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Wingless

Leseprobe
von

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... und du weißt, einen Teil von mir...

1.August. 2011
 

„Nathan, das machst du denn da?“, fuhr ihn seine Ausbilderin Nicki ein wenig angefressen an. „Du solltest mir etwas andere bringen. Nicht dieses … diese Krankheit von was auch immer das sein soll“, wetterte sie weiter und drückte ihm die aussortierte Zange in die Hand. „Was ist los mit dir?“
 

Die Zange einfach zurück auf den Werkzeugwagen feuernd, atmete er einfach einmal tief durch.
 

„Alles gut.“
 

„Du hast bisher so gut wie keinen Fehler gemacht, und jetzt fängst du damit an? Hast du Stress zu Hause oder mit der Freundin?“
 

„Nein. Es tut mir leid“, entschuldigte er sich und reichte Nicki das, was sie gern haben wollte.
 

„Nathan. Wenn irgendwas nicht stimmt, dann kannst du mit mir reden.“
 

Für ihn jedoch war das keine Option. Er hatte sich vorgenommen, niemals etwas nach außen zu tragen, das mit seinen familiären Problemen zusammenhängt. Allgemein wollte er nichts zeigen. Aber im Moment machte es ihn einfach vollkommen fertig, was um ihn herum passiert. Die Zeit läuft ihm davon, in nur zwei Tagen würde er seinen Bruder verlieren. In nur zwei Tagen … und er könnte ihn nicht einmal mehr vorher sehen. Allein das war der Grund, warum er nicht ganz bei der Sache war.

Nur sollte gerade Nicki nichts davon wissen.
 

„Ich hab nur ein wenig schlecht geschlafen – zu kurz vor allem. Ich bin erst umgezogen und musste noch renovieren und das alles. Kommt nicht wieder vor“, versprach er weiter und ging der jungen Frau dann dabei zur Hand, was noch am Wagen getan werden musste, ehe er sich den anderen Autos widmete, die sich noch in der Werkstatt befanden.
 

In seiner Mittagspause telefonierte er über eine viertel Stunde mit Nancy über die unwichtigsten Dinge der Welt und machte mit ihr aus, dass er am Abend ins Black kommen würde, damit sie mal ein wenig miteinander reden könnten – sie hatte frei an dem Abend.
 

Ebenso klärte er mit Mike ab, dass er noch einkaufen fahren würde, da die komplette Band über drei Tage nicht daheim wäre, wegen irgendwelchen bandinternen Dingen, die erledigt werden müssten. Was genau das war, wurde ihm nicht erklärt.
 

Aber er wollte es auch gar nicht wissen. Es gab halt so Dinge, die nicht am Telefon erklärt werden konnten und es auch nicht sollte.
 


 

Um kurz nach acht am Abend saß er in einer der hintersten Ecken des Blacks und besah sich die junge Frau ihm gegenüber.
 

Nancy war immer noch so hübsch, wie sie es damals war.

Sie trug ein weißes, schulterfreies Top und rote Hotpans. Ihre schwarzen Haare schimmerten in dem Licht leicht violett. Es fiel ihr in leichten Locken über die tättowierten Schultern.

So lange er sich kannte, so lange hatte sie auch schon Tattoowierungen. Und er kannte jede einzelne von ihnen…

Sie hatte die Beine überschlagen, die Hände um ihr Knie gelegt und lächelte ihr umwerfendes Lächeln.
 

Sie hatten sie beide bisher über die belanglosesten Dinge unterhalten, die die Welt nur zu bieten hatte. Einfach alles…
 

„Weißt du, nachdem ich mich endlich von meinem Freund getrennt hatte, hast du mir echt gefehlt“, fing sie dann jedoch an und lehnte sich zurück.

„Ich fand es ohnehin sehr schade, dass du Gregory und die anderen verlassen hast, so habe auch ich dich aus den Augen verloren…“, fuhr sie weiter fort.
 

„Es tut mir leid, aber es ging einfach nicht mehr, Nanc. Aber ich musste mein Leben endlich wieder auf die Reihe bekommen. Ich habe mit dem Kerl zu lange Jahre verbracht… Ich wollte nicht mehr“, versuchte er ihr zu erklären.
 

„Wegen deinem Zwilling?“
 

„Ja, auch. Aber auch, weil ich nach der Highschool was werden wollte. Etwas, das nicht mit Drogen zu tun hat. Ohne ewig besoffen zu sein und ein Strafregister zu führen, dass länger ist als meine Krankenakte. Das musst du doch verstehen oder?“
 

„Natürlich verstehe ich das. Aber hättest du dich nicht ab und an bei mir melden können? Ich habe dich geliebt, die ganze Zeit über.“
 

„Aber du hast dich nie von deinem Macker getrennt. Wir haben so oft zusammen geschlafen, so oft etwas miteinander unternommen. Aber nie hast du dich getraut, dich von deinem Lover zu trennen.“
 

„Ich habe es jetzt getan…“
 

„Ja, aber zu spät. Da ist nichts mehr zwischen uns. Nur noch Freundschaft – es ist zu viel passiert, als dass ich zu dir und dieser Sippe zurückkehren wollen würde.“
 

„Nur weil ich jetzt noch was mit Gregory und den anderen zutun habe?“
 

„Genau. Mehr als ein bisschen Smalltalk oder Treffen wie dieser hier sind nicht mehr drin.“
 

„Heißt also, ich brauche mir bezüglich einer Beziehung mit dir keine Gedanken mehr machen?“
 

„Nein.“
 

„Ok … Also, ich komme damit klar. Nur, es ist so, dass ich mir die ganze Zeit immer noch gesagt habe, dass eventuell doch irgendwann die Chance besteht.“
 

„Sorry…“
 

„Was ist denn passiert? Ich meine, da muss doch noch was gewesen sein…“
 

„Mehrere Dinge. Und erst recht will ich mit den ganzen Leuten nichts mehr zutun haben, seitdem etwas passiert ist, dessen Grund ich noch nicht herausgefunden habe.“
 

„Was denn?“
 

„Blake liegt im Koma seit einem Jahr.“
 

Er sah ihr sofort an, dass sie die Luft anhielt und ihn geschockt ansah. „Nein“, brachte sie gerade noch so heraus. „Weswegen? Ich meine … ist etwas beim Sport passiert?“
 

„Da ist etwas in einer Seitengasse passiert, Nancy.“
 

„Hat man ihn … also … du weißt schon… Und dann zusammengeschlagen?“
 

„Nur zusammengeschlagen, soweit ich weiß.“
 

„Oh mein Gott. Das ist … Nathan…“

Ihre Hand langte über den Tisch und legte sich auf die seine. „Das tut mir so leid… Ihr standet euch so nahe und oh man, das wusste ich noch gar nicht…“
 

„Schon gut. Wie sollst du das auch wissen?“
 

Er lächelte ihr falsch ins Gesicht, überspielte einfach alles, was mit Blakes Koma zusammenhing.
 

