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Harmonie

von

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Der Außerirdische

Kapitel 36: Der Außerirdische
 

Hermine hielt Draco auf Abstand. Sie war nicht weg, sie war aber auch nicht wirklich bei ihm. Ein fauler Kompromiss, ganz sicher, doch zu mehr Konsequenz war sie nicht imstande.
 

Draco der Vergewaltiger, der Mörder, der Todesser. Draco der Todesser, der Ron umgebracht hatte.
 

Aber natürlich war Draco mehr als das. Er war… nun… was er auch immer sonst war, er hatte etwas an sich, das Hermine mochte und das sie an ihn band. Nicht einfach nur Mitleid oder Pflichtgefühl, er hatte wirklich etwas an sich, das sie ihn mögen ließ.
 

Nur im Moment, da mochte sie ihn nicht. Im Moment wurde sie jedes Mal weiß, wenn sie ihn sah. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und zwang sie förmlich dazu, sich ganz schnell Hilfe suchend an ihren Ron-Anhänger zu klammern und die Augen zu schließen. Für einen Moment.
 

Als seien ihr auf magische Weise die Augen geöffnet worden, sah sie auf einmal überall die Schäden und Opfer, die die Todesser hinterlassen hatten. Sie hatte sich lange davor gedrückt, Zeitungen richtig zu lesen, dem Radio zu lauschen oder einfach nur ihren Kollegen zuzuhören.

Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte nicht mehr weghören können. Ihre Gedanken waren schmerzhaft klar und frei. Bloß und schutzlos für alle Informationen, die sie so lange in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins verdrängt hatte.
 

Aber nun lag alles offen da. Draco war ein Todesser und Ron war tot. Ron, der beste Freund, den sie je gehabt hatte.
 

Draco beobachtete sie, sie spürte es. Ebenso verhalten, doch so ausdauernd, wie er vorher Narzissa beobachtet hatte, warf er auch ihr immer wieder scheue Blicke zu, wenn sie am Tisch nebeneinander saßen oder abends gemeinsam im Salon waren. Und ebenso wie Narzissa zuvor, gab Hermine ihr Bestes so zu tun, als würde sie Draco nicht bemerken.

Hermine fühlte sich sehr unbehaglich dabei, Ähnlichkeiten zwischen sich und Narzissa zu entdecken. Zumindest der alten Narzissa. Nicht der neuen, die sich noch nicht einmal davor scheute, Draco vor anderen Leuten die Schuhe auszuziehen und ihm die Füße zu massieren.
 

Zwei Wochen ging das so, dass sie bei ihm, aber einfach nicht mit ihm sein konnte. Und dann, eines Abends, als sie schon im Bett lag, hörte sie auf einmal ein sachtes Pochen an ihrem Fenster. Müde erhob sie sich und öffnete, um „Pure“ hereinzulassen. Dracos Uhu brachte ihr eine Botschaft. „Du fehlst mir“ stand darauf.
 

Sie zögerte einen Moment, doch ihr war klar, dass das kein Dauerzustand war und so entzündete sie ein paar Kerzen und schrieb die Antwort, die sie ihm schuldete. „Es ist nicht einfach. Ich bin so wütend auf Dich. Du hast mir so viel genommen und ich will nicht wahrhaben, dass Du zu solchen Dingen fähig bist. Du hast mich erschreckt. Ich weiß nicht, was ich zu Dir sagen soll. Wie ich mit Dir umgehen soll. Ich wollte all das so lange nicht wahrhaben, aber jetzt weiß ich es und es raubt mir den Atem und den Schlaf, so von Dir zu denken.“
 

„Und wenn ich Dir sage, dass es mir leid tut?“, kam wenige Minuten später die Antwort. „Wenn ich Dir sage, dass ich es gern ungeschehen machen würde und dass ich es aber damals einfach nicht konnte. Es tut mir leid, ich schäme mich für alles, ich weiß, dass es falsch war, aber ich kann es nicht mehr ändern.“
 

„Das weiß ich“, schrieb sie zurück. „Ich weiß das doch alles. Aber trotzdem macht es mir Angst. Vielleicht, weil meine Freunde ähnliches getan haben und ich Angst davor habe festzustellen, dass die Menschen nicht so gut sind, wie ich mir das immer gewünscht habe. Ich bin enttäuscht und wütend.“
 

„Dann komm runter und schlag mich“, schrieb er zurück. „Du darfst mich schlagen, anschreien und mit Sachen nach mir werfen, aber bitte ignorier mich nicht weiter. Ich liebe dich und du fehlst mir, das weißt du. Ich komme damit klar, wenn du böse auf mich bist. Du kannst deine Wut an mir auslassen, das ist okay, aber bitte komm zu mir. Komm zu mir und schlag mich, wenn du dich dann besser fühlst.“
 

Sie wollte ihn wirklich schlagen, als sie mit zitternden Knien und heftig pochendem Herzen die Treppe hinabstieg und sie hatte schon fast die Fäuste geballt, als sie die Tür öffnete und ihn auf dem Bett sitzen sah, wo er auf sie wartete. Aber dann, als sie ihn sah. Silbernes Haar, das im Mondlicht schwach leuchtete und das blasse Gesicht, das so dicht vor ihrem eigenen war, als er zu ihr ging und sich vor sie stellte, bereit, sich bestrafen zu lassen... vermochte sie einfach nicht länger zornig zu sein.
 

Statt hart trafen ihre Hände sanft auf seine Wangen, als sie sein Gesicht umfasste und er sie an sich zog. Sie weinte, schlang ihre Arme um ihn und erlaubte sich selbst, ihr Gesicht an seine Brust zu drücken.
 

Es gibt Momente, in denen Worte einfach überflüssig sind, weil sie sowieso nicht dazu imstande wären, die Gefühle oder die Beschaffenheit der Situation umfassend zu beschreiben. Dies war einer dieser Momente, denn es gab keine Worte, mit denen Hermine hätte sagen können, wie verwirrt, wütend und verletzt sie durch das war, was sie gehört hatte und es gab auch keine Worte, mit denen Draco ihr hätte vermitteln können, wie sehr er seine Vergangenheit bereute und wie hilflos er sich gleichzeitig deswegen fühlte, weil er nichts mehr rückgängig machen konnte.
 

Aber war das wichtig? War das wichtig, wenn sie sich doch in die Arme schließen, halten und wärmen konnten. Es war so kalt in diesem Zimmer. Vielleicht nicht wegen der Raumtemperatur, sondern wegen allem, was in diesem Moment noch mit ihnen in diesem Raum war. All die Angst, Scham, Trauer und Enttäuschung und die Tränen.
 

Vielleicht war es gut, dass sie einander nicht sagten, was sie in diesem Moment dachten, die Worte wären möglicherweise falsch verstanden worden. So, da alle Worte ungesagt blieben, konnten sie am nächsten Morgen aufstehen und einander in die Augen sehen.
 

Xxx
 

Hermine ging nicht mit am Prozesstag.
 

Sie schämte sich ihrer Feigheit, weshalb sie sich selbst eine leichte Grippe anhexte, um einen triftigen Grund für ihr Fernbleiben zu haben.

Fakt war jedoch, dass sie sich absichtlich drückte, weil sie Angst vor dem hatte, was sie dort hören würde. Draco hatte ihr doch in etwa gesagt, was man über seine Todesseraktionen erfahren würde. Das reichte, da musste sie doch nicht noch mitgehen und zusehen, wie er von Angehörigen der Opfer angefeindet wurde. Zudem war Draco nicht der Einzige, der aussagen musste.
 

Auch ihre Freunde… und das war dann noch mehr Grund, zuhause zu bleiben. Es war abzusehen, dass auch sie die eine oder andere Leiche im Keller hatten. Wenn man das auch nicht als „Leiche“, sondern als Heldentat verkaufen würde. Sie hatte immer wieder Andeutungen über Folter gehört… Wollte sie das ganz genau hören? Nein.
 

Und wenn doch… dann stünde sie zwischen den Stühlen und… nein. Sie blieb lieber zuhause, schonte ihre Nerven, fieberte friedlich vor sich hin und… irgendwann würde Draco ja zurückkommen.
 

Xxx
 

Da Zeugen nicht durch die Aussagen anderer beeinflusst werden sollten, mussten sie in einem gesonderten Raum warten, bis man sie aufrufen würde. Da man den Kriegsopfern nicht zumuten wollte, gemeinsam mit den Todesser-Kronzeugen zusammen in einem Raum zu sein, wurden beide Parteien getrennt untergebracht.
 

So dämmerte Draco gemeinsam mit Vater und Onkel in einer kleinen Kammer todmüde vor sich hin und gab sich Mühe, nicht vor seiner Aussage noch einzuschlafen.
 

Mit der zweieinhalbfachen Dosis Beruhigungsmittel abgefüllt, merkte er sogar selbst, wie langsam alles in ihm arbeitete, während die Welt um ihn herum am Morgen in Hektik ausgebrochen war. In aller Seelenruhe war er zuerst ins Bad und danach zum Frühstück geschlurft. War beim Kauen sogar kurz eingenickt und dann von einem ungeduldigen Rodolphus und einem hibbeligen Lucius ins Gericht geschleppt worden.
 

Seine Mutter war irgendwo in der Nähe. Sie war ganz sicher mitgegangen, da Draco aber zu träge war, um sich um Raum umzusehen, beließ er es dabei, das nur anzunehmen. Der Anwalt war vorhin bei ihm gewesen, um mit ihm noch einmal die gesamten Fragen durchzugehen.
 

Draco hatte brav geantwortet und sich Mühe gegeben, nicht zu langsam zu sprechen. Irgendwann war Lucius verschwunden, kam wieder, dann verschwand Rodolphus und schließlich, ungefähr gegen Mittag, wie Draco annahm, wurde er selbst abgeholt.
 

Ein wenig der Nervosität, die ihn noch am Vortag empfindlich geplagt hatte, schlich sich in sein Bewusstsein zurück. Es war nicht wirklich behaglich, dort zu stehen, kaum fähig, zwei zusammenhängende Sätze zu sprechen und erklären zu müssen, wer er war und wieso man ihn ruhig gestellt hatte.
 

Er hatte mit Fragen zu seinen Opfern gerechnet. Davor hatte er Angst gehabt: Dem Zauberergamott und den Zuschauern sagen zu müssen, was er getan hatte. Stattdessen verlief die Anhörung relativ zügig. So kam es ihm zumindest vor.

Der Richter erklärte ihm, dass es darum ginge, herauszufinden, wie die Todesser mit Minderjährigen, ganz jungen Zauberern umgegangen wären und wie überhaupt Leute „überredet“ wurden mitzumachen.
 

Draco erzählte von den Drohungen gegen ihn und seine Eltern, diversen Folterungen die er zu Beginn zur Einstimmung über sich hatte ergehen lassen müssen, den Sprüchen, die man ihm eingehämmert hatte, die „Übungsstunden“, in denen ihm seine Tante das Töten beigebracht hatte, die Drogen und auch die Schmeicheleien, die Versprechungen und die Belohnungen, wenn er etwas gut gemacht hatte.
 

Er sollte aussagen, wie alt er gewesen war, als man ihn angeworben hatte und wie man mit ihm und den anderen jungen Männern umgegangen war. Seine Zeit in der Schule wurde thematisiert. Glücklicherweise gab es nur wenig Fragen zu dem, was er dort als Todesser gemacht hatte und dass er dort selbst teilweise noch viel jüngere Jugendliche als sich selbst zu Voldemort gebracht hatte.
 

Stattdessen fragte man nach seinen gesammelten Aussetzern, die in einem vorherigen Bericht von Madam Pomfrey dargestellt worden waren. Draco nickte ab und bestätigte, dass er seit über einem Jahr eine Therapie machen musste. Sein Anwalt fügte hinzu, dass die meisten anderen, die in seinem Alter mitgekämpft hatten, mittlerweile tot waren. Waren sie nicht als Kanonenfutter im Gefecht gestorben, hatten viele nach dem Krieg Selbstmord begangen. Diejenigen, die augenscheinlich unbeschadet geblieben waren, waren dennoch im Laufe des letzten Jahres durch anti-soziales Verhalten aufgefallen und mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
 

Draco hörte einige Male das Wort „Todesser-Syndrom“, welches, wie der Anwalt sagte, all die Schwierigkeiten subsumierte, die der Dienst an Voldemort seine Anhänger gekostet hatte.
 

