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Froschprinz

von

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Oberhengst in spe

1. Kapitel: Oberhengst in spe
 

Okay, ihr habt mich erwischt.
 

Ich bin ein ganz normaler Junge.
 

Natürlich. Wenn man Eleutherius heißt, zur Hälfte von Feen abstammt, pinke, hüftlange, selbstredend seidenweiche – aber hammermännliche – Haare hat, eine perfekte Marmorhaut, Augen, die wahlweise in jeder Farbe des Universums blitzen, wenn man der Klassenbeste und dennoch superbeliebt, wenn man der Meister aller Klassen in sämtlichen Sportarten (Domino und Monstertruckfahren eingeschlossen) ist, wenn man Anführer jeder auch nur halbwegs wohltätigen oder gar weltrettenden Aktion um Umkreis von tausend Meilen ist, dann…
 

…ist man wohl eher nicht ich.
 

Eleutherius… pah, was für ein Scheißname, ihr glaubt ja echt alles… und Feen… also wirklich… kauft euch eine Tüte Geschmack und wenn die alle ist, dann leiht euch was bei den Nachbarn. Bitte!!!
 

Die Wahrheit, die… ist eher sehr wahrheitsmäßig. Macht deutlich weniger her, ich weiß, also: schnell wegklicken, wenn ihr doch lieber etwas über ein rosa bezosseltes Supermännchen lesen wollt, denn da seid ihr bei mir definitiv an der falschen Adresse.
 

Mein Name ist Ludwig Lohmeier. Dankeschön, spießige, sentimentale Eltern für diesen Vornamen, mit dem ich schon im Ersten Weltkrieg nicht weiter aufgefallen wäre… Okay, so spießig sind sie nicht. Aber sentimental, immerhin. Haben mich nach Opa benannt. Opa ist inzwischen ziemlich senil, aber echt in Ordnung, insofern… Und sonst so? Meine Haare sind aktuell… mal nachschauen… dunkelgrün. Nein, das liegt nicht an den Feen, sondern am Friseur an der Ecke und daran, dass man es als Teenager heute echt schwer hat, mit irgendetwas richtig zu schocken. Es war ein Versuch. Ist total gescheitert. „Coole Frisur, Luluchen!“ (Mama). „Hatte ich auch, als ich so alt war wie du!“ (Papa). „Machen Sie mal lieber Ihre Hausaufgaben statt sich aufzumotzen, als sein’s die Achtziger!“ (Herr Franke, mein Mathelehrer mit den drei – sichtbaren – Piercings). „Jetzt siehst du echt aus wie ein Frosch – jetzt brauchst du nur noch den Prinzen, der dir das wieder weg küsst!“ (Janina, meine beste Freundin). „Hey, Lohmeier, du hast da was im Haar – sieht aus wie Kuhscheiße!“ (Philipp, Klassenarsch und Möchtegern-Weiberheld). „Mama, Lulu ist voll dreckig!“ (Chrissi, vorpubertäre Schwester).
 

Da haben wir schon den Salat: Meine Familie nennt mich „Lulu“ – okay, könnte doch die Abkürzung von Eleutherius sein, hört sich aber in jedem Falle an wie der passende Name für eine überzüchtete Pudeldame. Ich habe eine „beste Freundin“ aber definitiv keine „Kumpels“. Ist zwar keine Zwangläufigkeit, könnte aber irgendwie doch etwas damit zu tun haben, dass potentielle „Kumpels“ mich meiden wie die Pest, seitdem ich mich letztes Jahr mit einem bravourösen Auftritt im Geschichtsunterricht geoutet habe. Waren gerade alle so in Heul-Stimmung wegen Holocaust und so, da dachte ich, das sei ein guter Zeitpunkt auf Toleranz für Angehörige ehemalig verfolgter Gruppen zu pochen. Sie sind trotzdem alle fast vom Hocker gekippt, als ich fröhlich verkündete, als Frau Steinwiese mich drannahm: „Finde ich auch voll die Schweinerei. Ach ja, wo wir schon mal dabei sind: Ich bin auch schwul!“ Klar, hat erst mal keiner ein blödes Wort zu gesagt, dazu waren die alle zu Toleranz-indoktriniert, aber gruselig war’s den meisten schon, hab‘ ich deutlich gespürt. Vor allem weil sie zuvor lieber sonst wen verdächtigt haben, aber nicht mich. Da kann man mal sehen, wie das mit Vorurteilen so ist. Nur weil ich nicht chronisch mit abgespreiztem kleinen Finger kreischend durch die Gegend gehoppelt bin, nicht aussehe wie eine Zuckerfee und auch niemals rosa Paillettenkleider trage, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht stockschwul sein kann. Aber ist mir scheißegal, was in deren Dörrobstrüben so vorsichgeht. Wer das nicht abkann, der kann mich halt mal. Da scheißt „Lulu“ gepflegt drauf. Aber es hatte sich ausgekumpelt. Ich wurde nicht gemobbt oder so, auch weiterhin brav auf alle Partys eingeladen, aber so dicke auf Freundschaft wollten zumindest die meisten meiner männlichen Jahrgangskameraden nicht mehr machen – ich könnte ihnen im Prosecco-Rausch ja in die Knackärsche kneifen oder so etwas in der Richtung, was immer in deren Schädeln vor sich geht. Ich trinke lieber Bier. Und ich würde schon dem ein oder anderem von denen im Bier-Rausch ganz gerne in den Arsch kneifen… besonders Nathan… rrrrroauuuwwww… Mea culpa. Ich bin achtzehn und schwul, wie bitte ticken Heten-Typen in meinem Alter? Die hat aber einen guten Charakter! Und geht jeden Sonntag in die Kirche! Von wegen. Ich komme klar, ich habe meine Familie, ich habe Janina und ein paar andere von den Mädels – irgendwie sind Frauen da lockerer – und meinen Sandkastenfreund Schorschi, der aber schon eine Lehre zum KFZ-Mechaniker macht und der Meinung ist, wenn ich ihm unser ganzes Leben lang ein guter Freund gewesen sei, dann würde das wohl kaum was ändern, solange ich ihn nicht heiraten wolle. Will ich auch nicht. Nur, wenn ich mit Vierzig oder so die Krise bekomme. Dann murmele ich den geheimen Zauberspruch, Schorschi wird blitzartig halbwegs ansehnlich und verliebt sich wie rasend in mich. Ach nee, da kaufe ich mir dann doch lieber zehn Katzen, soll ja auch sehr erfüllend sein. Insofern: alles in Butter.
 

Tja… so bin ich wohl… immer ein wenig mit dem Kopf durch die Wand und ein wenig auf die Konsequenzen scheißend… gehe in die zwölfte Klasse eines Hamburger Gymnasiums (Lieblingsfächer: Kunst und Mathe, ich weiß, klingt komisch)… habe keinen Plan, was ich nach dem drohenden Abi machen soll… bin ziemlich groß, fast eins neunzig, keine Ahnung, wie das so schnell passieren konnte, eben war ich noch da unten, da gehe ich wohl nach Mama, die ist auch so ein langes Elend. Ich mache ganz gerne Sport, Fitnessstudio klingt immer so nach Stumpf-Gorillas (nicht, dass ich gegen deren Anblick so direkt etwas hätte), aber ich finde die Übungen an den Maschinen irgendwie meditativ. Wow… „meditativ“… ich könnte Guru werden? Als Guru lebt es sich doch auch nicht schlecht… ich… ein Harem voll williger nackter Typen… Ja, träum weiter Ludwig. In meinem Harem haust aktuell nicht mal ein totes Huhn.
 

Aber das werde ich, verdammt noch mal, ändern! Ich bin jetzt achtzehn, erwachsen – dem Gesetz nach, wenn vielleicht auch nicht in der Birne, aber wer ist das schon außer Frau Theobald, meiner Englischlehrerin, die eventuell bereits im alten Ägypten unterrichtet hat – mit exakt denselben Sprüchen.
 

Okay, vorhin habe ich gelogen: Ich habe einen Plan. Nein… ich will keinen Nobelpreis in Quantenphysik, bloß nicht – obwohl, die Kohle würde ich nehmen. Nun gut, „Plan“ ist auch übertrieben… Aber ich bin hoch gewachsen, habe mehr als manierliche Muckis, sehe anständig aus – bis auf die Haare gerade eventuell – aber pickelfrei und grüne Katzenaugen und so… also warum es nicht ordentlich krachen lassen, und ein richtig cooler, schwuler Aufreißer werden? Wer hindert mich? Ich selbst… eventuell. Aber Versuch macht klug… äh, kluch. Jeder hat mal klein angefangen. Und bisher war mit Sex bei mir Ebbe. Aber total. Wenn man mal von mir und meinem innigen Verhältnis zu meiner Hand und den gratis Internet-Pornos absieht. Aber die sind sehr lehrreich, jawohl! Wie Bildungsfernsehen sozusagen. Zumindest für einen Demnächst-Oberhengst! Ich vermute, meine Eltern würden in Hinsicht auf meine Berufung ihr Veto einlegen, aber denen erzähle ich das garantiert nicht. Erst wenn ich den Nobelpreis dafür gewinne…
 

Aber ich will das fühlen… so einen Männerkörper unter mir, der sich mir öffnet, der mich aufnimmt… oh Mann! Schnell die Zimmertür verrammeln! Sonst wird’s noch peinlich, wenn Chrissi mir spontan ein Gute Nacht-Küsschen geben will. Und andersrum? Weiß nicht… lockt mich nicht so, könnte aber dennoch sein...? Passt aber schlecht zum angestrebten Image, oder? Aber das ist – noch! – reine Theorie.
 

Also, was tun? Die angestrebte Horde wird garantiert nicht einfach so in mein jungfräuliches Bettchen plumpsen. Wäre zwar praktisch und ein Beweis für mein überwältigend männliches Sex-Appeal, ist aber nüchtern betrachtet eher unrealistisch. Da werde ich wohl selbst etwas tun müssen, damit dass das Klientel auch mitbekommt. Auf in die große weite Welt! Jetzt bin ich volljährig, und meine überbesorgten Eltern müssen es wohl oder übel zähneknirschend schlucken, dass ich auch mal die Puppen tanzen lasse! Aber nicht heute… morgen ist ja Schule.
 

An diesen Sachverhalt erinnert mich jetzt der liebliche Klang der Stimme meiner Mutter. „Lululein!“ – ich bin echt so eine arme Sau – „Zeit für Heia-heia! Du schreibst Morgen Englisch!“
 

Nein, meine Mutter ist nicht geisteskrank, jedenfalls nicht mehr oder weniger als der Rest der Leute, die ich in meinem Leben bisher kennengelernt habe. Aber vielleicht sind doch alle pathologisch irre, ich merke das bloß nicht, weil ich’s auch bin? Das Thema könnte ich ja mal im Philosophieunterricht ansprechen, Verbindung zu Platons Höhlengleichnis inklusive. Nein, Mama ist einfach so auf ihre Art und Weise recht speziell. Sie mag es niedlich. Ich bin ihr achtzehnjähriger Sohn, der keinesfalls irgendwelche Ähnlichkeiten mit einer Babykatze aus Zuckerwatte aufweist, dennoch tut sie mir das in einer Tour an. Und nicht nur mir. Papa ist „Heinzilein“, wenn sie was will „Heinzileinchen“ oder – wenn es ganz dringend ist – „Heinzileiniknuffibärli“. Ich wette, mein Vater fühlt sich jedes Mal wie der größte Macho auf Erden. Aber in dieser Hinsicht ist sie beratungsresistent. Andererseits bekommt man sie zu fast allem, wenn man sie „Mamilein“ (Chrissileinchen und ich) oder „Binchen“ (Heinzilein/Papa) nennt und Kulleraugen macht, als sei man bekifft. Meine Familie ist gut darin, Drogenrausch zu heucheln. Ich wette, einige meiner Lehrer denken zuweilen, dass ich ab und an eine Tüte frühstücke, dabei habe ich nur vor der Schule meine Mutter bequatscht. Dauert halt eine Weile, bis die Augen wieder normal sind.
 

„Ich weiß!“ rufe ich zurück. „Es ist zehn Uhr – nicht fünf Uhr früh! Und ich bin achtzehn – und nicht drei!“
 

„Ach Luluchen!“ ruft sie mit der vergnügten Großspurigkeit durch die Tür, die Eltern immer drauf haben, wenn sie einen nicht ganz für voll nehmen, was wahrscheinlich heißt: für immer. „Du bist erst seit drei Tagen achtzehn! Mamilein ist doch nur besorgt um dich!“
 

Ich seufze ein Mal tief. Ist ja nicht mal so, als ob mich das ernsthaft nerven würde, dazu bin ich inzwischen viel zu abgehärtet. Und sie ist besorgt. Dass sie eine schlechte Mutter wäre, kann man nun wirklich nicht behaupten. War immer für mich da, hat mich je nach Bedarfsfall getröstet oder in den Arsch getreten, hat wegen meines Outing nicht Zeter und Mordio geschrien… Man muss sie halt zu nehmen wissen. „Okay!“ lenke ich ein. „Ich gehe nur noch mal die Vokabeln für Morgen durch, davon werde ich garantiert so saumüde, dass ich in zehn Minuten brav ins Lummerland kippe!“
 

„Sei nicht immer so negativ!“ flötet sie weiter wohlgelaunt. „Du bist jung, das Leben ist schön!“
 

Ja… super, wenn das bedeutet, dass Mamilein einen um zehn Uhr abends ins Heia-Heia-Bettchen stecken will… „Alles ganz große Klasse!“ erwidere ich. „Mein Herz kocht fast über: „forest decline“ – Waldsterben, „brain tumor“ – Gehirntumor, „starvation“ – Hungertod… Du hast Recht! Da bekomme ich sofort Lust zu tanzen!“
 

„Ach Luluchen…“, erwidert sie nur mitleidig im Angesicht meiner armseligen Bockigkeit. „Mamilein hat dich lieb, auch wenn du mit einem Hirntumor im Wald verhungern solltest. Küsschen, mein Schatz! Bis Morgen!“
 

„Bis Morgen“, muffele ich und fühle mich tatsächlich wieder wie drei. Den Kommentar, dass ich doch noch gar nicht müde sei und so weiter, spare ich mir lieber gleich. Ich ignoriere die mütterliche Attacke einfach und gehe ins Bett, wenn es mir passt – ätsch! Ich weiß, sehr erwachsen, aber was soll’s.
 

Ich stehe vom Computer auf, die Lust auf einen Besuch beim „Bildungsfernsehen“ ist mir gerade etwas abhanden gekommen, und schlurfe hinüber zum Fenster. Es ist Herbst, und es stürmt ein wenig, wovon wir in Ermanglung alter knarzender Bäume in unserem Neubauviertel wenig mitbekommen. Die Einfamilienhäuser stehen hier dicht an dicht, alles ist sauber und picobello und extrem verkehrsberuhigt und so. Dennoch ist es dunkel. Noch. Die Benedigts, die lange Zeit unsere Nachbarn waren, haben sich scheiden lassen und sind fortgezogen. Gott sei Dank, ihr Gebrüll konnte einem echt auf den Wecker gehen. Ja, erstaunlich, nicht wahr, so etwas kommt auch in Spießerhausen vor. Das Nachbarhaus, ein langweiliger Rotklinkerbau genau wie unseres, steht verlassen in der Nacht. Von meinem Fenster kann ich in direkter Luftlinie in eines der Zimmer nebenan sehen. Wer zur Hölle sich das auch ausgedacht hat. Papa hat erzählt, dass das Ding verkauft worden sei, bald würden dort neue Nachbarn einziehen. Hoffentlich keine „Frau in den besten Jahren“, die mit dem Fernstecher den lieben langen Tag in mein Zimmer glotzen würde, in der Hoffnung, einen Blick auf meinen jugendlichen Hintern zu erhaschen. Das bekäme dann ihr Mann mit, sie brüllen wieder, geben mir die Schuld und hetzen mir ihre Bowlingkumpels auf den Hals, die alle für die mexikanische Drogenmafia arbeiten oder so. Nee… Gnade. Wahrscheinlich würden es einfach nur noch mehr von der Sorte sein, die hier sowieso schon massenhaft rum hockt: Mama, Papa, ein bis drei Kinder, Mittelschicht, Lehrer, Ärzte, Polizisten, solche Leute eben. Genau wie wir. Papa ist Sportlehrer auf einem Wirtschaftsgymnasium, meine Mutter hat einen kleinen Laden für nostalgisches Kinderspielzeug in der Innenstadt – voll niedlich, selbstverständlich. Wir passen hier schon gut hin in den Schneewittchenweg Nummer 5. Das heißt hier wirklich so, kann ich ja nichts zu. Immerhin ist es nicht der Zwerg Nase-Weg, den gibt es hier nämlich auch. Aber noch ist Ruhe im Schneewittchenweg Nummer 7, so dass in meinen abendlichen Frieden voll genießen kann.
 

Da stehe ich also, sehe das verlassene Haus, sehe mein Spiegelbild in der Scheibe. Posiere ein wenig. Noch bin ich ja sicher vor den lüsternen Blicken älterer Hausfrauen. Habe ich im Fitnessstudio gelernt. Und ich bin sicher, dass das nur die Leute für albern heißen, die dabei aussehen würden, als hätten sie eine Qualle im Schlüpfer. Eine eiskalte Feuerqualle voll eiskaltem Feuerquallenschleim. Ich kann mir das locker erlauben. Sehe echt aus wie ein Mann. Irgendwie schon erstaunlich. Irgendwie ist mein Hirn da wohl nicht ganz so schnell gewachsen wie der Rest von mir, dass ich immer wieder ein wenig verdutzt darüber bin.
 

Mein Aussehen ist wirklich nicht der Punkt bei der Sache, meinem „Plan“ meine ich, das kommt objektiv betrachtet schon hin. Ich muss das nur mental auf die Reihe kriegen. Cool sein. Dann merkt keiner, dass ich keine Ahnung habe, bis ich endlich Ahnung habe, und dann würde nie jemand wissen, dass ich keine Ahnung hatte, als ich vorgab, Ahnung zu haben. So. Ich räuspere und hauche so heiser und verführerisch, wie ich kann: „Hey…“ Mmm. Gar nicht soooo übel, oder? Noch mal: „Hey… was geht ab?“ Nee… das ist oberlahm. Nur „Hey“ ist schon besser. Und locker lächeln – bloß nicht grinsen wie ein grenzdebiler Affe! Haltung bewahren, nicht in Ohnmacht kippen, dann würde das schon gehen…
 

„Luluchen, du bist ja immer noch wach!“ reißt mich die Stimme meiner Mutter aus meiner Übungseinheit zurück in die triste Realität.
 

„Bin schon so gut wie entschlummert! Mache nur noch meine Abendandacht!“ behaupte ich. Das ist auch gar nicht mal so gelogen… Netterweise kommt kein weiterer Kommentar ihrerseits, wahrscheinlich hat sie es eilig, wieder zurück zu Papa zu kommen. Meine Eltern haben sich lieb. Sehr lieb. So lieb, dass ich mich manchmal wundere, dass ich nicht zwanzig Geschwister habe. Die müssen irgendwie geschummelt haben, befürchte ich. Ist auch besser so, denn ich habe nun wirklich keine Lust, mein kuscheliges Bettchen mit fünf Brüderlein teilen zu müssen. Oder die Unterwäsche von neunzehn Schwestern aufhängen zu müssen. Da würde ich mich dann vermutlich früher oder später dazu hängen.
 

Ich schließe kurz die Augen. Morgen: Englischarbeit. Übermorgen: Freitag. Der Beginn meines Lebens als schwuler Casanova. Es erst mal so richtig krachen zu lassen! Nicht, dass ich nicht an die Liebe glauben würde, sicher, wäre toll – wenn ich anfange, tatterig zu werden und die biologische Uhr zu ticken und Zac Ephron mein Flehen endlich erhört. Ich stehe nicht auf High School Musical!!! Ich stehe lediglich auf diesen Schnuckel, da nehme ich notfalls jeden Schrott für in Kauf! Zac Ephron als depressiver, transsexueller Alien auf dem Selbstfindungstrip im Münsterland? Immer her damit. Aber bis dahin: Spaß! Spaß! Spaß!
 

