1. Kapitel - Erinnern
Es war ein milder Morgen.
Es hatte schon lange aufgehört zu schneien und am Himmel zeigten sich immer wieder Flecken von reinem Blau, durch die die Sonne drang und sanftes Licht auf die kalte Erde warf. Die Lichtstrahlen verfingen sich im Schnee, brachen sich in den Eiszapfen, ließen alles glitzern.
Es lag ein Frieden in der Luft, den es nur selten zu geben schien. Die Tiere hörte man im kahlen Unterholz rumoren und ab und an konnte man auch einen Blick auf sie werfen. Leise Vogelrufe waren zu hören, erfüllten den Wald mit einer melodischen Art des Lebens.
Mit jedem Tritt, den er tat, konnte er den Schnee unter seinen Pfoten knirschen hören. Er fühlte sich kühl an, angenehm. Es gab ihm das Gefühl von Freiheit.
Freiheit … Ein Wort, wie jedes andere und alle hatten sie ihre Bedeutung verloren.
Der Wolf blieb stehen, mitten zwischen den Bäumen und reckte seine Nase in die Luft.
Er konnte sie riechen. Die Menschen. Sie kamen hier her um zu Jagen. Doch sie interessierten ihn nicht. Nein, dass war nicht richtig. Einer von ihnen interessierte ihn. Der Menschen, dessen Namen er nicht mehr wusste. Er hatte ihn vergessen, wie alle anderen auch.
Aber das Bild des Jungen, es hing so klar wie nichts anderes in seinem Geist.
Bilder ... Sie waren wichtig, nur sie.
Er reckte seine Nase noch weiter hoch, in den Wind, um auch nur den kleinsten Geruch einzufangen.
Er wollte ihn riechen. Unbedingt.
Der Junge war es, der ihn nicht ganz vergessen ließ. Wieder das Bild des Orangehaarigen.
Der Wolf gab ein Wimmern von sich.
Früher hatte er sich damit abgefunden, was er war. Er hatte immer mehr vergessen, fast sich selbst und dass was und wer er war. Aber der Junge, er hatte ihn zurück geholt. Er hatte ihn erinnern lassen. Er war auch so gewesen.
Ein Mensch …
Doch nun, der Wolf in ihm war so stark geworden. Der Drang nach Freiheit … Ein Menschenleben passte da nicht hinein.
Seine Rute zuckte, als er etwas witterte. Er war es und der Geruch war stark. Der Mensch konnte nicht weit sein.
Langsam setzte er sich in Bewegung, schlich weiter. Er durfte nicht entdeckt werden.
Die Menschen waren ihre Feinde. Sie töteten sie aus Angst und weil sie ihr Vieh rissen, wenn es nicht genug Nahrung für das Rudel gab.
Er selbst hatte keine Angst vor ihnen. Ein kleiner Teil seines Selbst war wie sie, sehnte sich nach ihnen, suchte ihre Nähe. Ein Teil von ihm glaubte sogar vielleicht noch daran, dass sie erkennen würden was er war, wenn sie nur genau hinsehen würden. Doch ein viel Größerer wusste, dass dem nicht so sein würde. Menschen waren engstirnig und zu verbohrt um ihren Geist für mehr zu öffnen, für Dinge die sie nicht erklären konnten. Sie waren ängstlich.
Er tapste weiter durch den tiefen Schnee, als ein Geräusch ihn wieder innehalten ließ. Er wandte seinen Kopf, als er den weißen Wolf auf sich zukommen sah. Er wartete, als dieser vollkommen die Ruhe selbst, auf ihn zukam.
Nichts hatte den anderen verraten, kein Bild, welches dieser ihm gesendet hatte, kein Laut den er von sich gegeben hat, nichts.
Er suchte in seinem Geist den Namen des Anderen. Der Weiße war noch nicht lange bei ihnen. Vor etwas mehr als einem Jahr war er zu ihnen gestoßen, abgemagert und dem Tod gewidmet, hätte das Rudel ihn nicht aufgenommen.
Yuriy … Ja, so hieß er.
Yuriy, der noch an die Jahreszeiten gebunden war. Der Junge, der im Sommer wieder der Mensch sein würde, der er vor dem Biss gewesen war, der ihn in das verwandelte, was er nun war.
Er nahm den Kopf hoch und wartete geduldig, bis der Weiße neben ihm stand und ihm nur mit einem leisen Laut begrüßte. Yuriy war größer als er selbst, breiter und weniger elegant wie er. Doch das zeugte nur von seiner Kraft, die in dem weißen Wolf steckte.
Schließlich setzte er sich wieder in Bewegung, gefolgt von dem anderen Rudelmitglied.