„Wenn ich irgendwas für dich tun kann…“
 

„Wenn du die Zeit zurückdrehen kannst, dann bitte. Oder wechsle einfach das Thema…“
 

„Ok … wer war dieser junge Mann, letztens… Mit dem du hier warst? Ian, hieß er.“
 

„Ian ist irgendwas zwischen schlimmster Feind und bester Freund. Die Beziehung zwischen ihm und mir … ist kompliziert, sagen wir es so. Wir kommen mal für fünf Minuten wunderbar miteinander klar und im nächsten Moment feinden wir uns wieder so derart an, dass wir uns am liebsten die Augen ausstechen würden.“
 

„Das sah den Abend aber nicht so aus. Ich meine, du hast Vincent – wir sprechen von Vincent! – davon abgehalten, ihm die Tour seines Lebens zu verpassen und hast dich selbst mit Vincent gekloppt. Und Ian hat ja wohl versucht, dazwischen zugehen. Also so verfeindet könnt ihr nicht sein.“
 

„Wie gesagt, Nanc. Die Beziehung da herzustellen, ist nicht so einfach“, lächelte er vor sich hin, lehnte sich in dem Sessel ein wenig zurück. „Aber … vielleicht lässt du dich ein wenig über diesen Vincent aus. Wer ist er?“
 

Ihr Gesichtsausdruck wurde auf einmal ernst, ehe sie das andere Bein nun überschlug und die Arme vor der Brust verschränkte.
 

„Vincent ist Gregorys Cousin. Zweiten Grades, aber das lassen wir einfach mal vorn weg. Und Vince ist so was wie der Pate hier. Jeder hat Angst und Respekt vor ihm. Hinter ihm steht eine große Schar an Männern und ein ganzer Ring von illegalen Dingen. Drogen, Alkohol, Autoschieberei, Prostitution … man mag es kaum glauben, aber unter der Fuchtel dieses Mannes geht so viel…

Ich weiß nicht, was dieser Ian mit ihm zu tun hatte, aber ich will es im Endeffekt nicht einmal wissen.“
 

„Und weiter? Da muss doch mehr sein, als dieses bisschen Drogenhandel und so…“
 

„Er hat Einfluss – überall. Er beschafft dir alles – wenn du willst und wenn du zahlen kannst. Aber hast du ihn zum Feind … geh’ dir schon einmal einen Grabstein und einen Sarg suchen. Er macht dich weg, wenn er will.“
 

„Heißt, wenn er meint, meine Fresse passt ihm nicht, ist das so?“
 

„Nathan… Ich weiß nicht, was dir durch den Kopf geht, aber bitte … lass dir eines gesagt sein: Steck dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen. Wenn Ian Ärger mit Vince hat, lass es dabei. Steck dich nicht dazwischen, es tut dir nicht gut. Du hast dich von Gregory und seinen Jungs getrennt, weil du aus dieser Szene heraus wolltest, also leg dich nicht mit Vincent an. Ich will nicht an deinem Grab stehen müssen.“
 

„Ich habe neunzehn Jahre überlebt. Da wird das doch ein Witz werden.“

Er zuckte die Schulter, seufzte aber theatralisch und zeigte ihr somit, dass er das nicht ernst gemeint hatte, was er sagte.
 

„Nein, das wird kein Witz werden, Nath. Das ist mein absoluter Ernst. Vincent und seine Jungs ist die Creme de la Creme und das Sahnehäubchen auf dem Kuchen in einem. Verglichen zu Vincent ist Gregory nur ein kleiner Fisch im Teich, glaub mir. Ich kenne mich hier in diesem Milieu besser aus, als du. Ich bin hier aufgewachsen und werde auch nicht wirklich hier heraus kommen, weil mich meine Kontakte immer wieder hier her zurück werfen werden. Du aber, du hast die Chance, das alles ein für alle Male hinter dir zu lassen, also leg dich nicht mit Vincent an.“
 

„Vielleicht erfahre ich aber irgendwie, wer die Leute waren, die meinen Bruder nach meinem Ausstieg aus Gregorys Gruppe so zugerichtet haben.“
 

„Meinst du, dass es irgendwer aus unserem Bekanntenkreis war?“
 

„Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht weiter diskutieren. Aber vielleicht besteht die Möglichkeit, es zu erfahren … Oder es waren Leute von Vincent. Ich weiß es nicht.“
 

„Du fantasierst, Nath. Was willst du dann machen? Willst du dich jetzt mit Vincent gut stellen?“
 

„Nein. Das ganz sicher nicht. Aber ich weiß, wenn ich es herausfinden sollte, irgendwann… Und Vincent steht zwischen mir und diesen Personen, ist es mir egal, wer er ist, was für einen Einfluss er hat und was er alles tun könnte. Dann ist er nichts mehr.“
 

„Ich warne dich, tu nichts unüberlegtes, Baby. Ich will dir nicht wieder überall Pflaster aufkleben und dich verarzten müssen.“
 

„Wirst du nicht, Nanc. Glaub mir.“
 


 

Irgendwann gegen halb eins verließ er das Black. Allein auch aus dem Grund, dass er am nächsten Tag zur Arbeit müsste und sonst nicht aus dem Bett kommen würde.
 

Sein Weg führte ihn die komplette Straße hinunter, da er seinen Wagen nicht direkt hier parken wollte. Nicht zuletzt auch wegen dieser kleinen Auseinandersetzung zwischen ihm und Vincent vor ein paar Wochen.
 