Ich fahre den Computer runter und schlurfe ins Bad. Das Grün auf meinem Kopf sieht im Halogenlicht echt ziemlich fies aus. Vielleicht hat man dafür ein paar Frösche in den Mixer geworfen, wer weiß. Wer will das wissen? Aber es passt perfekt zu meinen Augen und hebt meine helle Haut vorteilhaft hervor. Da mögen sie lachen und lästern, wie sie wollen, mir gefällt es. Brav putze ich mir meine Zähne. Mit Kinderzahncreme. Ich wurde nie entwöhnt. Und ich hasse Minze, aber ich mag Erdbeergeschmack. Und noch bin ich deshalb nicht an Mundfäule krepiert.
 

Rein in den Schlafanzug, ab ins Bett. Halb Elf. Na toll. Bin ich müde? Ein bisschen… hat mir meine Mutter garantiert bloß nur eingeredet. Augen probehalber zu. Geht. Bisschen träumen…
 

Ich in der Schwulendisko… ein Panther, der nach seiner Beute sucht… Elektrizität geht von mir aus, fließt durch den Raum, lässt sie erschauern… sie wollen mich… aber sie wissen, ich wähle aus… und sie beten, dass sie es sein dürfen…
 

Und dann? Ab in den Schneewittchenweg inklusive Frühstück mit den versammelten –leins und –chens meiner Familie? Wohl eher nicht. Nein… nein… Tarnidentität… niemand weiß, wer ich wirklich bin… mysteriös… gefährlich… wild… ein einsamer Jäger…
 

Na gut, ich weiß, dass das eventuell etwas übertrieben klingt, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen? Das hier ist schließlich mein Kopfkino! Und da bin ich… Louis! Genau! Viel besser als Ludwig, aber eigentlich dasselbe nur in Französisch… und „Louis“ mag „Französisch“… da bin ich mir verdammt sicher. Schon allein bei dem Gedanken wummert mein Herz. Wie sich das wohl anfühlt? So in echt? Mein Untergeschoss wird hellhörig. Aber so gelenkig bin ich dann doch nicht. Muss wohl doch wieder Freund Hand ran, während mir mein Geist Bilder vorgaukelt. Schöne Bilder. Wilde Bilder. Und das Gefühl… fremde Haut auf meiner Haut… eine Zunge… Geruch… schmale Hüften unter meinen Händen… ein knackiger Po… Ach Mann… bald… bald…
 

……
 

„Aufstehen! Lulu! Luluuuuluuuuluuuu!“ brüllt irgendetwas mit hoher Kreischstimme, während ein Erdbeben der Stärke Zehn mein Bett erfasst. Ich werde sterben. Garantiert. So eine Naturkatastrophe überlebt niemand. Da lohnt es sich nicht aufzustehen.
 

Etwas plumpst neben mich. Es riecht leicht nach Kirsche und Kinderbett. „Luluuuuu!“ lacht es. „Du musst aufstehen! Papa fährt uns zur Schule!“ Nein… doch kein Erdbeben. Lediglich meine hyperaktive kleine Schwester, die allerdings zuweilen fast dasselbe Zerstörungspotential aufweist.
 

„Will nicht…!“ nuschele ich. Sie quiekt und piekt mich in die Seite. Chrissi ist neun und geht in die vierte Klasse der Grundschule. Ich habe sie sehr lieb. Aber gerade eben nicht, da ist sie der Sendbote Satans alias Papas. Ich bin ein totaler Morgenmuffel, egal, wann ich ins Bett gegangen bin. Sie krabbelt herum und fängt an, meine Fußsohlen zu kitzeln. „Nein! Nicht!“ kreische ich und fahre auf. Ich stehe kurz vorm Herztod. Sie lacht sich kaputt über mich. „Lulu!“ kichert sie. „Jetzt siehst du aus wie eins von diesen Petersilienmännchen! Die aus Ton mit Haaren aus Petersilie! Voll lustig!“ Voll fies. Kinder können so grausam sein.
 

„Und du…“, schnaube ich, „siehst aus wie… wie eine doofe Barbie!“ Das sollte eine Beleidigung sein. Findet sie aber nicht. Sie strahlt. Na toll, ohne einen Kaffee intus kriege ich es nicht mal hin, eine Neunjährige zu beleidigen. Sie ist zwar nicht blond, sondern hat hellbraune Haare genau wie ich im Originalzustand und wie Papa, aber sie hat gerade eine ihrer Prinzessinnen-Phasen. Vor zwei Monaten wollte sie noch Brummifahrer werden, da war sie mir deutlich lieber, auch wenn sie ständig demonstrativ laut gerülpst hat. Echt nicht besonders nett für das Image der Brummifahrer, aber ihr hat’s Spaß gebracht.
 

„Ach, Mann!“ seufze ich und komme schicksalsergeben in Bewegung. „Blöde Welt!“
 

„Gar nicht blöd!“ korrigiert sie mich immer noch lachend. „Nur du bist blöd – morgens!“ Wo sie Recht hat, hat sie Recht – leider. Aber ein bisschen mehr Respekt vor „Louis“ könnte sie schon irgendwie haben. Aber so ist das eben mit getarnten Superhelden… gilt wohl auch für Oberhengste in spe. Aber das muss mein unschuldiges Schwesterlein nun wirklich nicht wissen, um es dann mit ihren minderjährigen Tratschtanten beim Seilspringen auszudiskutieren – und die dann mit ihren Eltern und deren Eltern dann mit meinen Eltern und diese dann… tja, das kann man sich denken. Nein, was die angeht, lautet das Motto: Lulu ganz brav! Braver Junge! Braver Lulu geht jetzt ganz viele Punkte in Englisch schreiben! Braver Lulu will ja auch braver Lulu sein, aber die Pflicht ruft auch, Louis muss ihr nachkommen, jawohl! Faule Ausrede, ich weiß. Aber ich bin achtzehn und keine Betschwester!
 

Von unten duftet es verführerisch nach Kaffee. Ich sehe zu, in die Gänge zu kommen. Chrissi verzieht sich. Viel machen muss ich nicht, habe gestern schon alles bereit gelegt, Schultasche, Klamotten, da ich ja weiß, dass ich nach dem Aufstehen etwas unzurechnungsfähig bin. Kurz ins Bad, geschrubbt, gestylt, das kann ich auch notfalls im Schlaf.
 

Papa steht schon misslaunig im Flur, als ich unten ankomme. Die Morgenmuffeligkeit habe ich von ihm. Er ist eigentlich immer ein sehr freundlicher Mensch, aber um diese Uhrzeit eher wie ein Grizzly, den jemand aus Spaß aus dem Winterschlaf geschüttelt hat. Seine armen Schüler in der ersten Stunde, die halten ihn garantiert für einen Offizier der chinesischen Armee. Ich sehe Papa ziemlich ähnlich, nur dass ich ihn locker um einen Kopf überrage. Papa ist ein echter Schrank – oder eher eine Kommode: So hoch wie breit. Mama sieht daneben wie der Garderobenständer aus. Sie lächelt, als ich in die Einbauküche komme. Ein fertig geschmiertes Brötchen liegt auf einem mit knopfäugigen Teddys bedrucktem Teller aus ihrem Laden. Ich bedanke mich irgendwie, stopfe es wie ein Werwolf in mich hinein und kippe hektisch den Kaffee hinterher.
 

„Nicht so schnell, Luluchen, sonst bekommst du Bauch-Aua!“ warnt sie.
 

„Habe eh schon Welt-Aua, macht nichts“, grummele ich, aber das wiederum kennt sie schon zu gut, als dass sie das irgendwie aufregen würde. So ist das wohl in Familien. Entweder man kommt mit den Macken der anderen zurecht – oder man brüllt.
 

Papa versucht derweil im Flur verzweifelt, Chrissi einen Zopf zu flechten. Sie heult auf, als er ihr grobmotorisch ein paar Haare ausreißt. Mama scheucht uns, wir sind spät dran. Sie hat noch Zeit, sich von uns zu erholen und dann zum Laden zu fahren. Dafür ist sie erst spät zurück. Sie wuppt sie Sache gemeinsam mit zwei Halbtagskräften, Linda und Melanie, da muss sie ordentlich ran. Aber man ahnt gar nicht, wie viele Leute auf ihre Ware stehen. Das, was sie nicht kaufen – oder besonders niedlich ist -, landet bei uns. Siehe Teddy-Teller.
 

Ich schnappe mir meine Tasche, Chrissis Ranzen und sehe zu, hinter Papa herzueilen, der knurrend in Richtung Wagen stapft. Wenn jetzt jemand den Fehler macht, ihn anzusprechen, ihm womöglich noch einen „Guten Morgen“ zu wünschen, gibt es ein Blutbad. Garantiert. Und ich mache mit. Chrissi kratzt das nicht, sie plappert ohne Punkt und Komma über das Lied, das zu singen ihre Klassenlehrerin ihnen versprochen hat. Irgendetwas mit „Vögeln“. Mein stumpfes Hirn findet das hochinteressant. Ich will auch mit in die Grundschule. Stattdessen muss ich irgendeinen Englischaufsatz über den drohenden Weltuntergang schreiben.
 

Die Welt ist zwar grade oberdoof, aber bitte warten, bis ich meine Karriere als großer Stecher absolviert habe! Ich will nicht bloß in die Hölle, weil ich meine Eltern ein bisschen zu beschummeln gedenke und immer die Chemiehausaufgaben bei Janina abschreibe! Wenn, dann bitte aus einem vernünftigen Grund!

Hey ...

2. Kapitel: Hey…
 

„Huhu, Lulu!“ grinst mir Janina schon entgegen, als Papa mich mit einem Laut aus irgendeiner Ursprache aus dem Auto gruselt. Chrissi haben wir bereits abgesetzt, jetzt zieht er los, seine Schüler für die Apokalypse vorzubereiten, um dann ab der zweiten Stunde wieder zum Lieblingslehrer zu mutieren.
 

„Psst!“ fahre ich sie an. „Spinnst du! Schon schlimm genug, dass die mich daheim so nennen, bitte nicht auch noch die ganze Schule!“
 

„Na, da hat sich ja mal wieder einer eine Portion Hass unter seine Frühstücksflocken gemixt“, grinst sie unverdrossen. Janina geht mir ungefähr bis zum Knie, aber wenn sie sauer wird, sehe ich neben ihr aus wie ein Schlumpf. Sie ist nach Hetenjungs-Maßstäben der totale Kracher – und nach den Maßstäben der blasierten „Mein Vater sitzt im Vorstand von Blablablub“-Tussen unseres Jahrgangs ist sie eine billige Schlampe. Sie ist da stolz drauf. Ich will auch eine billige Schlampe sein – aber mit Stil! Sie zelebriert das Ganze, ohne dass die Tussenfront das schnallt. Mit so vielen Typen war sie gar nicht im Bett, aber ihr Outfit legt das nahe. Sie hat ganz lange blonde, tolle Haare, eine Top-Figur inklusive schlanker Beine, Kurven und ordentlich Volumen vor den Rippen – und trägt systematisch immer viel zu wenig, als dass das irgendwer übersehen könnte. Ihre langen künstlichen, mit Strasssteinen beklebten Nägel runden das Bild wohlgefällig ab. Dass das größtenteils Selbstironie und gezielte Provokation ist, raffen die Blödmänner natürlich nicht – und Janina amüsiert sich darüber. Insgeheim wollen sie alle Janina – poppen oder so wie sie alle dazu bringen zu können, sie poppen zu wollen. Okay, ich bilde da die Ausnahme. Sie ist ein Genie. Ein böses Genie. Heute trägt sie schwarze Overknee-Stiefel, einen zum Rock umdefinierten Gürtel und ein Jäckchen, dass irgendwann mal ein glücklicher Flokati war. Recycling ist wichtig! Sie sieht echt aus wie eine Dame vom Gewerbe… und ist Klassenbeste. Das Leben ist echt fies. Aber Hetenkerle haben ja angeblich Angst vor intelligenten Frauen, das Schlampenoutfit ist die perfekte Tarnung, da bekommt keiner von denen mit, wie helle Janina eigentlich ist. Okay, die in unserer Klasse natürlich schon. Und die sind chronisch… verwirrt, wenn sie sie anstarren.
 

Sie herzt mein knurrendes Morgenich und piekt mir mit einer ihrer Krallen in die Wange, sieht mich wimpernklappernd an. „Und… der Plan steht?“ fragt sie.
 

Ich nicke entschlossen. „Ja, Morgen heißt es: auf zu neuen Ufern!“ verkünde ich.
 

„Was? Du willst doch wieder eine Hete werden? Aber… aber… so funktioniert das nicht, du Töffel! Oder war diese ganze schwul-Nummer nur ein linker Trick, um mich in die Kiste zu bekommen?“ stichelt sie, während wir über den Schulhof laufen. Jüngere Schüler starren uns an. Wir sind die Freaks. Aber nicht die Nerd-Freaks, sondern die Freak-Freaks. Für Nerds spielen wir zu wenig Schach, sind zu gut in Sport und sehen zu gut aus, auch ohne Makeover.
 

„Nein“, erwidere ich augenrollend. „Vergiss es! Ich komme dir nicht unter die Killer-Krallen!“
 

„Na, dann ist ja gut“, spottet sie sanft. „Aber bist du sicher, dass ich mit soll?“
 

„Ja!“ entgegne ich bestimmt. „Allein… ach nee…“ Ich bin so eine feige Nuss. Muss ja keiner wissen.
 

„Und was soll ich als Frau da? Da werde ich doch bestimmt schief angeguckt?“ grübelt sie. Ihre Absätze klingen wie Maschinengewehrfeuer auf dem Asphalt.
 

„Ich sag einfach, du seist ne Transe!“ schlage ich höflich vor und fange mir einen Tritt.
 

„Pah!“ schnaubt sie. „Nein: Ich bin lesbisch! Genau!“
 

„Aber du bist doch gar nicht…“, protestiere ich.
 

„Was nicht ist, kann ja noch werden“, erwiderte sie schnippisch. „Ein bisschen bi schadet bekanntlich nie.“
 

„Bäh!“ ekle ich mich demonstrativ.
 

„Es sei denn, man ist so stockschwul wie du“, gibt sie seufzend zu. „Alle Heten haben irgendwo ein schwules Gen, aber wer den Heiligen Gral des Schwulseins errungen hat, der rückt ihn natürlich nicht wieder raus!“
 

„Genau!“ grinse ich. Ich werde wacher. Die Sonne scheint. Das Leben beginnt zu lachen. Wir schreiben eine Klausur.
 

„Du bist so ein Blödi, Ludwig“, eröffnet sie gönnerhaft, während wir in unseren Klassenraum treten.
 

Wir sind spät dran. Superstreber Manuel weist alle mit einem hysterischen Unterton dazu an, ihre Tische schon mal in Position zu rücken, damit keine wertvolle Arbeitszeit verloren geht. Solange es nicht fürs Abi gezählt hat, wurde er ignoriert. Jetzt spuren alle. Seine große Zeit. Wird er bestimmt in seinen Memoiren genauso schildern.
 

„Hallo Grünkäppchen!“ zischt Philipp mir entgegen. Er kann es partout nicht verkraften, dass ich schwul bin und dennoch keine totale Witzfigur, die ständig heult und sich in den Spitzenschlüpfer macht. Und der Typ reißt im Unterricht immer brav das Maul jedes Mal auf, wenn es um Toleranz geht - und es Punkte abzustauben gibt. Mit der Praxis sieht es anscheinend noch nicht so gut aus. Armes Hasi.
 

„Hallo, böses Wölfchen. Sexy, deine alte Jeans. Riecht so nach… Würde? Nee… Geschmack? Nee… Altersheim? Ja, das ist es! Oh Mann!“ strahle ich ihn an. Wenn er größer wäre, würde er mir in die Nase beißen. Wenn er stärker wäre, würde er mich hauen. Aber blöderweise bin ich größer und stärker. Das Leben ist so ungerecht! Janina kichert böse. Er verzieht angewidert das Gesicht, aber so wie er glotzt, ist es sonnenklar: Er ist scharf auf Janina. Wie so ziemlich jeder dieser bigotten Idioten. Okay, sind sie nicht alle. Mein Sitznachbar Mark zum Beispiel ist okay. Er ist einfach… neutral. Hält sich raus. Ich glaube, es ist ihm wirklich schnuppe. Sehr sympathisch.
 

Ich lasse mich auf meinen Platz plumpsen, den irgendwer netterweise schon in Reih und Glied gerückt hat. Janina schräg vor mir kramt ihre Stifte heraus. Sie hebt ihren pinken Glücksfüller und gibt ihm einen Kuss, als sei sie ein Cowboy und wir im wilden Westen. Leon, dem designierten Klassenclown, fallen fast die Augen raus. Luisa und ihren beiden Scherginnen – gibt’s das Wort? Egal, Frauen können das auch sein – Karla und Lena zischen abfällig. Erstickt doch an euren verlogenen Perlenohrringen. Janinas billige Plastikklunker sind da viel ehrlicher – und selbstfinanziert. Janina sitzt an der Kasse von Edeka, drei Mal die Woche, dafür und hält nicht einfach nur die Hand unter Papas Nase auf. Eine Welle der Zärtlichkeit steigt in mir auf. Da mögen die sich aufregen, wie sie nur wollen, Janina hat Stil, ihren eigenen, ist nicht so ein angepasstes Mäuschen. Und sie hat auch den Charakter, das durchzuziehen. Und ich werde das auch durchziehen… mein Ding… cool sein… und endlich Sex haben! Tonnenweise davon! Aber erst einmal…
 

„Guten Morgen, meine Lieben!“ strahlt Frau Theobald, unsere Englischlehrerin. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Eine wunderschöne Klausur, Sie schreiben sie, ich korrigiere sie – juhu!“ Der Tonfall legt nahe, dass sie nicht davon ausgeht, dass eine der beiden Seiten darauf sonderlich Bock hat. Aber wie der Hamburger so sagt: Wat mut, dat mut. Auf geht’s.
 

Zwei Schulstunden später komme ich wieder zu mir. Das Heft ist weg. Erledigt. Fertig. Finito. Ich habe geschrieben wie ein Besengter. Probleme der Globalisierung für Indien. Mein Lieblingsthema. Kleiner Scherz. Aber ich bin guter Hoffnung. Ich bin ganz gut in Englisch. Insgesamt bin ich sowieso keine schulische Niete. Bis auf Musik. Da bin ich ein totaler Fail. Ich kann eine Geige nicht von einer Blockflöte unterscheiden. Ich höre sie – Musik, nicht Geigen und Blockflöten - gerne, aber darüber nachdenken zu müssen? Führt bei mir zu Gedankenmüll. Und einer Gnadenvier. Aber muss ich eh nicht einbringen.
 

Manuel lässt die Tische wieder zurückrücken. Ich glaube, man verschiebt mich einfach mit, weil ich noch im post-Klausur Dusel bin.
 

Herr Franke, mein Mathelehrer mit den Piercings, erscheint wie Jack off the Box. Erzählt irgendetwas. Ich bestaune seinen Nasenring und teile ihn durch die Wurzel von Pi. Schreibe artig ab, was er an die Tafel schreibt. Dann ist Pause. Kaffee!
 

Irgendwie zombe ich zum Automaten. Kippe das Zeug in mich rein. Komme wieder zu mir. Renne gegen irgendetwas, als ich den Plastikbecher wegwerfen will.
 

„Hi!“ kommt ein Stimmchen von unten. Ich schiele abwärts. Vor mir steht Hauke, ein Junge aus der Elften, den irgendwer zu gießen vergessen hat. Er ist klein und wirkt irgendwie immer ein wenig trübsinnig.
 

„Hi“, grüße ich verblüfft zurück.
 

Er starrt zu mir hinauf, als würde sich mir gerade eine Boa aus der Nase schlängeln. Er ist knallrot. „Ich…“, keucht er.
 