Zum Schluss fragte man ihn, wie er nun, mit Abstand, seine Vergangenheit bewerte. Draco murmelte mit schleppender Stimme, dass ihm alles sehr leid täte, er sich entschuldigen wollte und er die Dinge rückgängig machen würde, wenn er die Macht dazu hätte, da er die nicht hatte, wurde seine Erklärung mit einem Nicken vom Richter zur Kenntnis genommen und man schickte ihn aus dem Saal.
 

Danach wurde Draco entlassen. Er schlurfte benommen aus dem Raum und sollte ihm irgendjemand etwas Hässliches zugezischt haben, bemerkte er es zumindest nicht. Zu betäubt, zum Glück.
 

Xxx
 

Hermine fand die Männer im Salon.
 

Draco saß alleine in einer Chaiselongue und starte gedankenverloren auf seine Hände. Lucius und Rodolphus saßen in zu der Sitzgruppe gehörigen Sesseln daneben.
 

Der rotgoldene Schein der untergehenden Sonne tauchte den Raum in warmes Licht. Der Marmor leuchtete und die goldenen und silbernen Applikationen darauf reflektierten funkelnd die Sonnenstrahlen.

Die drei Männer saßen im Schatten. Aber auch näher an den hellen Fenstern sitzend hätten sie nicht heiter gewirkt.
 

Die Rücken rund, die Schultern hängend, schwiegen sie um die Wette und nippten nur dann und wann an…
 

„Willst du mit uns anstoßen?“, durchbrach Lucius die Stille.
 

Hermine kam zögernd näher und beäugte die Flasche in seiner Hand voller Misstrauen.
 

Rodolphus hob den Kopf und grinste, es war zumindest anzunehmen, wenn man seine Augen ansah. Sein Mund war durch all den Bart kaum auszumachen. „Kürbissaft. Wir sitzen hier und spülen unseren Frust mit Kürbissaft hinunter.“
 

Sie nickte, nahm wortlos die ihr von Lucius dargebotene Flasche und setzte sich neben Draco. „Und, wie ist es gelaufen?“
 

„Geht so“, murmelte Rodolphus und nahm einen Schluck Kürbissaft.
 

„Wir wurden nicht verurteilt, das war ja klar… Aber wir haben… nun… uns wurden Auflagen erteilt, mit denen wir unseren guten Willen demonstrieren sollen.“
 

„Was denn für Auflagen?“
 

„Vater und Rodolphus sollen wohltätige Arbeit leisten, sich sozial engagieren.“
 

Rodolphus lachte leise. „Wohltätig… das Wohltätigkeitszentrum, weißt du noch, Lucius?“
 

„Ja.“ Lucius‘ Mund verzog sich zu seinem dünnen Grinsen. Für einen kurzen Moment stahl sich ein Leuchten über sein Gesicht, nur kurz, und verblasste Sekunden später zu Nostalgie und Wehmut. „Ja… damit ist nun aber Schluss. Endgültig… er… Ihr-wisst-schon-wer ist weiter in Nurmengard und einige unserer Leute weiterhin in Askaban. Naja, sie können uns nicht alle einsperren. Es waren zu viele. Wer sollte denn dann noch arbeiten? Das halbe Ministerium wäre geräumt, wenn jeder nach Askaban oder Nurmengard käme, der mit den Todessern in Verbindung gestanden hat.“
 

„Fragt sich nur, was wir stattdessen machen. Nicht?“ Rodolphus seufzte. „Ich war, ja wie lang denn, vierzehn Jahre, glaube ich, in Askaban und danach… nun ja… da ist nicht wirklich viel übrig, was ich jetzt machen kann. Begnadigt hin oder her.“
 

Lucius nickte langsam, strich sich über sein Gesicht und seufzte. „Ich weiß auch nicht, ob ich jetzt… jetzt wieder zurück ins Ministerium kann. Die ganze Zeit war ich ja inoffiziell dort, aber… da haben sie mich ja auch gebraucht. Ich weiß nicht, ob ich nach dem Prozess überhaupt noch dort bin. Tja… das wird noch schwierig, falls nicht.“
 

Hermine schüttelte missbilligend den Kopf. „Sie kommen also schon wieder mit nichts davon.“ Sie seufzte und verdrehte die Augen, als Rodolphus und Lucius daraufhin nur gelassen mit den Achseln zuckten. „Und du?“, fragte sie Draco.
 

„Ich?“ Er richtete sich auf und wirkte über ihre Frage total überrascht. Beinahe so, als würde er sich wundern, dass er überhaupt zu diesem Thema befragt wurde. „Oh, ich… ähm… ich soll noch mindestens ein Jahr weiter in die Therapie gehen. Ein paar andere… die auch nicht volljährig waren, als sie angefangen haben, müssen das auch machen.“ Er verdrehte die Augen und verzog den Mund. „Ja… also vielleicht kann ich ja trotzdem die Schule fertig machen, sie haben nicht gesagt, dass ich weiterhin Vollzeit…“
 

„Jetzt bleibst du erst mal da!“, fuhr Lucius dazwischen. „Du hast im Moment keine andere Aufgabe, als diese Therapie ernst zu nehmen. Du wirst schon früh und lange genug arbeiten können.“

Hermine kannte die Diskussion schon. Draco hatte gehofft, dass er nach dem Prozess von seiner Therapie erlöst sein würde und endlich seinen Schulabschluss machen konnte. Es belastete ihn sehr, dass Hermine arbeitete und er nicht.
 

„Wo ist denn Narzissa?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln. Sie beugte sich leicht nach vorne und sah von rechts nach links, als erwarte sie, dass Dracos Mutter sich hier irgendwo hinter einem Sessel versteckt hatte.
 

„Oben“, murmelte Draco. „Sie wollte sich etwas ausruhen. War die ganze Zeit im Gerichtssaal, jetzt geht’s ihr nicht so gut.“
 

Hermine nickte. Das konnte sie sich vorstellen. Auch wenn Draco selbst nichts zu dem gesagt hatte, was er hatte tun müssen, so hatte Narzissa doch sicher einiges aus den Aussagen ihres Mannes und der anderen Zeugen herausfiltern können. Und wer wusste, was sie über ihren Mann, ihren Schwager oder ihre Schwester gehört hatte?
 

Dies war nur ein Prozesstag von vielen. Zumindest Draco würde nicht weiter vor Gericht erscheinen müssen. Angesichts seiner angeschlagenen Psyche war versucht worden, das Ganze so schnell wie möglich für ihn durchzuziehen. Und jetzt?
 

Wenn jetzt allgemein bekannt war, zumindest bekannt sein könnte, wie grausam die Todesser wirklich gewesen waren und dass es Opfer auf beiden Seiten des Kampfs gegeben hatte?
 

Entweder würden die Leute Draco jetzt wirklich so hassen, wie er es befürchtet hatte, oder sie würden damit aufhören. Was sein würde, musste die Zeit zeigen.
 

Xxx
 

Abends am gleichen Tag wurde Draco von Lucius in das Esszimmer des Manors entführt. Nun, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Genau genommen, würde es „mitgenommen“ eher treffen.

Draco hatte im Salon gesessen und gedankenverloren in den kalten Kamin gestarrt. In seinen Gedanken sah er das Feuer natürlich. Es loderte so heiß, dass Draco trotz des kühlen Raumes zu schwitzen meinte.

Verstört, nicht wirklich ansprechbar, bemerkte er Lucius erst, als der ihn am Arm packte und ihn auf die Füße zog. „Komm“, sagte sein Vater zu ihm. „Wir sollten reden…“
 

Draco verschränkte die Arme vor der Brust und starrte seinen Vater über den Rand seines Eisbechers hinweg missmutig an. „Ich bin kein fünfjähriges Kind, Vater. Du kannst mich nicht mit Himbeereis oder Spielsachen aufmuntern.“
 

Lucius verzog den Mund und hob eine Augenbraue. Ein mittlerweile recht vertrautes Anzeichen dafür, dass er eben doch der Meinung war, dass Draco sich wie ein Kind benahm und von diesem Umstand ziemlich genervt war. Statt einer entsprechenden Antwort schloss er die Augen und seufzte. „Glaub mir, Draco. Wenn ich könnte wie ich wollte, wäre das ein Tag, der wie geschaffen dafür wäre, mit meinem Sohn loszuziehen, um sich gemeinsam zu betrinken.“ Er öffnete die Augen wieder und ein Lächeln, halb ironisch, halb wehmütig, umspielte seine Lippen „Da wird das aber beide aus unseren eigenen Gründen nicht dürfen, müssen wir uns wohl hiermit begnügen.“ Er warf einen vielsagenden Blick auf Dracos Himbeereis mit Sahne und zog seinen eigenen Becher zu sich heran.
 

Allein aus Prinzip, weil alles andere viel zu freundlich für seine momentane Stimmung gewesen wäre, strafte Draco sein Lieblingseis aber weiterhin mit Nichtachtung. „Und wenn schon. Das ist mir egal, was wir tun sollten und was nicht. Dann lass uns doch was zu trinken besorgen. Heute halte ich dich bestimmt nicht auf.“
 

Lucius lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte seinen eben noch so enthusiastisch geschwungenen Löffel beiseite. Ein zutiefst begehrlicher Ausdruck trat in seine Augen. Ein Verlangen, das Draco allzu gut kannte und das ihm Angst machte. Lucius öffnete den Mund, atmete hörbar ein und hielt dann doch inne, sagte nicht, was ihm so überaus deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Er wollte trinken, hier und jetzt.
 

Draco war einen Herzschlag lang überzeugt, dass sein Vater aufstehen würde, um zu tun, was er tun wollte. Doch nur kurz währte dieser Moment. Einige Sekunden nur, dann entspannten sich Lucius‘ Züge wieder.

Er atmete tief durch und starrte durch Draco hindurch ins Leere. Sekunden später war wieder Leben in seinen Augen, seine eben verkrampfte Haltung lockerte sich. Er lehnte sich wieder nach vorne. „Nein, Draco.“ Er schüttelte den Kopf und holte erneut tief Luft, als sei der innere Kampf, den er eben mit sich selbst ausgetragen hatte, auch körperlich kräftezehrend gewesen. „Bitte, sag sowas nie wieder.“ Er hob seine Augen und bedachte Draco mit einem strengen, eindringlichen Blick. „Ich weiß nicht, ob ich noch einmal nein sagen kann, wenn du mich wieder auf den Gedanken bringen solltest. Du hast mir mit diesem einen Satz wahrscheinlich schon für eine weitere Nacht den Schlaf geraubt. Also“, seine Lippen verzogen sich zu einem nicht von Herzen kommenden Lächeln, als er den Löffel hob und damit locker gegen Dracos Eisbecher tippte, „belassen wir es bei Eis. Es ist besser so.“
 

Draco spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Er nickte ergeben und zog den Becher nun doch näher zu sich. Das Gefühl, das sein Inneres auch ohne Himbeereis gefrieren ließ, war Scham. Vielleicht sogar Reue. Um sich nicht die Blöße einer Entschuldigung geben zu müssen, begann er stattdessen gehorsam, seinen Löffel mit Himbeereis zu füllen. Ein stilles Eingeständnis in die Bedingungen des anderen. Süßsaures Himbeereis brannte zart auf seiner Zunge und schmolz, um ihm herrlich sanft die Speiseröhre hinunterzurutschen. Er bohrte seinen Löffel erneut in die eisigen, rosa Kugeln und lud noch ein wenig wolkenweißer Schlagsahne auf. „Denkst du, du wirst es schaffen?“, fragte er leise.
 