Achtsam glitt sein Blick in jede Seitengasse. Er wollte es nur einfach nicht riskieren gerade in dieser Gegend überrascht zu werden. Wenn man hier in der Vergangenheit mehrere Nächte in der Woche unterwegs war, hat man sich so einiges gemerkt und angeeignet, damit einem eben nicht das passiert, was vielen passiert.
 

Und dennoch war das achtsamste Auge nicht achtsam genug.
 

„Da ist ja das kleine schwarze Schäfchen wieder“, vernahm sein Gehör die eklige Stimme Vincents. Warum war es irgendwie klar gewesen, dass er diesem hier nicht aus dem Weg gehen könnte.
 

„Man glaubt es kaum“, gab Nathan selbst cool von sich und drehte sich halb zur Seite.
 

Im schwachen Licht der wenigen Straßenlaternen hier erkannte er eine Gruppe Männer, vielleicht ein Dutzend wenn es hochkam.

Sie alle standen nahe einem alten, halb baufälligen Gebäude. Einige lehnten an der Mauer, andere standen und rauchten – was, wollte er nicht einmal wissen.
 

„Was machst du denn so ganz allein hier in dieser Dunkelheit um diese Uhrzeit?“
 

„Höre ich da Spott in deiner Stimme, Vincent?“, sprach er seinen Namen direkt aus und nahm eine recht lässige Haltung ein.
 

„Vielleicht“, lachte jener nur und trat aus dem Halbschatten heraus, kam immer näher auf ihn zu und blieb nur ungefähr anderthalb Meter von ihm entfernt auf der Straße stehen.

„Aber weißt du, ich frage mich die ganze Zeit, wer denn bitte Ians Beschützer in der Nacht war.“
 

„Denkst du, ich verrate dir, wie ich heiße?“
 

Ein schäbiges Grinsen erschien auf dem kantigen Gesicht. „Nein, brauchst du nicht. Ich dachte, ich versuche es auf die nette Tour, Nathan.“
 

„Du weißt es ja doch.“

Im Grunde hätte Vincent auch nur den Tag im Black richtig zuhören müssen, dann hätte er es gewusst. Bei wem er sich jetzt schlau gemacht hatte, blieb wohl ein Rätsel.
 

„Ich weiß vieles über dich. Wenn man seine Kontakte und Quellen hat… Du hast eine süße kleine Schwester.“
 

„Ich schwöre dir, kommt mir zu Ohren, dass ihr was fehlt, bist du meine erste Anlaufstelle.“
 

„Du würdest mich nicht finden.“
 

„Ich finde jeden, Vincent. Merk dir das jetzt schon einmal.“
 

„Oh, du hast selbst jetzt eine unnormal große Fresse… Irgendwie gefällt mir das ja.“

Noch einen Schritt kam er näher auf ihn zu und noch einen, bis er direkt vor dem Neunzehnjährigen stand und ihm direkt in die Augen sah.

„Ich brauche immer Leute, die taugt sind. Leute, die so sind wie du. Ich gebe es nur selten zu, aber ich hatte einen blauen Fleck am nächsten Morgen.“
 

„Willst du mehr?“
 

„Von einer kleinen Schlampe wie dir lasse ich mich nicht noch einmal vermöbeln, glaube mir.“
 

„Wie kommst du auf Schlampe?“ Es war das erste, was Nathan in den Sinn kam. Warum Schlampe? Normalweise besaßen selbst die Menschen hier in dieser Ecke der Stadt genug Hirnmasse um solche Begriffe passend zu verwenden.
 

„Ich erinnere mich da an einen Fall … vor etwa drei Jahren … Ein Sechzehnjähriger kam von einer Party …“, begann Vincent. „Hier in der Nähe. Eine Privatparty… Er ging allein ….“, fuhr er fort. „Aber … ihm folgte eine Person. Männlich, älter …“
 

Die Worte brannten in Nathans Ohren, taten weh und krochen näher, riefen Bilder im Kopf wach, die in einem dicken Tresor versperrt liegen sollte. Bilder, die vergessen werden sollten… Erinnerungen…
 

„Mit ungeübtem Auge hätte es ausgesehen, als wäre alles gewollt. Das gemeinsame Verschwinden in der Gasse … Aber das Schreien und das lustvolle Stöhnen… am nächsten Tag stands sogar in der Zeitung. ‚Zeugen berichten von Vergewaltigung – aber es gab kein Opfer und keinen Täter’. Erinnerst du dich?“
 

Derweil hatte sich Vincent soweit vorgelehnt, dass er die Worte nur noch direkt in Nathans Ohr flüstern musste. „Alle haben nachher so getan, als hätte man nichts gesehen, nichts gehört – gar so, als wäre nie etwas gewesen. Aber wir beide wissen es doch besser, nicht wahr?“
 

„Ich habe keine Ahnung wovon du redest.“
 

„Ach hör doch auf.“

Er hörte das Grinsen in der Stimme des Älteren. „Natürlich weißt du, wovon ich rede. Du weißt es, du warst dabei. Ich habe meine Quellen und ich weiß, dass du der einzige warst, der an diesem Abend um diese Uhrzeit die Party verlassen hat. Ich weiß es, du weißt es. Verbleiben wir dabei?“
 

„Was willst du denn mit der Story gegen mich in der Hand haben?“, fragte Nathan gespielt gelassen, verlieb ebenso in seiner lässigen Körperhaltung und versuchte sich nichts von dem anmerken zu lassen, was in ihm vor sich ging.
 

„Gegen dich nichts, ich wollte dich nur daran erinnern, dass es jeder Zeit wieder passieren kann. Nicht dir, keine Sorge“, wisperte er ihm gefährlich zu. „Aber jemand anderem vielleicht. Vielleicht Ian … er ist nicht so gut darin, sich zu wehren und im Grunde genommen eigentlich viel zu schwach… Ich glaube, es würde mir sogar Spaß machen, dabei zu zusehen“, begann Vincent an, sich die Dinge auszumalen und sie Nathan mitzuteilen. “Oder deine Schwester? Da würde es sogar noch Spaß machen, dies Flittchen zu ficken…“, führte der Ältere seine Fantasien weiter aus.

Doch krallten sich sofort Nathans Finger in das Shirt des Älteren, zogen ihn wieder auf Augenhöhe.

„Ich wiederhole es: Einmal fasst du sie an und du bist Geschichte, glaub mir.“
 

Aber das einzige was darauf als Antwort kam, war ein trockenes Lachen und ein simples, desinteressiertes Schulterzucken.

