Zum Inhalt der Seite

Froschprinz

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Auf Wiedersehen, du schönes Hirn

Kapitel 6: Auf Wiedersehen, du schönes Hirn
 

„Du hast eine Art Fick-Deal?“ fragt mich Janina amüsiert, während die Bahn mit uns darin gemächlich durch die Nacht rattert.
 

„Ja“, erwidere ich etwas verhalten. „So in der Richtung. Aber… hörte sich eher an wie Erste Hilfe, falls ich drohe, Blödsinn zu machen. Warum meint eigentlich jeder, ich solle abwarten, mich gedulden, etwas „Besseres“ finden? Außerdem: Was gibt es denn Besseres als Gideon!“ knurre ich vor mich hin und beiße in den saftigen Burger, den ich mir auf dem Weg zum Bahnhof noch gegönnt habe. Ich bin zwar nicht gerade sternhagelvoll, aber hatte genug, dass mein Körper nach Fett und Salz ruft.
 

„Bist du doch verliebt in ihn?“ bohrt Janina.
 

„Nein!“ wehre ich mich. „Ich mag ihn. Finde ihn total geil! Aber, nein, verliebt fühlt sich doch anders an? So Herzklopfen, Schmetterlinge im Bauch und solchen Kram?“
 

„Pffft, ja. Glaube schon. Man ist ziemlich neben der Spur, total wirre? Ist lange her“, murmelt sie.
 

„Der Typ aus deiner Tanzgruppe von anno Schnee?“ erinnere ich mich.
 

Sie nickt verhalten und nascht einen Pommes frites. „Da war ich fünfzehn. Totale Hirnverkalkung meinerseits. Damals war mir noch nicht so klar, dass ein Junge, dessen Traumkarriere Ballerina ist, keine gute Wahl ist, zumindest für eine Frau“, gesteht sie.
 

„Hey, keine Vorurteile!“ wende ich ein.
 

„In dem Fall war’s aber keins. Und ein paar Vorurteile schrammen auch mal der Realität. In diesem Zusammenhang war das zumindest so!“ wendet sie ein und seufzt in Erinnerung an das Desaster.
 

„Wie auch immer. Aber mich suchen keine bunten Brummer heim! Ich will ihn – und was kriege ich? Lebensweisheiten!“ rege ich mich rückwirkend auf.
 

„Er ist halt älter“, grinst sie.
 

„Er ist nicht alt!“ trotze ich herum. Ich schlinge den letzten Happen des Burgers herunter wie ein extagieriger Raptor aus einem Spielberg-Film. „Und was soll das überhaupt? Cool ist nicht cool? Ich soll mir was Besseres suchen? Wer bin ich? Eine Scheiß-Märchenfigur? Das hier ist die Realität! Ich hocke garantiert nicht doof rum, bis mich der rechte Prinz gnädiger Weise mal abschlabbert! Wir leben doch nicht im Mittelalter!“
 

„Das vielleicht nicht. Aber vielleicht bist du ja der Prinz“, ärgert sie mich ein bisschen. „Vielleicht meint er das so? Du sollst zusehen, dass dich der Richtige wachküsst. Oder vielmehr: -vögelt.“
 

„Toll. Ganz toll. Aber in den Märchen läuft das nie so. Da sind die Prinzen immer die Angeschissenen! Müssen dämliche Prüfungen absolvieren! Dornenhecken, Drachen und solchen Kram! Oder sie sind die totalen Sadisten und spielen DSDS mit den Prinzessinnen. Wenn die durch achtzig Decken die Erbse nicht am Arsch spürt, ist sie nicht die Rechte und so! Was soll das? Steht der auf Schlaflose? Oder ist sein Schwanz so klein, dass er da lieber auf Nummer sicher geht, dass die Braut auch ein Garnichts für riesig hält? Aber den Vogel schießen die Prinzen ab, die verzaubert sind! Wollen wegen ihrer inneren Werte geliebt werden! Pah! Frösche haben keine inneren Werte, das hat uns der Biounterricht gelehrt! Was für ein Prinz bin ich dann bitteschön?“ ereifere ich mich.
 

