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Froschprinz

von

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Oberhengst in spe

1. Kapitel: Oberhengst in spe
 

Okay, ihr habt mich erwischt.
 

Ich bin ein ganz normaler Junge.
 

Natürlich. Wenn man Eleutherius heißt, zur Hälfte von Feen abstammt, pinke, hüftlange, selbstredend seidenweiche – aber hammermännliche – Haare hat, eine perfekte Marmorhaut, Augen, die wahlweise in jeder Farbe des Universums blitzen, wenn man der Klassenbeste und dennoch superbeliebt, wenn man der Meister aller Klassen in sämtlichen Sportarten (Domino und Monstertruckfahren eingeschlossen) ist, wenn man Anführer jeder auch nur halbwegs wohltätigen oder gar weltrettenden Aktion um Umkreis von tausend Meilen ist, dann…
 

…ist man wohl eher nicht ich.
 

Eleutherius… pah, was für ein Scheißname, ihr glaubt ja echt alles… und Feen… also wirklich… kauft euch eine Tüte Geschmack und wenn die alle ist, dann leiht euch was bei den Nachbarn. Bitte!!!
 

Die Wahrheit, die… ist eher sehr wahrheitsmäßig. Macht deutlich weniger her, ich weiß, also: schnell wegklicken, wenn ihr doch lieber etwas über ein rosa bezosseltes Supermännchen lesen wollt, denn da seid ihr bei mir definitiv an der falschen Adresse.
 

Mein Name ist Ludwig Lohmeier. Dankeschön, spießige, sentimentale Eltern für diesen Vornamen, mit dem ich schon im Ersten Weltkrieg nicht weiter aufgefallen wäre… Okay, so spießig sind sie nicht. Aber sentimental, immerhin. Haben mich nach Opa benannt. Opa ist inzwischen ziemlich senil, aber echt in Ordnung, insofern… Und sonst so? Meine Haare sind aktuell… mal nachschauen… dunkelgrün. Nein, das liegt nicht an den Feen, sondern am Friseur an der Ecke und daran, dass man es als Teenager heute echt schwer hat, mit irgendetwas richtig zu schocken. Es war ein Versuch. Ist total gescheitert. „Coole Frisur, Luluchen!“ (Mama). „Hatte ich auch, als ich so alt war wie du!“ (Papa). „Machen Sie mal lieber Ihre Hausaufgaben statt sich aufzumotzen, als sein’s die Achtziger!“ (Herr Franke, mein Mathelehrer mit den drei – sichtbaren – Piercings). „Jetzt siehst du echt aus wie ein Frosch – jetzt brauchst du nur noch den Prinzen, der dir das wieder weg küsst!“ (Janina, meine beste Freundin). „Hey, Lohmeier, du hast da was im Haar – sieht aus wie Kuhscheiße!“ (Philipp, Klassenarsch und Möchtegern-Weiberheld). „Mama, Lulu ist voll dreckig!“ (Chrissi, vorpubertäre Schwester).
 