„Würdest du auch für jeden anderen so handeln?“
 

„Nein.“
 

„Fein“, grinste Vincent ihm nun entgegen, begann die Finger Nathans zu lösen. „Ich weiß wo du wohnst… Nettes Plätzchen da. So richtig beschaulich und vertraut. Ich glaube, wir haben dir ein schönes Geschenk dort abgeliefert.“
 

„Gott gnade dir, sollte es meine Schwester sein“, zischte er.
 

„Fahr’ und sieh selbst. Vielleicht ist es dir eine Warnung. Du solltest aufhören, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen, es ist nicht gesund für dich oder dein Umfeld.“
 

Nathan ließ ihn nun ganz freiwillig los, schritt einen Meter zurück und musterte die ganze bullige Erscheinung des Mannes vor sich.
 

„Ich sage dir, eine Warnung, Nathan. Ich bin kein Mann leerer Worte, ich bin ein Mann der Taten. Und ich finde genug wunde Punkte, vertrau mir.“
 

So schnell war Nathan mit Sicherheit schon lange nicht mehr in seinem Wagen gewesen und mit Sicherheit hatten seine Reifen auch schon lange nicht mehr so leiden müssen.
 

Die Gänge wurden nur brutal reingeprügelt und jedes Mal zog er den Motor so hoch, dass er anfing zu jaulen. Alles andere war ihm egal. Sollte er einen Strafzettel wegen zu hoher Geschwindigkeit bekommen – egal.

Müsste er irgendwas am Wagen erneuern – kein Problem!

Alles wäre ihm Recht, so lange ihm keine Leiche im Vorgarten gelegt wurde. Und so lange es nicht seine Schwester war, die auf der Treppe zusammengekauert saß.

Alles, nur nicht das…
 

Mit einem lauten, leidenden Quietschen hielt er vor der Einfahrt, hastete auf dem Wagen und stürzte über den Bürgersteig, bis er beinahe wie angewurzelt mitten auf der Grünfläche vor dem Haus stehen blieb.
 

Die Laternen in diesem Viertel waren bereits alle ausgeschaltet. Innerlich machte er sich auf das Schlimmste gefasst, denn der Bewegungsmelder würde gleich die Lampen im Eingangsbereich einschalten und ihm das zeigen, was ihn dort erwartete. Im besten Falle war es ‚nur’ ein totes Tier… Wobei er das schon wieder für unmöglich hielt. Das konnte gar nicht so sein…
 

Einen Schritt.

Zwei Schritte …

Noch einen und das leicht orangene Licht erhellte mit einem Mal die Treppen des Hauses und einen Teil des Vorgartens.
 

Jemand saß zusammengekauert vor der Haustür, an die Hauswand gelehnt. Aus der Entfernung konnte er noch nicht genau sagen, um wen es sich handelte…

Erst als er näher kam, sah er, dass es sich um jemanden handelt, der eindeutig männlich sein musste.

Und als er kurz vor ihm stand, erkannte er auch, wer es war.
 

„Ian“, brachte er nur halb erstickt hervor und konnte beobachten, wie der Ältere seinen Kopf von den Armen hob und zu ihm aufsah.
 

Ian sah grauenvoll aus. Die Lippen waren blutig, das Kinn aufgeplatzt, an den Wangen klebte Blut, selbst an den Schläfen und im Haar. Die Arme waren aufgeschürft und blutig, teils sogar tiefere Einschnitte und in jeder dieser Wunden waren dunkle kleine Steine oder Staub…

Die Klamotten saßen nur noch halb am Körper, waren teils sogar zerrissen und ebenso blutig, wie der von Ians Erscheinung und …

Es war einfach nur ein Bild, das ihn beinahe umbrachte.
 

Sofort ließ er sich vor ihn auf die Knie fallen, wusste gar nicht, wie er ihn anfassen sollte, ohne ihm noch mehr Schmerzen zubereiten, als er ohnehin schon zu haben schien.
 

„Ich hab geklingelt …“, brachte der Brünette heraus, ließ den Kopf schwer gegen die Wand sinken. „Aber keiner war da…“
 

„Wie lange sitzt du schon hier?“, fragte Nathan nach, lehnte sich etwas vor und besah sich das Gesicht des anderen.
 

„Es war … gerade richtig … dunkel geworden, als … man mich hier rausgeschmissen hatte … keine Ahnung.“
 

„Wer?“
 

„Wer wohl?“, stellte er die rhetorische Frage, die sich im Grunde wirklich selbst beantwortete.
 

Alles andere wurde von ihm in den Hintergrund gestellt. Egal was es war, es musste warten. Ian hatte jetzt erst einmal Vorrang. Langsam stand er auf, überlegte kurz, wie er Ian auf die Beine bekommen würde. „Was tut dir gerade nicht weh?“
 

„Keine Ahnung. Aber aufstehen kann ich allein nicht … sonst hätte ich nicht … auf dich gewartet.“
 

Ein tiefes, hilfloses Seufzten kam von Nathan darauf hin, ehe er die Haustür aufschloss, das Licht anknipste und dann dafür sorgt, dass er Ian auf die Beine bekam. Zwar gab dieser einen grauenvollen Laut der Schmerzen von sich, war aber auch wohl gleichzeitig froh, endlich von den Steinen weg zukommen, auf denen er die ganze Zeit hatte warten müssen.
 

Irgendwie brachten sie es gemeinsam fertig, in den Keller zu kommen, in welchem Ian auf der alten Couch Platz fand, sie sich in der hintersten Wand von Nathans Zimmer befand..
 

„Warum?“
 

„Hm?“, kam es gequält von Ian, der nur bewegungslos auf der Couch saß und nicht einmal die Augen mehr geöffnet hielt.
 

„Dein Zustand.“
 

„Ich sagte doch … dass ich so oder so kassieren würde. Egal, ob du da zwischen gegangen bist … es hätte schlimmer sein können…“
 

Humorlos lachte Nathan auf, als dieser in seinem nun recht aufgeräumten Gemach nach dem Erstehilfekasten suchte, den er immer irgendwo versteckt hielt.

„Schlimmer? Was wäre denn noch schlimmer?“
 

„Holzkiste, Nath.“
 

Kurz hielt er inne, schluckte hart. Holzkiste… Klasse.