„Äh… ja?“ helfe ich ihm probehalber aus.
 

„Ich ma… ma… mag… dein… Haar. Die Farbe! Ich mag deine Haarfarbe!“ stottert und prustet er hinaus. „Ist wie deine Augen! Wie Arielle!“
 

„Arielle?“ erwidere ich entgeistert.
 

„Arielle die Meerjungfrau! Wie der Schwanz von Arielle der Meerjungfrau!“ eröffnet er mir und nimmt endgültig die Farbe einer Tomate an.
 

Hey, ich bin keine Tussi aus einem Zeichentrickfilm!!! Ich habe einen Schwanz! Okay, hat Arielle auch. Scheiße. Immerhin riecht meiner nicht nach Fisch.
 

Hauke schlägt sich die Hände vor den Mund. Er keucht. Dann dreht er sich um und rennt, als sei die Rote Armee hinter ihm her. Ausschließlich.
 

„Was… was war das denn?“ stammele ich, als Janina lachend auf mich zutritt.
 

Sie legt ihre Hand auf meinen Oberarm. „Er wollte dir ein Kompliment machen“, beruhigt sie mich.
 

„Was war das denn für ein Kompliment!“ koche ich. „Ich sehe nicht aus wie eine Kitsch-Nixe!“
 

„Hey, reg dich ab!“ lacht sie. „Das war doch… total süß.“
 

War es das? Fühlt sich nicht süß an. Oder?
 

„Du hast das nur in den falschen Hals bekommen“, lullt sie mich ein. „Das war total lieb gemeint. Er mag dich, glaube ich, und da redet man nun mal zuweilen Quatsch.“
 

Er mag mich? Der da? Häh?
 

„Er ist doch niedlich, oder?“ bohrt sie.
 

„Ja… klar… niedlich“, murmele ich.
 

Sie zieht die fein geschwungenen Augenbrauen zusammen. Ihre billigen Armreifen klappern, während sie über meine Schulter streichelt. „Was hast du an ihm auszusetzen?“ will sie wissen.
 

Ich zucke mit den Schultern. „Ich… weiß nicht“, nuschele ich. „Ich will es krachen lassen. Keine Schulbeziehung. Und er… er ist nicht… sexy.“
 

„Aber er ist hübsch. Er ist lieb. Und er mag dich“, redet sie auf ihn ein.
 

Ich verziehe verstockt das Gesicht. Aber irgendwie bin ich verwirrt.
 

„Ach, schon gut“, lächelt sie. „Das lässt sich nicht erzwingen. Lassen wir es krachen, Mr. Geiler Oberhengst!“
 

Erleichtert lächle jetzt auch ich. „Genau!“ bestätige ich.
 

Sie greift nach meiner Hand. „Komm, die anderen warten schon.“
 

Ich folge ihr. Die „Anderen“ sind Jasmin, Vanessa, Jaroslawa nebst ihres immer ein wenig verstockten Freundes Hannes. Ich schlürfe an meinen zweiten Kaffee. Lausche dem Tratsch. Nathan hat sich von Linda getrennt. Juhu! Aber er ist und bleibt hetero, nichts dran zu rütteln. Mist. Aber träumen darf man doch? Lissy und Daniel sind jetzt ein Paar. Laaaangweilig. Lehrer Soundso war beim Lateinkurstreffen so besoffen, dass er ins Aquarium gekotzt hat. Ich dachte, Lehrer seien trinkfester. Ich mustere die asbestverdächtige Deckenvertäflung. Warte auf Schulschluss. Warte auf Morgen.
 

……
 

Janina und ich sitzen in ihrem uralten Golf, den sie von ihrer Mutter zum Achtzehnten bekommen hat.
 

„Was ist eigentlich dein Traumtyp?“ fragt sie mich, während sie den Wagen startet.
 

„Alle, die was hermachen!“ behaupte ich nonchalant.
 

„Und wer macht was her, wenn schon nicht Hauke?“ lächelt sie.
 

Musik aus dem Radio scheppert aus der Anlage. Alsterradio, wie passend.
 

Ich zucke mit den Schultern. Überlege. „Männlich“, sage ich schließlich. „Süß.“
 

„Männlich und süß werden allgemein nicht gerade gleichgesetzt“, behauptet sie.
 

Ich ignoriere sie. „Und… sexy. Alles“, sinniere ich.
 

„Und was findest du sexy?“ will sie wissen.
 

Einen Kerl?! „Keine Ahnung“, murmele ich. „Das… das sehe ich dann…“
 

„Wann, dann?“, fragt sie, während sie die Ausfahrtsstraße entlang gurkt.
 

„Wenn ich so einen sehe!“ behaupte ich trotzig. „Morgen Abend!“
 

Sie seufzt. Ich fühle mich nicht ganz ernstgenommen. Aber dann sagt sie: „Okay. Morgen Abend suchen wir einen männlichen, süßen, sexy Typen für dich!“
 

„So sehe ich das auch! Oder auch zwei!“ behaupte ich auch aus Gründen der Selbstmotivation.
 

Sie grinst mich breit an. „Du schlimmer Finger du! Böser Lulu!“ behauptet sie.
 

Ich leide still vor mich hin.
 

……..
 

Ich bin der Erste Zuhause heute, hatte ja nur fünf Stunden. Schwein gehabt. Aber jetzt rühre ich in einer Pfanne herum und komme meinen Pflichten als großer Bruder nach. Rührei mit Speck für Chrissi, Papa und mich. Papa sitzt am Küchentisch und lächelt zufrieden mit sich und der Welt vor sich hin. Chrissi frisst „Harry Potter“ in sich hinein. Und ich koche. So will es der Familienplan. Ich bin weder ein passionierter noch ein guter Koch, aber das bekomme ich hin. Ich verteile die Portionen auf den Tellern, garniere das Ganze halbherzig mit ein paar Tomatenscheiben und serviere. Sie grinsen mich hungrig an. Liebe geht wohl echt durch den Magen.
 

„Wie war die Englischklausur?“ mampft Papa beseligt.
 

„Gut“, murmele ich und schließe mich der familiären Schaufelei an. Wir sitzen in der Essecke der Küche. Nebenan ist noch ein Esszimmer. Benutzen wir nur, wenn Besuch da ist.
 

„Wir haben gesungen!“ erzählt Chrissi stolz. Sie demonstriert mit vollem Mund: „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle!“ Ei hängt an ihrem rechten Schneidezahn. Ich nicke ihr bewundernd zu und streiche ihr übers Haar. Meine kleine Schwester. Eine Operndiva. Dafür muss sie aber noch mehr essen. Ich lade ihr nach, Papa sieht mir aufmerksam zu, ich gebe ihm auch eine Extraportion.
 

„Und wie war’s bei dir?“ frage ich Papa.
 

„Gut“, murmelt er. „Aber das sind echt manchmal Lahmärsche! Saufen am Vortag und sind dann schlapp wie nasse Turnschuhe. Wer saufen kann, der kann auch laufen! Gar kein Ehrgeiz, grauenhaft, da muss man vielleicht hinterher sein!“
 

Sein übliches Jammerlied. Das Los jedes Sportlehrers. Aber ich bin ihm ausgesprochen dankbar für seine Gene, ich bin nicht von der Sorte, die nicht werfen kann. Ich hatte immer eine Ehrenurkunde bei den Bundesjugendwettspielen. Philipp nicht. Nochmal ätsch.
 

„Und du willst…?“ fragt Papa vorsichtig. „Morgen wirklich los?“
 

„Ja!“ bestätige ich fest. „Himmel, meine Jahrgangskameraden gehen seit Jahren auf den Kiez. Ich war immer brav und artig, habe eure Verbote geachtet. Aber jetzt bin ich volljährig! Und Janina kommt ja mit.“
 

„Geht ihr…?“ bohrt mein Vater und massakriert sein Rührei.
 

„In einen Schwulenclub? Ja, Papa, denn was soll ich bei der Heten-Datebörse? Will ich nicht. Kann ich nicht. So bin ich nicht!“ rege ich mich ein wenig auf.
 

„Ja ja, ich weiß“, beschwichtigt mich Papa.
 

„Großer, schwuler Bruder“, nickt Chrissi einmütig. „Will mal einen Mann heiraten. Und das darf er auch!“
 

Das entspricht ihrer Verständnisebene, also Ruhe! Sie ist neun.
 

„Ja, genau“, pflichte ich ihr bei. „Aber dazu muss ich erst mal einen kennenlernen!“
 

„Aber… in der Disko…?“ zaudert Papa.
 

„Warst du nie in einer Disko und hast einen draufgemacht?“ fordere ich ihn heraus. „Papa, echt, ich bin achtzehn. Und ich habe noch nie… jemanden kennengelernt. Also bitte!“ Das entspricht zwar nicht dem vollen Ausmaß des „Plans“, aber elterlicher Logik.
 

Er nickt verstehend. Er begreift wahrscheinlich schon, was ich mit „niemanden kennengelernt“ meine. „Sei vorsichtig“, sagt er eindringlich.
 

Zumindest in dem Punkt muss ich nicht flunkern. „Auf jeden Fall!“ erwidere ich.
 

………………
 

Freitagnachmittag. Ein ewiger Schultag liegt hinter mir. Ich habe in der Hitze des Gefechtes beim Fußball Nathan gegen das Schienbein getreten. Leider wird das wohl immer das Maximum an Körperkontakt sein, das ich jemals von ihm kriegen werde. Ich befürchte fast, dass er darauf auch hätte verzichten können, so wie er vor Schmerz geschrien hat. Janina und ich waren nach Unterrichtsschluss shoppen. Da stehe ich zwar nicht besonders drauf, aber es musste sein. Okay, Aufregung und Eitelkeit waren da schon hilfreich. Jetzt rüschen wir uns auf. Ich bin bei ihr in ihrem kleinen Zimmer. Ihr Vater hat sich noch vor ihrer Geburt verdünnisiert, ihre Mutter und sie schlagen sich so durch. Frau Zimmermann, Janinas Mutter, ist eine freundliche Person, aber Janinas Intelligenz überfordert sie zuweilen. Die muss sie von ihrem Vater haben, wahrscheinlich. Aber Janina liebt ihre Mutter, ein böses Wort über sie und Janina verwandelt sich in ein Gedärme fressendes Monster. Zu Recht. Frau Zimmermann hat nichts anderes verdient.
 

„Cool?“ frage ich Janina und drehe mich im Kreis. Sie nickt und grinst.
 

„Lässig!“ bestätigt sie. Eine Jeans, ein genau passendes grünes Shirt. Wahrscheinlich würde auch jeder Laubfrosch auf mich stehen. Ich muss an Professor Hastig und Kermit aus der „Sesamstraße“ denken: Junger Mann, Sie sind ein Frosch! Könnte mir auch passieren.
 

Feierlich steht sie auf. Sie sieht super aus in ihrem kurzen, hellblauen Kleidchen. Legt mir die Hände auf die Schultern. „Du bist ein wunderschöner Mann“, sagt sie sanft. „Vergiss das nie. Du bist ein totaler Spinner, aber das steht auf einem anderen Blatt. Aber du siehst wirklich toll aus.“
 

„Du auch“, murmele ich errötend und küsse sie rasch auf die Nase. Ich bin ihr so dankbar für diese aufbauenden Worte, denn ich bin fürchterlich aufgeregt. Mein erster Abend… da draußen. Werde ich genügen? Werde ich den Grundstein meiner „Karriere“ legen? Oh Mann, oh Mann…
 

Janina muss mich bremsen, als ich drohe die von ihrer Mutter gespendeten Gummibärchen im Rekordtempo zu vertilgen, um meiner Aufregung irgendein Ventil zu geben. Es stimmt schon, es wäre schon schade, wenn die Sache in die Hose ginge, wenn ich dem auserkorenen geilen Typen statt heiße Sprüche Gummitierfetzen um die Ohren huste. Nein, das wäre gar nicht gut.
 

Zwei Stunden später sind wir endlich da. Viel zu früh. Es ist gerade mal kurz nach Elf. Dennoch ist die Reeperbahn brechend voll. Überall Menschen, Menschen, Menschen, wollen sich vergnügen, etwas erleben, wen finden, und wer nicht so erfolgreich ist… Die Prostituierten lauern an jeder Ecke. Und das ist nur das „Bodenpersonal“. Ich weiche erschrocken zurück, als eine mich anmacht. Garantiert nicht. Nie im Leben! Zumindest das wird man mir niemals vorwerfen können. Janina hält meine Hand. Wir wanken durch die aufgekratzte Menge. Sie dirigiert uns. Strahlt mich an. Sie kennt das hier längst, ich nicht dank Mama und Papa. Scheiße, bin ich aufgeregt! Das darf echt keiner merken. Das hier ist das Leben, der Puls der Zeit, ALLES ist hier möglich. Und heute möchte ich auch etwas abhaben von „alles“. Einmal Leben mit ALLES sozusagen.
 

Ich habe mich natürlich schon schlau gemacht, wo man so hingeht, das war das geringste Problem. Aber ohne Janinas Ortkenntnis und Coolness hätte ich mich trotz der Konsultation von Schwuugel Maps bereits jetzt schon drei Mal heillos verlaufen gehabt. Es ist so irre voll hier und laut, und überall ist etwas, Lichter, Menschen, totales Chaos. Die Reeperbahn ist definitiv nicht der Schneewittchenweg. Ich verursache beinahe eine Massenkarambolage, als ich wie das letzte Landei eine völlig gedankenlose Vollbremsung vor dem Schaufenster eines Hochglanz-Sexshops hinlege, der fast wie ein Feinkost-Supermarkt aussieht. Vielleicht bin ich auch das letzte Landei, aber daran darf ich einfach nicht denken…
 

Janina strauchelt und klammert sich reflexartig an mir fest. Ihre Absätze sind so hoch, dass sie mir damit fast bis zur Schulter geht. Aber nur fast. „Was ist…?“ keucht sie, dann sieht sie meinen Glotzblick.
 

„Mag es da einer härter?“ grinst sie.
 

„Nein!“ keuche ich. „Aber das… oh Mann… das ist wirklich… das so…“
 

Sie stupst mich leicht an. „Also gut aufpassen, wenn du damit nicht wider Willen Bekanntschaft machen willst. Ich vermute mal, das ist nicht gerade das, was du dir unter ‚süß‘ vorstellst?“
 

Ich schüttele stumm mit dem Kopf. Klar weiß ich dank Internet von solchen Dingen, aber den Kram direkt vor meiner Nase in einer Auslage zu sehen, macht es so real. Hier laufen Menschen rum, die das kaufen, die genau das wollen. Ich will mir aber nicht den Arsch verhauen lassen, nein, nein, nein, ganz und gar nicht, aber was ist, wenn mein Aufriss…? Ganz ruhig. Kannst ja auch nein sagen. Hoffentlich. Aber für den Anfang wäre mir dann doch jemand lieber, der seine Wohnungseinrichtung nicht aus diesem Laden hat. Ich schlucke. Ich habe echt null Schnall. Vielleicht ist das ja total üblich? Und ich falle als verklemmter Idiot auf? Meine Pornobildung hilft da nicht wirklich weiter. Sicher ist das Fiktion – aber wie viel davon? Und das Leben, das ich kenne, ist so anders… Aber wer weiß, was dahinter steckt? Was Philipp, Luisa, Mark, Jasmin in Wirklichkeit toll finden und hinter verschlossenen Türen treiben? In mir schwirrt es. Ich atme tief durch. Hilft ja nichts, sich darüber jetzt einen Knoten ins Hirn zu grübeln. Ich würde es schon noch herausfinden. Hoffentlich ohne Blamage und Blessuren. Kacke, ich bin total unsicher… will ich aber nicht sein!
 

Janina wartet geduldig, während ich mein Gedankenchaos versuche zu ordnen. Herum zu grübeln hilft hier absolut kein Stück weiter, ist mir auch klar. Theoretisch Fahrrad fahren zu können bedeutet im Klartext auch, dass man es eben gar nicht kann. Aber dennoch… keep cool… Ich sehe gut aus… ich sehe gut aus… männlich… dass in mir ein zaghaftes Häschen hoppelt, weiß ja niemand… bis auf Janina.
 

Sie tätschelt meine erneut Schulter. „Mach dir keinen Stress!“ befielt sie mir tröstend. „Wir schauen mal. Wenn sich was ergibt, okay – wenn nicht, dann hast du eben erst einmal das Terrain sondiert. Jasmin, Vanessa, Jaro und Hannes sind in der „Freiheit“, wenn bei uns nichts geht oder wenn du die Nase voll hast, gehen wir eben zu ihnen rüber und amüsieren uns da. Tanzen einfach ein bisschen. Ist ja nichts dabei, du bist schließlich hier, um dich zu amüsieren und nicht um dir einen abzubrechen.“
 

Wahre Worte, dennoch wünsche ich mir, sie hätte sie nicht gesagt. Ich will nicht… versagen. Kann sein, dass ich mir zu viel erhoffe, aber um dem klein bei zu geben ist es noch zu früh. Viel zu früh. Und da ist dieses Sehnen in mir… endlich zu fühlen, zu berühren, wirklich. Nicht bloß vorgestellt… Das wäre so vieles wert… Ich hänge da echt hinterher, aber meine Schulkameraden haben es da einfach viel leichter, ihre Auswahl und ihre Möglichkeiten sind viel mehr – und ihre Eltern nicht so super korrekt. Aber im Augenblick muss ich ehrlich gestehen, dass ich ziemlich weiche Knie habe. Gott sei Dank ist Janina bei mir, sie greift nach meiner Hand, drückt sie, lächelt mich aufmunternd an, so dass ich wieder in die Gänge komme.
 

Wie gesagt, ich bin informiert, habe Beschreibungen und Kritiken durchgekramt. Der Club heißt „Sweet Dreams“ nach dem Disco-Klassiker nehme ich an und ist Hauptanlaufstelle für schwule Teens und Twens. Das ältere Publikum trifft sich wohl wo anders. Ist mir nur Recht, ich will schließlich nicht das Boy Toy für irgendeinen greisen Manager werden. Der Laden liegt in einer Nebenstraße umgeben von Kneipen, die offensichtlich auch in der Hand der schwulen Szene sind. Die Leuchtreklamen ziehen an mir vorbei… „Hänsels gute Stube“ – was für ein Name! – „Hard Satin“… „Bow“…
 

Mein Herz klopft, als wir uns in die Schlange einreihen. Männer und ein paar Frauen und einige, bei denen ich mir nicht so sicher bin. Sie unterhalten sich lachend, wirken aufgeregt, sind mit Freunden gekommen oder auch mit ihren Partnern, wie auch immer, jedenfalls halten einige Händchen. Auch das… ungewohnt, das so offen zu sehen. Man denke nur, dass ich händchenhaltend mit dem traurigen, kleinen Hauke über den Schulhof spazieren würde wie Jaro und Hannes oder Nathan und Linda… Außerdem will ich keinen Hauke, sondern das hier, Abenteuer und… überhaupt…
 

Ich kann die Bässe der House-Musik von drinnen hören, das Hämmern und Schrillen… Janina sieht sich interessiert um. Sie hält immer noch meine Hand. Ich gebe mir einen Ruck und lasse sie los. Wir sind schließlich kein Pärchen – das hier in dieser Kombination nichts zu suchen hätte – und ich bin auch nicht der weltgrößte Angsthase! Nur beinahe… Scheiße… wie soll ich das nur hinkriegen… in der Theorie hat sich das so einfach angehört…
 

Weiter vorne gibt es Gezänk, weil der Türsteher ein paar Typen nicht rein lassen will. Mist, das könnte natürlich auch passieren. Aus und vorbei, bevor es überhaupt losgegangen ist… Aber so weit kommt es nicht. Wir sind schneller vorne als dass ich mein Horror-Szenario zu Ende spinnen könnte. Der bullige Typ am Eingang, der aussieht wie sein eigenes Klischee, will unsere Ausweise sehen. Wir geben sie ihm, er studiert sie kurz und gibt sie zurück. „Viel Spaß!“ wünscht er uns. „Und schön brav bleiben, Kleiner!“
 

Ich bin empört. Ich bin nicht klein! Ich bin vielleicht alles Mögliche, aber klein denn nun nicht. Allerdings habe ich den dumpfen Verdacht, dass er damit klargestellt hat, dass er mich für total grün hinter den Ohren hält. In Hinsicht auf meine Haarfarbe hat er ja leider Recht. In Hinsicht auf den ganzen Rest auch. Trotzdem gemein! Aber es hat wohl wenig Zweck, sich darüber jetzt aufzuregen, auch wenn es sehr verführerisch ist. Lichter blitzen um die Garderobe, an der Kasse sitzt ein Typ, der sogar noch mehr Piercings im Gesicht hat als Herr Franke. Er knöpft uns den Eintrittspreis ab, drückt uns einen Stempel, dessen Motiv ich nicht deuten kann, auf die Handgelenke und dann sind wir drinnen.
 