Da haben wir schon den Salat: Meine Familie nennt mich „Lulu“ – okay, könnte doch die Abkürzung von Eleutherius sein, hört sich aber in jedem Falle an wie der passende Name für eine überzüchtete Pudeldame. Ich habe eine „beste Freundin“ aber definitiv keine „Kumpels“. Ist zwar keine Zwangläufigkeit, könnte aber irgendwie doch etwas damit zu tun haben, dass potentielle „Kumpels“ mich meiden wie die Pest, seitdem ich mich letztes Jahr mit einem bravourösen Auftritt im Geschichtsunterricht geoutet habe. Waren gerade alle so in Heul-Stimmung wegen Holocaust und so, da dachte ich, das sei ein guter Zeitpunkt auf Toleranz für Angehörige ehemalig verfolgter Gruppen zu pochen. Sie sind trotzdem alle fast vom Hocker gekippt, als ich fröhlich verkündete, als Frau Steinwiese mich drannahm: „Finde ich auch voll die Schweinerei. Ach ja, wo wir schon mal dabei sind: Ich bin auch schwul!“ Klar, hat erst mal keiner ein blödes Wort zu gesagt, dazu waren die alle zu Toleranz-indoktriniert, aber gruselig war’s den meisten schon, hab‘ ich deutlich gespürt. Vor allem weil sie zuvor lieber sonst wen verdächtigt haben, aber nicht mich. Da kann man mal sehen, wie das mit Vorurteilen so ist. Nur weil ich nicht chronisch mit abgespreiztem kleinen Finger kreischend durch die Gegend gehoppelt bin, nicht aussehe wie eine Zuckerfee und auch niemals rosa Paillettenkleider trage, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht stockschwul sein kann. Aber ist mir scheißegal, was in deren Dörrobstrüben so vorsichgeht. Wer das nicht abkann, der kann mich halt mal. Da scheißt „Lulu“ gepflegt drauf. Aber es hatte sich ausgekumpelt. Ich wurde nicht gemobbt oder so, auch weiterhin brav auf alle Partys eingeladen, aber so dicke auf Freundschaft wollten zumindest die meisten meiner männlichen Jahrgangskameraden nicht mehr machen – ich könnte ihnen im Prosecco-Rausch ja in die Knackärsche kneifen oder so etwas in der Richtung, was immer in deren Schädeln vor sich geht. Ich trinke lieber Bier. Und ich würde schon dem ein oder anderem von denen im Bier-Rausch ganz gerne in den Arsch kneifen… besonders Nathan… rrrrroauuuwwww… Mea culpa. Ich bin achtzehn und schwul, wie bitte ticken Heten-Typen in meinem Alter? Die hat aber einen guten Charakter! Und geht jeden Sonntag in die Kirche! Von wegen. Ich komme klar, ich habe meine Familie, ich habe Janina und ein paar andere von den Mädels – irgendwie sind Frauen da lockerer – und meinen Sandkastenfreund Schorschi, der aber schon eine Lehre zum KFZ-Mechaniker macht und der Meinung ist, wenn ich ihm unser ganzes Leben lang ein guter Freund gewesen sei, dann würde das wohl kaum was ändern, solange ich ihn nicht heiraten wolle. Will ich auch nicht. Nur, wenn ich mit Vierzig oder so die Krise bekomme. Dann murmele ich den geheimen Zauberspruch, Schorschi wird blitzartig halbwegs ansehnlich und verliebt sich wie rasend in mich. Ach nee, da kaufe ich mir dann doch lieber zehn Katzen, soll ja auch sehr erfüllend sein. Insofern: alles in Butter.
 

Tja… so bin ich wohl… immer ein wenig mit dem Kopf durch die Wand und ein wenig auf die Konsequenzen scheißend… gehe in die zwölfte Klasse eines Hamburger Gymnasiums (Lieblingsfächer: Kunst und Mathe, ich weiß, klingt komisch)… habe keinen Plan, was ich nach dem drohenden Abi machen soll… bin ziemlich groß, fast eins neunzig, keine Ahnung, wie das so schnell passieren konnte, eben war ich noch da unten, da gehe ich wohl nach Mama, die ist auch so ein langes Elend. Ich mache ganz gerne Sport, Fitnessstudio klingt immer so nach Stumpf-Gorillas (nicht, dass ich gegen deren Anblick so direkt etwas hätte), aber ich finde die Übungen an den Maschinen irgendwie meditativ. Wow… „meditativ“… ich könnte Guru werden? Als Guru lebt es sich doch auch nicht schlecht… ich… ein Harem voll williger nackter Typen… Ja, träum weiter Ludwig. In meinem Harem haust aktuell nicht mal ein totes Huhn.
 

Aber das werde ich, verdammt noch mal, ändern! Ich bin jetzt achtzehn, erwachsen – dem Gesetz nach, wenn vielleicht auch nicht in der Birne, aber wer ist das schon außer Frau Theobald, meiner Englischlehrerin, die eventuell bereits im alten Ägypten unterrichtet hat – mit exakt denselben Sprüchen.
 

Okay, vorhin habe ich gelogen: Ich habe einen Plan. Nein… ich will keinen Nobelpreis in Quantenphysik, bloß nicht – obwohl, die Kohle würde ich nehmen. Nun gut, „Plan“ ist auch übertrieben… Aber ich bin hoch gewachsen, habe mehr als manierliche Muckis, sehe anständig aus – bis auf die Haare gerade eventuell – aber pickelfrei und grüne Katzenaugen und so… also warum es nicht ordentlich krachen lassen, und ein richtig cooler, schwuler Aufreißer werden? Wer hindert mich? Ich selbst… eventuell. Aber Versuch macht klug… äh, kluch. Jeder hat mal klein angefangen. Und bisher war mit Sex bei mir Ebbe. Aber total. Wenn man mal von mir und meinem innigen Verhältnis zu meiner Hand und den gratis Internet-Pornos absieht. Aber die sind sehr lehrreich, jawohl! Wie Bildungsfernsehen sozusagen. Zumindest für einen Demnächst-Oberhengst! Ich vermute, meine Eltern würden in Hinsicht auf meine Berufung ihr Veto einlegen, aber denen erzähle ich das garantiert nicht. Erst wenn ich den Nobelpreis dafür gewinne…
 