Dann war der Drogenhandel und die Prostitution, was Vince zu tun pflegte, ja rein gar nichts… Das waren obendrein auch noch Mörder?

Wo, bitte wo, hatte er sich da selbst hineinmanövriert?
 

Er kam zu ihm zurück, legte den Kasten neben ihm auf der Couch ab, ehe er begann die letzten Knöpfe des Hemdes aufzuknöpfen, die noch vorhanden waren.
 

Langsam half er ihm aus dem Stoff, ließ diesen auf den Boden sinken und besah sich den Oberkörper Ians genau.

Und dieser Part des Körpers sah auch nicht besser aus, als dessen Gesicht oder die Arme.
 

„Denk jetzt nichts Falsches“, warnte Nathan vor, öffnete kurz daraufhin den Gürtel, den Knopf und den Reißverschluss der Jeans, zog ihm diese von den Hüften.
 

„Daran will ich gar nicht denken“, keuchte Ian schmerzvoll vor sich hin, als Nathan ihm die Schuhe von den Füßen zog.
 

„Was hast du dem getan, dass der dich so zurichtet?“
 

„Ich hab ihm vor den Kopf gestoßen. Das reicht aus…“
 

„Du musst noch einmal aufstehen“, warnte er Ian vor.
 

„Wirklich?“, wollte jener nur wissen und öffnete die Lider einen Spalt weit und blickte den Schwarzhaarigen vor sich leidend an. Und er konnte es verstehen. Er würde an Ians Stelle auch lieber gar nichts mehr bewegen…
 

„Ja. Das alles einzeln sauber zu machen dauert zu lange…“
 

„Du willst …“
 

„Uns bleibt nichts anderes über, Ian“, seufzte Nathan mitleidig und nickte geknickt.
 

„Nein, bitte. Ich kann kaum stehen, da kannst … du kannst … nicht erwarten, dass ich duschen gehe.“
 

„Oh doch…“
 

„Dann müssen wir in den ersten Stock des Hauses…“
 

„Nein, hier unten ist auch noch eine Dusche – vom Vorbesitzer…“

Vorsichtig half er dem Älteren wiederum auf die Beine brachte ihn in das kleine Bad, dass er hier unten besaß. Es war wirklich nur sehr klein. Eine schmale Dusche, eine Toilette und ein kleines Waschbecken – aber es reichte. Es hatte warmes Wasser.

„Halt dich kurz hier – genau…“

Das Wasser einstellend, suchte er aus dem kleinen Schrank Handtücher heraus und zog sich selbst die Schuhe, die Jeans und das Shirt über den Kopf.
 

„Das darf auch keiner wissen…“, murmelte Ian vor sich hin, als er gar in die Duschekabine stolperte und ohne Nathans vorsichtigen, aber dennoch festen Halt gefallen wäre.
 

Das Wasser brannte auf der Haut und Nathan tat es in der Seele leid, ihm das antun zu müssen. Wirklich. Er litt quasi mit ihm. Vor allem dann, wenn ihm der Ältere beinahe zusammengeklappt wäre. Er wollte ihm wirklich nicht noch mehr Schmerzen zufügen, als er ohnehin schon hatte und dann das!
 

An ihn gelehnt, ließ Ian jedoch die Tortur über sich ergehen, ertrug einfach alles und war dann jedoch einfach nur froh, als er das Handtuch auf seinen Schultern spürte.
 

Vorsichtig trocknete er ihn ab, schaffte es irgendwie ihm ein großes Badetuch um die Hüfte zu binden und führte ihn dann zurück auf die Couch.

Nathan selbst hatte sich nur provisorisch ein Handtuch um die Hüften gewickelt und brachte den Älteren auf die Couch zurück und begann damit, die Schürfungen und Prellungen und was nicht noch alles, zu versorgen.

Er hatte Erfahrung darin. Nicht zuletzt auch, weil es oft im Verein Verletzungen gab. Aber Ian war der absolute Ausnahmefall. Der Mann war mehr kaputt, als heil war. Jedoch zum Glück waren keine Brüche dabei – darauf hatte Vincent wohl geachtet… damit man auch ja nicht zum Arzt musste…

Eigentlich sogar clever, wenn man das aus dem Blickwinkel betrachtete.
 

Nachdem er ihm dann in trockene und frische Kleidung geholfen hatte, schlief Ian nun tief und fest in dem recht großen Bett Nathans, während dieser aufräumte. Im Grunde war es auch verständlich. Das musste einfach verdammt anstrengend gewesen sein, zumal Ian ihm hin und wieder wirklich beinahe weggedriftet wäre.

Eine wirklich nette Überraschung, er sollte sich bei Gelegenheit dafür bedanken und Vincent in das nächste örtliche Krankenhaus befördern. Aber mit Brücken und inneren Quetschungen! Die Retourkutsche, die würde kommen, darauf konnte sich Vincent verlassen.
 

Aber vorerst hatte er sich der Ordnung zu widmen, zwar war kein zu großes Chaos entstanden, aber es reichte.

Das Bad trocknete er auch eben durch – so viel Wasser wie sich bei ihrer kleinen Aktion auf dem Boden gesammelt hatte, konnte man gar schon von einer Überschwemmung sprechen.

Letztlich aber stützte er sich auf dem Waschbeckenrand ab und atmete mehrere Male tief durch.

Jetzt konnte er es nicht mehr ändern und nicht mehr verhindern.

Ebenso wenig konnte er verhindern, dass die Bilder, die Vincent in seinem Kopf hervorgerufen hatte, an Ort und Stelle blieben.
 

Es war ihm, als würde alles wie eine große Welle über ihm zusammenbrechen und ihn unter Wasser drücken, sodass ihm kurzzeitig die Luft genommen wurde.
 

Alles…

Er hatte es vergessen wollen. Er hatte es endlich verdrängen wollen… Einfach nur vergessen.

Das, was vor drei Jahren in dieser dreckigen, stinkenden Gasse passiert war – er wollte es vergessen.

Es wusste niemand. Nur er und derjenige, der es ihm angetan hatte. Nur er…

Und jetzt wusste es auf einmal Vincent …

Vincent und dessen ganze Truppe. Und wenn der es wusste, wer würde es dann noch alles wissen?
 