Sein Vater seufzte und zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht“, antwortete er gedehnt und fuhr etwas zögerlich, als wäre er sich selbst nicht sicher, was nun folgen sollte, fort: „Es ist nicht leicht. Ich war oft ganz knapp davor. Bei Geschäftsessen, Empfängen… Man bekommt ja immer etwas angeboten. Deine Mutter bewacht mich wie ein Auror, aber sie ist nicht immer da. Du weißt ja gar nicht, wie oft ich ganz knapp davor war… Und, nun, du hast meinen Ausrutscher ja mitbekommen. Seitdem kämpfe ich wieder jeden Tag mit mir. Es ist schwer, aber ich will durchhalten.“ Er zuckte mit den Achseln, hob den Kopf und bohrte seine eisgrauen Augen nun direkt in die Dracos. „Und wie ist es bei dir, wirst du es schaffen?“
 

Dracos Magen zog sich zusammen. Nicht wegen des kalten Himbeereises, das ihn zwar einerseits frösteln ließ, andererseits doch auch auf eine wunderbar vertraute Art innerlich wärmte, sondern wegen der brutalen Offenheit dieser Frage. Er saß hier, Lucius hatte ihn gefragt und er musste antworten. „ich bin nicht sicher. Manchmal ja, manchmal nein. Im Moment, also wirklich in dem Moment, wo ich hier sitze, da geht es.“ Er holte tief Luft, seufzte und beugte sich wieder über sein Eis, um wieder einen Löffel voll in den Mund zu schieben. „Meinst du die Pillen oder die Therapie?“
 

„Beides.“
 

„Hmm… ich denke nicht so oft an die Pillen. Eigentlich vermeide ich es… sie… naja… sie sind etwas, das für mich fast so eng wie das Dunkle Mal an meinem Arm mit den Todessern zu tun hat. Wir haben sie ja ständig genommen, als ich dort war. So gesehen… ich will sie nicht mehr nehmen, weil ich Angst davor habe, mich wieder wie ein Todesser zu fühlen.

Aber klar, irgendwas anderes… das geht mir schon im Kopf rum. Naja, aber da ich Dank euch so dauerbewacht bin…“, er sah auf und schenkte Lucius ein schwaches, doch warmherziges Lächeln, „da habe ich ja gar nicht die Gelegenheit dazu. Ist vielleicht auch ganz gut so.
 

Das andere, das ist schwieriger. An manchen Tagen“, er zuckte hilflos mit den Achseln und konzentrierte sich darauf, nur das Eis vor ihm und überhaupt nichts anderes zu sehen. „Also an manchen Tagen, da geht es. Da muss ich nicht ständig an diese Dinge denken und an diesen Tagen will ich eigentlich schon noch was vom Leben haben. Das sind aber die wenigsten Tage. Die meisten Tage schäme ich mich so sehr, dass ich am liebsten sterben würde.“ Draco schob einen weiteren Löffel voll Eis in den Mund, ließ sich den herrlich bittersüßen Geschmack einen Moment auf der Zunge zergehen und wirklich, es schmeckte ihm, als er schluckte. Er behielt das für sich, weil schwierig zu erklären gewesen wäre, aber noch vor einem halben Jahr hatte jedes Eis für ihn gleich geschmeckt und es war ihm nicht möglich gewesen, Speisen zu genießen.
 

„Naja, vielleicht wird es jetzt ja besser“, sagte Lucius in einem für Draco recht kläglichen Versuch, aufmunternd zu klingen. „Nun ist der Prozess für dich vorbei und…“
 

„…alle wissen, was ich bin!“ Er hob den Kopf und funkelte den betreten zur Seite sehenden Lucius herausfordernd an. „Bisher haben sie es ja alle nur geahnt, aber jetzt wissen sie, was die Todesser gemacht haben. Sicher, nun wird alles besser…“
 

„Sie wissen, dass du dazu gezwungen wurdest. Von Leuten wie mir!“
 

Draco hatte Lucius‘ ärgern wollen, herausfordern… wie so oft. Aber dass sein Vater nun so unbehaglich, ja, verschämt wirkte, beunruhigte ihn. „Ich… so hab ich das nicht gemeint.“
 

„Ich aber“, widersprach Lucius. „Und es ist wahr. Ich habe dir in unserem Haus beigebracht, andere Menschen umzubringen. Ich habe dich losgeschickt, um diese Dinge zu tun. Nun, ich war es nicht allein und ich habe ja auch auf die Anweisung eines anderen gehandelt, dennoch. Damit muss ich nun leben. Das ist meine Schuld dir gegenüber. Ich, wir… Mutter und ich, hätten viel früher etwas unternehmen sollen, um dich da rauszukriegen. Wir wussten aber nicht wie und… nun… uns hat zu diesem Zeitpunkt selbst die Energie dafür gefehlt. Das tut mir leid.“
 

Draco spürte, wie seine Wangen rot wurden. Verlegen senkte er den Blick auf den Tisch. Dass sein Vater sich bei ihm entschuldigte, dazu wollte ihm überhaupt nichts einfallen, was er hätte erwidern können, so nickte er nur und gab ein unbestimmtes „hmm“ von sich.
 

„Als wir das erste Mal darüber gesprochen haben, direkt nach Kriegsende, da… Draco, Kopf hoch! Setz dich gerade hin und sieh mich an! Nein, ganz hoch den Kopf… du sollst mir in die Augen sehen. Sitz nicht da, als wärst du ein kleines Kind, das was kaputt gemacht hat… so… als wir das erste Mal nach Kriegsende darüber gesprochen haben, warst du sehr wütend. Verstehst du nun, warum der Dunkle Lord nicht gut für uns war und wieso wir dich dort nicht haben wollten?“
 

Draco war mittlerweile sicher feuerrot, so heiß wie seine Wangen und seine Ohren waren. Seine Augen brannten, waren trocken, doch er hielt Lucius‘ Blick stand. „Natürlich. Ich… ähm… danke.“
 

„Wofür?“
 

Achselzucken. Draco beugte sich wieder über sein Eis, nahm den Löffel erneut in die Hand und stocherte in der weichen rosa Masse herum, die mittlerweile schon fast flüssig war. „Für… weil du mich da rausgeholt hast, obwohl ich es gar nicht wollte und auch für die Zeit danach und so. Du hattest es sicher auch nicht leicht und… hmm… ich denke, ich sollte dir irgendwie was dafür… geben.“
 

„Werde du wieder gesund, das reicht mir vollkommen.“
 

Draco nickte und wagte, den Kopf wieder zu heben. Er senkte ihn aber schnell wieder, denn wenn er sich nicht irrte, war Lucius selbst leicht rosa angelaufen. Sowas!

„Wieso?“, fragte er, nachdem er nach einer Weile sein Eis gemeinsam mit der Sahne zu einer dickflüssigen, aber leckeren Brühe verrührt hatte.
 

„Wieso was?“
 

„Wieso bist du dort überhaupt hingegangen. Ich meine… zu… ihm?“
 

Lucius gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „Merlin“, stöhnte er und Draco hörte, wie er seinen Löffel klappernd auf dem Tisch ablegte. Er hob den Kopf, um seinen Vater anzusehen, der sich gerade mit beiden Händen über das leicht glänzende Gesicht wischte. „Warum?“, wiederholte Lucius gedehntt, atmete schwer aus und setzte sich kerzengerade auf. Er schob sein halb leeren Eisbecher von sich weg – „Kann ich den haben?“ - „Von mir aus, Draco.“ - und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch.
 

So blieb er bestimmt eine Minute sitzen und beobachtete Draco, wie er sich über die zweite Portion Eis hermachte. Er schien zu überlegen. Draco sah, als er einmal kurz den Kopf hob und Lucius einen prüfenden Blick zuwarf, wie dieser sich nervös die Hände knetete und seine Augen grüblerisch nach oben verdrehte.
 

„Nun… ich… dein Großvater, mein Vater also, war kein Todesser, das weißt du?“
 

Draco nickte und dachte wehmütig an die Zeiten zurück, als seine Großeltern noch gelebt hatten. Wie viele Jahre war das her, dass die beiden an Drachenpocken gestorben waren? Sechs – sieben?
 

Lucius rieb sich nachdenklich über sein Kinn, sinnierte noch einen Moment über das, was er sagen wollte, dann setzte er sich wieder in die unnatürlich förmliche Haltung und begann: „Ich war… achtzehn oder neunzehn, als ich beigetreten bin. Ich hatte in meiner Schulzeit natürlich schon einiges über… ihn… gehört und wie du dir denken kannst, wurden seine Ziele in meiner Familie sehr begrüßt… Auch in der deiner Mutter… aber, sie haben sich nie aktiv beteiligen wollen. Also die Blacks nicht und meine Eltern ebenfalls nicht. Ich empfand das damals als feige und inkonsequent.

Er, der Dunkle Lord, hatte schon damals diese Aura unendlicher Macht an sich… noch dazu sah er gut aus und war ein brillanter Redner.
 

Er war ein paar Mal bei den Blacks, um dort über seine Ziele zu reden und zu uns kam er auch. Da waren immer viele Menschen, die ihm zuhören wollten… Mich hat das damals sehr beeindruckt. Wir wussten wenig über seine Herkunft aber das war er sagte, war einfach überwältigend. So klar, so mächtig und… logisch war das alles. Ich weiß nicht, wie es auf jemanden gewirkt hätte, der anders erzogen worden war als ich, aber ich fühlte mich danach dazu verpflichtet, meinen Beitrag zu leisten. Ich fühlte mich wie ein… Kreuzritter.
 

Jemand, der für eine heilige Sache kämpfen muss, um das, was wichtig ist, vor einem falschen Glauben zu schützen.

Ich war wütend und habe nicht verstanden, wieso meine Eltern das nicht viel deutlicher unterstützen wollten. Ich denke auch heute noch, dass sie bestimmt nicht aus Gewissensbissen heraus gezaudert haben… Sie hatten wohl eher Angst, dass das Ganze strafrechtliche Konsequenzen haben könnte, solange er nicht offiziell an der Macht war. Wäre er das gewesen, wären sie sofort als seine treuesten Anhänger aufgetreten.

Nun… aber ich wollte dabei sein, für die gerechte Sache kämpfen und… verstehst du, Draco, ich war damals noch sehr jung. Sicher, älter als du, dennoch aus heutiger Sicht ein halbes Kind und ich empfand mein Leben als langweilig. Ich war der einzige Erbe einer reichen, uralten, reinblütigen Familie, verlobt mit einer Frau vergleichbarer Herkunft und… alles war so einfach und… langweilig.
 

Bellatrix war älter und bereits offiziell Todesserin. Sie hat deine Mutter und mich ein paar Mal zu seinen Treffen mitgenommen und irgendwann wollte ich dabei sein. Ich wollte nicht nur rumsitzen, reden und nichts tun, sondern… ja... ich denke, ich war wie ein kleiner Junge, der ein Abenteuer erleben will. Und als es dann soweit war, als ich aufgenommen wurde, ich habe mich wie ein mutiger Ritter aus einem Märchen gefühlt, der seine Angebetete vor Unheil beschützt.
 

Es ging langsam los. Nicht wie bei dir. Ich wurde langsam vorbereitet. Zu Beginn bestand meine Aufgabe vor allem aus Spionage. Dann sollte ich diese Leute, die ich ausspioniert habe, stoppen, indem ich Gedächtnisse löschte, Imperius-Flüche aussprach, Gegenstände stahl oder… ja, der eine oder andere Fluch, um einzuschüchtern. Ich musste die Leute nicht einmal verletzen. Ich sollte nur irgendwas kaputt machen, damit sie Angst bekamen. Das ging eine ganze Weile so, dann ging ich zu den ersten, richtigen Einsätzen mit. Nach und nach war ich so wild darauf geworden, auch kämpfen zu dürfen, dass ich mich richtig gefreut habe.
 

Man hat mir solang davon vorgeschwärmt, wie abenteuerlich und ehrenhaft das alles sei, bis ich ganz wild darauf war, mitzumachen. Als ich dann angefangen habe bei… richtigen Einsätzen, also Kämpfen mitzumachen, war ich davon überzeugt, dass es richtig war. Zu Beginn waren wir oft in der Überzahl, später nicht unbedingt und… nun… man verliert die Hemmungen dabei und sieht die anderen nur noch als Gegner… Wenn du dann so einen Gegner wehrlos vor dir hast, ist dir alles andere auch egal. Im Gegensatz zu dir hatte ich wohl das Glück, wobei ich es heute eher das Unglück nennen würde, sehr langsam hineinzuwachsen. Alles ging so schonend und fließend ineinander über, dass ich nie wirklich darüber nachgedacht habe. Auch als der Dunkle Lord dann verschwunden war. Ja, sicher, ich habe gesagt, ich hätte damit nichts zu tun. Wer würde schon freiwillig ins Gefängnis gehen? Ich nicht und schließlich warst du noch ein Baby und deine Mutter hat mich auch gebraucht. Nein… aber… ich denke, wirklich über ihn nachgedacht habe ich erst, als ich dann selbst in Askaban war. Nun… da hatte ich ja auch Zeit.