Es ist dunkel. Es ist laut. Und es ist ziemlich groß. Zur Linken liegt der Barbereich, auf der zentralen Tanzfläche ist schon ganz schön etwas los. Es sind deutlich mehr Männer als Frauen da, obwohl letztere anscheinend auch ihren Spaß haben. Ein Lesbenpärchen knutscht ziemlich hemmungslos direkt vor unserer Nase. Schon schräg, das so in freier Wildbahn zu sehen. Ich wette Philipp und Konsorten würden ausflippen, wenn sie das sehen dürften. Knutschende Frauen gelten in Heten-Kerl-Kreisen als heiß, so schlau bin ich auch schon, knutschende Typen weniger. Und von denen sind auch einige zugegen. Ich weiß gar nicht wo ich hingucken soll. So viele! Und sie sind alle schwul! Sie tanzen, flirten, zeigen sich, ganz anders als… draußen. Alles meins! Meins! Meins! Da geht es mir wie den Möwen aus „Findet Nemo“.
 

„Coole Musik!“ brüllt Janina in mein Ohr.
 

Äh ja… echt cool… House… was auch immer… Ich nicke einfach stumm und drohe Kopfschmerzen zu bekommen, weil ich überall gleichzeitig versuche hinzugucken. Wow… hat der da drüben einen Oberkörper, dagegen sehe sogar ich aus wie Mr. Hühnerbrust… aber so einen… nee… das ist zu viel… Und was ist das da oben? Eine Art umlaufende Empore, von der eine Reihe Gäste das Treiben unten verfolgt, Bier schlürft, sich brüllend unterhält. Ein Lounge-Bereich scheint sich dort irgendwo anzuschließen. Bunte Lichter flitzen im Takt der Bässe durch den Raum, spielen auf den Körpern der Tanzenden, und es ist einfach nur… cool.
 

Ich komme etwas zu mir, als ich von hinten angerempelt werde. Peinlich berührt stelle ich fest, dass ich wie festgewurzelt einfach am Eingang stehen geblieben bin wie eine Oma beim Weihnachtseinkauf am Fuße der Rolltreppe. Aber bei der Beleuchtung sieht ja keiner, dass ich rot werde.
 

Janinas Hand krallt sich wie ein Schraubstock um mein Handgelenk, als sie mich rettet. Ich folge ihr mehr schlecht als recht zur Bar, immer noch wild um mich glotzend. Sie ist so nett, für uns beide zu bestellen, denn ich kann noch nicht wieder reden. Der Barkeeper zwinkert uns zu und reicht ihr die Biere. Er hat ein total geniales Oberarmtattoo so in der Richtung von George Clooney in „From Dust till Dawn“. Aber selbst, wenn es Einhörner und Blümchen wären, aktuell bin ich sehr leicht zu begeistern.
 

Janina dirigiert mich an die Wand des Barbereiches, wo wir uns anlehnen können und die Lage weiter sondieren.
 

„Oh Mann!“ kehrt irgendwie mein Sprachvermögen zu mir zurück.
 

Sie grinst vergnügt. „So, wie du es dir vorgestellt hast?“ schreit sie in mein Ohr.
 

Ich nicke begeistert. Klar, die Typen hier sehen nicht durchgehend wie aus einer amerikanischen Fernsehserie gefallen aus, aber es sind schon ein paar echt tolle dazwischen. Sie wirken so… selbstbewusst. Damn. Und es sieht auch nicht danach aus, dass sie aufgrund meiner puren Anwesenheit schon voll Anbetung in die Knie brechen, so sie mich denn in unserem düsteren Eckchen überhaupt bemerkt haben. Fasziniert mustere ich sie. Einen nach dem anderen. Der da ist doch… ganz okay… aber… will ich okay? Als Aufreißer sollte man wohl besser nicht übertrieben wählerisch sein, sonst ist das Angebot zu gering, aber… Ich bin ein Narr. Ich will eben nicht bloß „okay“. Doch angesichts der Tatsache, dass ich hier gerade so ein wenig herumstehe, wie bestellt und nicht abgeholt, wird es wohl schwierig werden, auch nur „okay“ zu realisieren.
 

Ich frage mich, was mit mir los ist. Ich bin doch sonst nicht so ein Schisser. Aber das hier habe ich sonst ja auch noch nie getan. Haltung bewahren! Ja, genau. Lässig stehen, wie vor dem Spiegel geübt. Konzentrieren, dann klappt das auch. Janina neben mir wippt im Takt und lächelt mich vergnügt an. Jede Wette, dass sie weiß, dass mir gerade etwas der Arsch auf Grundeis geht. Aber als die gute Freundin, die sie ist, tut sie ihr Bestes, um mich vorm Herztod zu bewahren und führt mir diskret vor, wie man wirklich cool bleibt. Aber sie hat gut reden, für sie geht es hier ja nicht um die Wurst! Sie ist nicht gerade Hauptdarsteller eines sehr schwulen Debütantinnenballs! Vielleicht hätte ich ein pastellfarbenes Kleid anziehen sollen, das wäre dem Anlass entsprechend wahrscheinlich passender gewesen.
 

Ich versuche verzweifelt, mir selbst einen Tritt zu geben. Ist doch bisher alles gut gelaufen, wir sind da, und ich habe die ersten zehn Minuten ohne Katastrophe überstanden! Gesichter und Körper blitzen an mir vorbei. Frei, scheinen sie zu schreien, hier sind wir frei! Und wir feiern, feiern, feiern! Hier gibt es keine Englischklausuren oder lästernde Mitschüler oder überbesorgte Eltern! Und vor allen Dingen, hier gibt es keinen „Lulu“!
 

Meine Augen tasten die Gestalten auf der Empore ab. Es sind zu viele…
 

Mein Blick bleibt hängen. Ich schlucke hart. Oh Mann, ist der schön!
 

Er ist groß und steht so lässig da, wie ich es gerade gerne wäre. Seine Haare sind dunkel und kunstvoll zerwusselt. Seine Bauen sind perfekt geschwungen, ein leichtes, wissendes Lächeln liegt auf seinen sinnlichen Lippen, während er die Menge unter sich durchforstet.
 

Ich starre ihn, sauge den Anblick in mich auf. Er ist älter als ich – hier ist wahrscheinlich sowieso keiner jünger -, und Leute, die älter sind als ich, kann ich vom Alter her nur schwer schätzen. Fünfundzwanzig? Oder älter? Oder jünger? Keine Ahnung… ist doch auch egal…
 

Janina folgt meinem Blick. „Heißer Typ!“ kommentiert sie ungeniert meine visuelle Eroberung. Aber wo sie Recht hat, hat sie Recht.
 

Am liebsten würde ich über mich selbst laut lachen. Da rüber gehen und heiser „Hey…“ in sein Ohr flüstern…? Nicht in tausend Jahren. Das packe ich nicht. Aber anglotzen wie das Achte Weltwunder, das kann ich ihn ja immerhin, wenn ich schon nicht weggucken kann.
 

Mann, ist der klasse, oh Mann, so männlich und selbstbewusst und locker und…
 

Er hat schöne Augen. Farbe ist egal, kann ich von hier aus nicht erkennen. Sie sind einfach schön.
 

Und er sieht mich direkt an mit ihnen. Zieht ironisch die Augenbraue hoch und grinst breit. Entsetzt fahre ich zusammen. „Oh Scheiße!“ keuche ich und drehe mich ruckartig um, um die Oberfläche der kläglich verputzten Wand neben der Bar zu bewundern.
 

Janina hingegen winkt ihm frech zu. Ich brauche dringend eine neue beste Freundin.
 

„Was machst du da!“ fahre ich sie leicht hysterisch an. „Das sieht er doch!“
 

„Tut er“, informiert sie mich. „Der ist echt der Hammer, Mann Lulu! Keep cool! Er kommt rüber!“
 

„Was?!“ kreische ich.
 

Aber es ist zu spät, um zu fliehen, sich ein Erdloch zu buddeln oder Janina zu erwürgen. Ich spüre mehr, als dass ich es sehe, dass da jemand schräg hinter mich tritt. Oh Gott… er riecht gut… irgendein Aftershave…
 

Und dann ist es in meinen Ohren. Ein wenig heiser und ziemlich tief.
 

„Hey…“, sagte er. Mehr nicht.
 

Ich glaube, ich sterbe.

Zwei Läster-Lesben, ein obercooler Typ und eine fiese Schlampe

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Geständnisse

Kapitel 4: Geständnisse
 

„Luluchen…“
 

Blick auf den Wecker. Es ist kurz nach zehn Uhr am Samstagmorgen. Ich bin um kurz nach sechs Uhr ins Bett. Nein, es ist definitiv noch nicht Zeit zum Aufstehen! Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf in der wilden Hoffnung, dass es dann weggeht, dieses superheitere Mamilein. Wild und irrig.
 

Ihre Stimme kommt näher, die Zimmertür wird aufgerissen. „Luluchen! Aufstehen! Wir fahren Opilein besuchen!“
 

„Menno… nein…“, nörgele ich kindisch.
 

„Wie dein Papi immer sagt: Wer saufen kann, der kann auch laufen!“ bleibt sie hart.
 

„Hab nicht gesoffen… war nur spät dran…“, rechtfertige ich mich halbherzig.
 

„Du riechst aber wie drei Kneipen!“ stellt sie gnadenlos fest. Als ich endlich zu Hause war, war ich viel zu fertig, um noch unter die Dusche springen zu können, außerdem wollte ich niemanden wecken. Ich bin so ein guter Sohn und Bruder.
 

Ich versuche auf die völlig würdelose Tour. „Bitte! Mamilein! Lass mich schlafen! Bittibittibitti!“
 

„Nein, Schätzchen. Steh auf. Dein Opa geht vor. Dem tun noch ganz andere Dinge weh als nur das Hirn, dennoch kann er sich auf uns freuen“, bleibt sie hart. Sie hat ja Recht. Aber ich habe trotzdem keinen Bock. Das Altenheim riecht immer so komisch und ist auch ansonsten nicht der aller erheiternste Ort. Aber Opa braucht rund um die Uhr Pflege und meine Eltern arbeiten beide.
 

Stöhnend werfe ich das Kissen von mir. Ich fühle mich ein bisschen, wie mit einem kalten Aal verprügelt. Wie soll das erst werden, wenn ich über Zwanzig bin?
 

„So ist es fein!“ werde ich gelobt. „Und jetzt mach putzi-putzi, wir wollen los!“
 

Ich schleppe mich ins Badezimmer. Ich sehe nicht ganz so scheiße aus, wie ich mich fühle. Aber dann würden auch die freischaffenden Zombiejäger auf mich losgehen. Das Duschwasser macht mich ein bisschen munterer. Bilder vom vergangenen Abend tauchen vor meinem inneren Auge auf. Janina, Lea und Kathrin, Gideon, wie er sich lächelnd mein Sperma von der Wange putzt, Pauli, wie er uns die Zunge heraus streckt und dann später mit seinem Schrank Richtung Darkroom abdampft. Und die vielen Gesichter, das Licht, die Lounge, die Tanzfläche… Und jetzt stehe ich wieder hier und putze meine Zähne mit Kinderzahncreme, die gerade ziemlich widerlich schmeckt, aber nicht so widerlich wie ich im Augenblick wahrscheinlich oder Minze. Ich kämme notdürftig mein Haar und schlüpfe in irgendwelche Klamotten. Mir gerade echt egal.
 

„Na, du Partyvogel!“ werde ich unten munter von meinem Vater begrüßt. Er liest Zeitung, für seine Morgenmuffeligkeit ist es bereits zu spät. Chrissi blättert in einem Comic. Meine Mutter lädt mir zwei Spiegeleier auf Toast auf den Teller. „Katerfrühstück!“ verkündet sie.
 

„Mmm, Danke“, murmele ich geschlagen. Beim Anblick der Eier bekomme ich plötzlich bestialischen Hunger. Es ist ewig her, dass ich etwas gegessen habe und so ganz abstinent war ich ja nun auch nicht. Schweigend stopfe ich sie in mich hinein und vergreife mich dann an den Brötchen.
 

„Und wie war’s?“ will mein Vater neugierig wissen und packt die Zeitung beiseite.
 

Ich schließe meine Augen. Teile meines Hirns liegen immer noch oben im Bett und schnarchen selig. Der Rest hat noch die übliche miese Laune und einen Bärenhunger und… Durst! Ich exe ein Glas Wasser und stürze mich auf den Kaffee, bevor ich antworte. „Hat Spaß gebracht“, erwidere ich wahrheitsgemäß.
 

„Fein!“ freut sich Mamilein. „Hast du wen kennengelernt?“
 

„Der Club war ziemlich voll. Ich habe jede Menge Leute kennengelernt“, murmele ich.
 

„Du weißt schon, Lulu!“ stellt sie unverdrossen klar.
 

„Mmnnnjjjaaa… Ich habe mit einem getanzt“, gebe ich zu. Und rumgemacht. Das lasse ich mal weg.
 

„Schön! Wie heißt er?“ will sie wissen.
 

„Mama, wir haben nur getanzt!“ Und rumgemacht. Lasse ich immer noch weg. Jetzt und für immer.
 

„Einen Namen wird er wohl trotzdem haben!“ verpasst mir Papa in bester Lehrermanier.
 

„Ja, sicher. Gideon hieß er“, lasse ich mich breitschlagen. Oh Mann… das war so… er war so schön… das Tanzen… das Geblasenwerden…
 

„Hübscher Name! Seht ihr euch mal wieder?“ hakt Mamilein nach.
 

„Keine Ahnung. Vielleicht“, murmele ich. Wenn ich da wieder hingehe, bestimmt. Wie haben Kathrin und Lea gesagt? Die Szene sei ein Dorf und Gideon darin bekannt. Sollte ich mich jetzt freuen? Ich bin nicht verliebt in ihn, ich bin nicht das Klischee eines dummen Schuljungen, der sich in den Erstbesten unglücklich verknallt! Darauf bin ich ja auch gar nicht aus. Aber ich würde ihn schon mal gerne wiedersehen… und vielleicht… mich auch eines Tages revanchieren können, wie er es in Aussicht gestellt hat.
 

„Wie sieht er aus?“ will Chrissi wissen, von der elterlichen Neugierde angesteckt.
 

„Gut. Dunkle Haare, dunkle Augen“, beschreibe ich knapp. „Aber, ohne euch grob enttäuschen zu wollen, wir hatten nur ein bisschen Spaß! Nichts weiter! Ich renne nicht beim ersten Mal, da ich mal die Nacht zum Tage mache und eine Disko betrete, in meinen Traumprinzen fürs Leben!“
 

„Das ist aber traurig!“ meint Chrissi mitleidig.
 

Finde ich ehrlich gesagt nicht, aber egal.
 

…………….
 

„Huhu, Opa!“
 

„Hallo, Jörg!“
 

„Ich bin nicht Jörg. Ich bin Ludwig!“ korrigiere ich. Keine Ahnung, wer Jörg ist. Opa lebt in seiner eigenen Welt, seitdem sein Verstand beschlossen hat, sich zu verabschieden. Aber das Positive dabei ist: Er scheint dabei zumindest meistens ganz guter Stimmung zu sein.
 

„Nein!“ widerspricht er mir. „Ich bin Ludwig!“
 

„Stimmt. Du bist Ludwig. Ich bin aber auch Ludwig. Dein Enkel Ludwig“, erkläre ich ihm geduldig.
 

„Aha“, erwidert er und mustert mich verblüfft. „Tatsächlich! Du bist aber gewachsen! Und… warum sind deine Haare grün…?“
 

„Gefärbt“, erkläre ich knapp.
 

„Was?“ entgeistert er sich. „Was soll das? Bist du so ein Hippie? Oder so ein verlauster Sandalenträger von den Grünen? Oder so ein Schorrer-Punk – geh arbeiten! Oder eine Schwuchtel?“
 

„Letzteres, Opa“, nehme ich ihm das Rätselraten ab.
 

„Ach so“, sagt er erleichtert. Dann fährt er auf: „Du fickst mit Männern rum?!“
 

Mama hält Chrissi die Ohren zu. „Papa!“ versucht sie ihn zu stoppen.
 

„Stimmt doch? Wenn er eine Schwuchtel ist, dann fickt er mit Männern rum!“ gibt sich Opa rechthaberisch. Dieses Gespräch ist jedes Mal wieder ein Genuss. Beim nächsten Mal hat er alles wieder vergessen, und es fängt von vorne an. Outing im Wochentakt.
 

„Im Prinzip ja, Opa, in der Praxis nicht“, kläre ich ihn auf.
 

„Trotzdem: Igitt. Nougatstecher! Und was ist mit Enkeln?“ regt er sich ein bisschen auf.
 

„Ich bin dein Enkel…“
 

„Ach ja. Stimmt ja. Mein Enkel ist ne Schwuchtel. Ich hab’s kapiert. Bist du wenigstens gut in der Schule?“
 

„Ja… bis auf Musik…“
 

„Macht nichts. Wie heißt do nochmal?“
 

„Ludwig.“
 

„Nein, ich bin Ludwig.“
 

„Ja. Ich bin aber auch Ludwig.“
 

„Ach so.“
 

Ja, Opilein ist ziemlich tralala. Aber für seine Generation geht er eigentlich recht cool mit der Schwuchtel-Sache um, muss ich sagen. Sein Zimmernachbar Xaver will mich regelmäßig ins KZ verfrachten. Charmant. Aber der ist heute nicht da, hat wohl Ausgang oder so oder wurde vom isrealischen Geheimdienst verschleppt. Stattdessen sitzen wir in trauter Runde um Opileins Seniorensessel wie jedes Wochenende. Wir haben Kekse mitgebracht, die besonders ich gerade gierig in mich rein stopfe.
 

„Wie geht’s dir, Papi?“ will meine Mutter wissen.
 

„Gut. Viel besser. Ich denke, Morgen kann ich wieder zur Arbeit. Die Maschinen…“ Opa war Ingenieur in einer Firma für Autotechnologie, hat es einst echt drauf gehabt, aber das mit dem „einst“ hat er nicht mehr auf der Rechnung.
 

„Bestimmt“, antwortet meine Mutter sanft.
 

„Muss ja… Du könntest wirklich mal heiraten“, rät er ihr.
 

„Ich bin verheiratet“, erklärt sie.
 

„Was? Mit was für einem Kerl denn bitteschön?“ wundert er sich.
 

„Mit mir“, meldet sich Papa trocken.
 

„Du? Warum?“ fragt Opa.
 

Eigentlich ist das nicht witzig, trotzdem kommen Gespräche mit Opa nicht ohne einen gewissen Grad an Skurrilität aus. Wenn man nicht heulen will, lächelt man lieber ein bisschen. Er hat auch seine lichten Momente, meist dann, wenn man nicht mit ihnen rechnet. Aber auch wenn er meist nicht recht auf die Reihe bekommt, wer wir eigentlich genau sind, freut er sich doch irgendwie immer, dass wir ihn besuchen. Da bin ich mir sicher. Wie es mir wohl einst ergehen wird? Welche Kinder und Enkel besuchen mich im Altersheim? Chrissi und ihre Familie? Oder sitze ich einsam und allein da, bis der Tod mich endlich abholt, weil ich niemanden habe? Bei dem Gedanken stehen mir die Haare zu Berge. Es ist noch sooooo lange hin. Aber dennoch. Außerdem: Ich kann doch auch eine eigene Familie haben irgendwann, oder? Zwar anders, aber es geht doch? Aber auch bis dahin ist es noch gaaaaaanz lange hin.
 