Es war sein Geheimnis gewesen. Ein Geheimnis deswegen, damit man ihn nicht in die Therapie schicken würde. Damit man ihn nicht bemuttern und umsorgen würde.

Er hatte es beinahe geschafft, alles zu vergessen und dann?

Alles kam zurück und dann alles auf einmal.

Diese Sache, Blakes Koma und jetzt Ian… mit einem Mal brach alles über ihm zusammen, drückte ihn zu Boden und wollte ihn nicht wieder hochkommen lassen. Dabei musste er aufstehen und er dürfte sich nicht herunterdrücken lassen. Er durfte es einfach nicht.
 

Ein Gefühl von Übelkeit machte sich in ihm breit, kämpfte sich den Weg vom Magen aufwärts. Jedoch wurde es wieder herunter gekämpft. Es ging nicht, dass er wegen diesen Dingen einbrach. Er konnte und durfte nicht.

Allein wegen Ian, der ihn brauchte – jetzt im Moment.

Dann war noch Blake – den er unbedingt wieder sehen wollte und das ging nur, wenn er seine Fassung und seine Stärke behielt, die er hatte.

Zumal er sonst auch ein sehr leichtes Ziel für Vincent war, sollte dieser ihm noch einmal über den Weg laufen.

Er durfte sich auf keinen Fall einschüchtern lassen. Nicht von diesem Menschen. Von niemanden und erst recht nicht von seiner Vergangenheit.
 

Das Licht ausknipsend, kehrte er in das Zimmer zurück und sah noch einmal nach, ob er dem Älteren auch soweit noch gut ging, ehe er sich das zweite Kissen nahm und eine Decke.
 

Die ganze Nacht hatte er nicht geschlafen.

Kein Auge hatte er zugetan, hatte die ganze Nacht nur damit verbracht, die Decke anzustarren und nachzudenken.

Worüber?
 

Alles.

Seine Gedanken waren an alles gefesselt und waren kaum zu greifen. Innere Angst fasste ihn wie eine kalte Kralle, die sich um seine Seele und seine Gedanken legte. Eisig hielt sie ihn gefangen, hielt ihn davon ab, klar zu denken. Jeder Gedanke, jede Sekunde, alles begann in einem Kreis zu laufen, ohne ihn herauszulassen. Er schien selbst in seinem Gedankenkreis gefangen zu sein, unfähig, auch nur einen einzigen Schritt in eine leere Ecke zu tun, in der er sich von alle dem erholen konnte, was passiert ist.

Es war sein Wecker, der ihm die Möglichkeit gab, endlich an etwas anderes zu denken.

So leise wie möglich machte er sich fertig, packte seine Sachen zusammen und war gerade dabei, in die obere Wohnung zu verwinden, um sich sein Frühstück fertig zu machen, als er die krächzende Stimme Ians hörte, die nach ihm rief.
 

„Nath?“

Es klang grauenvoll kratzig, heiser und rau auf einmal, aber vor allem hörte es sich erschöpft an.

„Bitte?“

Er kehrte auf halbem Weg wieder zurück und betrat sein Zimmer.
 

„Fährst du jetzt?“
 

„Ich muss, ja…“
 

„Kannst du … bitte?“
 

„Was?“, fragte er ruhig nach, kam näher.
 

„Hier bleiben? Bitte. Nur heute.“
 

„Eigentlich …“, er zögerte kurz, ehe er dann doch nickte. „Ja, kann ich.“

Dass er damit seinen Job riskierte, war ihm irgendwie egal. Er hatte das hier durchzuziehen und wie gesagt, Ian brauchte ihn jetzt, da war ihm doch Nicki egal!
 

„Danke.“

Mühselig drehte sich Ian richtig auf den Rücken, setzte sich etwas auf und zog die Decke richtig.
 

„Nicht der Rede wert.“
 

„Nein, wirklich. Danke, Nath. Das hätte nicht jeder getan, nicht für mich…“
 

„Ich bin nicht jeder…“
 

„Ich weiß…“
 


 

Nach einem kurzen Frühstück, saßen sie beide nebeneinander in dem großen Bett, schwiegen sich gegenseitig an und starrten jeweils auf den kleinen Bildschirm des Fernsehers, der gerade irgendeine Sitcom zeigte.
 

Es war jedoch Ian, der das Schweigen brach. „Nathan, darf ich dich etwas fragen?“, wollte jener wissen, drehte auch seinen Kopf leicht zur Seite um den Jüngeren anzusehen.

„Wenn du schon so nett fragst … Was denn?“, kam es ruhig von Nathan zurück.

Natürlich war es ungewohnt für ihn, von Ian in einer normalen Stimmlage angesprochen zu werden, ohne dass man Angst vor einem Eissturm haben musste. Aber es war ok. Eigentlich könnte er sich daran sogar gewöhnen…
 

„Ist in der Vergangenheit irgendwas passiert?“, harkte er vorsichtig nach und musterte augenscheinlich jede Bewegung in Nathans Gesicht.
 

„Inwiefern meinst du das?“
 

„Vince hat einen sehr speziellen Wortschatz… Er sprach von dir als ‚Schlampe’, was in unsere Sprache übersetzt soviel wie ‚Vergewaltigungsopfer’ heißt. Ist irgendwas passiert, das in die Richtung geht?“
 

„Nein. Ich wüsste nicht, wie er darauf kommt.“ Er versuchte dem auszuweichen! Warum begann Ian ausgerechnet jetzt damit? Warum holte einen diese verdammte Vergangenheit immer und immer wieder ein?
 

„Ist das wieder diese ‚Du sagst mir nichts, also sag ich dir auch nichts’-Geschichte?“
 

„Ian, das-“, begann Nathan, wurde jedoch von Ians Worten unterbrochen.

„Nathan, hör’ mir jetzt mal zu. Ich frage das nicht umsonst. Das ist nicht nur, weil ich das gehört habe, nein. Ich will es von dir wissen. Wir stecken beide bis zum Hals in der Scheiße, da wäre es ja doch sehr nett wenn du mir etwas über dich erzählst, nicht wahr?“
 

„Und ich weiß dann nichts über dich, oder was?“
 

„Das sagte ich nicht. Machen wir es so. Du erzählst etwas, dann erzähle ich dir etwas. Deal?“
 

Nathan blickte eine ganze Weile in die braunen Augen, ehe er die Schultern zuckte. „In der Scheiße stecken… Wie wahr…“
 

„Und jetzt sag schon, hat Vincent recht?“, drängte Ian weiter.
 