Aber ich will das fühlen… so einen Männerkörper unter mir, der sich mir öffnet, der mich aufnimmt… oh Mann! Schnell die Zimmertür verrammeln! Sonst wird’s noch peinlich, wenn Chrissi mir spontan ein Gute Nacht-Küsschen geben will. Und andersrum? Weiß nicht… lockt mich nicht so, könnte aber dennoch sein...? Passt aber schlecht zum angestrebten Image, oder? Aber das ist – noch! – reine Theorie.
 

Also, was tun? Die angestrebte Horde wird garantiert nicht einfach so in mein jungfräuliches Bettchen plumpsen. Wäre zwar praktisch und ein Beweis für mein überwältigend männliches Sex-Appeal, ist aber nüchtern betrachtet eher unrealistisch. Da werde ich wohl selbst etwas tun müssen, damit dass das Klientel auch mitbekommt. Auf in die große weite Welt! Jetzt bin ich volljährig, und meine überbesorgten Eltern müssen es wohl oder übel zähneknirschend schlucken, dass ich auch mal die Puppen tanzen lasse! Aber nicht heute… morgen ist ja Schule.
 

An diesen Sachverhalt erinnert mich jetzt der liebliche Klang der Stimme meiner Mutter. „Lululein!“ – ich bin echt so eine arme Sau – „Zeit für Heia-heia! Du schreibst Morgen Englisch!“
 

Nein, meine Mutter ist nicht geisteskrank, jedenfalls nicht mehr oder weniger als der Rest der Leute, die ich in meinem Leben bisher kennengelernt habe. Aber vielleicht sind doch alle pathologisch irre, ich merke das bloß nicht, weil ich’s auch bin? Das Thema könnte ich ja mal im Philosophieunterricht ansprechen, Verbindung zu Platons Höhlengleichnis inklusive. Nein, Mama ist einfach so auf ihre Art und Weise recht speziell. Sie mag es niedlich. Ich bin ihr achtzehnjähriger Sohn, der keinesfalls irgendwelche Ähnlichkeiten mit einer Babykatze aus Zuckerwatte aufweist, dennoch tut sie mir das in einer Tour an. Und nicht nur mir. Papa ist „Heinzilein“, wenn sie was will „Heinzileinchen“ oder – wenn es ganz dringend ist – „Heinzileiniknuffibärli“. Ich wette, mein Vater fühlt sich jedes Mal wie der größte Macho auf Erden. Aber in dieser Hinsicht ist sie beratungsresistent. Andererseits bekommt man sie zu fast allem, wenn man sie „Mamilein“ (Chrissileinchen und ich) oder „Binchen“ (Heinzilein/Papa) nennt und Kulleraugen macht, als sei man bekifft. Meine Familie ist gut darin, Drogenrausch zu heucheln. Ich wette, einige meiner Lehrer denken zuweilen, dass ich ab und an eine Tüte frühstücke, dabei habe ich nur vor der Schule meine Mutter bequatscht. Dauert halt eine Weile, bis die Augen wieder normal sind.
 

„Ich weiß!“ rufe ich zurück. „Es ist zehn Uhr – nicht fünf Uhr früh! Und ich bin achtzehn – und nicht drei!“
 

„Ach Luluchen!“ ruft sie mit der vergnügten Großspurigkeit durch die Tür, die Eltern immer drauf haben, wenn sie einen nicht ganz für voll nehmen, was wahrscheinlich heißt: für immer. „Du bist erst seit drei Tagen achtzehn! Mamilein ist doch nur besorgt um dich!“
 