Ich knabbere noch einen Keks. Opa quetscht seinen neu entdeckten Schwiegersohn aus. Er ist sich nicht sicher, ob ihm ein Sportlehrer zusagt.
 

Schließlich verabschieden wir uns, weil es Mittagessen im Altersheim gibt. Papa lädt und zum Griechen ein. Ich bestelle die Herkules-Platte mit Pommes, verweigere den Ouzo, danach geht es mir besser. Ich bin immer noch müde – aber viel besser!
 

Den Nachmittag verbringe ich dösend auf meinem Bett. Sortiere das Erlebte in meinem Kopf. Klopfe mir selbst auf die Schulter. Wirklich, nicht schlecht. Zwar nicht so, wie in meinen kühnsten Träumen erhofft, aber zumindest deutlich besser als insgeheim befürchtet. Viel besser. Gideons Mund auf meinem, sein warmer Körper, seine Finger, seine Zunge auf meinem Geschlecht… auf die Erinnerung hole ich mir bei verschlossener Zimmertür gepflegt einen runter. Selbst die Erinnerung an das Echte ist viel besser als irgendwelche Porno-Konserven. Ich raffe mich auf und pauke noch ein bisschen Mathe. Um halb acht steht Jaros Wagen vor der Tür und treibt mich mit ungeduldigem Gehupe auf die Straße. Jaros Vater ist steinreich, obwohl keiner so Recht weiß, was genau er eigentlich macht, Jaro eingeschlossen. Ist wahrscheinlich besser so. Jedenfalls hat er ihr zum Achtzehnten einen fetten BMW geschenkt, von dem andere ihr ganzes Leben nur träumen können. Jaro hat pechschwarze Haare und guckt immer ein wenig gelangweilt in die Gegend, obwohl sie auch ziemlich witzig sein kann. Wir haben schon in der Grundschule nebeneinander gesessen. Flugs springe ich auf den Beifahrersitz. Sie kaut Kaugummi. Aus der Anlage dröhnt Amy Whinehouse.
 

„Hey, Ludwig“, sagt sie. Sie war stets so nett, sich diese Lulu-Scheiße zu verkneifen, obwohl sie natürlich haargenau weiß, dass man mich daheim so ruft. Dazu war sie schon zu häufig bei uns über die Jahre. Sie startet den Wagen.
 

„Hey, Jaro, schicke Frisur!“ grüße ich zurück.
 

„Danke“, erwidert sie nur knapp. „Oh, wohnt da wieder wer?“ fragt sie und nickt zum Schneewittchenweg Nummer sieben.
 

Im Untergeschoss brennt Licht.
 

„Eigentlich nicht“, entgegne ich. „Aber Papa meint, dass sie einen Käufer gefunden haben, vielleicht ist es ja so weit, Mist.“
 

„Ja, Mist“, wiederholt Jaro nur gedehnt. Amy Whinehouse bejammert ihren Liebeskummer.
 

Wir rumpeln die verkehrsberuhigte Straße hinunter und biegen auf die Hauptstraße ein. Zehn Minuten später haben wir auch Janina eingeladen, dann ist Hannes, missmutig wie immer, an der Reihe, schließlich Vanessa.
 

Eine halbe Stunde später stehen wir bei Jasmin vor der Haustür. Ihre Eltern sind übers Wochenende auf Wellness-Urlaub, sie hat sturmfreie Bude. Das gedenken wir zu nutzen, indem wir das Heimkino okkupieren und es uns gutgehen lassen. Ja, nicht der heißeste Plan für einen Samstagabend, aber es war schon ewig ausgemacht – und wenn ich Heimkino sage, dann meine ich auch Heimkino. Jasmins Eltern sind beide ziemlich erfolgreiche Anwälte, die gerne ordentlich mit Statussymbolen prunken. Pool, Jacuzzi, Weinkeller, alles da. Und ein großes Zimmer mit samtbezogenen Sofas und einer großen Leinwand und einem genialen Soundsystem. Sieht ein wenig aus wie im Puff, finde ich, obwohl ich noch nie in einem war. Normalerweise darf Jasmin da nicht dran. Aber wenn die Katze aus dem Haus ist…
 

Wir kippen die Chips in die Schüsseln. Jasmin hat Minipizzen vorbereitet. Während wir den Ofen laufen lassen und uns der verführerische Duft in die Nase steigt, schwärmt sie uns mal wieder von Nathan die Ohren voll. Da ich bei dem sowieso nichts zu melden habe, seufze ich einfach still mit und gebe ein paar abgeschmackte Tipps. Er ist ja wieder solo, also ran an den Speck. Sei’s ihr gegönnt, der gestrige Abend hat mich großzügig gemacht. Da draußen ist alles voll mit knackigen Jungs, die nur auf mich warten, also was soll’s.
 

„Und, wie ist es gestern bei euch gelaufen? Ihr seid ja nicht mehr in die „Freiheit“ gekommen?“ kommt Vanessa schließlich zu dem Thema, das alle – außer Hannes – brennend interessiert.
 

Ich grinse breit. „Geiiiiil!“ sage ich.
 

„Janina hat ja so Andeutungen gemacht, aber jetzt: raus mit der Sprache!“ fordert Jasmin, während sie die Pizzen aufschichtet. Die Mühe kann sie sich eigentlich sparen, die werden weg sein wie nichts.
 

„Ich habe getanzt!“ berichte ich stolz. „Und… geknutscht…!“
 

Allgemeine Anerkennungsbezeugungen folgen. „Sah er gut aus?“ will Vanessa wissen.
 

„Hammer!“ sage ich.
 

„Und dann?“ stochert Jasmin.
 

„Mmm… bisschen rumgemacht auch noch“, beichte ich. Ich bin so ein Held!
 

„Brrrr!“ gruselt sich Hannes.
 

„Klappe!“ sagen die Mädels. Er hat’s echt nicht leicht. Aber ich glaube, er liebt Jaro wirklich. Zumindest ein Punkt für ihn.
 

„Wie heißt er?“ „Seht ihr euch wieder?“ „Was macht er?“ „Bist du verknallt?“
 

Ich beantworte die Fragen nach bestem Wissen und Gewissen. Endlich habe ich auch mal was zu erzählen anstatt Fantasien, was einmal sein würde. Jetzt ist endlich mal was – und ich habe es nicht geträumt.
 

„Er ist danach einfach abgehauen!“ empört sich Jaro. Ich winke ab.
 

„So läuft das eben!“ behaupte ich.
 

Sie starrt mich an. „Ob schwul oder nicht – ihr Kerle seid doch ganz schöne Idioten. Du nicht, Hannes.“
 

Ich zucke mit den Schultern. „Was soll ich sagen? Ich war ja nicht auf der Suche nach der wahren Liebe, sondern nach ein bisschen Spaß. Und den habe ich auch gekriegt, also was soll ich mich beschweren?“
 

„Du bist sowas von unromantisch!“ verpasst mir Vanessa.
 

„Gefühlskrüppel!“ setzt Jasmin noch einen drauf.
 

„Meinetwegen“, erwidere ich ein wenig beleidigt. „Aber ich sehe das eben realistisch. Mag sein, vielleicht verknalle ich mich irgendwann auch mal. Aber bis dahin…“
 

„Du machst das schon richtig“, baut mich Janina auf. „Und es war echt ein cooler Abend. Wir haben zwei Lesben kennengelernt!“
 

Jetzt hängt auch Hannes an ihren Lippen. „Richtige Lesben?“ fragt er gespannt.
 

„Nein falsche Lesben… Natürlich richtige Lesben! Kathrin und Lea, Studentinnen. War sehr nett mit ihnen“, erklärt Janina.
 

„Du hast…?“ stottert Hannes und wird rot.
 

Janina lacht ihn aus. „Mit ihnen geredet? Genau das habe ich. Nächste Woche gehen wir mit denen wieder auf die Piste. Am Freitag, am Samstag will ich in einen Laden, wo die Männer auch in Erwägung ziehen, mit mir mehr zu machen als zu reden.“
 

„Klaro“, nicke ich. „Wenn du willst, komme ich mit, ist nur fair.“
 

„Ne, vergiss es. Musst du nicht. Großes Mädchen, schon vergessen? Und du bist ein großer Junge, zumindest körperlich. Du kannst doch auch alleine auf die Piste“, wehrt sie ab.
 

Vanessa und Jasmin grinsen breit. „Nein“, sagt Letztere. „Wir wollen auch mit.“
 

„Ich brauche keinen Babysitter“, versuche ich mein Glück, obwohl mir die Aussicht, da allein hin zu gehen auch nicht so richtig behagt.
 

„Ansichtssache. Aber wir wollen auch mal in die Schwulendisko!“ stellen sie klar.
 

Jaro hält lieber den Mund. Ihr wird wahrscheinlich klar sein, dass ihr Herzallerliebster da absolut nicht scharf drauf ist.
 

„Oh Gott!“ stöhne ich. „Aber sich zu wehren, wäre wahrscheinlich zwecklos.“
 

Sie nicken einmütig.
 

„Die Pizzen werden kalt“, erinnert uns Hannes. Wo er Recht hat, hat er Recht.
 

Insgesamt wird es doch noch ein netter Abend. Nicht spektakulär, aber gemütlich, heiter, lustig. Ein Abend unter Freunden eben. Wir gucken irgendwelche stumpfen Aktion-Filme, um das teure Equipment voll zur Geltung kommen zu lassen. Lachen – bis auf Hannes selbstredend – über die dümmlichen Dialoge und die unrealistischen Special-Effekt-Szenen, die im realen Leben allesamt tödlich für den eisenhart aus der Wäsche guckenden Helden verlaufen wären.
 

Um kurz nach eins bin ich im Bett.
 

Ich schlafe wie ein Stein.
 

………………………
 

Du Woche verläuft relativ ereignislos. Ich gehe zur Schule, habe zwei Fahrstunden, lerne, mache Sport, hänge zu Hause rum und träume von meinem Blow Job. Erwische mich bei dem Gedanken, wie sich das wohl anfühlen mag, wenn derjenige welcher ein Zungenpiercing hat, aber verwerfe den Gedanken dann ganz schnell. An dem Ding hängt Pauli. Und Pauli ist mir nicht geheuer. Nicht nur das, was die anderen über ihn gesagt haben und wie er sich mir vorgestellt hat. Nein, je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass mit ihm irgendetwas komisch ist. Ich bekomme es aber nicht zu fassen. Es ist nur so ein Bauchgefühl, total unlogisch. Und eigentlich habe ich auch besseres zu tun, als mich über diese Zuckerbombe auszulassen. Dennoch werde ich ihn nicht so ganz los. Blödes Piercing. Aber gibt bestimmt noch andere, mit so einem Teil, die nicht Pauli sind. Das lässt hoffen.
 

Hauke verfolgt mich in den Pausen mit traurigen Blicken. Irgendwie tut er mir ja leid, aber Hauke… ne… muss nicht sein. Der glaubt garantiert total an die wahre Liebe – und das bin ich nicht. Nicht für ihn. Und ich will ihn auch nicht fertig machen, warum auch? Jasmin blamiert sich, weil sie sich allzu ungeniert an Nathan ranschmeißt, der davon nicht übermäßig begeistert wirkt. Wir schreiben Mathe und Philosophie. Ich habe elf Punkte in der Deutschklausur, nicht übel.
 

Am Mittwoch besuche ich meinen einzigen engen männlichen Freund Schorschi in der KFZ-Werkstatt, in der er seine Lehre macht. Er hat nicht viel Zeit, muss ja arbeiten. Er steckt gerade in der Endphase seiner Ausbildung, das ist Stress pur, da er nebenher noch pauken muss. Aber ich bin mir sicher, er macht seine Sache gut, Autos waren immer sein Ding.
 

Ich erzähle ihm unter Aussparung einiger allzu genauer Details von meinen Erlebnissen, er kommentiert wie immer mit „mmm“, „mmm“, „mmm“, aber das macht nichts. Ich weiß, er hört mir zu.
 

Am Schluss sagt er: „Freut mich für dich, echt. Ist bestimmt ganz cool. Pass auf dich auf, ja?“
 

Ich verspreche es. Mehr muss eigentlich nicht gesagt werden, wir brauchen nicht viele Worte, fühlen uns einfach so wohl miteinander. Ich vertraue ihm. Absolut. Das ist wohl das Ding, das wahre Freundschaft ausmacht. Da ist es egal, dass ich schwul bin und er hetero, ich die Schulbank fürs Abitur drücke und er seine Lehre macht, ich grüne Haare habe und er bereits jetzt einen Bauch. Einfach egal. Wir verabreden und für Sonntagnachmittag zum Radfahren, das machen wir schon lange so ab und an, dann verabschiede ich mich und er schraubt weiter.
 

Sonst passiert eigentlich nichts – bis darauf, dass sich im Nachbarhaus tatsächlich etwas tut. Handwerker machen sich zu schaffen, der Geruch frischer Farbe dünstet in mein Zimmer hinüber. Papa hat den neuen Besitzer bereits getroffen. Ein verwitweter Physikprofessor mit einem Sohn etwa in meinem Alter. Vor meinem inneren Auge erscheint Dr. Frankenstein Junior mit dicker Hornbrille, gegeltem Scheitel und Streifenhemden aus der Opaabteilung von C & A, der unheimliche Experimente mit seinen abgeschnittenen Zehennägeln macht.
 

Wir werden bestimmt dicke Freunde werden.
 

Jeder Mensch hat so seine Vorurteile.

Sei Nett!

Ich habe meine Pflichten brav erfüllt, war die ganze Woche über ein absolut vorbildlicher „Lulu“ – aber jetzt ist wieder Freitag. Und wieder bin ich verflixt aufgeregt bis an die Grenze zu etwas überdreht, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, locker zu bleiben. Janina durchschaut das natürlich gnadenlos und tätschelt mich bei Bedarf dezent. Ich fühle mich ein bisschen doof dabei, aber es wirkt dennoch tatsächlich.
 

Trotzdem fühle ich mich schon fast wie ein alter Hase, als wir in der Schlange vor dem „Sweet Dreams“ stehen. Ich erkenne einige Leute vom Sehen her wieder, ein paar nicken mir sogar kurz zu. Ich bin kein totaler Niemand mehr, kein völlig unbeschriebenes Blatt. Nicht gerade der König der Szene, aber auch kein völliger Neuling mehr oder der, über den man sich bereits nach seinem ersten Auftritt hier kaputt lacht. Das ist zumindest etwas beruhigend.
 

Lea und Kathrin lehnen bereits an der Bar, als wir eintreten, und winken uns freundlich zu. Wieder dröhnen die Bässe, wieder ist die Meute dabei, außer Rand und Band zu geraten und zumindest für diese Nacht alles hinter sich zu lassen und einfach nur an diesem Ort zu existieren, der seine eigene Logik hat, ganz anders als die des Alltags.
 

Wir versorgen uns mit Getränken und verziehen uns erst einmal an den Rand der Tanzfläche, um ein wenig anzukommen. Lea und Kathrin studieren fasziniert Janinas Fingernägel, die sie zur Feier des Tages mit kleinen Aufklebebildern mit Tribal-Motiven verziert hat. Das macht sie selbst, sich die Nägel zu gestalten hat sie als ihre höchsteigene Wissenschaft kultiviert. Es liegt nichts Herablassendes im Interesse des lesbischen Pärchens. An diesem Ort fällt Janina mit ihrem Modegewohnheiten weder sonderlich auf, noch eckt sie an, ganz anders als in unserer Spießer-Schule. Auch laufen hier auch deutlich schrillere Erscheinungen durch die Gegend, da fällt meine Freundin nicht weiter aus dem Rahmen. Außerhalb des weihnachtlichen Kabaretts, das ich jedes Jahr mit meinen Eltern besuche, habe ich zuvor eigentlich noch nie einen Transvestiten gesehen, aber hier rennen einige davon rum. Ein paar sind extrem aufgedonnert, einige bemühen sich um einen natürlichen Look. Oder sind das dann keine richtigen Transvestiten mehr? Kein Plan. Wenn ich ehrlich bin, kann ich manchmal nicht sagen, welches Geschlecht so manche Person hier im Club hat. Eigentlich ist es auch egal, muss egal sein, kann egal sein, wie auch immer, zumindest hier, dazu ist der Ort schließlich auch gut? Hier wird man nicht schräg angeguckt, wenn man ein bisschen anders ist. Okay, Hannes oder Philipp oder so würden in ihrem Auftreten und Verhalten hier sehr wohl schräg angeguckt werden, aber das ist nicht ihre Welt. Ich glaube fast, zu „normal“ darf man hier auch möglichst nicht sein, obwohl man über das Wort „normal“ sehr geteilter Meinung sein kann.
 

Das einzig Gefährliche an dem Cross Dressing erscheint mir, dass ich versehentlich wirklich bei einer Frau landen könnte. Ich glaube, den Schock würde ich so leicht nicht verkraften, wenn ich es nicht rechtzeitig merken sollte. Aber weder echte noch erzeugte Weiblichkeit reizt mich, also laufe ich da wohl nicht in Gefahr. Was die wohl so toll daran finden, sich so auszustaffieren? Ist mir ein Rätsel, aber es ist auch nicht mein Bier. Allerdings finde ich die Vorstellungen von „weiblich“, die einige von ihnen haben, schon recht irritierend. Welche Frau würde freiwillig in solchen Klamotten herum rennen und mit einer solchen Frisur? Das macht selbst Janina nicht. Aber auch wenn es vielleicht meinen Horizont überschreiten mag, ich werde ganz bestimmt nicht darüber urteilen, das tun schon viel zu viele. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Aber eigentlich sitzt jeder Mensch im Glashaus, es merkt bloß nicht jeder.
 

„Hey, guck mal!“ reißt mich Lea aus meinen Betrachtungen. „Da ist doch dein Herzblatt von letzter Woche!“
 

Ich drehe mich und entdecke Gideon. Er tanzt mit einem sportlichen, jungen Mann. Er sieht genauso toll aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Aber jetzt gelten seine heißen Blicke nicht mir, sondern dem Typen vor ihm. Er bemerkt mich nicht. Noch während ich starre, gehen die beiden auf Tuchfühlung, fangen an zu knutschen. Hastig drehe ich mich wieder weg. Der Anblick verpasst mir schon einen Stich. Misstrauisch horche ich in mich. Nein, Verliebtheit ist das nicht, sonst würde ich wahrscheinlich jetzt durchdrehen, aber der Anblick hinterlässt einen schalen Geschmack. Ich bin austauschbar, beliebig, ein One Night Stand eben, nicht mal das wohl, über den man sich nicht weiter den Kopf zerbricht. Jetzt weiß ich immerhin, wie es sich anfühlt, am unteren Ende der Nahrungskette zu stehen. Wenn ich da nicht bleiben will, darf ich mich nicht so anstellen, das ist mir schon klar. Trotzdem doof. Und nicht verliebt hin oder her, ich hätte nichts dagegen, dass Gideon jetzt mit mir tanzen und knutschen und mehr würde. Tut er aber nicht. Aber wenn nicht er … und wenn ich nicht albern rum zicken will … dann wohl besser ran an den Speck.
 

Die Frauen unterhalten sich über die Frage, ob man eine Lesbe an den kurzen Fingernägeln erkennen kann oder nicht und kommen auf blöde Klischees im Allgemeinen zu sprechen. Ich höre nur mit einem halben Ohr hin und scanne den Raum. Da sind schon ein paar Kracher zwischen, aber wenn ich das auf meine Art erledigen möchte, sollte ich mir wohl besser nicht irgendeinen dominanten Ober-Macho im Lederfummel krallen, der wahrscheinlich Kleinholz aus mir macht und nicht so nett ist wie Gideon. Obwohl ich ein paar dieses Kalibers als durchaus attraktiv einstufe, sortiere ich sie vorerst aus. Die gehen mir – noch – über die Hutschnur. Was dann? Eher in meinem Alter, eher so, dass er mich nicht niederknüppeln kann, eher von der niedlicher Twink-Fraktion.
 