„Womit?“
 

„Ist so etwas in der Vergangenheit passiert? Willst du drüber reden?“
 

„Nein und noch einmal nein.“
 

„Versuchst’s zu verdrängen, was?“

Einen Moment herrschte wieder Schweigen, ehe Nathan genervt den Fernseher ausstellte, die Fernbedienung auf den Boden gleiten ließ und in die Richtung der Zimmerdecke blickte.

„Hey, mit mir kannst du reden….“
 

„Kann ich das, ja?“, kam es gar schon spöttisch als Antwort zurück. Wirklich glauben tat er das nämlich nicht. Wie auch? Wenn er Ian kaum kannte, wie sollte er ihm dann vernünftig vertrauen?
 

„Ja. Also?“
 

„Ja…“
 

„Was ja?“, fragte Ian zurück.
 

„Ja… Ich war sechzehn…“
 

„Und weiter?“
 

„Es war diese eine Party, diese Party auf der ich das erste Mal einen Kerl geküsst habe.“
 

„Ach, die Story…“, seufzte Ian tief durch und erinnerte sich wohl an die Unterhaltung, die sie im Mai in Jacksonville hatten.
 

„Ja, richtig, die Story. Aber mir hats nicht gepasst, ich fand unbeschreiblich abstoßend und wollte nicht weiter gehen. Ich war ohnehin nicht so sehr interessiert an Männern und … gut ok, ich war ein Bisschen betrunken den Tag und … Mit sechzehn war ich noch eine ganze Ecke kleiner und schmaler gebaut … zur Wehr setzen war da noch nicht. Ich bin also abgehauen, als es mir zu viel wurde – er kam mir hinterher und … Oh Gott, wenn ich nur daran denken muss … es war so … es war dunkel und es … Fuck!“

Nathan schloss die Augen, versuchte alles wieder zu verdrängen, was sich gerade wieder hoch zukämpfen versuchte. Er wollte sich daran nicht mehr erinnern und er wollte auch nicht darüber reden. Mit niemanden!
 

„Ich bin danach irgendwie auf die Beine gekommen und bei Greg gelandet … er hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich auszulachen, dass ich aussehen würde, als hätte man mich durch den Fleischwolf gedreht. Gewusst hatte er aber von der ganzen Sache nichts und erst recht nicht geahnt.... Ich hab bei ihm geduscht, hab auch bei ihm gepennt und bin am nächsten Morgen nach Hause…“
 

„Hat keiner was gemerkt?“, wollte Ian wissen und Nathan spürte genau, dass der Ältere ihn ansah.
 

„Ich glaube nicht, nein. Meine Eltern hatten es aufgeben zu fragen, wo ich die Nacht war… Sie haben es einfach hingenommen, ich war ihnen schon recht früh egal und ein Dorn im Auge. Ich wollte es auch nie jemanden erzählen… Mum hätte mich nur zur Therapie geschickt oder was auch immer, damit sie selbst nicht so viel damit zutun haben musste … und alle anderen hätten sich nur zu viele Sorgen gemacht… Ich habs verdrängt, irgendwie.“
 

„Und jetzt?“
 

„Jetzt könnte ich gerade nur noch kotzen. Es ist alles wieder da, direkt vor meinen Augen.

Es ist, als würde sich alles noch einmal wiederholen… nur in meinen Gedanken. Ich werds nicht los. Ich kann fernsehen oder was auch immer machen, es ist da. Es ist immer präsent und ich… werde wieder Monate brauchen, damit ich das einigermaßen vergraben habe…Vincent hat mich gestern abgefangen gehabt, als ich von einem Treffen mit Nancy nach Hause wollte … Er stand direkt vor mir, hat mir die Story widerlich ins Ohr geflüstert. Es fühlte sich an, wie vor drei Jahren… Es fühlte sich genau so an, nur dass ich keine Wand im Rücken hatte… Ich hätte ihm ausweichen können.“
 

„Du hast Vincent getroffen?“, kam es überrascht und völlig aus dem Kontext gerissen auf einmal von Ian. Wobei überrascht nicht einmal passend war. Viel eher klang er geschockt aufgrund der Tatsache, dass gerade Nathan sich mit Vincent traf oder diesem über den Weg lief.
 

„Ja… er hatte mit meiner Vergangenheit einen perfekten Übergang geschaffen. Drohte, meiner Schwester etwas zu tun und sagte im gleichen Atemzug, dass er mir daheim etwas abgesetzt hätte…“, erklärte Nathan folglich stockend und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es machte ihn einfach fertig. Und wenn er jetzt noch daran dachte, dass es Lindsay hätte sein können…
 

„Deswegen warst du so in Hektik gestern? Du hast gedacht, es wäre Lindsay?“, fragte Ian in einer verhältnismäßig warmen und gar schon besorgten Stimmlage nach.

Es war mehr als ungewohnt ihn so zu hören. Allgemein war Ian anders.
 

„Genau … aber als ich dich dann da gesehen habe … es war irgendwie genau so grauenvoll…“
 

„Warum?“
 

„Ich kann es nicht sehen, wenn Menschen leiden… Hat es sich denn jetzt wenigstens das erledigt, wofür du die Fresse poliert bekommen hast?“
 

„Ich weiß es nicht“, gab Ian von sich. „Da kann noch was hinterher kommen… gerade bei Vincent. Und erst recht noch, wenn er irgendwas gegen dich hat. Wie gesagt, wir sitzen beide in der Scheiße. Nur dass er bei dir weniger Fläche zu haben scheint, als bei mir…“, erzählte er weiter.
 

„Inwiefern weniger Fläche?“, fragte Nathan auch direkt nach.
 

„Du bietest ihm mehr die Stirn, als ich. Ich bin eigentlich ein absoluter Schisser, um es freundlich auszudrücken. Sobald mehr Ärger im Angebot steht, als vorgewarnt, haue ich meistens ab…“, wurde ihm gestanden und Ian zog an der Bettdecke herum.
 

„Tja, du bist wohl doch nicht so der harte Kerl, was?“, kam es grinsend von dem Jüngeren hinterher.
 