Sie mustert mich breit grinsend, dann zupft sie an einer meiner gefärbten Strähnen. „Vielleicht von allem ein wenig? So eine Art Froschprinz?“ schlägt sie frech vor.
 

Ich schnaube empört. „Nein! Nix Froschprinz! Ich will doch nur ficken! Warum ist das so schwer zu verstehen!“ Das habe ich ein wenig laut durch den Wagon gebrüllt. Okay, dass impliziert das Wort „brüllen“ wahrscheinlich bereits. Man lacht mich armes, notgeiles Fuselopfer jedenfalls auf breiter Front aus. Aber ich bin nicht besoffen, ich bin bloß frustriert!
 

Janina tätschelt mich einfach nur. Schon wieder. Wenn sie einen Lolli dabei hätte, würde sie ihn mir jetzt geben. Ich will aber keinen Lolli, sondern … schon klar. Ich schmolle jedenfalls erst einmal. „Ist doch schon gut, Lulu“, tröstet sie mich. „Sieh’s doch mal so: Du bist doch scharf auf diesen Gideon?“
 

„Ja!“ stoße ich hervor.
 

„Und wenn du drei Monate lang einen auf redlich bemüht machst, dann kriegst du deinen Erste Hilfe-Sex von ihm. Aber vielleicht findest du vorher auch was Tolleres, auch gut. Aber letztendlich kannst du doch machen, was du willst. Wenn du also meinst, mit irgendeinem Typen im dunklen Kämmerlein in die Vollen gehen zu wollen, verbietet dir das doch auch niemand. Wenn das dein Ding ist?“ fragt sie und legt ihren Kopf schräg.
 

Ich keuche genervt. „Weiß ich nicht. Ich hatte ja Gelegenheit, aber ich habe gekniffen. Und es stimmt so, da, so anonym, mmm, ich bin echt ein lausiger Oberhengst … Aber vielleicht muss man das eben wirklich lernen? Gideon hat es voll drauf, aber der hat jahrelange Übung! Egal, was er faselt, das ist schon cool, äh, inspirierend.“
 

„Okay, wenn du meinst“, erwidert sie nur. „Wie auch immer, du hast die Wahl.“
 

„Habe ich wohl“, seufze ich, während der Zug in unseren Zielbahnhof einfährt.
 

Als ich endlich in meinem Bett liege, kann ich trotz großer Müdigkeit nicht gleich einschlafen. Um mich dreht sich alles. Etwas Besseres … cool sein … dürfen … müssen … können …wollen …
 

Freiheit kann ganz schön anstrengend sein.
 

………………………………
 

Am Samstag lässt man mich leidlich ausschlafen, bevor man mich nötigt, Papa beim Wocheneinkauf zu assistieren. Er hat so penetrant gute Laune dabei, dass ich kurz darüber nachdenke, mich stattdessen von Emily the Strange adoptieren zu lassen. Als er zum dritten Mal „Wer saufen kann, der kann auch laufen!“ zu mir sagt, stehe ich nur einen Fingerbreit davor, mir die Pulsadern mit einem gerade von einem Kleinkind vor uns zerdepperten Glas Frühlingsmöhrchen aufzuschneiden. Erst die Aussicht auf eine Currywurst mit Pommes nach vollzogenem Werke lenkt mich von meinen unmotivierten und absolut nicht ernst gemeinten Freitod-Gedanken ab. Während wir uns stärken, löchert mich Papa: „Wieder wen kennengelernt?“
 

