte sich die Zeitung, die Marie auf ihrem Bett zurückgelassen hatte, und blätterte durch die ersten Seiten. Zwei Artikel auf einer Doppelseite zogen dann jedoch ihre Aufmerksamkeit auf sich und mit gerunzelter Stirn begann sie quer zu lesen.
[…] sind die Registrierungen von offiziellen Trainer-IDs in den letzten zehn Jahren um 37% angestiegen. Die Studien zeigen auch eine erhöhte Auslastung der Pokémoncenter und Arenen, was zu höheren Ausgaben führt. Aus diesem Grund hat Bürgermeister Webber im Parlament von Kalos den Vorschlag eingebracht, dass die Pokémon-Steuer zum kommenden Jahr um 2% erhöht wird. Dies muss jedoch noch von einem Ausschuss geprüft und mit den anderen Regionen koordiniert werden. In einem Infokasten neben dem Artikel standen die Hauptpunkte, die von der Pokémon-Steuer finanziert wurden: Pokémon-Center, offizielle Arenen und Turniere, staatliche Reservate und geschützte Parkanlagen samt dazugehöriger Ranger, Verwaltung des gesamten Trainer-Apparates, Auswilderungs- und Umsiedlungsprogramme. Zusätzlich dazu gab es eine Teilförderung von Zuchtpensionen, Forschungseinrichtungen und Schulen.
Summer las sich den anderen Artikel durch. […] Augenzeugen zufolge handelt es sich bei den Einbrechern, die unerkannt mit ihrer Beute fliehen konnten, um Mitglieder von Team Dark, das vor über zwanzig Jahren in Finera sein Unwesen trieb und unter der Leitung von Dr. Milena Mai, einer berühmten Wissenschaftlerin, stand. Die Polizei bittet um Hinweise, wenn Sie etwas zum Verbleib der Diebe oder möglichen Aktivitäten der Untergrundorganisation wissen. Officer Rocky ruft zu Besonnenheit und Vorsicht auf. Noch besteht keine Gewissheit, ob es sich wirklich um ein neues Team Dark oder Trittbrettfahrer handelt.
Bei dem zweiten Artikel lief es ihr eiskalt den Rücken runter. Die Menschen in Kalos mochten Team Dark nur für eine einfache, kleine Bedrohung aus einer anderen Region halten, doch die Geschichten, die ihre Eltern über Team Dark erzählten, klangen ganz und gar nicht ungefährlich. Team Dark hatte unter der Leitung von Milena Mai Pokémon gestohlen und mit ihnen qualvolle DNA-Experimente durchgeführt, wobei Dr. Mai sich damit rechtfertigte, dass sie nur helfen wollte und nach einer Lösung für Gendefekte und Krankheiten suchte.
„Das muss ich sofort Rain und Mom schicken.“ Summer tippte hastig in ihrem ComDex eine Kurznachricht an Rain, dann an ihre Mutter. Team Dark wurde vor über zwanzig Jahren zerschlagen, es konnte nicht plötzlich wieder auftauchen. Das konnte nicht sein. Oder etwa doch?