So… das ist mein Todesserleben, nun bist du dran. Wieso musstest gegen den Willen deiner Mutter beitreten?“
 

Draco presste die Lippen zusammen. Er konnte nur hoffen, dass er nicht so rot war, wie seine glühenden Ohren vermuten ließen. „Weil ich dachte, du erwartest das von mir.“
 

Lucius gab ein krächzendes Geräusch von sich. Draco hob zögerlich den Kopf und stellte beschämt fest, dass sein Vater ihn entgeistert anstarrte. „Weil ich das von dir erwarte? Draco, du... du warst gerade mal sechzehn geworden.“
 

„Naja… aber… du warst ja weg und… Potter war dran schuld und Mutter… ähm… also ich hab gedacht, dass Mutter sich sicherer fühlt, wenn ich richtig kämpfen kann und dass du… ähm… naja… dass du stolz auf mich bist, wenn ich dich räche.“
 

Lucius schüttelte fassungslos den Kopf und verzog den Mund, als habe Draco gerade etwas ausgesprochen Dummes gesagt. „Draco, deine Mutter kann auf sich selbst aufpassen. Die fühlt sich nicht sicher, wenn ein halbes Kind allein gegen den Orden kämpfen will. Wie hast du dir das überhaupt gedacht? Und wieso denkst du, dass du mich rächen musst?“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, stöhnte und fuhr sich ächzend mit den Händen zuerst übers Gesicht und dann durch die Haare. „Und jetzt… ist dir wenigstens jetzt klar, dass das absoluter Unsinn war?“
 

Draco zuckte die Achseln und nickte gehorsam. „Ja, Vater.“
 

„Gut, dann lass uns zurückgehen, bevor ich dir noch sage, dass ich damals noch viel dümmer war als du, denn vermutlich hattest du mit deiner Annahme über mich viel mehr recht, als ich es heute wahrhaben will.“
 

Xxx
 

Draco rutschte etwas tiefer in den Sessel und betrachtete die Ohren des Hasen, mit dessen Ohren er spielte, nachdenklich. „Wissen Sie, an manchen, nein, eigentlich an den meisten Tagen, da fühle ich mich wie ein Außerirdischer.“
 

„So?“, fragte der Heiler und beugte sich soweit vor, dass er Dracos Kopf betasten konnte. Draco schrak unwillkürlich zurück, als der Heiler seinen Kopf berührte. „Schade“, sagte er und ließ sich mit einem enttäuschten Seufzen zurück in seinen Sessel gleiten. „Ich habe gar keine Antennen gefunden.“
 

Draco verzog das Gesicht wegen des dummen Witzes, rollte seinen Ärmel hoch und hielt dem Heiler das Dunkle Mal vor die Nase. „Sie gucken nicht richtig. Hier.“
 

„Natürlich.“ Der Heiler nickte verstehend, wirkte aber für Dracos Empfinden ein wenig genervt. „So“, begann er, nachdem er hörbar geschnaubt hatte, legte die Beine übereinander und legte die Hände locker im Schoß übereinander. „Sie sind ein Außerirdischer und tragen Ihre Antenne, also das, was Sie zum Außerirdischen macht und woran man Sie erkennt, auf Ihrem linken Unterarm…“
 

„Ja.“ Draco verdrehte die Augen über die nervtötende Angewohnheit des Heilers, jeden seiner Sätze einfach umzustellen und dann zu wiederholen.

„Also, es ist so“, begann Draco, zog den Hasen enger an seinen Bauch, „ich bin kein normaler Mensch mehr. Ich bin nicht mehr wie die“, er deutete mit seinem Finger auf das Fenster und der Heiler nickte, da er offensichtlich verstanden hatte, dass Draco jeden meinte, der sich außerhalb dieser Station befand.
 

Schwer atmend strich sich Draco eine imaginäre Strähne aus der Stirn. Er spürte, dass seine Finger leicht feucht waren, merkte, dass er zu zittern begann, schloss die Augen und atmete tief durch. Es ging, es war auszuhalten, er wurde besser darin, sich selbst zu beruhigen. „Worum es geht ist, dass… Ich habe Dinge erlebt und getan, die für den Stamm, auf meinem Heimatplaneten“, er ließ von Harvey ab, um mit den Händen Anführungszeichen nachzuahmen, „von dem ich komme, passend waren. Ähm… ja. Also, nicht jeder auf dem Planeten hat das gemacht und wir haben da auch nicht groß drüber geredet… aber innerhalb von meinem Stamm, da war das halt so, deswegen wurde es auch nicht weiter hinterfragt. Tja, es war halt so. Das was ich gemacht habe, das war auf diesem Planten halt so. Da hat das gepasst.“
 

Draco seufzte und verzog den Mund und schloss die Augen. „Aber mein Stamm wurde getötet und ich musste meinen Heimatplaneten verlassen. Einerseits freut mich das, denn dort will ich nicht mehr sein, andererseits bin ich nun gezwungen, an einem Ort zu sein, an dem mich niemand versteht. Es ist nicht einfach eine andere Sprache, die könnte man ja lernen, ich bin eher von innen heraus anders. Also, selbst wenn ich versuche, so zu sein wie die anderen, wird es trotzdem nie passen, weil ich nicht für diesen Ort geschaffen bin.“
 

Er zuckte mit den Achseln. „Ich kann mich vielleicht wirklich irgendwann in diese Gesellschaft hier integrieren, aber ich werde nie dazu gehören. Inklusion ist unmöglich. Es wird Dinge geben“, er grinste schief und hob seine „Antenne“ hoch, „die mich immer von den anderen trennen werden. Es ist nicht nur ein Zeichen, es steht für all das, was ich erlebt habe, das mich verändert hat. In mir ist ein Außerirdischer herangewachsen, hat den alten Draco aufgefressen und den neuen - Entschuldigung, Sir - ausgeschissen. Das bin ich, ein Haufen Außerirdischenscheiße der stinkt, fault und vielleicht mit viel gutem Willen irgendwo einen Platz finden wird, wo er nicht allzu sehr auffällt, aber da wird der Scheißhaufen immer noch stinken, verstehen Sie? Ich werde nie dazu gehören. Nicht, weil ich nicht will, nicht, weil die anderen nicht wollen, sondern weil ich einfach zu anders und von innen heraus zu verfault bin, um auf diesen Planeten zu passen.“
 

„Haben Sie es denn überhaupt versucht? Wann haben Sie denn im letzten Jahr irgendjemand außerhalb dieses Krankenhauses und des Manors die Chance gegeben, Sie nicht als Außerirdischen zu sehen?“
 

„Wie meinen Sie das?“
 

„Deutlicher. Haben Sie sich im letzten Jahr überhaupt mit irgendjemand unterhalten, der nicht auf dieser Station oder in Ihrem Zuhause ist?“
 

Draco schnaubte und verschränkte die Arme. „Worüber soll ich mich denn mit anderen unterhalten? Wie stellen Sie sich das überhaupt vor? Denken Sie wirklich, ich könnte einfach losgehen, mich irgendwohin setzen und ein unverfängliches Gespräch beginnen? Das wird toll!

Die Leute erzählen mir dann von Partys, ihren Jobs und ihren Urlauben und ich erzähle ihnen, wie ich mal mit den Todessern verreist bin. Zum Beispiel damals, als ich mit Marcellus in Russland war. Wir haben zuerst jeder eine Flasche Wodka gesoffen und dann drum gewettet, wer in der nächsten halben Stunde die meisten Leute erschießen kann. Ich hab gewonnen. Ja, jede Wette, da mache ich mir bestimmt Freunde, wenn ich das herum erzähle.

Danach unterhalten wir uns über Kochrezepte und dann erzähle ich, dass ich auch gut mit einem Messer handwerken kann. Vor allem wenn’s drum geht, Menschen zu erlegen. Sicher… das… das wollen die sicher hören. Das…“
 

Draco brach ab. Er hatte sich in immer schnellerem Tempo in Rage geredet und sich letztendlich vollkommen in dem Bericht verloren. Nun war er außer Atem und schwitzte. Der Heiler legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ruhig zu, wie Draco sich die Hände vor das nasse Gesicht legte. Der Film begann… Er stand inmitten einer russischen Zauberer-Einkaufsstraße, die Wodka-Flasche in der einen, die Pistole in einer anderen Hand. Jemand schrie…
 

„Draco!“
 

Der Druck auf der Schulter wurde stärker.
 

„Draco!“
 

Draco schwamm zwischen dem Flashback und dem Zimmer. Er hörte Schreie. Seine Hände waren feucht. Er nahm sie vom Gesicht und sah, dass sie feucht und rot von frischem Blut waren.
 

„Draco. Sie sind hier und hier ist alles ruhig. Draco!

Sie… entschuldigen Sie. Ich habe Sie vorhin nicht richtig verstanden. Was hat Ihre Mutter gestern getan?“
 

Draco schluckte, schwamm weiter, wiegte sich.
 

„Draco! Ich habe es vergessen, was hat Ihre Mutter gestern getan?“
 

„Sie…“ Kopfschmerzen, sie pochten in heftiger Beharrlichkeit von innen gegen seine Schläfen. Er schloss die Augen und versuchte, trotz des Wirrwarrs, das im Moment in seinem Geist herrschte, Gedanken zu formulieren. „Sie…“, seine Zunge war träge und schwer. Es war anstrengend, körperlich anstrengend und geistige Schwerstarbeit, diesen Satz zu sprechen. „Wir… wir haben zusammen ein Stück am Flügel gespielt.“
 

„Ah… sehr schön. Welches?“
 

Draco zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht genau. Hermine hat mir doch mal dieses Buch geschenkt… ich, ich weiß nicht von wem es ist. Es… es war ganz nett.“ Der Flashback war vorbei und Draco dachte daran, ob er sich nicht doch an den Namen des Komponisten erinnern könnte. „Die haben alle so komische Namen, wissen Sie? Die kann ich mir schwer merken.

Aber… nein, um zum Thema vorhin zurückzukommen. Mich versteht niemand. Wie auch, sowas kann keiner verstehen. Das will keiner verstehen. Ich verstehe es ja selbst nicht mehr und… egal wen ich jemals treffen werde. Entweder wissen sie es schon, oder sie werden es irgendwann herausfinden und dann? Das ist etwas, diese Zeit, die immer zwischen mir und den anderen stehen wird. Das… da kommt man einfach nicht dran vorbei.“
 

Der Heiler hatte von ihm abgelassen. Er saß wieder entspannt in seinem Sessel, die Hände auf dem Bauch gefaltet und den Kopf leicht zur Seite geneigt. Seine Miene war freundlich, einladend und aufmerksam. „Gibt es denn gar nichts anderes, das man über Sie sagen kann? Stellen Sie sich vor, dass Sie zufällig ein paar Schulfreunde treffen. Warum müssen Sie denn von der Todesserzeit erzählen? Sind Sie denn immer Todesser gewesen und war das wirklich alles, was Sie jemals getan haben? Sie sollten sich selbst die Chance geben, in sich mehr zu sehen als nur das.“
 

„Ja, sicher“, schnarrte Draco verärgert. „Natürlich… die werden sich um mich reißen. Hören Sie! Ich habe mitten in der großen Halle einen Mitschüler getötet… Und alle haben zugesehen. Ich… ich... zwei Lehrer. Und ich habe gefoltert und… ich…“, der Klang seiner Stimme wechselte von wütend zu verzweifelt. Er war immer noch laut, doch jetzt flehte er den Heiler regelrecht an. „Das wissen doch alle. Wie soll ich denn jemals wieder mit jemandem, der mich aus der Schule kennt, reden… Die haben das doch alle gesehen und jetzt der Prozess…“
 

„Dieselben Mitschüler, die seit der sechsten Klasse gesehen haben, wie es Ihnen von Woche zu Woche schlechter ging und rein gar nichts getan haben. Die Ihnen nicht geholfen und nicht beigestanden haben. Hören Sie… Ich sehe durchaus, dass das furchtbar schwer sein muss, sich nach allem passiert ist, diesen Menschen zu stellen. Aber was immer Sie auch getan haben. Sie sind nicht schuld!“
 

„Ja, ja…“ Draco zog die Knie an die Brust und umschlang sie. Harvey fest in seinen Händen. Diesen dämlichen Spruch hörte er seit Monaten und er hasste ihn zutiefst. Nicht schuld. Von wegen.
 