Ich seufze ein Mal tief. Ist ja nicht mal so, als ob mich das ernsthaft nerven würde, dazu bin ich inzwischen viel zu abgehärtet. Und sie ist besorgt. Dass sie eine schlechte Mutter wäre, kann man nun wirklich nicht behaupten. War immer für mich da, hat mich je nach Bedarfsfall getröstet oder in den Arsch getreten, hat wegen meines Outing nicht Zeter und Mordio geschrien… Man muss sie halt zu nehmen wissen. „Okay!“ lenke ich ein. „Ich gehe nur noch mal die Vokabeln für Morgen durch, davon werde ich garantiert so saumüde, dass ich in zehn Minuten brav ins Lummerland kippe!“
 

„Sei nicht immer so negativ!“ flötet sie weiter wohlgelaunt. „Du bist jung, das Leben ist schön!“
 

Ja… super, wenn das bedeutet, dass Mamilein einen um zehn Uhr abends ins Heia-Heia-Bettchen stecken will… „Alles ganz große Klasse!“ erwidere ich. „Mein Herz kocht fast über: „forest decline“ – Waldsterben, „brain tumor“ – Gehirntumor, „starvation“ – Hungertod… Du hast Recht! Da bekomme ich sofort Lust zu tanzen!“
 

„Ach Luluchen…“, erwidert sie nur mitleidig im Angesicht meiner armseligen Bockigkeit. „Mamilein hat dich lieb, auch wenn du mit einem Hirntumor im Wald verhungern solltest. Küsschen, mein Schatz! Bis Morgen!“
 

„Bis Morgen“, muffele ich und fühle mich tatsächlich wieder wie drei. Den Kommentar, dass ich doch noch gar nicht müde sei und so weiter, spare ich mir lieber gleich. Ich ignoriere die mütterliche Attacke einfach und gehe ins Bett, wenn es mir passt – ätsch! Ich weiß, sehr erwachsen, aber was soll’s.
 

Ich stehe vom Computer auf, die Lust auf einen Besuch beim „Bildungsfernsehen“ ist mir gerade etwas abhanden gekommen, und schlurfe hinüber zum Fenster. Es ist Herbst, und es stürmt ein wenig, wovon wir in Ermanglung alter knarzender Bäume in unserem Neubauviertel wenig mitbekommen. Die Einfamilienhäuser stehen hier dicht an dicht, alles ist sauber und picobello und extrem verkehrsberuhigt und so. Dennoch ist es dunkel. Noch. Die Benedigts, die lange Zeit unsere Nachbarn waren, haben sich scheiden lassen und sind fortgezogen. Gott sei Dank, ihr Gebrüll konnte einem echt auf den Wecker gehen. Ja, erstaunlich, nicht wahr, so etwas kommt auch in Spießerhausen vor. Das Nachbarhaus, ein langweiliger Rotklinkerbau genau wie unseres, steht verlassen in der Nacht. Von meinem Fenster kann ich in direkter Luftlinie in eines der Zimmer nebenan sehen. Wer zur Hölle sich das auch ausgedacht hat. Papa hat erzählt, dass das Ding verkauft worden sei, bald würden dort neue Nachbarn einziehen. Hoffentlich keine „Frau in den besten Jahren“, die mit dem Fernstecher den lieben langen Tag in mein Zimmer glotzen würde, in der Hoffnung, einen Blick auf meinen jugendlichen Hintern zu erhaschen. Das bekäme dann ihr Mann mit, sie brüllen wieder, geben mir die Schuld und hetzen mir ihre Bowlingkumpels auf den Hals, die alle für die mexikanische Drogenmafia arbeiten oder so. Nee… Gnade. Wahrscheinlich würden es einfach nur noch mehr von der Sorte sein, die hier sowieso schon massenhaft rum hockt: Mama, Papa, ein bis drei Kinder, Mittelschicht, Lehrer, Ärzte, Polizisten, solche Leute eben. Genau wie wir. Papa ist Sportlehrer auf einem Wirtschaftsgymnasium, meine Mutter hat einen kleinen Laden für nostalgisches Kinderspielzeug in der Innenstadt – voll niedlich, selbstverständlich. Wir passen hier schon gut hin in den Schneewittchenweg Nummer 5. Das heißt hier wirklich so, kann ich ja nichts zu. Immerhin ist es nicht der Zwerg Nase-Weg, den gibt es hier nämlich auch. Aber noch ist Ruhe im Schneewittchenweg Nummer 7, so dass in meinen abendlichen Frieden voll genießen kann.
 