„Mmm … ja … war nett“, schmatze ich. Bevor er auf weitere Ideen kommt, beuge ich lieber vor: „War aber ganz harmlos. Bloß Party.“ Stimmt zwar nicht ganz, aber nicht, dass meine Eltern auf die Idee kommen, ich mutierte zur schlimmsten Schlampe auf Erden oder so, und sie müssten mal ein ernstes Gespräch mit mir führen. So etwas tun die nämlich, oh ja. Dann sitzen sie mit ernsten Gesichtern auf dem Sofa im Wohnzimmer, ich ihnen gegenüber im Sessel, und nehmen mich freundlich lächelnd in die Zange. Absolut nicht erstrebenswert. Das mit der Schlampe ist zwar eigentlich der Plan, obwohl ich die Bezeichnung „Playboy“ irgendwie klangvoller finde. Ist ein bisschen altertümlich, ich weiß, aber hat doch was. Doch ein Playboy hat geile Autos, schicke Wohnungen in allen Metropolen der Welt, Freunde in den Kreisen der Reichen und Schönen sowie einen erlesenen Geschmack, und ich habe … Okay, wenn schon nicht „Schlampe“ dann eben doch „cooler Oberhengst“, aber den hat man mir gerade irgendwie madig gemacht, und ich weiß nicht, was das eigentlich alles soll und bla. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken, ich will lieber noch eine Wurst. Zumindest das ist leicht zu erledigen, denn Papa hat auch noch Hunger. Wir nehmen für Mama und Chrissi noch ein bisschen Fastfood mit, dann wenden wir uns wieder gen Heimat.
 

Als wir wieder zu Hause ankommen, tobt im Schneewittchenweg sieben bereits das Leben. Lebe wohl, du schöner Frieden. Der Lieferwagen eines Möbelhauses steht vor der Tür, es wird wohl gerade eine neue Küche geliefert. Ich spähe vorsichtig hinüber, während ich eine der Kisten mit unseren Einkäufen nach drinnen schleife. Das da drüben kann nicht mehr lange dauern, sieht ziemlich bezugsfertig aus. Mist. Aber zumindest Morgen dürfte noch Ruhe sein, da ist ja Sonntag, danach werden Dr. Frankenstein Junior und Senior wohl ziemlich bald hier einfallen.
 

Den Nachmittag läute ich mit einem kleinen Nickerchen ein, danach setze ich mich an die Hausarbeiten. Was sein muss, muss sein, schließlich will ich mein Abi nicht vergeigen oder mir doch noch Vorträge anhören müssen, dass ich wegen der Ausgeherei meine Ziele aus den Augen verlieren würde. Was denn für Ziele bitteschön? Nun gut, das Argument ist Schall und Rauch in den Ohren von Mamilein und Papa. Aber ich will auch nicht verkacken, wozu auch immer, stimmt schon. Außerdem mag ich meine Matheaufgaben, ich Perversling, ich.
 

Kurz nach dem Abendessen fallen wie angedroht Vanessa und Jasmin bei mir ein. Sie sind ziemlich aufgekratzt. Während wir uns ausgehfertig machen, glühen die beiden mit einer Flasche Prosecco vor, ich verkneife mir das. Nicht mein Fall. Außerdem will ich fit sein für … was auch immer.
 

Meine Eltern lassen es sich nicht nehmen, uns viel Spaß zu wünschen – garniert mit ein paar weisen Worten, die zur Vor- und Umsicht mahnen. Wir nicken artig wie alle braven Teenager, die nur sehr bedingt daran denken, sich da auch wirklich daran zu halten. Das dürfte ihnen auch klar sein. Hält sie trotzdem nicht davon ab.
 

……………………….
 

„Wahnsinn!“
 

„Männer!“
 

„So viele davon!“
 

„Und so wenig Stoff dran!“
 

„Denkt dran, die sind schwul“, warne ich meine beiden Freundinnen.
 