Warum konnte er sich an den Namen des Weißen erinnern, aber nicht an den des Menschen? Und warum nicht an seinen eigenen?
Es war egal. Im Moment. Es hätte ihm nichts genutzt. Namen. Worte. Sie waren unnütz.
Im gleichmäßigen Trab lief er weiter zwischen die Bäume hindurch, ließ sich nicht beirren. Yuriy derweil stapfte gemütlich ihm hinterher, setzte seine Pfoten in die Abdrücke des Vorderen, da es in dem teilweise tiefen Schnee einfacher war, voran zu kommen.
Und dann hatten sie den Rand erreicht.
Vor ihnen breitete sich eine weite Ebene aus, durchzogen von einem Bach, vollkommen unbewaldet und ohne den kleinsten Busch. Und weit hinten konnten sie das Dorf erkennen. Eine kleine Ansammlung von Häusern und Hütten, relativ dicht aneinander gereiht. Nur ein paar einzelne Höfe lagen etwas abseits mit ihren Feldern.
Yuriy, etwas weiter hinter ihm stehend im Schutz des Waldes, gab ein leises Geräusch von sich, was dessen Unwohlsein bekundete. Der Wolf mochte die Menschen nicht, das hatte dieser schon deutlich gezeigt. Ihm war es zuwider jeden Sommer aufs Neue die Gestalt eines Menschen annehmen zu müssen und man spürte, dass er nur auf den Sommer wartete, an dem er sich nicht mehr verwandeln würde.
Für ihn war es ein Segen, das wusste der Kleinere, aber für ihn selbst wäre es die Hölle.
Er stand dort leicht geduckt, als er sich umsah, auf alles gefasst. Doch nichts war zu sehen.
Missmutig gab er Laut von sich und reckte dann wieder seine Nase in den Wind. Da war es wieder.
Und er lief nach Westen, gefolgt von Yuriy.
Sie hielten sich im Schatten der Bäume, unentdeckt um zu entdecken.
Sofort blieb er stehen, als er ihn sah.
An Bach sitzend mit jemand anderem, dessen Geruch er noch nicht kannte.
Blondes Haar, dass war das erste, was ihm auffiel und eine helle angenehme, vielleicht etwas zu aufgekratzte Stimme. Dann die andere Stimme.
Seine Stimme.
Tiefer, ruhiger, wohlwollender.
Sie zog ihn an und er sehnte sich danach, sie lauter hören zu können, ihren Klang richtig auf der Zunge zergehen zu lassen.
Doch er musste hier bleiben. Im Schutz des Waldes.
Und der Weiße hinter ihm, dessen Atem ihm im Rücken hing, schien das Selbe zu denken. Starr stand er hinter dem Dunkleren, misstrauisch die Augen auf die Menschen gerichtet.
Und dann standen die beiden Menschenjungen auf, sahen in ihre Richtung und sahen sie doch nicht.
Ein Laut eines Seufzens gleich, kam aus der Kehle des Dunkleren.
Sein Herz sehnte sich danach entdeckt zu werden. Sein Instinkt fürchtete sich davor.
Er fühlte sich innerlich zerrissen, als er sah, wie sich beide zum Gehen wandten.
Er wich zurück, Schritt für Schritt, zurück in den Wald.
Ein Gefühl machte sich breit in ihm, das ihm sagte,dass es bald an der Zeit war.
Ein Gefühl was er schon einmal gehabt hatte, welches das Unglück zu ihm gebracht hatte.
Und Angst breite sich in ihm aus.
Hinter ihm zitterte Yuriy, als er die Veränderung des anderen spürte und ein Bild von ihm erhielt.
Kalt und kahl lag der Herbstwald da. Kein Geräusch war zu hören. Es schien als wäre alles in diesem Wald tot und verdammt.
Doch der Schein trog.
Auf dem Boden lag zusammengekauert ein Mensch, sich vor Schmerzen windend.
Und vor ihm eine dunkle Gestalt, in einen Umhang gehüllt, eine Eiseskälte von ihm ausgehend.
„Kai … wehre dich nicht dagegen. … Es macht es nur noch schlimmer.“
Sein Körper bebte, als die Erinnerung wieder in ihm aufstieg.
An seinem Namen. An ihm.
Er legte den Kopf in den Nacken und ein wehklagendes Heulen entwand sich seiner Kehle. Voller Trauer, voller Hass, voller Angst.
Er würde zurückkehren, dass Gefühl sagte es ihm
Und Yuriy stimmte mit ein, gefangen in dem Bild und den Gefühlen die er erhalten hatte.
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Status: ungebetat