„Draco! Ja, Sie haben böse Dinge getan, aber Sie sind kein böser Mensch! Natürlich sind das Dinge, die zwischen Ihnen und den anderen stehen werden. Sie haben Dinge getan, die grausam sind und andere abstoßen, aber… Sie sind mehr als das.“
 

Draco schüttelte voll Abneigung und Ekel den Kopf. „Ich wünschte, ich wäre verurteilt worden. Dann wäre ich im Gefängnis und der Rest der Welt hätte seine Ruhe.“
 

„Im Gefängnis, wo Sie sich bis zum Ende Ihres Lebens vor den anderen Menschen verstecken könnten“, höhnte der Heiler mit deutlichem Spott in der Stimme. „Ja, das würde Ihnen gefallen. Sie könnten von morgens bis abends Ihrem Selbsthass frönen und jeder Anforderung, die man an Sie stellt, ausweichen. Nun, Sie sind aber nicht in Askaban und es ist keine Option, den Rest Ihres Lebens irgendwo alleine in einer dunklen Kammer, oder auch nur hier in der Klinik zu verbringen. Irgendwann müssen Sie wieder raus und Sie müssen mit anderen Leuten reden und Sie müssen sich allem stellen, was da draußen auf Sie warten mag. Das mag weder einfach noch angenehm sein, aber Sie müssen sich damit abfinden, dass Ihr Leben weitergeht und Sie irgendetwas damit anfangen müssen.“
 

Draco schniefte und der Heiler legte ihm ein Taschentuch auf den Boden. Als das zum ersten Mal geschehen war, hatte der Heiler es ihm direkt in die Hand geben wollen, doch Draco hatte es immer nur wütend weggeschlagen und war aus dem Raum gestürmt. Das war zu offensichtlich. Wenn es etwas abseits von ihm lag, wenn er selbst entscheiden konnte, ob und wann er es nahm, und ob der Heiler es sah, fiel es ihm leichter, sich helfen zu lassen.
 

Er schnäuzte sich und war ein wenig froh, dass der Heiler schon weitersprach und nicht auf Dracos Tränen einging. „Sie waren sehr jung. Sie sind doch immer noch sehr jung. Viel zu jung, um sich jetzt schon aufzugeben, weil Sie Angst vor der Welt da draußen haben. Es wurde in letzter Zeit viel über die Praktiken berichtet, mit denen man junge Leute wie Sie abgerichtet hat wie Hunde. Die Leute reden darüber… Viele können das Problem sehr differenziert sehen. Nicht alle, aber ich denke, es wird einige geben, die werden Ihnen eine Chance geben und nicht denken, dass das alles Ihre Schuld war.“
 

„Aber es ist eigentlich gar mal eine Frage der Schuld oder des Warums. Ich habe diese Dinge einfach getan und andere, also zum Beispiel…“ Draco kratzte sich am Kinn, überlegte einen Moment und deutete dann mit dem Finger auf den Heiler. „Sie! Sie nicht! Ganz egal warum, ich habe Menschen getötet, ich habe eine Frau verge… Sie wissen schon… Und diese Kinder… Sie nicht. Also ganz egal warum, es hat mich verändert und es ist in mir drin. In Ihnen nicht, deswegen bin ich anders. Vielleicht kann ich mich irgendwie anpassen und vieles verbergen, aber in mir drinnen, bin ich immer noch anders und alles, was ich tun kann ist, es nicht allzu deutlich zu zeigen. Ich werde nie wieder irgendwo dazugehören.“
 

Der Heiler stöhnte, warf sein Klemmbrett auf den Boden und sah Draco kopfschüttelnd an. „Sie sind aber auch ein harter Brocken! Ich denke der Rest der Menschheit könnte machen was er wollte, Sie würden denen immer noch keine Chance geben!“
 

Draco richtete sich auf und musterte den Heiler prüfend. „Wie meinen Sie das?“
 

Der Heiler atmete tief durch und Draco hatte das eigenartige Gefühl, dass er sich gerade große Mühe geben musste, nicht genervt zu klingen. „Ich meine, dass ich langsam das Gefühl habe, dass Sie sich selbst als Monster, oder von mir aus auch Außerirdischer, sehen wollen.“
 

Draco hob zum Protest an, doch der Heiler brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und erklärte weiter: „Es ist vielleicht eine Form der Selbstbestrafung, dass Sie in sich selbst nur das Allerschlechteste sehen. Aber, Draco, Sie sind doch nicht nur das. Sie sind ein intelligenter, gutaussehender, junger Mann, der durchaus sehr nett sein kann, wenn er will. Wenn Sie ständig nur an ihre Todesserzeit denken und davon reden, wie sollen dann andere in Ihnen mehr sehen? Sie haben Ihre Vergangenheit, das ist wahr. Aber Sie sind mehr als das und das sollten Sie sich selbst eingestehen. Auch im Umgang mit anderen.
 

Sie sind im Moment sehr auf sich selbst bezogen und quälen sich leidenschaftlich damit, sich immer wieder Ihre schlimmsten Taten vor Augen zu führen. Natürlich kann man so etwas nicht vergessen, natürlich hat Sie das alles geprägt aber, Draco, wenn Sie wieder gesund werden wollen, dann müssen Sie lernen, auch wieder an andere Dinge zu denken. Sie sind mehr als ein Todesser, viel mehr. Das ist nur ein ganz kleiner Teil, der zwar sehr mächtig wurde, aber noch nicht einmal von Ihnen selbst geschaffen wurde und Sie deswegen auch nicht als Mensch ausmacht.
 

Akzeptieren Sie, dass Sie gut sein können. Gestehen Sie sich zu, an etwas anderes zu denken als an diese Dinge.“
 

Der Heiler griff nach einem Stift, riss ein Stück Pergament ab und kritzelte ein paar Worte darauf. „So“, sagte er und überreichte Draco die Nachricht. „Lesen Sie!“
 

„Gutschein für einen Tag ohne Todessergedanken.“ Draco runzelte die Stirn. „Was soll das?“
 

„Das stecken Sie nun ein und halten sich daran. Ich erlaube Ihnen heute einen ganzen Tag lang nicht an Ihre Todesservergangenheit zu denken. Stattdessen werden Sie sich hinsetzen und mir fünf Dinge aufschreiben, die Sie gut können und danach werden Sie mir fünf gute Eigenschaften von sich aufschreiben. Das wird Ihre Hausaufgabe für heute sein.“
 

Draco stöhnte, was dem Heiler ein hinterhältiges Lächeln auf die Lippen zauberte. „Das ist mir schon klar, dass Sie lieber etwas anderes machen würden. Aber nein… ich denke, wir sollten Ihnen langsam dabei helfen festzustellen, dass Sie vielleicht doch vom gleichen Planeten wie die anderen Menschen stammen.“
 

Draco verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Sie kriegen Geld dafür, mir so etwas einzureden. Schon klar, aber sagen Sie mal, Sir, woran soll ich denn denken, wenn Sie mir die Todessererinnerungen verbieten wollen?“
 

Der Heiler schenkte Draco ein warmes Lächeln und tätschelte ihm kameradschaftlich das Knie. „Vielleicht zur Abwechslung mal an andere, statt immer nur an sich selbst.“
 

Xxx
 

Hermine und Draco waren gemeinsam in seinem Zimmer. Draco hatte einen Zauberstab, Hermines Zauberstab, um genau zu sein. Ihm selbst war es nach wie vor verboten, eine solche potentielle Waffe zu besitzen. Genau genommen war es ihm sogar verboten, einen Zauberstab ohne ausdrückliche Erlaubnis der Heiler auch nur anzufassen.
 

Trotzdem hatte er sie heute hingebungsvoll und hartnäckig angebettelt, sich ihren Stab ausleihen zu dürfen, als sie nach Hause gekommen war. Heute war Hermines Geburtstag und er hätte etwas für sie vorbereitet, dass er unbedingt mit Magie verfeinern müsste.
 

Sie hatte gezögert, doch da er ihres Erachtens schon die ganze Woche relativ ruhig gewesen war, war sie das Risiko eingegangen. Außerdem musste sie ihn bei Laune halten. Ihre Freunde wollten sie morgen zur Feier ihres zwanzigsten Geburtstages ausführen und das würde sicher so lange dauern, dass Hermine die Nacht entweder im Grimmauldplatz oder im Fuchsbau verbringen wollte. Und Draco hasste es ja schon, wenn sie nur für einige Stunden ohne ihn zu ihren Freunden ging…
 

Doch Hermine wollte gehen, unbedingt, denn wann Harry wieder die „Weasley-Genehmigung“ bekommen würde, zu einer Party zu gehen, war ungewiss. Bisher erlaubten sie ihm ja noch nicht einmal wieder arbeiten zu gehen. Insgesamt also war es ratsam, den Frieden nicht zu gefährden. So durfte Draco um sie herum schalten und walten, während Hermine mit Magengrummeln hoffte, keinen Fehler begangen zu haben.
 

„Darf ich gucken?“
 

„Nein!“
 

„Wann denn?“
 

„Gleich.“
 

Hermine brummelte verstimmt, obwohl sie das Ganze im Moment eigentlich recht lustig fand. Draco hatte ihr vorhin eine Augenbinde umgebunden und sie dann mit sich in sein Zimmer gezogen. Dort hatte er sie aufs Bett geschubst und seitdem saß sie hier und hörte gespannt zu, wie er im Raum herum rumorte und geheimnisvolle Sachen tat.
 

Etwas rumpelte, Draco fluchte leise und Hermine konnte nicht anders, sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, unter der Binde durch vielleicht doch ein wenig von dem zu erhaschen, was er da trieb.
 

„Nicht schummeln!“ Sie fuhr erschrocken zusammen, als sie auf einmal seine Hände an ihrem Gesicht spürte und atmete erst einen Moment später aus, als ihr klar wurde, dass er lediglich die Augenbinde zurecht zog. „Kleine Betrügerin“, raunte er verschwörerisch, küsste ihre Wange und entfernte sich wieder.
 

Hermine wandte sich grinsend in die Ecke, in der sie Draco vermutete: „Hey, heute ist mein Geburtstag. Ich bin schon Zwanzig und wenn du dich nicht beeilst, dann hast du hier eine alte Oma sitzen, bevor du fertig bist!“
 

„Na, bevor du Oma wirst, werden wir noch andere Dinge tun müssen als warten“, kam die lachende Antwort direkt vor ihr. Es zischte mehrere Male…
 

„Draco?“
 

„Warts ab… wird dir gefallen!“ Etwas raschelte, es klapperte wieder, dann begann das Bett unter Hermine zu wackeln. Draco war neben sie gesprungen. „Okay, ich zieh dir gleich die Binde weg. Du warst brav, du hast nichts gesehen?“
 

„Nein, nun mach schon endlich!“
 

Seine Hand an ihren Schläfen, ein kurzer Ruck und… es wurde Licht. Im ersten Moment sah Hermine gar nichts. Es war recht dunkel im Zimmer und ihre Augen brannten, weil Draco die Binde vorhin ein wenig zu fest gebunden hatte. Sie rieb sich die kratzenden Augen und ächzte, dann blinzelte sie angestrengt in den halbdunklen Raum hinein.
 

„Das ist….“ Sie verengte die Augen, rieb sich wieder darüber und spähte aufgeregt im Raum umher… „Wow!“
 

Draco stand vor ihr, grinste selbstgefällig und nickte bestätigend, offenbar vollkommen zufrieden mit sich. In seiner Hand hielt er Hermines Zauberstab. Draco hatte gezaubert, natürlich, das wusste sie. Doch dass er dadurch auch im wahrsten Sinne des Wortes „bezaubernd“ sein konnte, sie verzaubern konnte, hätte sie nicht erwartet.
 

Dennoch war „bezaubernd“ das einzige Wort, das ihr im Moment einfallen wollte.
 

Er hatte den Boden verzaubert, so dass sich nun statt dickem Teppich und Stein, saftiges Gras vor ihr erstreckte. Die Illusion war nicht perfekt, aber für Hermine perfekt genug. So war es vielleicht als Fehler anzusehen, dass zwischen den weißen Lilien, die am Boden wuchsen, Dracos Socken, Bücher und diverse Zeitschriften herumlagen, doch wen störte das?

Ja, sicher, die Wände waren trotz der Nachthimmelillusion und der beschworenen Bäume noch zu erkennen. Man sah, dass sie nicht wirklich nachts im Wald saßen. Aber was war das schon im Vergleich zu den hunderten von Glühwürmchenlichtern, die überall frei im Raum herum schwebten?
 