Sie grinsen dennoch beseligt. „Macht nichts“, meint Vanessa. „Das Auge isst mit!“
 

Aber nur vom Gucken wird man nie satt … Den Kommentar verkneife ich mir. Die beiden sind jedenfalls Feuer und Flamme. Sie stehen strahlend nebeneinander und wippen freudig im Takt. Sie sehen ein wenig aus wie Pat und Patterchon in Minikleidchen. Vanessa ist eine lange Bohnenstange mit etwas fad blondem Haar und einer Handballerinnen-Figur. Behauptet sie zumindest. Scheint etwas Gutes zu sein. Jasmin ist eine Handbreit über einem Ferkel, sie und Janina geben sich da nicht viel, nur ist Jasmin mit nicht ganz so günstigen Attributen gesegnet. Aber ihre Haare sind hübsch, dick und lockig, die verdankt sie ihrer türkischstämmigen Mutter. Man hält sie wahrscheinlich für ein Pärchen. Wenn ich ihnen das sage, kichern sie noch mehr, also besser nicht.
 

„Da ist ja heute einer der Hahn im Korbe. Die Ladys stehen auf dich!“ grinst mich der Barkeeper an, als ich mir ein Bier hole. Ich ziehe eine Grimasse. Ganz toll, „Frauenheld“ ist echt das Letzte, das ich über mich hören möchte. Immerhin kann ich Lea und Kathrin nicht entdecken, so dass mein Ruf durch ein Riesenrudel Frauen nicht endgültig vernichtet wird. Aber was soll’s. Nach all dem Gerede und ergebnislosem Gegrübel ist nach wie vor eines klar: Ich will Spaß. Und es bringt Spaß, mit meinen beiden Freundinnen hier zu sein, ihnen das zu zeigen, zu wissen, dass sie auch um meinetwillen darauf neugierig sind. Da mag Gideon unken, was er will: Ist diese Art von Spaß etwa nicht cool? Indem ich eiskalt darauf scheiße, ob ich von irgendwem wegen den beiden schräg angeguckt werde, selbst falls sie sich im Prosecco-Rausch doch noch in ein paar alberner Hühner verwandeln sollten? Klar wäre mir das peinlich, aber dennoch … sie sind meine Freunde. Wenn es hart auf hart kommt, dann bestehe ich da drauf!
 

Aber auch Gideon ist nicht zu erblicken. Daniel kann ich sehen, er tanzt ziemlich eindeutig mit irgendeinem Typen. Irgendwie ist es mir komplett egal. That’s the spirit!
 

Vanessa, Jasmin und ich gehen hoch auf die Empore, lehnen uns über die Brüstung und verfolgen das Treiben. Sie machen sich einen Spaß daraus, mir Typen vorzuschlagen.
 

„Der da?“ zeigt Vanessa ungeniert.
 

„Zu dünn!“ wiegele ich ab.
 

„Und was ist mit dem?“ versucht sich Jasmin und deutet auf das nächste Exemplar.
 

„Zu dick!“ stelle ich klar.
 

„Der da?“
 

„Zu haarig.“
 

„Und der?“
 

„Sieht aus wie Sauron!“
 

„Oh mein Gott!“ kreischt Vanessa in mein Ohr, dass ich drohe, endgültig zu ertauben. „Ist der süß! Schau doch mal! Oh Mann! Da! Der da!“
 

Nein, bitte nicht … „Sehe ich nicht“, murmele ich und versuche mich abzuwenden, aber sie schnappt mich eisenhart an der Schulter und schubst mich beinahe über die Brüstung. Ihr Arm ist voll ausgefahren. „Na! Der da!“ bleibt sie am Ball. „Der ist soooo knuffig!“
 

Ich versuche mich zu ducken, aber zu spät. „Knuffig“ scheint wirklich einen Siebten Sinn für so etwas zu haben. Sein Kopf legt sich wie in Zeitlupe in den Nacken, obwohl es in Wirklichkeit blitzschnell geht. Seine Augen bohren sich in meine. Kulleraugen. Allerliebst. Blaue Kulleraugen. Ich kann die Farbe in diesem Licht und aus dieser Entfernung eigentlich gar nicht erkennen, aber das ist egal, denn ich weiß es. Ich weiß, dass da dieser Hauch von Sommersprossen auf seinem Nasenrücken ist. Ich weiß von diesem kleinen silbernen Knopf, der auf seiner Zunge blitzt. Ich weiß es. Und er weiß jetzt, dass ich ihn schon wieder anglotze. Er klimpert mit den Wimpern und wirft mir eine Kusshand zu. Dieser Dreckskäfer.
 