Da drüben steht einer. Meine Augen bleiben an seiner äußerst knackigen Kehrseite hängen. Während ich innerlich noch durch dekliniere, was ich damit gerne tun würde – überhaupt mal anfassen zum Beispiel – dreht er sich um und sieht mich grinsend an. Ertappt zucke ich zusammen. Dann würde ich gerne eine Runde im Erdboden versinken oder mit der Plattschaufel auf ihn hauen! Pauli! Mist! Von weiß-der-Himmel wie vielen Typen in diesem Raum, die auch durchaus ansehnliche Ärsche zu bieten habe, glotze ich ausgerechnet auf Paulis! Und zu allem Überfluss weiß er das jetzt auch. Er zwinkert mir ziemlich fies zu. Ich rümpfe die Nase und sehe weg. Schöner Arsch am fiesen Arsch – nein danke!
 

Ich gehe davon aus, dass sich die Peinlichkeit damit erledigt hat, aber weit gefehlt.
 

Kathrin grinst und knufft mich an. „Du hast eine Eroberung gemacht. Frettchen mag dich!“ verkündet sie.
 

Während ich noch über ihre mysteriösen Worte nachgrübele, kneift mich plötzlich jemand in den Allerwertesten. Erschrocken hopse ich vorwärts und quieke und trete Janina auf den Fuß.
 

„Aua, du Depp!“ beschwert sie sich.
 

„Sorry!“ erwidere ich, bevor ich herumfahre. „Was fällt dir ein!“ pampe ich Pauli an.
 

„Revanche. Wenn du schon deine Grabbelfinger per Kopfkino nach meinem Allerheiligsten ausstreckst, darf ich zumindest einmal zurück kneifen, um meine Ehre zu verteidigen!“ behauptet er. Oh Gott, wie kann so ein Puppengesicht nur zu so einem versauten Mistkäfer gehören!
 

„Ich wusste ja nicht, dass du das bist!“ rechtfertige ich mich.
 

„Tja, jetzt weißt du’s. Und ich fühle mich ja soooo geschmeichelt, dass du auf mich stehst!“ behauptet er.
 

„Ich stehe nicht auf dich!“ wehre ich mich.
 

„Das sah aber eben nicht so aus“, meint er.
 

„Ich spreche auch nicht von deinem Hintern, sondern von Dir! Höre auf den Wortlaut und staune: Ich mag DICH nicht!“ komme ich in Fahrt. Mein Herz klopft. Ich bin irgendwie total wütend.
 

„Und ich sagte auch nicht mögen, sondern auf mich stehen. Glaubst du, ich mag meine Stecher? Will mir ihr Gelaber anhören? Ihre gehirnamputierten Theorien zum 11. September, der Sozialgesetzgebung oder der Fußball-WM? Die Stories über ihren Stress beim täglichen Zementmischen, Brummifahren oder Zähne füllen? Glaubst du, mich interessiert deine Lebensgeschichte oder deine Lieblingseissorte? Oder glaube ich, dass du dich für meine interessierst?“ haut er mir entgegen.
 

Himmel, was für ein übler Finger. Ich schlucke. Die Frauen verfolgen höchst interessiert unser Gespräch. Ist wahrscheinlich wie der Genuss einer Sitcom für sie.
 

Das Blöde ist … das sollte doch eigentlich meine Lebensphilosophie sein. Ich will hier ja zukünftig einen auf Oberhengst machen. Aber nicht so. Eher wie Gideon. Ihm war ich nicht egal, auch wenn ich nur ein Aufriss war.
 

„Was bist du für ein hohler, dämlicher Zyniker!“ schnaube ich ihm entgegen. „Was uns angeht – der Zug ist abgefahren! Tut mir leid, ich kann nicht ausblenden, was du für ein Ekel bist! Und daher verzichte ich auch dankend auf den Rest! Wenn du einen netten Klon hast, immer her damit! Aber du – niemals!“
 

Er legt den Kopf in den Nacken und lacht mich aus. „Nett? Du willst jemand Nettes? Da habe ich ungute Nachrichten für dich: Die Welt ist nicht nett! Bist gerade mal frisch hier und laberst schon! Eine Tour mit Gideon und du meinst, Bescheid zu wissen! Es geht hier … oh, oh, nicht jugendfrei, hoffentlich überlebst du das … ums FICKEN! Das hier ist kein Bibelkreis, Greenhorn. Obwohl du für letzteres schon die richtige Haarfarbe hast. Und du wirfst mir vor, dass ich mich für meine Aufrisse nicht interessiere? Interessierst du dich denn für mich? Meine Lebensgeschichte? Meine Lieblingseissorte? Kein Stück! Und weil mir das scheißegal ist, und ich auch nicht so tue, als sei das anders, habe ich meinen Spaß – und du nicht!“ macht er mich nieder.
 

Ich würde ihm gerne etwas Passendes erwidern. Aber ich kann nicht. Er hat Recht. Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, auch nur darüber nachzudenken, was hinter seinem Aussehen und seinem Piercing stecken mag. Habe mir mein Bild von ihm aus wenigen Informationen und ein paar Worten zusammengepuzzelt. Und gerade deshalb hasse ich ihn gerade aus tiefstem Herzen.
 

Ich beiße die Zähne zusammen. „Was ist deine Lieblingseissorte?“ frage ich und fühle mich dabei wie ein Idiot.
 

Er starrt betont mein Haar an. „Waldmeister schon mal nicht“, sagt er, dreht sich einfach um und geht. Ich habe das Gefühl zu beben, weiß gar nicht warum.
 

Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter. „Ganz ruhig“, sagt Lea. „Er ist echt ein übler Typ. Lass dich von seiner defätistischen Weltanschauung nicht runterziehen. Da komme ich auch echt nicht mit. Der Typ hat einen Schaden, mach dir nichts draus!“
 

Leichter gesagt und getan. Die kleine Kröte hat mich irgendwie getroffen. Klar will ich meinen Spaß! Ich bin achtzehn und schwul und will was erleben! Aber deswegen ist die Welt doch kein Scheißhaufen, auf dem ich rumtrampele! Menschen sind doch nicht so … egal, auch wenn man nur ein bisschen Spaß miteinander teilt, oder? Auch Pauli nicht, bestimmt, aber ich will jetzt wirklich nichts von ihm wissen! Ich will ihn nicht kennenlernen! Und das hat nichts mit dem Prinzip zu tun, sondern ganz persönlich mit ihm!
 

Janina tut das einzig Richtige und schlägt vor, tanzen zu gehen. Erst bin ich ein wenig steif, meine Pauli überall herablassend zu mir herüber grinsen zu sehen, aber dann beruhige ich mich langsam wieder. Das hier ist alles doch so … neu und aufregend und voller Möglichkeiten, genau! Und ich kann es spüren, die Bässe, Teil dieser Party, einfach nur Sein! Gideon und sein Blonder sind verschwunden. Gut!
 

Nach einer Weile tanzt mich ein Braunhaariger an. Er ist ganz okay, hat ein hübsches Lächeln und ich gehe darauf ein. Sonderlich nahe kommen wir uns auf der Tanzfläche nicht, aber nach einer Weile lädt er mich auf ein Bier in der Lounge ein. Ich sage den Mädels Bescheid und folge ihm. Wir reden ein bisschen über Belanglosigkeiten, aber es ist schon ganz nett. Dann zieht er mich heran und küsst mich. Auch das lasse ich mir gefallen. Es ist nicht weltbewegend, aber doch irgendwie schön und ein bisschen aufregend. Der zweite Mann, den ich küsse. Er heißt Daniel, ist dreiundzwanzig und arbeitet in irgendeinem Büro. Ich habe ihn das gefragt. Er hat nicht zurückgefragt. Aber das macht ihn doch auch nicht zum Unmenschen? Er wirkt jedenfalls nicht wie so ein Giftzwerg wie Pauli, er will eben auch nur einfach seinen Spaß, genau wie ich.
 

Irgendwann sitzen wir auf einem Sessel, er halb auf mir, und knutschen ziemlich wild. Ich genieße einfach dieses Gefühl, auch meinem Körper gefällt es. Er drückt sich gegen meinen erwachenden Schritt und flüstert heiß in mein Ohr: „Darkroom?“
 

Mir ist, als ob jemand einen Eimer kaltes Wasser über mich kippt. Klar finde ich das hier erotisch … aber Daniel ist nicht wie Gideon … und … ich … weiß … nicht … Will ich es mit ihm drauf ankommen lassen? Nein. Ich will nicht. Ich Versager. Aber ich will nicht, knutschen, okay, aber auf unbekanntes Terrain mit ihm … nein …
 

Ich schüttele stumm den Kopf. Er streckt sich hoch. „Was ist los?“ fragt er ziemlich brüsk.
 

„Ich … möchte nicht“, sage ich wahrheitsgemäß und innerlich etwas gedemütigt. Aber es stimmt. Ich will nicht. Wie ein Kleinkind. Will nicht! Will nicht! Will nicht! Ich habe Schiss, und ich bin nicht so scharf auf ihn, dass ich es riskieren würde. Er hat nicht dieselbe Ausstrahlung wie Gideon, dem ich einfach gefolgt bin. Hier funktioniert mein Hirn doch noch soweit, um arge Zweifel anzumelden. Denn was hat Gideon gesagt? Nicht so. Nicht im Darkroom. Und wenn ich ehrlich bin, hat er da wohl recht. Wo sonst? Daheim im Bett? Wohl kaum. Aber … nicht … so …
 

Er rückt von mir ab. „Du hast keinen Plan“, sagt er. Keine Frage, eine Feststellung. Ich kann nichts dagegen tun, beschämt zu erröten.
 

Er mustert mich, dann grinst er. „Hey, Mann“, sagt er. „Mach dir nichts draus. Jeder hat mal klein angefangen!“ Als Gideon etwas in der Richtung gesagt hat, war es irgendwie netter formuliert gewesen. Aber vielleicht ist es meinem post Blow-Job-Hirn nur so vorgekommen.
 

„Mmmpf“, murmel ich dementsprechend. Er wiegt plötzlich tausend Tonnen auf meinem Schoss.
 

„Du siehst echt geil aus“, sagt er versöhnlich. „Und Küssen kannst du schon mal!“ Toll, hebt er jetzt die Karte mit der Wertung hoch? Ludwig Lohmeier – 8 Punkte! Was für ein Erfolg für einen Newcomer! Ja, applaudieren Sie nur, meine Damen und Herren!
 

„Aber“, sagt er und erhebt sich. „Ich steh nicht so auf Jungfrauen. Ist nicht böse gemeint, aber ich habe die ganze Woche geackert wie blöde und will jetzt einfach nur eine unkomplizierte Nummer schieben. Und ich erinnere mich, wie es bei mir war. Ein Fremder im Darkroom, du hast Recht, lass es, Süßer! Such dir wen, vielleicht die erste große Liebe, vielleicht auch einfach jemanden, den du kennst und dem du vertraust. Ist schon okay. Und echt … du bist ein toller Küsser!“
 

Er drückt mir einen weiteren Kuss auf die Wange, lächelt und geht einfach. Ich bleibe völlig belämmert zurück. Schön, dass Daniel auch so ein „Netter“ war, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich jetzt alleine hier sitze. Wie zum Teufel soll ich hier je ein Bein auf den Boden bekommen, wenn ich a) keinen Typen in meine supercoole Loft-Wohnung abschleppen kann, nach Hause in den Schneewittchenweg – never! Selbst wenn meine Eltern nicht Amok laufen würden, welcher Typ würde angesichts dieser Brutsiedlung und meines Kinderzimmers nicht in ein Lachkoma fallen? b) ich die Sache nicht im Darkroom erledigen will und c) jeder – okay, die zwei Typen - mit dem ich auf Tuchfühlung gegangen bin, mich partout nicht entjungfern will und die Kerle/Situationen, die sie mir empfehlen, offensichtlich nicht von den Bäumen fallen.
 

Was ist das bloß so scheiß-kompliziert?
 

Ich will mich gerade seufzend erheben, da sichte ich Pauli. Verzweifelt versuche ich so zu tun, als habe ich ihn nicht gesehen. Habe ich aber. Seine Kullerlaugen leuchten, sein Mund grinst gierig, er schleppt einen großen, dunklen Typen hinter sich her, irgendeinen Südländer – direkt hinüber zum Darkroom. Als er an mit vorüber zieht, kräuselt er die Nase. Ich habe es offiziell nicht gesehen. Dämliches, oberflächliches Flittchen! Und schon wieder hat er Recht: Ich kenne ihn nicht. Wie also kann ich über ihn urteilen? Ich bin doch kein Stück besser, wenn auch unerfahrener und – erfolgloser.
 

Doch, ich bin besser! Mir ist nicht alles scheißegal! Noch? Aber aktuell nicht! Ich will nicht so sein wie er! Und ich bin nicht wie er! Aber ich kenne ihn nicht … Er kann nicht viel älter sein als ich, achtzehn mindestens, sonst würde man ihn hier nicht rein lassen, aber garantiert nicht Mitte zwanzig. Wie kann er da schon … so sein? So … abgeklärt? Das soll Spaß sein, was er da treibt? Sicher, es ist Sex, aber … ist das auch Spaß …? Aber das will ich doch auch! Aber … es kommt mir so … hohl vor. Nicht so wie mit Gideon. Nur: Ich! Ich! Ich! Nein, das will ich nicht, das will ich nicht … Und außerdem: wie sollte ich auch? Ich habe viel zu wenig Ahnung. Ich brauche … wen. Jemand, der mir zeigt, wie … ohne Angst … ohne Darkroom… Mist!
 

Ich stehe gerade auf, da greift mich jemand am Arm. Ich drehe mich um. Gideon.
 

„Hey, Kleiner!“ lächelt er. „Alles klar?“
 

„Weiß nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß.
 

Er drückt mich auf die gegenüber liegende Couch nieder und setzt mich neben mich.
 

„Was ist denn los?“ lächelt er.
 

Ich seufze. „Ich bin zu unerfahren, um Erfahrungen zu sammeln“, gestehe ich. „Und ich bin wohl zu nett oder zu blöde oder zu feige, um ein Arschloch zu sein, und es einfach zu tun!“
 

„Du bist doch erst gerade hier angekommen …“, wendet er ein.
 

„Ich bin achtzehn!“ stöhne ich. „Mir ist nicht so nach warten!“
 

Er lacht. Ich mag seine weißen Zähne. „Das kann ich nachvollziehen. Achtzehn also?“
 

Ich nicke. „Ja“, knurre ich mehr als ich spreche.
 

Er rutscht an mich heran und schlingt mir einen Arm um meine Schultern. „Ist echt nicht so einfach, sich zurecht zu finden“, sagt er.
 

„Echt“, erwidere ich düster.
 

„Vor allem, wenn man es so eilig hat …?“ hakt er nach und zieht die eine Augenbraue hoch. Ich kann den Gesichtsausdruck nicht recht deuten und winde mich etwas unwohl.
 

Ich schlucke ein Mal hart und weise die Idee von mir, dass er sich über mich lustig machen könnte. Bitte nicht. „Was soll ich denn machen?“ stöhne ich dementsprechend wahrheitsgemäß. „Ich habe null Schnall! Eben ist mir schon wieder einer abgehauen deswegen! Aber wie soll ich das ändern, wenn immer alle abhauen!“
 

„Mmm … das ist wirklich nicht einfach“, gibt er zu. Nein, er lacht mich nicht aus, aber wirkt dennoch amüsiert.
 

„Wie läuft das denn normalerweise?“ frage ich düster, da ich seine Heiterkeit nicht wirklich teilen kann.
 

Er grübelt kurz. „Ein paar haben Glück. Sind mehr oder minder verknallt oder finden zumindest jemanden ihres Kenntnisstandes, jemand, den sie mögen … Und der Rest geht durch die harte Schule des Lebens.“
 

„Die geraten an Typen, die … nicht verzichten wie du?“ wispere ich verstehend.
 

Er nickt ernsthaft. Dann sagt er: „Das ging mir auch so. Ich wollte zu viel zu schnell. Und es war grässlich. Aber wie soll man warten, wenn die Hormone mit einem Schlittschuh laufen? Ich verstehe schon.“
 

„Ich will es nicht grässlich!“ sage ich. „Aber ich will es! Ich will es ordentlich krachen lassen!“
 

„Hey, Mann“, erwidert er und drückt mich kurz an sich. Ich glaube, er ist auch ein bisschen angeheitert. „Keine Panik! Schau dich um. Gibt es denn da keinen in deinem Alter, den du sexy findest?“
 

Oh doch. Aber das kommt nicht infrage. Ich hasse ihn. Fürchterlich ungerecht. Aber aktuell hasse ich Pauli. Dementsprechend schüttele ich den Kopf. Ich lehne mich gegen ihn. „Kannst du mir nicht helfen?“ flüstere ich an seinem Hals. Keine Ahnung, woher ich den Mut dafür nehme.
 

Er sieht mich lang an. Ich kann seinen Atem auf meiner Nase fühlen. „Ludwig“, sagt er sanft. „Führe mich nicht in Versuchung. Und vor allen Dingen: nicht dich! Ich bin nicht der Typ zum Verlieben. Wirklich nicht. Und in deinem Alter …“
 

„Ich weiß!“ fahre ich ihm dazwischen und richte mich wieder auf. „Ich weiß. Ich bin ja nicht völlig naiv! Und ich will mich auch gar nicht verlieben! Nicht auf Teufel komm raus! Und eigentlich auch so nicht! Ich will … so wie du! Und dazu muss ich … ich … ich will das erleben. Mit jemandem, der es mir zeigen kann, aber für den ich nicht nur namenloser Müll auf zwei Beinen bin. Das will ich.“
 

Er mustert mich. „Du bist kein Müll, wie kommst du denn auf diese Idee?“ fragt er verwirrt.
 

„Habe mich mit Pauli unterhalten“, knirsche ich.
 

Er seufzt. „Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist. Seinen Spaß zu haben ist ja völlig okay, aber bei ihm lauert so etwas … Nihilistisches dahinter. Ich weiß auch nicht. Pauli ist wirklich brutal. Irgendetwas ist merkwürdig bei ihm“, meint er.
 

„Ich weiß“, murmele ich. „Der hat echt ne Macke, oder?“
 

Gideon scheint nachzudenken. „Ich weiß nicht. Jedem so, wie’s ihm gefällt. Ich habe mal eine Nummer mit ihm geschoben, will ich nicht leugnen. Man hat Spaß, achtet den anderen, auch wenn man beim Sex eventuell Rollen übernimmt, aber das ist etwas Anderes. Aber bei Pauli … fühlt man sich wie ein Schwanz. Wirklich nur wie ein Schwanz. Irritierend auch für mich, der nun gewiss keine Unschuld vom Lande bin. Dabei sieht er so … anders aus. Und ist noch so jung. Irgendetwas hat der Gute abbekommen, das überhaupt nichts mit Sex zu tun hat.“
 

„Wie alt bist du überhaupt?“ will ich wissen. Ich will mich nicht über Pauli mit ihm unterhalten. Nicht wirklich. Viel lieber über ihn … und mich …
 

„Sechsundzwanzig“, sagt er. „Schockiert?“
 

Ich schüttele verneinend den Kopf. Das ist zwar utopisch für mich, aber das ist fast alles jenseits der Zwanzig. Und er sieht wirklich so toll aus. Er ist halt älter, na und? Er ist ja nicht fünfzig oder so. Er ist doch immer noch jung, oder?
 

„Was machst du beruflich?“ frage ich ihn weiter.
 

Er lächelt amüsiert, aber antwortet. „Ich bin Musikjournalist bei einer Fachzeitschrift. Schreibe Rezensionen und Konzertkritiken“, erzählt er.
 