Kleine, weiße Lichtkügelchen, die den Anschein erweckten, als seien die Sterne vom Firmament gefallen und würden nun in dieser Waldlichtung um sie herum ihre Bahnen weiterziehen.
 

Hermine quiekte entzückt, als sie den künstlichen Mond bemerkte, den Draco apfelsinengroß, hell und klar über ihnen beschworen hatte.
 

Dort, wo Draco stand, hatte er eine Decke ausgebreitet, auf der auf feinstem Silbergeschirr allerhand Speisen drapiert waren. Da waren Teller mit Brot, Käse, kaltem Hähnchen, Obst, Schälchen mit Soße und allerlei andere Dinge, die sich für dieses Picknick im Zimmer eigneten.

In der Mitte des ganzen stand ein reichlich krummer, mit Schokoladensahne überzogener Kuchen, der von zwanzig Kerzen erleuchtet wurde. Jedenfalls schien es Hermine logisch, dass es zwanzig waren, den in seiner Mitte war mit heller Sahne eine unförmige Zwanzig platziert.
 

Und zwischen alledem stand Draco und strahlte mindestens zehnmal so eifrig wie der Mond über ihm und all die herunter geregneten Sterne zusammen. „Gefällt es dir?“
 

„Unfassbar!“ Hermine schüttelte den Kopf, trat vorsichtig in die Lichtung hinein und setzte sich dorthin, wo Draco zwei leere Teller und Kristallkelche hingestellt hatte.
 

Er kicherte wie ein kleiner Junge, hüpfte neben sie und deutete, noch mit ihrem Zauberstab in der Hand, auf den Kuchen in der Mitte. „Na, was sagst du?“
 

Hermine überlegte, wie sie galant formulieren könnte, dass sie den Hauselfen mehr zugetraut hätte, doch sie kam nicht dazu, diesen peinlichen Gedanken auszusprechen, denn schon kam ihr ein vor Stolz platzender Draco zuvor. „Den hab ich gemacht. Ganz alleine… Also heute Mittag in der Klinik... Ich muss doch… ähm…kochen. Ja… und da hab ich gesagt, also ich will nicht einfach kochen, ich will für meine Hermine einen Geburtstagskuchen machen.“
 

Hermine riss die Augen auf und starrte ihn an. „Du hast mir einen Kuchen gebacken?“
 

Draco wackelte selbstgefällig mit dem Kopf und grinste blöde. „Ja, klar… Probier mal!“ Er fuhr mit dem Finger über ein besonders unförmiges verstrichenes Stück Sahne und hielt ihr seine süße Beute vor den Mund. „Lutschen…“ Ein unanständiges Grinsen breitete sich auf seine Lippen aus. „Und du weißt, ich mag es, wenn du schluckst!“
 

Hermine hätte jetzt etwas Schnippisches, Eloquentes erwidere sollen, doch leider wurde ihr, kaum dass sie ihre Lippen geöffnet hatte, schon buchstäblich der Mund gestopft. Sie wollte ihn vorwurfsvoll ansehen, wirklich. Doch wie konnte sie, wenn er so stolz strahlte und seine Augenbrauen verzückt spielen ließ, als sie ihm tatsächlich den Finger ab…lutschte.
 

Befriedigt mit sich selbst, zog er seinen Finger wieder hinaus und setzte sich neben ihr bequem zurecht. „Na, was sagst du. Lecker, oder?“
 

„Stimmt… das schmeckt also… gut!“ Das musste sie leider gestehen. Die Sahne hatte… gut geschmeckt. Fein abgewogen, zart und schokoladig. „Seit wann kannst du eigentlich backen?“, setzte sie ein kleines bisschen verdrießlich hinzu. Deutlich genug, um Draco ein noch breiteres Grinsen auf die Lippen zu zaubern. „Ja, da staunst du wohl. Schon länger, mein Schatz…. Kochen ist ganz einfach. Wenn du Zaubertränke brauen kannst, kannst du das auch.“
 

Hermine verzog das Gesicht. „Ich kann nicht kochen.“
 

„Weiß ich.“
 

„Sag das nochmal und ich verpetze dich bei deinen Eltern.“
 

Draco lachte auf und winkte gelassen ab. „Als ob die dir glauben würden. Lass es gut sein, ich werde auch niemandem verraten, was für eine Niete du bist.“
 

Hermine seufzte. Natürlich, wann würde sich Draco je eine Gelegenheit entgehen lassen, um in irgendetwas besser zu sein als sie? Es ging ihm doch nur darum, wieder angeben zu können. Andererseits – sie fuhr mit den Fingern über einen anderen Sahneberg - gab es weit weniger schmackhafte Varianten, mit ihr zu konkurrieren.
 

Statt also Draco aufs Brot zu schmieren, dass sein Werk in Form und Aussehen noch verbesserungswürdig war, ließ sie sich von ihm Kuchen, Pasteten und Würstchen auf ihren Teller legen.
 

Eine Weile lang saßen sie so da, schweigend, essend und behaglich in der Erinnerung an ihr erstes Date im Wald versunken.

Wie lange war diese Nacht im Januar nun her, als er ihr dieses absolut lächerliche, nutzlose und wunderbare Telefonbuch geschenkt hatte? Fast zwei Jahre? Unfassbar... ebenso unfassbar, was seit dem alles passiert war und am aller unfassbarsten – so dumm dieses Wort auch war, in diesem Zusammenhang wäre kein anderes passender gewesen - dass sie ein Paar geworden und immer noch zusammen waren.
 

Danach, als Hermine ihr Geschenk ausgepackt hatte und fassungslos auf ihren ersten, eigenen Laptop starrte, verblasste sein bisher so sonniges Strahlen. Sie bemerkte es nicht sofort. Von Draco einen Laptop zu bekommen, war zu schockierend, um den unbehaglichen Gesichtsausdruck zu bemerken, mit dem er sie ansah.

Immerhin glaubte sie ihm jetzt, dass die Heftchen, die sie unter seinem Bett gefunden hatten, wirklich Elektro-Hefte waren und nicht etwa verwandelte Männermagazine. Er hatte sich informiert. Hermine unterdrückte ein allzu hingerissenes Lächeln. Er hatte sich heimlich mit diesen Heften ins Bad geschlichen um zumindest ansatzweise zu verstehen, was er ihr schenken könnte. Manchmal war er richtig süß…
 

Erst als sie das Gerät eine Weile betastet und begutachtet hatte, bemerkte sie, wie ernst er geworden war. „Was ist denn los? Machst du dir Sorgen, dass er im Manor nicht funktioniert?“
 

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf, schnaubte und presste die Lippen zusammen.
 

„Ach, das wird er auch. Ich habe Wege gefunden, um die Magie soweit bündeln zu können, dass ich immer wieder Löcher in Räumen finde, wo ich solche Elektrosachen bedienen kann.“ Und fröhlich nickte sie sich selbst zu, klappte den Laptop auf und klimperte munter auf der Tastatur herum. Einfach nur so zum Spaß, weil sie das nun konnte.
 

Draco sagte nichts dazu. Er hatte die Beine an die Brust gezogen, die Arme um die Knie geschlungen und soweit sich das im Licht der künstlichen Nachtsterne beurteilen ließ, war er recht blass um die Nase.
 

„Was ist denn?“ Sie legte den Laptop beiseite, beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ist was passiert? Geht’s dir nicht gut?“
 

„Doch, doch… aber dir geht’s nicht gut.“
 

Ihre Hand sank herab. Hermine legte den Kopf schief, setzte sich aufrecht vor ihn und runzelte die Stirn. „Wieso denn? Hast du…?“ Ihr Kopf ruckte in Richtung der ausgebreiteten Speisen und ihre Mundwinkel sanken nach unten, als sich ein flaues Gefühl in ihre Magen ausbereitete. „Hast du irgendwas in das Essen rein?“
 

„Ach, Quatsch.“ Er verdrehte genervt die Augen und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, atmete wieder tief durch und durchbohrte sie förmlich mit seinen Augen. „Erzähl mir von Weasley.“
 

Hermines Herz setzte einen Schlag aus. Sie sank langsam in sich zusammen und schlang die Arme um sich, denn sie fröstelte. „Wieso?“
 

Wieder seufzte Draco. Er streckte seinen Arm aus und sie glaubte, er wollte ihre Wange streichen, weshalb sie ihm ihren Kopf zudrehte, als seine Finger ihr Gesicht berührten. Doch statt dort zu verharren, fuhren seine Finger langsam über ihre Wangen, den Hals hinab, bis sie den Anhänger an ihrer Kette berührten. „Weil du das da immer noch trägst. Ich denke, er scheint dir immer noch sehr wichtig zu sein und ich… ich… naja…“ Er zuckte unglücklich mit den Schultern und atmete fast so schwer wie Hermine, deren Brustkorb sich bei der Erwähnung von Ron schmerzhaft zusammen presste. „Wir haben die letzten Monate immer nur von mir geredet, jetzt bist du dran. Wie geht es denn dir?“
 

„Wieso?“ Hermine schüttelte ungläubig den Kopf und starrte ihn fassungslos an. „Wie kommst du denn jetzt auf die Idee?“
 

Irrte sie sich, oder überzog da wirklich ein sanftes Rosa seine eben noch so blassen Wangen. Er grinste schief, atmete tief und fuhr sich mit der Hand durchs mondhelle Haar. „Ja, weißt du, sie haben mir im Krankenhaus gesagt, dass ich viel zu oft an mich denke und, ähm… was ich so erlebt habe. Sie denken, dass ich jetzt alt genug bin, um auch mal an andere zu denken und was die so erlebt haben.“
 

Er seufzte und rutschte ein wenig näher zu dir. „Ich will lernen, mich um andere zu kümmern. Deswegen frage ich. Wir haben jetzt die ganzen Monate immer nur über mich geredet. Ich schulde dir locker zwanzig Monate Zuhörzeit. Also, fang an!“ Und mit diesen Worten grinste er ihr ermutigend zu, setzte sich locker im Schneidersitz zurecht und nahm sich ein weiteres Stück des selbstgebackenen Überraschungskuchens.
 

Hermine fühlte sich in diesem Moment ebenso auf dem Präsentierteller, wie das von Draco gebackene Geschenk. „Tja…“, begann sie unbehaglich und erwog, einen drastischen Mirgäneanfall vorzutäuschen. Aber nein, das wäre wohl doch zu offensichtlich. „Ich… was meinst du denn?“
 

„Vermisst du ihn?“, fragte er und senkte den Kopf. Vermutlich, weil er ihre Antwort fürchtete und ihr Gesicht nicht sehen wollte, wenn sie einmal mehr sagte, dass er nicht mit Ron mithalten konnte.
 

Doch so einfach war das nicht. „Ich… ja. Immer… aber es ist schwer. Ich vermisse ihn, aber offen gesagt, denke ich nicht gerne über ihn nach.“
 

„Warum nicht?“
 

Hermine seufzte, biss sich auf die Lippen und schloss die Augen. „Ron ist… er war mein bester Freund und mein erster richtiger Freund. Ich war lange in ihn verliebt und… als wir dann zusammen waren, das war schön, aber jetzt ist er tot und ich lebe noch… wegen dir.“
 

Sie öffnete die Augen nur wenig, doch die Gefahr, seinem Blick begegnen zu müssen, bestand sowieso nicht. Er hatte den Kopf auf seinen Knien abgelegt und starrte mit leerem Blick ins Nichts.
 