Vanessa und Jasmin kreischen in wildem Jubel. Ich muss mich kurz an meine Lobhudelei von vorher entsinnen, um sie nicht postwendend per Fußtritt über die Reling zu befördern. Stattdessen drehe ich mich brüsk um. Verblüfft starren sie mir nach, ich kann ihre Blicke förmlich führen, dann klackern sie auf ihren Absatzschuhen hinter mir her.
 

„Was ist denn plötzlich los mit dir?“ fordert Jasmin zu wissen.
 

Ich knirsche mit den Zähnen. Atme tief durch. „Ich kenne den Kerl“, gestehe ich. „Er ist … Ich mag ihn nicht, okay? Ich mag ihn nicht!“
 

„Ist ja okay!“ erwidert Vanessa etwas perplex und drückt mir etwas die Schulter. „Konnten wir ja nicht wissen!“
 

Ich zwinge mir ein Lächeln ab. „Ja, weiß ich doch!“ sage ich. „Alles in Ordnung. Schwamm drüber, okay?“
 

Sie nicken beide, mustern mich aber ziemlich kritisch. Mir ist etwas unwohl. „Wollen wir tanzen?“ frage ich, bevor sie auf die Idee kommen nachzubohren. Das werden sie früher oder später sowieso, aber bitte nicht jetzt und hier und überhaupt. Spaß, genau Spaß, und bloß kein Pauli!
 

Und es klappt auch ganz gut. Die House Musik geht mir heute Abend ziemlich ins Blut. Wir hopsen umeinander, drehen uns, lachen. Ab und tanzt mich einer an, aber ich kann mich nicht recht erwärmen. Sind schon ganz okay, außerdem zeigen sie mir, dass ich durchaus anziehend wirke – zumindest bis ich mit dieser Jungfrauen-Geschichte rausrücke. Aber darauf habe ich heute Abend einfach keinen Bock. Nicht denken, tanzen! Fühlen! Das ist viel besser als das ganze Hick-Hack in meinem Schädel.
 

Wir amüsieren uns eigentlich ganz gut, denke ich. Die Mädchen sind jedenfalls auch gut dabei und ich habe irgendwann das Gefühl ein bisschen zu fliegen, Teil der Menge zu sein, ganz leicht, ganz frei. Ich tanze beseligt weiter. Irgendwann ruckelt Jasmin an meinem Arm.
 

„Habe eine SMS von Isa gekriegt!“ brüllt sie in mein Ohr. Isa ist eine Freundin von ihr und Vanessa, mit der ich noch nie viel anfangen konnte. Ich kenne sie auch nur oberflächlich, sie geht nicht auf unsere Schule, Jasmin und Vanessa kennen sie von früher vom Ballett. Ich finde sie ist eine aufgeblasene Hysterikerin, aber das ist nur meine bescheidene, völlig subjektive Meinung.
 

„Aha!“ brülle ich zurück.
 

„Ihr Freund hat Schluss gemacht! Oder sie mit ihrem Freund! Oder so!“ schreit sie mir ins Ohr.
 

Die hatte einen Freund? „Aha?“ wiederhole ich daher nur.
 

„Jetzt sitzt sie in der „Freiheit“ und heult auf dem Klo. Wir müssen da hin. Willst du mit?“ fragt sie mich.
 