„Ich bin total unmusikalisch“, gestehe ich. „Aber ich mag Musik!“
 

„Das ist die Hauptsache“, versichert er.
 

„Naja, das sieht meine Musiklehrerin anders“, murmele ich.
 

Er lacht schon wieder. Ich mag diese Lachfalten um seinen Mund herum. Sehe ihn an. Lächle. Er blickt zurück, ohne zu blinzeln. Und dann küsst er mich plötzlich. Ganz vorsichtig. Aber auf die Lippen.
 

So schön …
 

Viel besser als mit Daniel. Dabei ist das hier eigentlich total keusch, auch wenn ich dieses Wort gerne aus meinem Wortschatz streichen möchte.
 

Ich versinke …
 

„Hach, wie süß!“ fährt uns eine Stimme dazwischen. Ich öffne die Augen. Pauli. Verdammt! Ist der Kerl irgendwie überall? Hat der irgendwie ein Gespür dafür, wenn irgendwo über ihn geredet wird? Er grinst schon wieder so link. „Voll die Liebe auf den ersten Blick! Aber ich warne dich, Gideon!“ sagt er. „Er mag nur nette Männer. Bestimmt will er nur kuscheln. Kein Sex vor der Ehe und so! Aber in deinem Alter sollte man langsam ans Heiraten denken … sonst füttert einen keiner, wenn man senil wird!“
 

Ich muss an Opa und meine Zukunftsängste denken und hasse ihn noch mehr.
 

Gideon und ich sagen so ziemlich zeitgleich: „Verpiss dich!“
 

Und das tut er, aber nicht ohne zu hauchen: „Aber sei zärtlich zu ihm!“
 

„Was für ein Wichser!“ rege ich mich auf.
 

„Ach, lass ihn. Der hat irgendwo übel einen mitgekriegt. Wahrscheinlich sollte er einem leidtun. Aber wo er Recht hat, hat er Recht …“
 

Mein Herz klopft plötzlich wie eine Jamaikanische Trommel. „Du würdest echt …?“ flüstere ich.
 

„Nein“, erwidert er. Mein Herz – und einige andere Teile von mir – plumpsen in einen Kübel voll kaltem Wasser.
 

„Warum nicht?“ stammele ich, bevor ich mich bremsen kann.
 

Er fasst mich beiderseits bei den Wangen, zwingt mich, ihn anzuschauen. Ich starre ihm wie das sprichwörtlich hypnotisierte Karnickel in seine schönen Augen. „Ich weiß nicht“, sagt er langsam und sieht mich nachdenklich an. „Ist nicht so, dass ich dich nicht scharf fände, aber ich wünsche mir … dass du es besser machst. Besser als ich. Besser als die Meisten. Noch hast du die Chance. Das hier … der Club, die Party … das ist nicht alles. Ich weiß, ich habe gut reden, aber … Okay, Deal: Du gehst es langsam an. Überstützt die Sache nicht, springst nicht mit dem Erstbesten ins Bett, nur weil du meinst, das müsse so sein. Sondern schaust dich um … vielleicht hier, vielleicht auch in deinem Leben. Deinem richtigen Leben. Lass es nicht einfach Teil der Party sein, sondern ein Teil von dir. Aber wenn das nicht klappt, wenn du es überhaupt nicht mehr aushältst, wenn du kurz davor stehst, mit Günther hinterm nächsten Busch zu verschwinden …“
 

„Wer ist Günther?“ frage ich.
 

Er dreht meinen Kopf. Ich weiß, es ist fies, aber alles, was ich bei Günthers Anblick sagen kann ist: „Büarg! Niemals!“
 

Gideon kräuselt ebenfalls die Nase. „Vor allen Dingen: man kann nicht mal auf seine inneren Werte verweisen. Er ist dein ekliges Schwein, durch und durch. Verscheuert Disco-Drogen fragwürdiger Qualität an jeden - halt dich bloß fern von dem! Ich hasse den Mistkerl!“ Er regt sich wirklich auf. Ob es da persönliche Gründe gibt? Ich frage nicht nach, lausche einfach weiter. „Also“, fasst Gideon sich wieder, „wenn du kurz davor bist, eine wirkliche Dummheit zu machen, dann lieber ich. Wie gesagt, ich bin kein Bottom, musst du selbst wissen.“
 

„Du bist doch keine Notlösung!“ protestiere ich.
 

Er lächelt wieder, es wirkt fast ein bisschen traurig. „Doch, das bin ich“, erwidert er.
 

„Wie kommst du auf so einen Blödsinn!“ rege ich mich auf. „Du bist wunderschön! Hammersexy! Der absolute Held hier!“
 

Er starrt mich kurz an, dann schüttelt er ungläubig den Kopf. „Ich bin kein Held. Ich rette keine Babies vor Monstern. Keine Wolkenkratzer vor Terroristen. Oder die Umwelt vor der Zerstörung.“
 

„Aber“, wende ich konfus ein, „hier …“ Ich winke diffus in den Raum.
 

Er lächelt schon wieder. „Kleiner“, sagt er sanft. „Das ist kein Heldentum. Ich weiß nicht, aber niemand ist wie das Klischee des obercoolen Superhengstes. Ich wollte das nie sein, aber ironischerweise bin ich das in aller Augen geworden.“
 

Ich glotze ihn verständnislos an. „Du … du willst das gar nicht … aber du bist doch so cool!“ stottere ich.
 

Er zuckt mit den Schultern. „Was heißt denn eigentlich ‚cool‘ – mmm?“ fragt er mich.
 

„Lässig, über den Dingen stehend …“, brabbele ich herunter.
 

„Und im wörtlichen Sinne?“ hakt er nach.
 

Ich schweige. „Kühl. Kalt“, sage ich schließlich.
 

„Und findest du das etwa besonders erstrebenswert?“ fragt er mich und blickt mir ruhig ins Gesicht.
 

Ich schlucke, weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das passt doch gar nicht zu dem, was ich mir vorgestellt habe, über ihn, über mich!
 

„Eben“, sagt er. „Such dir nichts „Cooles“. Das musst du nicht. Wenn du das Gefühl hast, das nicht zu schaffen, dann helfe ich dir – aber nicht sofort. Drei Monate. Versprich mir das. Ich weiß, das klingt wie eine Ewigkeit, wenn man so jung ist wie du, ansonsten würde ich auch mehr fordern. Versuche es drei Monate lang nicht zu überstürzen. Tanze, flirte – aber spring nicht auf Krampf mit jemandem in die Kiste. Vielleicht findest du ja wen, bei dem du dich wirklich wohlfühlst, aber mach dich nicht selbst zum … zum Fickfleisch.“
 

„Warum sagst du mir all das?“ frage ich atemlos.
 

Er lehnt sich zurück und wiegte leicht den Kopf. Er antwortet mir nicht.
 

„Du bist doch nicht kalt!“ rede ich auf ihn ein. „Du bist doch total nett zu mir! Und ich … ich finde dich so …“
 

Er dreht den Kopf und sieht mich fast belustigt an. „Das kannst du alles nicht wissen“, würgt er mich nicht unfreundlich ab. „Aber wenn ich dich so sehe, da sehe ich auch mich. Damals. Ganz schön egoistisch, nicht wahr? Und ich hab’s verbockt. Und alles, was bleibt, ist … das hier. Cool. Kalt. Gut fürs Ego. Aber es gibt auch besseres. Versuch’s zumindest, okay?“
 

Ich blicke ihn an. Ich weiß gar nicht recht, was ich denken soll. Ich finde ihn noch immer unglaublich anziehend. Zugleich bin ich verwirrt. Und ein klein bisschen sauer. Ich will doch nur Spaß … vorzugsweise mit ihm … drei Monate … es versuchen … will ich doch gar nicht… wovon redet der eigentlich … Aber dennoch nicke ich und sage: „Okay. Wenn du meinst. Und was soll ich deiner Ansicht nach suchen?“
 

Er streichelt mich ein Mal kurz über die Schulter. „Ich weiß nicht“, sagt er. „Ich glaube, ich hab’s vergessen.“

Auf Wiedersehen, du schönes Hirn

Kapitel 6: Auf Wiedersehen, du schönes Hirn
 

„Du hast eine Art Fick-Deal?“ fragt mich Janina amüsiert, während die Bahn mit uns darin gemächlich durch die Nacht rattert.
 

„Ja“, erwidere ich etwas verhalten. „So in der Richtung. Aber… hörte sich eher an wie Erste Hilfe, falls ich drohe, Blödsinn zu machen. Warum meint eigentlich jeder, ich solle abwarten, mich gedulden, etwas „Besseres“ finden? Außerdem: Was gibt es denn Besseres als Gideon!“ knurre ich vor mich hin und beiße in den saftigen Burger, den ich mir auf dem Weg zum Bahnhof noch gegönnt habe. Ich bin zwar nicht gerade sternhagelvoll, aber hatte genug, dass mein Körper nach Fett und Salz ruft.
 

„Bist du doch verliebt in ihn?“ bohrt Janina.
 

„Nein!“ wehre ich mich. „Ich mag ihn. Finde ihn total geil! Aber, nein, verliebt fühlt sich doch anders an? So Herzklopfen, Schmetterlinge im Bauch und solchen Kram?“
 

„Pffft, ja. Glaube schon. Man ist ziemlich neben der Spur, total wirre? Ist lange her“, murmelt sie.
 

„Der Typ aus deiner Tanzgruppe von anno Schnee?“ erinnere ich mich.
 

Sie nickt verhalten und nascht einen Pommes frites. „Da war ich fünfzehn. Totale Hirnverkalkung meinerseits. Damals war mir noch nicht so klar, dass ein Junge, dessen Traumkarriere Ballerina ist, keine gute Wahl ist, zumindest für eine Frau“, gesteht sie.
 

„Hey, keine Vorurteile!“ wende ich ein.
 

„In dem Fall war’s aber keins. Und ein paar Vorurteile schrammen auch mal der Realität. In diesem Zusammenhang war das zumindest so!“ wendet sie ein und seufzt in Erinnerung an das Desaster.
 

„Wie auch immer. Aber mich suchen keine bunten Brummer heim! Ich will ihn – und was kriege ich? Lebensweisheiten!“ rege ich mich rückwirkend auf.
 

„Er ist halt älter“, grinst sie.
 

„Er ist nicht alt!“ trotze ich herum. Ich schlinge den letzten Happen des Burgers herunter wie ein extagieriger Raptor aus einem Spielberg-Film. „Und was soll das überhaupt? Cool ist nicht cool? Ich soll mir was Besseres suchen? Wer bin ich? Eine Scheiß-Märchenfigur? Das hier ist die Realität! Ich hocke garantiert nicht doof rum, bis mich der rechte Prinz gnädiger Weise mal abschlabbert! Wir leben doch nicht im Mittelalter!“
 

„Das vielleicht nicht. Aber vielleicht bist du ja der Prinz“, ärgert sie mich ein bisschen. „Vielleicht meint er das so? Du sollst zusehen, dass dich der Richtige wachküsst. Oder vielmehr: -vögelt.“
 

„Toll. Ganz toll. Aber in den Märchen läuft das nie so. Da sind die Prinzen immer die Angeschissenen! Müssen dämliche Prüfungen absolvieren! Dornenhecken, Drachen und solchen Kram! Oder sie sind die totalen Sadisten und spielen DSDS mit den Prinzessinnen. Wenn die durch achtzig Decken die Erbse nicht am Arsch spürt, ist sie nicht die Rechte und so! Was soll das? Steht der auf Schlaflose? Oder ist sein Schwanz so klein, dass er da lieber auf Nummer sicher geht, dass die Braut auch ein Garnichts für riesig hält? Aber den Vogel schießen die Prinzen ab, die verzaubert sind! Wollen wegen ihrer inneren Werte geliebt werden! Pah! Frösche haben keine inneren Werte, das hat uns der Biounterricht gelehrt! Was für ein Prinz bin ich dann bitteschön?“ ereifere ich mich.
 

Sie mustert mich breit grinsend, dann zupft sie an einer meiner gefärbten Strähnen. „Vielleicht von allem ein wenig? So eine Art Froschprinz?“ schlägt sie frech vor.
 

Ich schnaube empört. „Nein! Nix Froschprinz! Ich will doch nur ficken! Warum ist das so schwer zu verstehen!“ Das habe ich ein wenig laut durch den Wagon gebrüllt. Okay, dass impliziert das Wort „brüllen“ wahrscheinlich bereits. Man lacht mich armes, notgeiles Fuselopfer jedenfalls auf breiter Front aus. Aber ich bin nicht besoffen, ich bin bloß frustriert!
 

Janina tätschelt mich einfach nur. Schon wieder. Wenn sie einen Lolli dabei hätte, würde sie ihn mir jetzt geben. Ich will aber keinen Lolli, sondern … schon klar. Ich schmolle jedenfalls erst einmal. „Ist doch schon gut, Lulu“, tröstet sie mich. „Sieh’s doch mal so: Du bist doch scharf auf diesen Gideon?“
 

„Ja!“ stoße ich hervor.
 

„Und wenn du drei Monate lang einen auf redlich bemüht machst, dann kriegst du deinen Erste Hilfe-Sex von ihm. Aber vielleicht findest du vorher auch was Tolleres, auch gut. Aber letztendlich kannst du doch machen, was du willst. Wenn du also meinst, mit irgendeinem Typen im dunklen Kämmerlein in die Vollen gehen zu wollen, verbietet dir das doch auch niemand. Wenn das dein Ding ist?“ fragt sie und legt ihren Kopf schräg.
 

Ich keuche genervt. „Weiß ich nicht. Ich hatte ja Gelegenheit, aber ich habe gekniffen. Und es stimmt so, da, so anonym, mmm, ich bin echt ein lausiger Oberhengst … Aber vielleicht muss man das eben wirklich lernen? Gideon hat es voll drauf, aber der hat jahrelange Übung! Egal, was er faselt, das ist schon cool, äh, inspirierend.“
 

„Okay, wenn du meinst“, erwidert sie nur. „Wie auch immer, du hast die Wahl.“
 

„Habe ich wohl“, seufze ich, während der Zug in unseren Zielbahnhof einfährt.
 

Als ich endlich in meinem Bett liege, kann ich trotz großer Müdigkeit nicht gleich einschlafen. Um mich dreht sich alles. Etwas Besseres … cool sein … dürfen … müssen … können …wollen …
 

Freiheit kann ganz schön anstrengend sein.
 

………………………………
 

Am Samstag lässt man mich leidlich ausschlafen, bevor man mich nötigt, Papa beim Wocheneinkauf zu assistieren. Er hat so penetrant gute Laune dabei, dass ich kurz darüber nachdenke, mich stattdessen von Emily the Strange adoptieren zu lassen. Als er zum dritten Mal „Wer saufen kann, der kann auch laufen!“ zu mir sagt, stehe ich nur einen Fingerbreit davor, mir die Pulsadern mit einem gerade von einem Kleinkind vor uns zerdepperten Glas Frühlingsmöhrchen aufzuschneiden. Erst die Aussicht auf eine Currywurst mit Pommes nach vollzogenem Werke lenkt mich von meinen unmotivierten und absolut nicht ernst gemeinten Freitod-Gedanken ab. Während wir uns stärken, löchert mich Papa: „Wieder wen kennengelernt?“
 

„Mmm … ja … war nett“, schmatze ich. Bevor er auf weitere Ideen kommt, beuge ich lieber vor: „War aber ganz harmlos. Bloß Party.“ Stimmt zwar nicht ganz, aber nicht, dass meine Eltern auf die Idee kommen, ich mutierte zur schlimmsten Schlampe auf Erden oder so, und sie müssten mal ein ernstes Gespräch mit mir führen. So etwas tun die nämlich, oh ja. Dann sitzen sie mit ernsten Gesichtern auf dem Sofa im Wohnzimmer, ich ihnen gegenüber im Sessel, und nehmen mich freundlich lächelnd in die Zange. Absolut nicht erstrebenswert. Das mit der Schlampe ist zwar eigentlich der Plan, obwohl ich die Bezeichnung „Playboy“ irgendwie klangvoller finde. Ist ein bisschen altertümlich, ich weiß, aber hat doch was. Doch ein Playboy hat geile Autos, schicke Wohnungen in allen Metropolen der Welt, Freunde in den Kreisen der Reichen und Schönen sowie einen erlesenen Geschmack, und ich habe … Okay, wenn schon nicht „Schlampe“ dann eben doch „cooler Oberhengst“, aber den hat man mir gerade irgendwie madig gemacht, und ich weiß nicht, was das eigentlich alles soll und bla. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken, ich will lieber noch eine Wurst. Zumindest das ist leicht zu erledigen, denn Papa hat auch noch Hunger. Wir nehmen für Mama und Chrissi noch ein bisschen Fastfood mit, dann wenden wir uns wieder gen Heimat.
 

Als wir wieder zu Hause ankommen, tobt im Schneewittchenweg sieben bereits das Leben. Lebe wohl, du schöner Frieden. Der Lieferwagen eines Möbelhauses steht vor der Tür, es wird wohl gerade eine neue Küche geliefert. Ich spähe vorsichtig hinüber, während ich eine der Kisten mit unseren Einkäufen nach drinnen schleife. Das da drüben kann nicht mehr lange dauern, sieht ziemlich bezugsfertig aus. Mist. Aber zumindest Morgen dürfte noch Ruhe sein, da ist ja Sonntag, danach werden Dr. Frankenstein Junior und Senior wohl ziemlich bald hier einfallen.
 

Den Nachmittag läute ich mit einem kleinen Nickerchen ein, danach setze ich mich an die Hausarbeiten. Was sein muss, muss sein, schließlich will ich mein Abi nicht vergeigen oder mir doch noch Vorträge anhören müssen, dass ich wegen der Ausgeherei meine Ziele aus den Augen verlieren würde. Was denn für Ziele bitteschön? Nun gut, das Argument ist Schall und Rauch in den Ohren von Mamilein und Papa. Aber ich will auch nicht verkacken, wozu auch immer, stimmt schon. Außerdem mag ich meine Matheaufgaben, ich Perversling, ich.
 

Kurz nach dem Abendessen fallen wie angedroht Vanessa und Jasmin bei mir ein. Sie sind ziemlich aufgekratzt. Während wir uns ausgehfertig machen, glühen die beiden mit einer Flasche Prosecco vor, ich verkneife mir das. Nicht mein Fall. Außerdem will ich fit sein für … was auch immer.
 

Meine Eltern lassen es sich nicht nehmen, uns viel Spaß zu wünschen – garniert mit ein paar weisen Worten, die zur Vor- und Umsicht mahnen. Wir nicken artig wie alle braven Teenager, die nur sehr bedingt daran denken, sich da auch wirklich daran zu halten. Das dürfte ihnen auch klar sein. Hält sie trotzdem nicht davon ab.
 

……………………….
 

„Wahnsinn!“
 

„Männer!“
 

„So viele davon!“
 

„Und so wenig Stoff dran!“
 

„Denkt dran, die sind schwul“, warne ich meine beiden Freundinnen.
 

Sie grinsen dennoch beseligt. „Macht nichts“, meint Vanessa. „Das Auge isst mit!“
 

Aber nur vom Gucken wird man nie satt … Den Kommentar verkneife ich mir. Die beiden sind jedenfalls Feuer und Flamme. Sie stehen strahlend nebeneinander und wippen freudig im Takt. Sie sehen ein wenig aus wie Pat und Patterchon in Minikleidchen. Vanessa ist eine lange Bohnenstange mit etwas fad blondem Haar und einer Handballerinnen-Figur. Behauptet sie zumindest. Scheint etwas Gutes zu sein. Jasmin ist eine Handbreit über einem Ferkel, sie und Janina geben sich da nicht viel, nur ist Jasmin mit nicht ganz so günstigen Attributen gesegnet. Aber ihre Haare sind hübsch, dick und lockig, die verdankt sie ihrer türkischstämmigen Mutter. Man hält sie wahrscheinlich für ein Pärchen. Wenn ich ihnen das sage, kichern sie noch mehr, also besser nicht.
 