„Nein. An dem Abend im Black hatte ich die Hose beinahe voll gehabt, als er hinter mir stand. Die Sache ist die, Nath … Ich will ehrlich zu dir dein, weil ich denke, dass ich dir wirklich vertrauen kann… Vincent war der Anker im Leben, den ich vorher nie hatte. Er hat mich bei ihm pennen lassen, wenn mein Vater seine Weiber zu Hause hatte oder mal wieder zu viel getrunken hatte. Er hat mir das beigebracht, was ich weiß. Er hat mir mit der Schule geholfen und durch ihn habe ich Amanda kennen gelernt… Amanda ist die Schwester seines Cousins Gregory… Und dann habe ich den Fehler begangen, ihn zu vernachlässigen und nachher sogar den Rücken zu kehren. Er war verdammt sauer gewesen deswegen, sagte aber, er könne es verstehen. Ich dachte…“, begann Ian und rutschte weiter in die Kissen. „Ich dachte, er würde es wirklich verstehen… Vor allem dachte ich das, als er mich aufgefangen hat, nach Cassys Tod und der Trennung zu Amanda… Ich dachte es wirklich. Aber das einzige was er getan hat, war mir den Weg in die Abhängigkeit zu ebnen…“

Nathan öffnete seine Augen wieder und blickte zu Ian. Er sah, wie dieser über seine nackten Arme strich und den Blick abwendete. Selbst beim Weitersprechen zögerte er, ehe er dann doch weiter fort fuhr: „Es fing an mit ganz einfachen Tüten, dann ging es weiter mit den lustigen Pillen bis ich soweit gesunken war und mir jeden Abend die Spritze setzte.

Ich kam einfach nicht mit dem Tod meiner Tochter klar, war völlig am Boden und hatte etwas, an das ich mich krallen konnte. Und es war jedes Mal Vincent, der mich auf die Beine holte, wenn ich nicht mehr wollte. Jedes Mal… Und so gesehen, wäre ich ohne ihn nun auch nicht mehr. Als ich sechsundzwanzig wurde, war ich kurz davor, meinem beschissenen Leben das Ende zu setzen. Wieder war er da. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt oder getan hatte … aber als ich wieder klar in der Birne war, war da Samantha. Sie war einfach da gewesen.“
 

„Samantha?“
 

„Ja, unsere Sammy… Sie wohnte damals in meiner Nachbarschaft und wir kamen gut miteinander klar. Eigentlich wohnte Sammy immer in meiner Nachbarschaft. Selbst in Miami hat sie in meiner Nachbarschaft gewohnt… Auf jeden Fall war sie da…“
 

„Und weiter? Sie meinte den Tag zu mir, dass sie nicht ganz genau wüsste, ob du noch auf Drogen wärst, oder nicht…“
 

„Sie weiß es am besten von allen. Sie war doch live dabei. Fakt ist nur, dass sie dir nicht alles gesagt hat. Sie hat bei mir im Zimmer gesessen, sie hat mich festgehalten, während ich dabei war, an der Himmelforte zu klopfen. Sie hat mir beim Entzug geholfen…“
 

„Sie sagte, du bist nach Cassys Tod gleich nach Miami abgehauen, weil es zu viel wurde…“
 

„Das ist auch wahr… aber Vincent ist nicht nur hier. Vincent ist auch in Miami und Sammy war auch in Miami… sie ist immer da, wo ich auch bin… Sie ist so etwas wie mein persönlicher Engel, weißt du?“
 

„Da dich in deiner Familie niemand fangen konnte und du von Vincent weg wolltest, richtig?“
 

„Sammy war da. Sie ist auch jetzt da… Wahrscheinlich so, wie Nancy für dich da war, was?“
 

„Nein. Nancy war nur eine Freundin, nicht meine Rettung. Sie war eher mein Untergang. Ich hatte mit ihrem Freund so oft Stress gehabt, weil sie sich von ihm nicht trennen konnte“, erklärte er das. „Aber das ist eine abgeschlossene Geschichte. Ich habe das mit ihr gestern geklärt, dass es da nichts mehr gibt. Wenn ich mir vorstelle, durch sie wieder in diesen Endloskreis reinzurutschen, bekomme ich Gänsehaut… Mit Greg will ich nichts mehr zu…“ Er unterbrach sich jedoch selbst, als sich in seinem Kopf ein kleines Puzzleteil an ein anderes fügte. „Du sagtest gerade, dass du mit Gregorys Schwester Amanda zusammen warst… Gregory ist Vincents Cousin… Ich … kennte Amanda“, fiel es ihm auf einmal brühwarm ein.
 

„Woher?“
 

„Ich war mit Greg … Also Gregory befreundet – wenn man so will… Ich kenne seine Schwester und ich weiß, dass sie wegen schweren Depressionen in einer Nervenklinik war…“
 


 


 

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Neue Wege gehen



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Inan
2012-05-24T18:21:22+00:00 24.05.2012 20:21
Den Beiden ist auch gar nichts erspart geblieben...
Es ist aber beeindruckend, wie, naja, stark sie dabei bleiben, einfach so weiterleben ist bestimmt nicht einfach ._.
Schönes Kapitel x3
Von:  Mado-chan
2012-05-24T17:16:33+00:00 24.05.2012 19:16
ba da daa damm!! Zufälle gibts!
Aber krass was für scheiße bei den beiden abgelaufen ist...
und toll, dass sie sich endlich mal ausquatschen ohen das einer von beiden Eisblock spielt.
Ich bin gespannt wie es weiter geht, vor allem was mit Blake ist >.<

LG
Mado
Von:  tenshi_90
2012-05-24T14:28:11+00:00 24.05.2012 16:28
das is ja mal echt krass, was da so los war bei den beiden...

aber schön, dass sich die beiden doch iwie dadurch näher kommen und so viel gemeinsam haben

lg
Von:  Teukie-Chan
2012-05-23T21:10:44+00:00 23.05.2012 23:10
jaaaaaaaaaaaaaaaa ein neues capi ^^

aber heftig eh was da nun alles so rauskommt und der arme nath wirklich.
jetzt kommt alles wieder hoch.
ich hoffe nur er steht das alles durch und das mit blake auch und so *sfz*.....
und iwie find ich es auch toll das er n´doch so mit ian redet und so^^

mach weiter so ^^

kussi


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