Ich halte kurz inne. Nein, will ich nicht. Ich kenne Isa kaum, habe auf dem Mädchenklo nichts zu suchen und habe arge Zweifel, dass Isa meine Gegenwart irgendwie zu schätzen wüsste. Ich glaube, sie mag mich auch nicht sonderlich. Aber ganz alleine hier …? Ach was, gerade fühle ich mich einfach nur gut. Ich bin schließlich kein kleiner Junge mehr! „Geht ihr mal!“ erwidere ich daher nur.
 

Sie greift mein Handgelenk. „Echt?“ fragt sie nur.
 

„Ist okay!“ schmettere ich.
 

„Ich schreibe dir eine SMS, wenn wir gehen, das könnte allerdings dauern. Oder vielleicht will Isa auch heim! Okay?“
 

„Okay!“ bestätige ich.
 

„Halt die Ohren steif!“ empfiehlt sie, dann werde ich zwei Mal kurz geherzt und weg sind sie, wenn auch mit bedauernden Blicken. Die können sie wahrscheinlich auch Schöneres vorstellen als Isas Krise. Kurz fühle ich mich wie ein Kollegenschwein, dass ich nicht mitgegangen bin, aber genau genommen hätte ich da wirklich nichts zu beschicken als doof herum zu stehen. Ich beschließe, es ihnen einfach zu danken, dass sie mich nicht genötigt haben, wahrscheinlich, da ihnen das auch klar ist und sie wiederum auch keine Kollegenschweine sind.
 

So bin ich denn alleine hier. Dennoch ist das gar nicht sooo wild. Ich bin ja nicht wirklich alleine, einfach nur einer unter Vielen, die sich in einer Samstagnacht hier amüsieren. Ich lasse mich treiben, senke die Augenlider, gebe mich der Musik, den Bewegungen hin, fliege einfach weiter. Fat Boy Slim intoniert „Jingooo la Ba!“ Die Menge tobt, ich tobe mit. Wozu braucht man da Drogen? Geht doch auch so.
 

Ab und an greift eine Hand nach mir, aber ich entwinde mich. Es tut gut, aber es stört auch. Irgendwann ereilt mich der Ruf der Natur. Ich lasse mich in Richtung Toiletten treiben. Überall wird geknutscht und rumgemacht, bevor man schließlich in Richtung Darkroom stürzt. Mir egal, ist doch gut so, Spaß, Spaß, Spaß … Da kannst du mal sehen Gideon – nein, du hast nicht Recht! Aber ich mache, was ich will, bätsch!
 

Versonnen hämmere ich gegen eine der Klotüren. Stöhnen dringt mir entgegen. Na super, was soll das, geht gefälligst nach oben … Dennoch irgendwie … so wild, so frei, so geil …
 

Ich versuche es bei der nächsten. Ah, na bitte. Ich will gerade gemessenen Schrittes eintreten, habe meine Finger bereits am Gürtel, da packt mich plötzlich etwas oder eher jemand am Po, schubst mich zudringlich vorwärts. Eh ich mich recht besinnen kann, knallt die Tür hinter uns beiden zu und wird verriegelt. Irgendwo zwischen erbost, geschockt und aufgeregt fahre ich herum und verschlucke mich fast.
 

„Was willst du denn hier?“ entfährt mir. Was für eine selten dämliche Frage.
 

„Fragen, ob du mich lieb hast?“ lächelt er zuckersüß und lehnt sich dreist gegen mich.
 

Irgendetwas extrem Verblödetem in mir gefällt das. Der Rest packt ihn an den Schultern und drückt ihn von mir.
 

„Was zum Geier willst du von mir!?“ keuche ich.
 

Er legt sinnend den Kopf schief. Dann lächelt er erneut strahlend als habe er gerade einen Kuschelteddy auf dem Dom gewonnen.
 

„Ein bisschen Romantik. Zwei Männer… ein Zelt … jede Menge Schafe … oh, hups! Fast. Aber so in der Richtung. Bloß ohne die Handlung und mit Kondom“, wird er ziemlich deutlich.
 

„Du hast ja den totalen Dachschaden!“ werde jetzt auch ich deutlich, auch wenn Blödi in mir dämlich rumsabbert.
 