Da stehe ich also, sehe das verlassene Haus, sehe mein Spiegelbild in der Scheibe. Posiere ein wenig. Noch bin ich ja sicher vor den lüsternen Blicken älterer Hausfrauen. Habe ich im Fitnessstudio gelernt. Und ich bin sicher, dass das nur die Leute für albern heißen, die dabei aussehen würden, als hätten sie eine Qualle im Schlüpfer. Eine eiskalte Feuerqualle voll eiskaltem Feuerquallenschleim. Ich kann mir das locker erlauben. Sehe echt aus wie ein Mann. Irgendwie schon erstaunlich. Irgendwie ist mein Hirn da wohl nicht ganz so schnell gewachsen wie der Rest von mir, dass ich immer wieder ein wenig verdutzt darüber bin.
 

Mein Aussehen ist wirklich nicht der Punkt bei der Sache, meinem „Plan“ meine ich, das kommt objektiv betrachtet schon hin. Ich muss das nur mental auf die Reihe kriegen. Cool sein. Dann merkt keiner, dass ich keine Ahnung habe, bis ich endlich Ahnung habe, und dann würde nie jemand wissen, dass ich keine Ahnung hatte, als ich vorgab, Ahnung zu haben. So. Ich räuspere und hauche so heiser und verführerisch, wie ich kann: „Hey…“ Mmm. Gar nicht soooo übel, oder? Noch mal: „Hey… was geht ab?“ Nee… das ist oberlahm. Nur „Hey“ ist schon besser. Und locker lächeln – bloß nicht grinsen wie ein grenzdebiler Affe! Haltung bewahren, nicht in Ohnmacht kippen, dann würde das schon gehen…
 

„Luluchen, du bist ja immer noch wach!“ reißt mich die Stimme meiner Mutter aus meiner Übungseinheit zurück in die triste Realität.
 

„Bin schon so gut wie entschlummert! Mache nur noch meine Abendandacht!“ behaupte ich. Das ist auch gar nicht mal so gelogen… Netterweise kommt kein weiterer Kommentar ihrerseits, wahrscheinlich hat sie es eilig, wieder zurück zu Papa zu kommen. Meine Eltern haben sich lieb. Sehr lieb. So lieb, dass ich mich manchmal wundere, dass ich nicht zwanzig Geschwister habe. Die müssen irgendwie geschummelt haben, befürchte ich. Ist auch besser so, denn ich habe nun wirklich keine Lust, mein kuscheliges Bettchen mit fünf Brüderlein teilen zu müssen. Oder die Unterwäsche von neunzehn Schwestern aufhängen zu müssen. Da würde ich mich dann vermutlich früher oder später dazu hängen.
 

Ich schließe kurz die Augen. Morgen: Englischarbeit. Übermorgen: Freitag. Der Beginn meines Lebens als schwuler Casanova. Es erst mal so richtig krachen zu lassen! Nicht, dass ich nicht an die Liebe glauben würde, sicher, wäre toll – wenn ich anfange, tatterig zu werden und die biologische Uhr zu ticken und Zac Ephron mein Flehen endlich erhört. Ich stehe nicht auf High School Musical!!! Ich stehe lediglich auf diesen Schnuckel, da nehme ich notfalls jeden Schrott für in Kauf! Zac Ephron als depressiver, transsexueller Alien auf dem Selbstfindungstrip im Münsterland? Immer her damit. Aber bis dahin: Spaß! Spaß! Spaß!
 

Ich fahre den Computer runter und schlurfe ins Bad. Das Grün auf meinem Kopf sieht im Halogenlicht echt ziemlich fies aus. Vielleicht hat man dafür ein paar Frösche in den Mixer geworfen, wer weiß. Wer will das wissen? Aber es passt perfekt zu meinen Augen und hebt meine helle Haut vorteilhaft hervor. Da mögen sie lachen und lästern, wie sie wollen, mir gefällt es. Brav putze ich mir meine Zähne. Mit Kinderzahncreme. Ich wurde nie entwöhnt. Und ich hasse Minze, aber ich mag Erdbeergeschmack. Und noch bin ich deshalb nicht an Mundfäule krepiert.
 