„Und… diese Sache mit… Greyback. Das… das war das schlimm, aber… ich wollte doch nicht, dass Ron deswegen zum Mörder wird.“ Hermines Stimme erstarb, ihr Atem flatterte, ihr Körper schauderte und ein Gefühl breitete sich in ihr aus, als ob es im Zimmer gerade um einige Grad kälter geworden wäre. „Ich hätte ihm sagen sollen, dass er das nicht tun muss. Dass ich nicht will, dass er da mitmacht und dann…

Also, wenn er nie bei den Ordensleuten mitgemacht hätte, dann würde er vielleicht noch leben. Ich hätte es verhindern können. Ich hätte ihm nur sagen müssen…“
 

„Hättest du nicht“, wisperte er tonlos, ohne sie anzusehen. „Wir… ich.. er wurde nicht deswegen ausgesucht. Er war einfach nur da, das ist schon der Grund. Ich musste jemand aussuchen und er lag direkt vor mir. Er hatte einfach Pech und du… ich… du hattest Glück, weil ich dich morgens gesehen habe und dachte, dass ich dir was schulde. Du wusstest ja gar nichts und… ich… das hatte nichts mit dir zu tun.“
 

Etwas sehr Schweres, nahezu Erdrückendes legte sich ihr um den Brustkorb. Wie die Faust eines Riesen, die sie umschloss und sie mit zunehmender Kraft zusammenquetschte. „Ich… ich lebe noch und er nicht und ich denke manchmal…“ Sie brach ab und holte tief Luft für das Geständnis, das sie so lange in sich verborgen hatte, dass es jetzt, da es heraus musste, fast körperliche Schmerzen verursachte, als sie es aus ihren innersten Gedanken löste. „Ich fühle mich, als ob ich mir durch Rons Tod mein Überleben erkauft hätte. Ich weiß, es ist eigentlich… unlogisch, aber manchmal denke ich, dass es doch so etwas wie Schicksal gibt und dieses Schicksal wollte einen Toten haben. Ich bin entkommen, deshalb hat es sich Ron genommen…“
 

Draco schüttelte kaum merklich den Kopf. „Unsinn, da war weder Sinn noch Vorsehung dahinter.“
 

„Aber warum fühle ich mich dann so schuldig?“, flüsterte sie schwach. „So schuldig, dass ich in diesen zwei Jahren, die er nun fast tot ist, noch nicht einmal bei ihm war?“
 

Draco zuckte mit den Achseln, während seine Finger über das falsche Gras am Boden glitten, als würde er darauf ein unhörbares Klavierstück spielen. „Ich denke, du solltest hingehen. Zu ihm. Ich denke nicht, dass du Frieden mit dir selbst schließen kannst, wenn du nicht hingehst.“
 

Hermine seufzte schwer. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
 

Draco hob langsam den Kopf, bis sie sich wieder von seinen ernsten, graublauen Augen beobachtet fand. „Geh hin. Auch wenn’s schwer ist. Du brauchst das, glaub mir.“
 

Xxx
 

Kühler Wind wehte durch Hermines Haar. Strich über ihr Gesicht, ihre Kleidung, ihre zitternden Finger, die Bäume über ihr und sorgte dafür, dass das herbstrote Laub sich leise raschelnd von den trockenen Zweigen löste und stumm zu Boden schwebte.
 

Die Herbstsonne stand tief und tauchte den vorangeschrittenen Nachmittag in goldenes Licht, so dass der ganze Park hier von einem märchenhaften Licht durchflutet leuchtete. Dennoch war es kalt, Hermine fröstelte und schlang die Arme um sich.
 

Sie atmete tief durch, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Sie brauchte einen Moment des nicht Hinsehens. Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie, wie der Wind einige flauschig aussehende Wolken, die wie eine Herde wolliger Schafe am Himmel spielten, schnell über sie hinweg trieb. Ein erneuter Windstoß und ihr Haar wurde heftig nach hinten geblasen. Mit zitternden Fingern strich sie sich über den Nacken, zog die widerspenstige Mähne wieder zurück, weil Harry es sicher nicht mochte, wenn ihm ihre Locken übers Gesicht strichen. Sie war dankbar, dass er hier bei ihr war, nachdem er eine ganze Weile nach ihrer Aufräumaktion im Grimmauldplatz so gar nicht gut auf sie zu sprechen gewesen war.
 

Sie drehte sich um, warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Er lächelte dünn, als er bemerkte, dass sie ihn ansah. „Ist eigentlich ganz nett hier, nicht? Ich bin gerne hier… man kann gut nachdenken. Alles ist hier friedlich und still.“
 

Er seufzte und Hermine gluckste leise. Natürlich fand er es hier friedlich und still. Im Vergleich zum Fuchsbau würde sich wohl selbst eine überfüllte Bahnhofshalle still ausnehmen. Hermine war stolz auf Harry, dass er den pädagogischen Angriffen der Weasleys so tapfer standhielt.

Im Moment dachte er aber sicher nicht daran, dass weitere Haushaltsstunden auf ihn warteten, wenn er heimkam, sondern an den Grund ihres Hierseins. Seine Augen waren dunkel und ruhten schwer auf dem Punkt vor Hermine, den sie selbst nicht ansehen wollte.
 

„Wie oft bist du denn hier?“
 

Harry zuckte die Achseln und vergrub seine Hände in den Jackentaschen. „Molly und Arthur sind jede Woche hier und bringen Blumen, siehst du ja. Manchmal kommen Ginny, ich und ein paar der anderen mit. Aber nicht immer… Ich gehe aber gerne tagsüber hierher. Weißt du, wenn ich“, er grinste dünn, „fertiggeputzt hab und auf Ginny warte, dann komme ich her und setze mich auf eine Bank und… naja… manchmal nehme ich mir was zum Lesen mit. Wenn ich die Zeitung dabei habe, dann lese ich die Sportartikel immer laut vor. Manchmal gehe ich auch nur spazieren.“ Er nickte nachdrücklich. „Hier ist ein guter Platz zum Nachdenken…“
 

Hermine nickte gehorsam und drehte sich wieder um. Sie schauderte. Auch ihr drängten sich an diesem Ort Gedanken auf. Sie empfand das aber im Moment weder als gut noch als friedlich. Überwältigend, mächtig und grausam war es hier zu stehen und Rons Grab anzusehen.
 

„Ich wollte schon so oft herkommen“, hörte sie ihre eigene, zittrige Stimme wie von weither. Sie schniefte. Weinte sie etwa? Vermutlich, denn Harry nickte und reichte ihr ein Taschentuch.

Hermine nahm es kommentarlos entgegen. Sie putzte ihre Nase. Als sie dabei merkte, dass ihre Wangen nass waren, wischte sie mit der flachen Handfläche über ihre Augen. Sicher weinte sie, warum merkte sie es dann nicht?
 

„Ich konnte es einfach nicht, weißt du? Ich hatte solche Angst davor, hier zu stehen, denn…“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern und schluchzte: „Jetzt ist er richtig tot. Jetzt kann ich mir nichts anderes mehr einreden…“ Hermine schluchzte erneut. Sie war Harry dankbar, dass er einen Schritt näher kam und seinen Arm um sie legte.
 

Ihre Sicht verschwamm und wieder wischte sie sich die Tränen aus ihren Augen. Als sie Harrys Kinn an ihrer Wange spürte, begann sie haltlos zu schluchzen. Aber vielleicht hatte sie das schon die ganze Zeit getan…
 

Sie war hier bei Ron. Sie nah war sie ihm nicht mehr gewesen seit sie seine Leiche auf der Krankenstation gesehen hatte. Genau zwei Jahre war das nun her, denn auch heute Nacht war Halloween. Es war kein Film, der vor ihren Augen aufflackerte. Nur Bilder, die sich in Sekundenabständen blitzlichtartig vor ihre Augen drängten:
 

Draco, der damals noch Malfoy für sie gewesen war, der sich mit Pansy Parkinson stritt. Ron, der sie wegzog, als Draco über sie stolperte. Draco, der sie gegen die Tür presste, der kurz danach wimmernd am Boden lag, als ihr Cruciatus-Fluch ihn getroffen hatte. Ron, der noch einmal nachtrat und Hermine dann festhielt. Ron, der sie beim Abschied umarmte und dann… einfach ging.

Sie hatte ihn gehen lassen. Sie hatte sich von Draco außer Gefahr bringen lassen und hatte zugelassen, dass Ron genau dorthin ging. Zur Gefahr, die ihn das Leben gekostet hatte.
 

Nachdem er vorher mit Harry losgezogen war, um Theodor Notts Vater zu töten. Und… heiße Schokolade in ihrer Tasse, Neville, am Ende der Treppe. Nevilles Gesicht als er sagte, dass etwas passiert war und… Ron.
 

Ron, Ron, Ron… der tot und kalt auf einer Bahre in der Krankenstation lag. Ein weißes Tuch über seinem Gesicht, wie bei den neun anderen Gespenstern. Seine Haut war grau, aber heil gewesen. Seine zerrissene Kleidung blutdurchtränkt. Der Geruch… Rons Geruch…
 

Hermines Knie gaben nach. Sie knickte ein und sank zu Boden.

Langsam und kraftlos sank sie nach vorne, bis sie mit ausgebreiteten Armen über dem Grab lag. Hier lag er, und ihre Hände strichen über das Gras, als könnte sie die Leiche, die darunter war, dadurch selbst streicheln. Als könnte sie ihn noch einmal halten, noch einmal fühlen, schmecken, riechen…
 

„Hermine.“ Harry beugte sich zu ihr, packte sie an den Schultern und versuchte sie hochzuziehen, doch Hermine wehrte sich. Er verstand das nicht, er verstand nicht, dass das alles war, was sie tun konnte. Dass sie Ron in diesem Leben nie wieder näher sein könnte, als ihn zwei Meter tief unter sich zu wissen.

Oder das, was von ihm übrig war. „Geh weg“, schluchzte sie. „Lass mich allein.“
 

Aber Harry gehorchte einfach nicht. Er strich ihr über den Rücken, machte einen erneuten Versuch, sie hochzuziehen und murmelte: „Komm schon, steh wieder auf. Du wirst ja ganz dreckig.“
 

„Das ist mir egal, lass uns alleine!“
 

Uns? Ja uns… sie und Ron waren uns. Noch ein einziges Mal musste sie ihn hier halten, und mit ihm „uns“ sein. Ob Harry das nun verstand oder nicht. Aber das würde ihn nicht vertreiben, sowas verstand Harry nicht. So drückte sie sich wieder hoch auf die Knie und drückte ihn sanft von sich weg, als er sie in seine Arme schließen wollte. „Geh spazieren… lass mich eine halbe Stunde alleine. Dann können wir gehen… aber gib mir eine halbe Stunde alleine mit Ron.“
 

Harry zog die Augenbrauen hoch. Seine Augen schienen zu sagen: „Du und Ron? Ich soll dich mit welkem Laub und Gras alleine lassen?“ Hermine verzog den Mund und flehte ihn stumm mit ihren Augen um Verständnis an. Es schien ihm nicht wohl dabei zu sein, doch er nickte, strich ihr beim Aufstehen noch einmal über den Rücken und ging.
 

Hermine selbst sank erneut auf den Boden nieder, als würde sie sich in ein Bett legen. Sie weinte nicht mehr, oder kaum noch. Stumme Tränen rannen hier und da aus ihren Augen und fielen auf die Friedhofserde. Ihre Finger liebkosten den Boden und ihr ganzer Körper schmiegte sich an die Erde unter ihr. Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte, sich Rons Geruch zu vergegenwärtigen, um einen friedvollen Moment zu haben, in dem sie sich vorstellen konnte, dass sie ihr nicht auf seinem Grab, sondern dass sie gemeinsam auf den Ländereien Hogwarts waren und sie ihn halten konnte. Noch einmal… ganz bei ihm sein.
 

Sie hatte sich so lange vor dieser Intensität seiner Gegenwart gefürchtet. Zuerst hatte sie nicht hier hergehen wollen, weil sie seinen Tod einfach nicht wahrhaben wollte. Es war so, wie sie Harry gesagt hatte. Solange sie sein Grab nicht sah, konnte sie sich selbst belügen. Sie hatte es nicht einmal geschafft, zu seiner Beerdigung zu gehen. Sie hatte auch bei allen anderen Beerdigungen gefehlt, zum Beispiel bei der von Charly, der im Nachbargrab lag… aber dass sie zu Rons Beerdigung nicht gegangen war, dafür schämte sie sich.

Lange Zeit hatte sie gedacht, dass die Weasleys sie dafür hassen würden. Aber vielleicht verstanden sie sie doch besser, als Hermine gedacht hatte. Niemand hatte ihr das je vorgeworfen.

Obwohl Ginny und Harry immer wieder gefragt hatten, ob sie nicht mit hierher kommen wollte. Nein, wollte sie nicht, sie hatte immer abgelehnt. Nach Silvester hatte es dafür einen anderen Grund gegeben.

Draco… Stück für Stück hatte sie Ron mehr und mehr betrogen. Seit Malfoy zu Draco geworden war, schämte sie sich entsetzlich.
 

Vor Ron.
 