„Vielleicht. Wen kratzt es? Mich jedenfalls nicht!“ behauptet er plötzlich fast wütend, dann grinst er wieder, als sei nichts gewesen. Ich blinzele verwirrt. Seine Hand saust pfeilschnell in meinen Schritt. Mir wird schwindelig.
 

„Lass das!“ krächze ich.
 

Aber er macht weiter. Gar nicht gut. Und verdammt gut. Verflucht! Ich glaube, ich zittere. Dann schaffe ich es endlich, nach seiner Hand zu greifen und sie fortzuschieben.
 

„Du bist schüchtern, was?“ flüstert er plötzlich. Ich weiß einfach überhaupt nicht, was es ist, was in seinem Gesicht steht. Objektiv betrachtet lächelt er. Aber irgendetwas in mir sagt, dass er das in Wirklichkeit ganz und gar nicht tut.
 

„Bin ich nicht!“ behaupte ich. „Ich will dich bloß nicht!“
 

Er sieht mich an. Ich blicke hinab zu ihm. Wir bewegen uns nicht. Starren uns an. „Du lügst“, sagt er schließlich.
 

Das stimmt. Und es stimmt nicht. Beides. Ich bin ganz wirre im Kopfe. „Was soll das überhaupt, Pauli?“ sage ich zu ihm. „Und behaupte nicht, das hier sei bloß die nackte Geilheit! Da draußen sind genug, die anders als ich keine Zicken machen würden. Oder reizt dich gerade das? Oder willst du mich fertig machen? Hast du vielleicht obendrein irgendeinen Rachfeldzug mit Gideon am Laufen? Einen Wettbewerb? Kannst du es nicht ab, wenn nicht gleich jeder nach deiner Pfeife tanzt? Ich weiß es nicht! Aber ich habe keine Lust, für dich den Hampelmann hinzulegen!“
 

Er mustert mich. „Okay, das war immerhin nicht gelogen. Jedenfalls nicht völlig. Aber wie kommst du darauf, dass ich einen Hampelmann will?“
 

„Wenn ich deine irrsinnig weisen Reden richtig gedeutet habe, geht es dir doch darum, oder? Bedeutungsloses Geficke und nur du hast den Dreh raus! Bla bla! Und ich bin total kleinkariert! Völlig oberflächlich und verblendet im Vergleich zu dir! Schon kapiert! Also: Was soll das hier!“ fordere ich ihn heraus. Er ist immer noch viel zu nah.
 

Seine Lider beben leicht. Scheiße, das ist so … Er leckt sich über die Oberlippe, ganz beiläufig, als sei sie lediglich ein bisschen trocken. „Nun gut, verleihen wir der Sache ein wenig Tiefgang. Ich muss dir nämlich dringend etwas über mich erzählen: Ich scheiße auf Gründe!“ stößt er hervor. Und dann küsst er mich.
 

Keine Ahnung, wie das passiert ist, immerhin ist er ein ganzes Stück kleiner als ich, dazu müsste ich mich eigentlich bücken. Moment mal, das tue ich ja! Wie? Wann? Seine Arme haben sich um meinen Hals geschlungen. Er riecht so … ich weiß nicht … was ist das? Kardamon? Muskat? Safran? Irgendetwas Exotisches, aber ich mag exotisches Essen. Und ein bisschen nach Erdbeerzahncreme. Und seine Lippen … sie küssen nicht einfach los … sie schmiegen sich an, pulsieren … Ehe ich mich versehe, ist meine Zunge dabei, über sie zu lecken. Hirn … auf Wiedersehen … war schön mit dir … all die Jahre …
 

Hör auf, Ludwig! Hör bloß auf!
 

Pling.
 

Natürlich gibt es kein Geräusch, aber ich höre es dennoch mit so viel Dezibel, dass es bis zum Mond dröhnen müsste. Der Metallknopf. Unter meiner Zungenspitze, die dagegen drängt, als sei sie der letzte Tropfen Honig auf Erden für alle Zeiten.
 