Rein in den Schlafanzug, ab ins Bett. Halb Elf. Na toll. Bin ich müde? Ein bisschen… hat mir meine Mutter garantiert bloß nur eingeredet. Augen probehalber zu. Geht. Bisschen träumen…
 

Ich in der Schwulendisko… ein Panther, der nach seiner Beute sucht… Elektrizität geht von mir aus, fließt durch den Raum, lässt sie erschauern… sie wollen mich… aber sie wissen, ich wähle aus… und sie beten, dass sie es sein dürfen…
 

Und dann? Ab in den Schneewittchenweg inklusive Frühstück mit den versammelten –leins und –chens meiner Familie? Wohl eher nicht. Nein… nein… Tarnidentität… niemand weiß, wer ich wirklich bin… mysteriös… gefährlich… wild… ein einsamer Jäger…
 

Na gut, ich weiß, dass das eventuell etwas übertrieben klingt, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen? Das hier ist schließlich mein Kopfkino! Und da bin ich… Louis! Genau! Viel besser als Ludwig, aber eigentlich dasselbe nur in Französisch… und „Louis“ mag „Französisch“… da bin ich mir verdammt sicher. Schon allein bei dem Gedanken wummert mein Herz. Wie sich das wohl anfühlt? So in echt? Mein Untergeschoss wird hellhörig. Aber so gelenkig bin ich dann doch nicht. Muss wohl doch wieder Freund Hand ran, während mir mein Geist Bilder vorgaukelt. Schöne Bilder. Wilde Bilder. Und das Gefühl… fremde Haut auf meiner Haut… eine Zunge… Geruch… schmale Hüften unter meinen Händen… ein knackiger Po… Ach Mann… bald… bald…
 

……
 

„Aufstehen! Lulu! Luluuuuluuuuluuuu!“ brüllt irgendetwas mit hoher Kreischstimme, während ein Erdbeben der Stärke Zehn mein Bett erfasst. Ich werde sterben. Garantiert. So eine Naturkatastrophe überlebt niemand. Da lohnt es sich nicht aufzustehen.
 

Etwas plumpst neben mich. Es riecht leicht nach Kirsche und Kinderbett. „Luluuuuu!“ lacht es. „Du musst aufstehen! Papa fährt uns zur Schule!“ Nein… doch kein Erdbeben. Lediglich meine hyperaktive kleine Schwester, die allerdings zuweilen fast dasselbe Zerstörungspotential aufweist.
 

„Will nicht…!“ nuschele ich. Sie quiekt und piekt mich in die Seite. Chrissi ist neun und geht in die vierte Klasse der Grundschule. Ich habe sie sehr lieb. Aber gerade eben nicht, da ist sie der Sendbote Satans alias Papas. Ich bin ein totaler Morgenmuffel, egal, wann ich ins Bett gegangen bin. Sie krabbelt herum und fängt an, meine Fußsohlen zu kitzeln. „Nein! Nicht!“ kreische ich und fahre auf. Ich stehe kurz vorm Herztod. Sie lacht sich kaputt über mich. „Lulu!“ kichert sie. „Jetzt siehst du aus wie eins von diesen Petersilienmännchen! Die aus Ton mit Haaren aus Petersilie! Voll lustig!“ Voll fies. Kinder können so grausam sein.
 

„Und du…“, schnaube ich, „siehst aus wie… wie eine doofe Barbie!“ Das sollte eine Beleidigung sein. Findet sie aber nicht. Sie strahlt. Na toll, ohne einen Kaffee intus kriege ich es nicht mal hin, eine Neunjährige zu beleidigen. Sie ist zwar nicht blond, sondern hat hellbraune Haare genau wie ich im Originalzustand und wie Papa, aber sie hat gerade eine ihrer Prinzessinnen-Phasen. Vor zwei Monaten wollte sie noch Brummifahrer werden, da war sie mir deutlich lieber, auch wenn sie ständig demonstrativ laut gerülpst hat. Echt nicht besonders nett für das Image der Brummifahrer, aber ihr hat’s Spaß gebracht.
 