„Da ist ja heute einer der Hahn im Korbe. Die Ladys stehen auf dich!“ grinst mich der Barkeeper an, als ich mir ein Bier hole. Ich ziehe eine Grimasse. Ganz toll, „Frauenheld“ ist echt das Letzte, das ich über mich hören möchte. Immerhin kann ich Lea und Kathrin nicht entdecken, so dass mein Ruf durch ein Riesenrudel Frauen nicht endgültig vernichtet wird. Aber was soll’s. Nach all dem Gerede und ergebnislosem Gegrübel ist nach wie vor eines klar: Ich will Spaß. Und es bringt Spaß, mit meinen beiden Freundinnen hier zu sein, ihnen das zu zeigen, zu wissen, dass sie auch um meinetwillen darauf neugierig sind. Da mag Gideon unken, was er will: Ist diese Art von Spaß etwa nicht cool? Indem ich eiskalt darauf scheiße, ob ich von irgendwem wegen den beiden schräg angeguckt werde, selbst falls sie sich im Prosecco-Rausch doch noch in ein paar alberner Hühner verwandeln sollten? Klar wäre mir das peinlich, aber dennoch … sie sind meine Freunde. Wenn es hart auf hart kommt, dann bestehe ich da drauf!
 

Aber auch Gideon ist nicht zu erblicken. Daniel kann ich sehen, er tanzt ziemlich eindeutig mit irgendeinem Typen. Irgendwie ist es mir komplett egal. That’s the spirit!
 

Vanessa, Jasmin und ich gehen hoch auf die Empore, lehnen uns über die Brüstung und verfolgen das Treiben. Sie machen sich einen Spaß daraus, mir Typen vorzuschlagen.
 

„Der da?“ zeigt Vanessa ungeniert.
 

„Zu dünn!“ wiegele ich ab.
 

„Und was ist mit dem?“ versucht sich Jasmin und deutet auf das nächste Exemplar.
 

„Zu dick!“ stelle ich klar.
 

„Der da?“
 

„Zu haarig.“
 

„Und der?“
 

„Sieht aus wie Sauron!“
 

„Oh mein Gott!“ kreischt Vanessa in mein Ohr, dass ich drohe, endgültig zu ertauben. „Ist der süß! Schau doch mal! Oh Mann! Da! Der da!“
 

Nein, bitte nicht … „Sehe ich nicht“, murmele ich und versuche mich abzuwenden, aber sie schnappt mich eisenhart an der Schulter und schubst mich beinahe über die Brüstung. Ihr Arm ist voll ausgefahren. „Na! Der da!“ bleibt sie am Ball. „Der ist soooo knuffig!“
 

Ich versuche mich zu ducken, aber zu spät. „Knuffig“ scheint wirklich einen Siebten Sinn für so etwas zu haben. Sein Kopf legt sich wie in Zeitlupe in den Nacken, obwohl es in Wirklichkeit blitzschnell geht. Seine Augen bohren sich in meine. Kulleraugen. Allerliebst. Blaue Kulleraugen. Ich kann die Farbe in diesem Licht und aus dieser Entfernung eigentlich gar nicht erkennen, aber das ist egal, denn ich weiß es. Ich weiß, dass da dieser Hauch von Sommersprossen auf seinem Nasenrücken ist. Ich weiß von diesem kleinen silbernen Knopf, der auf seiner Zunge blitzt. Ich weiß es. Und er weiß jetzt, dass ich ihn schon wieder anglotze. Er klimpert mit den Wimpern und wirft mir eine Kusshand zu. Dieser Dreckskäfer.
 

Vanessa und Jasmin kreischen in wildem Jubel. Ich muss mich kurz an meine Lobhudelei von vorher entsinnen, um sie nicht postwendend per Fußtritt über die Reling zu befördern. Stattdessen drehe ich mich brüsk um. Verblüfft starren sie mir nach, ich kann ihre Blicke förmlich führen, dann klackern sie auf ihren Absatzschuhen hinter mir her.
 

„Was ist denn plötzlich los mit dir?“ fordert Jasmin zu wissen.
 

Ich knirsche mit den Zähnen. Atme tief durch. „Ich kenne den Kerl“, gestehe ich. „Er ist … Ich mag ihn nicht, okay? Ich mag ihn nicht!“
 

„Ist ja okay!“ erwidert Vanessa etwas perplex und drückt mir etwas die Schulter. „Konnten wir ja nicht wissen!“
 

Ich zwinge mir ein Lächeln ab. „Ja, weiß ich doch!“ sage ich. „Alles in Ordnung. Schwamm drüber, okay?“
 

Sie nicken beide, mustern mich aber ziemlich kritisch. Mir ist etwas unwohl. „Wollen wir tanzen?“ frage ich, bevor sie auf die Idee kommen nachzubohren. Das werden sie früher oder später sowieso, aber bitte nicht jetzt und hier und überhaupt. Spaß, genau Spaß, und bloß kein Pauli!
 

Und es klappt auch ganz gut. Die House Musik geht mir heute Abend ziemlich ins Blut. Wir hopsen umeinander, drehen uns, lachen. Ab und tanzt mich einer an, aber ich kann mich nicht recht erwärmen. Sind schon ganz okay, außerdem zeigen sie mir, dass ich durchaus anziehend wirke – zumindest bis ich mit dieser Jungfrauen-Geschichte rausrücke. Aber darauf habe ich heute Abend einfach keinen Bock. Nicht denken, tanzen! Fühlen! Das ist viel besser als das ganze Hick-Hack in meinem Schädel.
 

Wir amüsieren uns eigentlich ganz gut, denke ich. Die Mädchen sind jedenfalls auch gut dabei und ich habe irgendwann das Gefühl ein bisschen zu fliegen, Teil der Menge zu sein, ganz leicht, ganz frei. Ich tanze beseligt weiter. Irgendwann ruckelt Jasmin an meinem Arm.
 

„Habe eine SMS von Isa gekriegt!“ brüllt sie in mein Ohr. Isa ist eine Freundin von ihr und Vanessa, mit der ich noch nie viel anfangen konnte. Ich kenne sie auch nur oberflächlich, sie geht nicht auf unsere Schule, Jasmin und Vanessa kennen sie von früher vom Ballett. Ich finde sie ist eine aufgeblasene Hysterikerin, aber das ist nur meine bescheidene, völlig subjektive Meinung.
 

„Aha!“ brülle ich zurück.
 

„Ihr Freund hat Schluss gemacht! Oder sie mit ihrem Freund! Oder so!“ schreit sie mir ins Ohr.
 

Die hatte einen Freund? „Aha?“ wiederhole ich daher nur.
 

„Jetzt sitzt sie in der „Freiheit“ und heult auf dem Klo. Wir müssen da hin. Willst du mit?“ fragt sie mich.
 

Ich halte kurz inne. Nein, will ich nicht. Ich kenne Isa kaum, habe auf dem Mädchenklo nichts zu suchen und habe arge Zweifel, dass Isa meine Gegenwart irgendwie zu schätzen wüsste. Ich glaube, sie mag mich auch nicht sonderlich. Aber ganz alleine hier …? Ach was, gerade fühle ich mich einfach nur gut. Ich bin schließlich kein kleiner Junge mehr! „Geht ihr mal!“ erwidere ich daher nur.
 

Sie greift mein Handgelenk. „Echt?“ fragt sie nur.
 

„Ist okay!“ schmettere ich.
 

„Ich schreibe dir eine SMS, wenn wir gehen, das könnte allerdings dauern. Oder vielleicht will Isa auch heim! Okay?“
 

„Okay!“ bestätige ich.
 

„Halt die Ohren steif!“ empfiehlt sie, dann werde ich zwei Mal kurz geherzt und weg sind sie, wenn auch mit bedauernden Blicken. Die können sie wahrscheinlich auch Schöneres vorstellen als Isas Krise. Kurz fühle ich mich wie ein Kollegenschwein, dass ich nicht mitgegangen bin, aber genau genommen hätte ich da wirklich nichts zu beschicken als doof herum zu stehen. Ich beschließe, es ihnen einfach zu danken, dass sie mich nicht genötigt haben, wahrscheinlich, da ihnen das auch klar ist und sie wiederum auch keine Kollegenschweine sind.
 

So bin ich denn alleine hier. Dennoch ist das gar nicht sooo wild. Ich bin ja nicht wirklich alleine, einfach nur einer unter Vielen, die sich in einer Samstagnacht hier amüsieren. Ich lasse mich treiben, senke die Augenlider, gebe mich der Musik, den Bewegungen hin, fliege einfach weiter. Fat Boy Slim intoniert „Jingooo la Ba!“ Die Menge tobt, ich tobe mit. Wozu braucht man da Drogen? Geht doch auch so.
 

Ab und an greift eine Hand nach mir, aber ich entwinde mich. Es tut gut, aber es stört auch. Irgendwann ereilt mich der Ruf der Natur. Ich lasse mich in Richtung Toiletten treiben. Überall wird geknutscht und rumgemacht, bevor man schließlich in Richtung Darkroom stürzt. Mir egal, ist doch gut so, Spaß, Spaß, Spaß … Da kannst du mal sehen Gideon – nein, du hast nicht Recht! Aber ich mache, was ich will, bätsch!
 

Versonnen hämmere ich gegen eine der Klotüren. Stöhnen dringt mir entgegen. Na super, was soll das, geht gefälligst nach oben … Dennoch irgendwie … so wild, so frei, so geil …
 

Ich versuche es bei der nächsten. Ah, na bitte. Ich will gerade gemessenen Schrittes eintreten, habe meine Finger bereits am Gürtel, da packt mich plötzlich etwas oder eher jemand am Po, schubst mich zudringlich vorwärts. Eh ich mich recht besinnen kann, knallt die Tür hinter uns beiden zu und wird verriegelt. Irgendwo zwischen erbost, geschockt und aufgeregt fahre ich herum und verschlucke mich fast.
 

„Was willst du denn hier?“ entfährt mir. Was für eine selten dämliche Frage.
 

„Fragen, ob du mich lieb hast?“ lächelt er zuckersüß und lehnt sich dreist gegen mich.
 

Irgendetwas extrem Verblödetem in mir gefällt das. Der Rest packt ihn an den Schultern und drückt ihn von mir.
 

„Was zum Geier willst du von mir!?“ keuche ich.
 

Er legt sinnend den Kopf schief. Dann lächelt er erneut strahlend als habe er gerade einen Kuschelteddy auf dem Dom gewonnen.
 

„Ein bisschen Romantik. Zwei Männer… ein Zelt … jede Menge Schafe … oh, hups! Fast. Aber so in der Richtung. Bloß ohne die Handlung und mit Kondom“, wird er ziemlich deutlich.
 

„Du hast ja den totalen Dachschaden!“ werde jetzt auch ich deutlich, auch wenn Blödi in mir dämlich rumsabbert.
 

„Vielleicht. Wen kratzt es? Mich jedenfalls nicht!“ behauptet er plötzlich fast wütend, dann grinst er wieder, als sei nichts gewesen. Ich blinzele verwirrt. Seine Hand saust pfeilschnell in meinen Schritt. Mir wird schwindelig.
 

„Lass das!“ krächze ich.
 

Aber er macht weiter. Gar nicht gut. Und verdammt gut. Verflucht! Ich glaube, ich zittere. Dann schaffe ich es endlich, nach seiner Hand zu greifen und sie fortzuschieben.
 

„Du bist schüchtern, was?“ flüstert er plötzlich. Ich weiß einfach überhaupt nicht, was es ist, was in seinem Gesicht steht. Objektiv betrachtet lächelt er. Aber irgendetwas in mir sagt, dass er das in Wirklichkeit ganz und gar nicht tut.
 

„Bin ich nicht!“ behaupte ich. „Ich will dich bloß nicht!“
 

Er sieht mich an. Ich blicke hinab zu ihm. Wir bewegen uns nicht. Starren uns an. „Du lügst“, sagt er schließlich.
 

Das stimmt. Und es stimmt nicht. Beides. Ich bin ganz wirre im Kopfe. „Was soll das überhaupt, Pauli?“ sage ich zu ihm. „Und behaupte nicht, das hier sei bloß die nackte Geilheit! Da draußen sind genug, die anders als ich keine Zicken machen würden. Oder reizt dich gerade das? Oder willst du mich fertig machen? Hast du vielleicht obendrein irgendeinen Rachfeldzug mit Gideon am Laufen? Einen Wettbewerb? Kannst du es nicht ab, wenn nicht gleich jeder nach deiner Pfeife tanzt? Ich weiß es nicht! Aber ich habe keine Lust, für dich den Hampelmann hinzulegen!“
 

Er mustert mich. „Okay, das war immerhin nicht gelogen. Jedenfalls nicht völlig. Aber wie kommst du darauf, dass ich einen Hampelmann will?“
 

„Wenn ich deine irrsinnig weisen Reden richtig gedeutet habe, geht es dir doch darum, oder? Bedeutungsloses Geficke und nur du hast den Dreh raus! Bla bla! Und ich bin total kleinkariert! Völlig oberflächlich und verblendet im Vergleich zu dir! Schon kapiert! Also: Was soll das hier!“ fordere ich ihn heraus. Er ist immer noch viel zu nah.
 

Seine Lider beben leicht. Scheiße, das ist so … Er leckt sich über die Oberlippe, ganz beiläufig, als sei sie lediglich ein bisschen trocken. „Nun gut, verleihen wir der Sache ein wenig Tiefgang. Ich muss dir nämlich dringend etwas über mich erzählen: Ich scheiße auf Gründe!“ stößt er hervor. Und dann küsst er mich.
 

Keine Ahnung, wie das passiert ist, immerhin ist er ein ganzes Stück kleiner als ich, dazu müsste ich mich eigentlich bücken. Moment mal, das tue ich ja! Wie? Wann? Seine Arme haben sich um meinen Hals geschlungen. Er riecht so … ich weiß nicht … was ist das? Kardamon? Muskat? Safran? Irgendetwas Exotisches, aber ich mag exotisches Essen. Und ein bisschen nach Erdbeerzahncreme. Und seine Lippen … sie küssen nicht einfach los … sie schmiegen sich an, pulsieren … Ehe ich mich versehe, ist meine Zunge dabei, über sie zu lecken. Hirn … auf Wiedersehen … war schön mit dir … all die Jahre …
 

Hör auf, Ludwig! Hör bloß auf!
 

Pling.
 

Natürlich gibt es kein Geräusch, aber ich höre es dennoch mit so viel Dezibel, dass es bis zum Mond dröhnen müsste. Der Metallknopf. Unter meiner Zungenspitze, die dagegen drängt, als sei sie der letzte Tropfen Honig auf Erden für alle Zeiten.
 

Metallknopf? Pauli! Das hier ist dieser verdammte … alles Mögliche … Pauli … weg … weg …
 

Ich rühre mich kein Stück. Geht auch nicht, denn etwas unsagbar Heißes drängt zwischen meinen Lippen hindurch. Ich keuche. Mein Untergeschoss tanzt Foxtrott. Mein Obergeschoss auch und parallel dazu Cancan. Besoffen und auf Speed. Der Knopf ist kein Knopf, sondern ein Stift, er klemmt zwischen meinen Lippen, während eine schrecklich lebendige Zunge über meine leckt, mein Zahnfleisch, meine Mundhöhle, meine Synapsen, mein Rückenmark, meinen kleinen Zeh. Meine Arme haben sich um ihn geschlossen wie bei so einer Clip-Figur aus dem Laden meiner Mutter. Monchichi heißen die oder so.
 

Aber das hier ist kein Monchichi, sondern Pauli, obwohl da schon gewisse Ähnlichkeiten bestehen … Aber das gerade so … egal …
 

Ist nur ein Kuss. Stimmt aber nicht. Scheiße! Irgendetwas in mir wird panisch. Was macht dieser Kerl mit mir? Dem größten Teil von mir ist das gerade sowas von scheißegal.
 

Er schmiegt sich gegen mich. Ich fühle seine Härte gegen meinen Schenkel reiben, ganz sanft, aber es macht mich völlig irrsinnig. Das hier ist nicht wie mit Daniel. Auch nicht wie mit Gideon. Er reißt an meinen Haaren. Ich zerre an seiner Taille. Ich will ja nicht leugnen, schon das ein oder andre Mal in meinem Leben strunz besoffen gewesen zu sein, auch wenn ich das vor meinen Altvorderen geschafft habe zu verheimlichen. Auf die Jahrgangspartys durfte ich ja, nur bloß nicht in die Stadt … Aber das ist ein Fliegenschiss gegen den totalen Aussetzer, den ich gerade erlebe. Ich kotze nicht in Janinas Klo, während sie meinen Kopf hält, ich küsse mich um Sinn und Verstand. Zwar auch auf dem Klo, aber kein Vergleich.
 

Plötzlich stößt er sich von mir ab. Ich schnappe wild nach Luft. Starre ihn fassungslos an. Seine Lippen sind gerötet. „Denk mal darüber nach, Arschloch!“ sagt er zu mir, öffnet die Tür und ist einfach weg.
 

Ich komme nur halb zur Besinnung. Dann torkele ich hinter ihm her. Er hat reichlich Vorsprung. Ich sehe gerade noch, wie er einen hünenhaften Kerl am Gürtel hinter sich her die Treppe hinauf in Richtung Darkroom zerrt. Mir steht einfach nur der Mund offen. Das ist zu viel für meinen armen, kleinen Kopf. Und auch für … irgendetwas anderes. Plötzlich ist das hier nur noch ein Raum voller muffender Menschen, die ihrem armseligen Alltag entfliehen suchen. Ich bin ungerecht.
 

Er schleppt diesen Heini einfach ab! Wortlos, einfach so! Nicht einmal zwei Minuten nach unserem Kuss! Was war das überhaupt? Und jetzt geht er ficken?
 

Ich begreife gar nichts. Will ich auch nicht. Der ist doch total verrückt!
 

Trotzdem … aua … was …?



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  _t_e_m_a_
2012-11-01T12:12:28+00:00 01.11.2012 13:12
Ah, das lang ersehnte Kapitel *___*

Und - das war jetzt wirklich überraschend! :O
Du hast es richtig gut beschrieben, habs gleich zweimal hintereinander gelesen!

Ich bin gespannt wies weitergeht!
Auch mit den neuen Nachbarn... :D

Liebe Grüße, tema
Von:  _t_e_m_a_
2012-10-10T05:21:42+00:00 10.10.2012 07:21
Oh, mit diesem Kapitel hast du mich völlig in den Bann von "Froschprinz" gezogen *____*
Ich liiiiebe es und freue mich auf das nächste Kapitel >______<
mach weiter so ^__^//

lg, die tema~♥

P.S. du hast bei den Kapiteln auch eine %-anzeige, wie weit sie sind, aber die kapitel sind ja eig in sich abgeschlossen, falls du verstehst was ich meine :D das iritiert mich ein bisschen ^^' also, ich habs bisher so verstanden das es eine %-anzeige für den ff gibt, wie weit er insgesamt ist und für ein kapitel, wenn man es z.bsp. nicht komplett hochgeladen hat Oo (warum auch immer :D) naja, aber wirklich wichtig ist es ja nicht xD ich freue mich auf die restlichen 85% *__*
Von:  Twinkle
2012-09-14T12:13:57+00:00 14.09.2012 14:13
Gefühlskrüppel xD
Ich steh ja jetzt leider auf der Leitung wer Pauli ist, aber es klingt auf jeden fall so als würde es noch interessant werden :3
Ich freu mich schon riesig auf weitere so lustige Kapitel :)
Von:  _t_e_m_a_
2012-09-14T05:24:46+00:00 14.09.2012 07:24
Owh, ist das lustig :DD
also... nicht das Kapitel speziell sondern alles ingesamt xD
das image der brumifaherer und der tischerückende klassenstreber :D
aww~ und warum sieht Gideon in meiner Fantasie so gut aus XD

wuhuuu mach weiter so :D *motivier*
Von:  Twinkle
2012-04-19T17:11:36+00:00 19.04.2012 19:11
ich fang dann mal an zu sabbern ;D Tolle Idee und super Schreibstil.
LG Twinkle


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