Metallknopf? Pauli! Das hier ist dieser verdammte … alles Mögliche … Pauli … weg … weg …
 

Ich rühre mich kein Stück. Geht auch nicht, denn etwas unsagbar Heißes drängt zwischen meinen Lippen hindurch. Ich keuche. Mein Untergeschoss tanzt Foxtrott. Mein Obergeschoss auch und parallel dazu Cancan. Besoffen und auf Speed. Der Knopf ist kein Knopf, sondern ein Stift, er klemmt zwischen meinen Lippen, während eine schrecklich lebendige Zunge über meine leckt, mein Zahnfleisch, meine Mundhöhle, meine Synapsen, mein Rückenmark, meinen kleinen Zeh. Meine Arme haben sich um ihn geschlossen wie bei so einer Clip-Figur aus dem Laden meiner Mutter. Monchichi heißen die oder so.
 

Aber das hier ist kein Monchichi, sondern Pauli, obwohl da schon gewisse Ähnlichkeiten bestehen … Aber das gerade so … egal …
 

Ist nur ein Kuss. Stimmt aber nicht. Scheiße! Irgendetwas in mir wird panisch. Was macht dieser Kerl mit mir? Dem größten Teil von mir ist das gerade sowas von scheißegal.
 

Er schmiegt sich gegen mich. Ich fühle seine Härte gegen meinen Schenkel reiben, ganz sanft, aber es macht mich völlig irrsinnig. Das hier ist nicht wie mit Daniel. Auch nicht wie mit Gideon. Er reißt an meinen Haaren. Ich zerre an seiner Taille. Ich will ja nicht leugnen, schon das ein oder andre Mal in meinem Leben strunz besoffen gewesen zu sein, auch wenn ich das vor meinen Altvorderen geschafft habe zu verheimlichen. Auf die Jahrgangspartys durfte ich ja, nur bloß nicht in die Stadt … Aber das ist ein Fliegenschiss gegen den totalen Aussetzer, den ich gerade erlebe. Ich kotze nicht in Janinas Klo, während sie meinen Kopf hält, ich küsse mich um Sinn und Verstand. Zwar auch auf dem Klo, aber kein Vergleich.
 

Plötzlich stößt er sich von mir ab. Ich schnappe wild nach Luft. Starre ihn fassungslos an. Seine Lippen sind gerötet. „Denk mal darüber nach, Arschloch!“ sagt er zu mir, öffnet die Tür und ist einfach weg.
 

Ich komme nur halb zur Besinnung. Dann torkele ich hinter ihm her. Er hat reichlich Vorsprung. Ich sehe gerade noch, wie er einen hünenhaften Kerl am Gürtel hinter sich her die Treppe hinauf in Richtung Darkroom zerrt. Mir steht einfach nur der Mund offen. Das ist zu viel für meinen armen, kleinen Kopf. Und auch für … irgendetwas anderes. Plötzlich ist das hier nur noch ein Raum voller muffender Menschen, die ihrem armseligen Alltag entfliehen suchen. Ich bin ungerecht.
 

Er schleppt diesen Heini einfach ab! Wortlos, einfach so! Nicht einmal zwei Minuten nach unserem Kuss! Was war das überhaupt? Und jetzt geht er ficken?
 

Ich begreife gar nichts. Will ich auch nicht. Der ist doch total verrückt!
 

Trotzdem … aua … was …?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  _t_e_m_a_
2012-11-01T12:12:28+00:00 01.11.2012 13:12
Ah, das lang ersehnte Kapitel *___*

Und - das war jetzt wirklich überraschend! :O
Du hast es richtig gut beschrieben, habs gleich zweimal hintereinander gelesen!

Ich bin gespannt wies weitergeht!
Auch mit den neuen Nachbarn... :D

Liebe Grüße, tema


Zurück