Das würde sicher niemand verstehen und deswegen hatte sie es auch niemandem gesagt, aber ihrer Meinung nach war es so, als ob sie die letzten zweiundzwanzig Monate mit Draco fremdgegangen wäre. Seit sie ihn in dieser Silvesternacht getroffen hatte, nagte das schlechte Gewissen pausenlos an ihr, dass es verboten war, einem anderen Mann nahe zu kommen, denn sie hatte ja schon einen Freund.
 

Ron… das war die Beziehung, an der sie festgehalten hatte.
 

Und jetzt war er tot. Hier zu liegen und ihn zu streicheln war wie Abschied nehmen. Als ob sie ihn jetzt verlieren würde… und da sollte Harry nicht dabei sein.
 

Nach einer Weile drückte sie sich wieder hoch, setzt sich auf ihre Unterschenkel und legte eine Hand auf den Grabstein. Sanft strich sie darüber und stellte sich vor, wie sie ihre Finger stattdessen über feuerrotes Haar gleiten ließ. „Hallo, Ron“, murmelte sie schwach und beugte sich vor, um ihre Stirn gegen den vor ihr aufragenden Grabstein zu legen, als würde sie sich an seine Schulter anlehnen. „Tut mir leid, dass du so lange auf mich warten musstest.“
 

Egal wie albern oder verrückt sie aussah – als sie sich wieder aufrecht hinsetzte, sah sie Harry, der etwa fünfzig Meter weiter weg stand und sie sehr besorgt ansah, bevor er sich umdrehte und weiterging - sie brauchte dieses Treffen mit Ron, um sich mit ihm auszusprechen.
 

„Weißt du, ich weiß, ich hätte früher kommen sollen, aber ich… ich konnte einfach nicht. Nicht, weil ich nicht an dich gedacht hätte. Nein, nein. Guck mal!“ Sie griff unter ihre Jacke, fischte ihre Kette heraus und zog sie über ihren Kopf. „Siehst du den Ring? Das ist ein Bild von dir, ich habe es verwandelt und das trage ich immer mit mir herum. Ich denke immer an dich, siehst du? Jeden Tag… es vergeht kein Tag, eigentlich keine Stunde, wo ich mir nicht wünschen würde, dass ich zu dir gehen und mit dir sprechen könnte. Aber, ich hab es einfach nicht über mich gebracht.
 

Ich hab viel geweint, weil du mir so schrecklich fehlst, immer noch. Ich meine, wir waren immer zusammen. Weißt du noch, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben und du ganz dreckig im Gesicht warst? Ich habe es dir gesagt und du warst beleidigt. Ich glaube, unser Anfang war nicht so gut. Aber… ich war ganz neu da und auch wenn ich es nicht so gerne zugebe, ich glaube, ich bin manchmal ungeschickt, wenn ich Leute kennenlerne. Ich bin schüchtern und verstecke mich hinter meinen Büchern und tue ganz erwachsen, weil ich so fürchte, dass man mich sonst für dumm und kindisch hält.
 

Und du warst auch ganz schön genervt von mir am Anfang, trotzdem hast du mir bei diesem Troll geholfen. Du und Harry, ihr wart da und… seitdem habt ihr mich nie wieder alleine gelassen. Ron, ich weiß nicht, ob ich dir das so deutlich gesagt habe, aber du warst der beste und treueste Freund, den ich je hatte. Ich… ich weiß nicht, wann es mehr wurde. Vielleicht schon, als du in diesem magischen Schachspiel verletzt wurdest, Harry alleine weiterging und wir beieinander blieben… wie so oft, oder erst, als ich dich mit Lavender gesehen hatte. Nein, früher, viel früher… Du warst mir schon immer lieb und geliebt habe ich dich wohl auch schon immer. Aber gemerkt habe ich es erst da. Ich bin manchmal etwas langsam in diesen Dingen. Gefühle machen mir Angst, weil ich sie nicht kontrollieren und planen kann, so wie alles andere.
 

Du warst mir ein guter Freund, Ron. Wirklich… ich war gerne deine Freundin und ich war sehr glücklich, als wir endlich fest zusammen waren. Ich wollte immer nur dich. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, an einen anderen auch nur zu denken. Du musst dir keine Sorgen machen wegen Viktor Krumm oder gar wegen Lockhart… die waren… ach, du hast Fleur doch auch gerne angekuckt. Oder Madam Rosmerta. Aber mehr war da nicht, glaub mir. Ich habe geschwärmt, aber haben wollte ich nur dich.

Auch, wenn du mich ganz schön hast zappeln lassen. Vielleicht hab ich Viktor nur deshalb geküsst, damit du eifersüchtig wirst und endlich mal einen Schritt auf mich zugehst. Ich wollte immer alles kontrollieren, das weißt du ja. Tut mir leid, dass ich auch dich kontrollieren wollte…
 

Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ich dich allein gelassen habe. Damals, nach… nach Greyback. Das war… ich war nicht ich selbst. Ich war verängstigt und durcheinander… ich weiß, ich hätte mich mehr darum kümmern sollen, wie es euch allen geht. Die ganze Zeit… aber irgendwo hab selbst ich Grenzen. Ron, ich weiß, dass ich mich von euch distanziert habe, als diese Sache mit dem Streichholzziehen losging. Ich konnte damit nicht umgehen… Ich hätte… ich hätte dir sagen soll, dass ich das nicht will. Ich hätte es dir verbieten sollen, das weiß ich heute. Du hättest da nicht mitmachen sollen. Das war gefährlich und nicht gut für dich. Ich habe doch gesehen, wie schwer dir das fiel und wie du dich mehr und mehr in dich zurückgezogen hast und so kalt gewirkt hast.
 

Ich weiß doch, dass du das nur gemacht hast, weil du dachtest, dass ich das von dir erwarte. Aber verängstigt und einsam waren wir alle… deswegen konnte ich dir nicht helfen. Das tut mir leid, ich wollte mich entschuldigen, dass ich nicht für dich da war. Ich weiß nicht, ob ich hätte etwas ändern können… aber… ich hätte es gerne versucht.
 

Und nun bist du tot. Einfach so, warst du auf einmal tot und ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Seit zwei Jahren versuch ich es zu verstehen und ich kann es immer noch nicht. Wie kann das sein, dass man stirbt, obwohl man erst siebzehn ist? Du, du warst doch noch so jung und so… lieb und fröhlich und lustig. Du solltest nicht tot sein, du solltest nicht sterben. Und, immer frage ich mich, wieso ich es nicht verhindert habe.

Du denkst jetzt, das hätte ich eh nicht gekonnt. Das ist aber nicht ganz richtig. Nicht wenn du wüsstest, was ich weiß. Vielleicht hätte ich es gekonnt. Aber... nein, wohl eher nicht. Dennoch ist es kein Zufall, dass ich noch lebe und du nicht.
 

Das ist das Schlimmste. Das Wissen, dass es kein Zufall war, dass ich in Sicherheit war, während man dich… deswegen wollte ich auch nicht herkommen. Ich habe mich vor dir geschämt, noch am Leben zu sein. Der Grund ist… Ron, ich schäme mich ganz entsetzlich dafür, glaub mir, ich wollte es nicht… aber, man hat mir geholfen. Ich wusste das damals nicht. Hätte ich es gewusst, nie im Leben hätte ich dich gehen lassen. Niemals hätte ich euch dort alleine gelassen, wenn ich auch nur ansatzweise geahnt hätte…
 

Ich kann dir nicht sagen, wer mir geholfen hat, noch nicht. Gib mir Zeit! Ich komme dich wieder besuchen, ein andermal…. Dann sag ich es dir. Du musst mir nun glauben, dass ich dir immer treu sein wollte, dass ich nie einen anderen wollte als dich... und dass ich deswegen leide und mich schäme… aber… ich… ich bin mit jemandem zusammen. Der, der mir damals geholfen hat.
 

Nein! Damals ging das noch nicht. Ich war dir treu… es war… ganz anders. Er wollte mir nur helfen und... nein. Da war noch nichts, das kam alles erst später. Es war keine Absicht, aber irgendwie… irgendwie kamen ich und er… uns näher. Ich wollte das nicht! Glaub mir, ich habe ihm nichts versprochen und es war zu Anfang ja eh nur Mitleid. Ich wollte ihn nicht, ich hatte nur Mitleid.

Ich wollte immer nur dich… aber du warst nicht mehr da.
 

Was hätte ich denn machen sollen? Hast du auch nur ansatzweise eine Ahnung, wie einsam ich war? Wie einsam und traurig und… ihr wart alle so anders. So fremd und… unheimlich. Ihr habt mir Angst gemacht und er war da und wollte mit mir zusammen sein. Wenn ich mich um den gekümmert habe, dann war ich abgelenkt von meiner Traurigkeit.
 

Du musst mir das glauben, ich wollte nicht fremdgehen. So kommt es mir vor, jeden Tag, jede Stunde und jede Minute, in der ich mit ihm zusammen bin, habe ich das Gefühl, etwas ganz Schlimmes zu tun, weil ich dich betrüge. Wirklich… aber… er war einfach da und ist nicht mehr weggegangen. Und dabei habe ich mir wirklich alle Mühe gegeben, ihn zu vergraulen. Ich war manchmal richtig gemein und eklig zu ihm, hab ihn vor den Kopf gestoßen und ihm gesagt, dass er nie an dich heranreichen wird. Aber… jetzt ist er immer noch da, oder ich bei ihm. Wie man‘s nimmt und eigentlich - deswegen kann ich dir darüber auch nicht mehr sagen - will ich, dass es so bleibt.
 

Ich… siehst du den Anhänger? Sieh nochmal her... den wollte ich schon eine ganze Weile lang zurück in ein Bild verwandeln und das aufstellen, aber… ich glaube, ich ziehe ihn nochmal an.
 

Ich bin noch nicht bereit, dich loszulassen. Aber… das kommt vielleicht noch. Ich bin aber hier, um dir zu sagen, dass ich dich geliebt habe. Wirklich und dass ich nicht wollte, dass du stirbst. Es tut mir leid, dass ich… ich weiß nicht. Dass ich noch lebe, dass ich in Sicherheit war, dass wir nicht offener reden konnten, dass ich dich nicht zurückgehalten habe und dass ich immer noch keine Ahnung von Quidditch habe. So… ich glaube das war’s. Ich gehe jetzt wieder.
 

Ich komme dich wieder besuchen… aber… Ron, du darfst nicht mehr so übermächtig sein. Du liegst jetzt da rum, bist tot und hast deine Ruhe. Oder wo immer du auch bist, das geht einfach nicht, dass du von dort aus immer noch mein Leben bestimmst. Es ist nun mal so, das musst du doch einsehen. Du bist tot und ich lebe noch. Und… ich habe jetzt einen anderen Freund und ich will dich wirklich nicht vergessen, aber jetzt bin ich eben mit ihm zusammen… weil… weil mit uns geht das nicht mehr. Bitte sei mir nicht böse, aber du musst akzeptieren, dass er jetzt mein Freund ist. Das nächste Mal erzähle ich dir, wer es ist… Oder beim übernächsten Mal. Da muss ich einiges dazu erklären, dazu habe ich jetzt aber keine Zeit mehr. Harry wartet.“ Egal was eventuelle Passanten von ihr halten würden, sie beugte sich vor, drückte ihre Lippen auf die steinernen Lettern, die im Grabstein eingraviert waren und küsste sie. „Bis dann, Ron. Ich komme wieder und nicht erst in zwei Jahren.“
 

Sie verweilte noch einen Moment in dieser Position: knieend vor Rons Grab, eine Hand auf dem Grabstein, während sie in die Vergangenheit versank. Die Finger ihrer freien Hand zeichneten seinen Namen in der Gravur nach. Ronald Billius Weasley… was für ein Name.
 

Er war so jung gestorben, siebzehn. Wenn er jetzt wiederkäme, wäre sie drei Jahre älter als er. Ein seltsames Gefühl, ihn überlebt zu haben. Älter und erwachsen zu werden, während er in aller Ewigkeit ein Teenager bleiben würde.
 

Ein letztes Mal noch legte sie ihre Hand zum Abschied auf die Erde, dann erhob sie sich und ging zu Harry, der ein paar Meter entfernt bereits auf sie wartete. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Omama63
2012-07-10T11:37:56+00:00 10.07.2012 13:37
Super Kapitel.
Ich weiß garnicht was ich schreiben soll. Die zweite hälfte von diesem Kapitel war so traurig, dass ich weinen musste.
Hoffentlich kann Hermine jetzt loslassen.


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