„Ach, Mann!“ seufze ich und komme schicksalsergeben in Bewegung. „Blöde Welt!“
 

„Gar nicht blöd!“ korrigiert sie mich immer noch lachend. „Nur du bist blöd – morgens!“ Wo sie Recht hat, hat sie Recht – leider. Aber ein bisschen mehr Respekt vor „Louis“ könnte sie schon irgendwie haben. Aber so ist das eben mit getarnten Superhelden… gilt wohl auch für Oberhengste in spe. Aber das muss mein unschuldiges Schwesterlein nun wirklich nicht wissen, um es dann mit ihren minderjährigen Tratschtanten beim Seilspringen auszudiskutieren – und die dann mit ihren Eltern und deren Eltern dann mit meinen Eltern und diese dann… tja, das kann man sich denken. Nein, was die angeht, lautet das Motto: Lulu ganz brav! Braver Junge! Braver Lulu geht jetzt ganz viele Punkte in Englisch schreiben! Braver Lulu will ja auch braver Lulu sein, aber die Pflicht ruft auch, Louis muss ihr nachkommen, jawohl! Faule Ausrede, ich weiß. Aber ich bin achtzehn und keine Betschwester!
 

Von unten duftet es verführerisch nach Kaffee. Ich sehe zu, in die Gänge zu kommen. Chrissi verzieht sich. Viel machen muss ich nicht, habe gestern schon alles bereit gelegt, Schultasche, Klamotten, da ich ja weiß, dass ich nach dem Aufstehen etwas unzurechnungsfähig bin. Kurz ins Bad, geschrubbt, gestylt, das kann ich auch notfalls im Schlaf.
 

Papa steht schon misslaunig im Flur, als ich unten ankomme. Die Morgenmuffeligkeit habe ich von ihm. Er ist eigentlich immer ein sehr freundlicher Mensch, aber um diese Uhrzeit eher wie ein Grizzly, den jemand aus Spaß aus dem Winterschlaf geschüttelt hat. Seine armen Schüler in der ersten Stunde, die halten ihn garantiert für einen Offizier der chinesischen Armee. Ich sehe Papa ziemlich ähnlich, nur dass ich ihn locker um einen Kopf überrage. Papa ist ein echter Schrank – oder eher eine Kommode: So hoch wie breit. Mama sieht daneben wie der Garderobenständer aus. Sie lächelt, als ich in die Einbauküche komme. Ein fertig geschmiertes Brötchen liegt auf einem mit knopfäugigen Teddys bedrucktem Teller aus ihrem Laden. Ich bedanke mich irgendwie, stopfe es wie ein Werwolf in mich hinein und kippe hektisch den Kaffee hinterher.
 

„Nicht so schnell, Luluchen, sonst bekommst du Bauch-Aua!“ warnt sie.
 

„Habe eh schon Welt-Aua, macht nichts“, grummele ich, aber das wiederum kennt sie schon zu gut, als dass sie das irgendwie aufregen würde. So ist das wohl in Familien. Entweder man kommt mit den Macken der anderen zurecht – oder man brüllt.
 

Papa versucht derweil im Flur verzweifelt, Chrissi einen Zopf zu flechten. Sie heult auf, als er ihr grobmotorisch ein paar Haare ausreißt. Mama scheucht uns, wir sind spät dran. Sie hat noch Zeit, sich von uns zu erholen und dann zum Laden zu fahren. Dafür ist sie erst spät zurück. Sie wuppt sie Sache gemeinsam mit zwei Halbtagskräften, Linda und Melanie, da muss sie ordentlich ran. Aber man ahnt gar nicht, wie viele Leute auf ihre Ware stehen. Das, was sie nicht kaufen – oder besonders niedlich ist -, landet bei uns. Siehe Teddy-Teller.
 

Ich schnappe mir meine Tasche, Chrissis Ranzen und sehe zu, hinter Papa herzueilen, der knurrend in Richtung Wagen stapft. Wenn jetzt jemand den Fehler macht, ihn anzusprechen, ihm womöglich noch einen „Guten Morgen“ zu wünschen, gibt es ein Blutbad. Garantiert. Und ich mache mit. Chrissi kratzt das nicht, sie plappert ohne Punkt und Komma über das Lied, das zu singen ihre Klassenlehrerin ihnen versprochen hat. Irgendetwas mit „Vögeln“. Mein stumpfes Hirn findet das hochinteressant. Ich will auch mit in die Grundschule. Stattdessen muss ich irgendeinen Englischaufsatz über den drohenden Weltuntergang schreiben.
 

Die Welt ist zwar grade oberdoof, aber bitte warten, bis ich meine Karriere als großer Stecher absolviert habe! Ich will nicht bloß in die Hölle, weil ich meine Eltern ein bisschen zu beschummeln gedenke und immer die Chemiehausaufgaben bei Janina abschreibe! Wenn, dann bitte aus einem vernünftigen Grund!



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