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Saitenspiel

BoYu
von

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Wir sind nur Klangkörper

Ganz vorsichtig schneiden sie die Mullbinde auf. Seine Finger schälen sich aus dem Stoff wie zittrige, langgestreckte Insekten. Er legt den Kopf schräg und betrachtet seine Hand: zwei der Nägel sind dunkel unterlaufen und an einigen Stellen ziehen sich rote Striemen über seine helle Haut. Er fühlt nichts. Keinen Schmerz, die Medikamente betäuben alle seine Gedanken. Vermutlich gehört diese Hand nicht einmal zu ihm.
 

Der Arzt zeigt ihm das Röntgenbild. Auf den ersten Blick sieht es aus wie das Negativ eines Kunstwerkes; jemand hat präzise Farbschichten auf das Foto einer Knochenhand aufgetragen. Doch in Wirklichkeit sind das Drähte, so viele, als hätte man metallene Sehnen angebracht, wie bei einem Cyborg. Oder eine Art modernes Monster von Frankenstein geschaffen. Er blickt von dem Röntgenbild zurück auf seine Hand, dieses unnütze, flattrige Ding, das dort, wächsern, auf der Tischplatte liegt. Ihm wird wieder schlecht, er kämpft dagegen an. Manche anderen Nebenwirkungen der Tabletten begrüßt er hingegen, zumindest nimmt er es an; eigentlich sollte er nicht so gleichgültig sein.
 

Und dann, als der Arzt seine Finger wieder vorsorglich umhüllt, als das nackte, krüpplige Ding wieder in seinem Kokon verschwindet, überflutet ihn doch wieder die Panik. Er will seine Hand zurückziehen, will sie mit seinen Nägeln aufreißen und die Fremdkörper entfernen. Er braucht diese Stützen doch nicht, seine Finger werden ihm auch so gehorchen, haben sich schon immer getan! Der Arzt redet beruhigend auf ihn ein, vermutlich hat er wieder laut geatmet, doch er achtet nicht auf ihn, sondern richtet seinen ganzen Willen auf den Zeigefinger, will ihn krümmen. Der Arzt hält ihn davon ab. Er dürfe unter keinen Umständen eines der Glieder bewegen. Schmerz schießt seinen Arm hinauf und verdrängt für einige Sekunden den Nebel in seinem Kopf, Sekunden, die er braucht, um sich wieder zusammenzureißen. Willenlos lässt er den Arzt seine Arbeit beenden, wendet den Blick von seiner Hand ab, sieht aus dem Fenster, wo sich die ersten Blätter an den Bäumen verfärben. Mit dem Einsetzen der erlösenden Betäubung schält sich einmal mehr der eine Satz aus dem Wulst seiner Gedanken heraus, der es schafft, ihn nicht gänzlich in Panik verfallen zu lassen:

„Es ist nur die rechte, es ist nur die rechte, es ist nur die rechte, es ist nur die rechte, es ist nur die rechte…“
 


 

In Europa sagt man, aus Russland kämen viele gute Musiker.

Vielleicht liegt es daran, dass wir nicht so sehr von unserer Umwelt abgelenkt werden, wie die globalisierten Europäer. Dass sich unsere Musiker irgendwie an ihrer Kunst festhalten.

Ich weiß es nicht. Von solchen Dingen habe ich keine Ahnung.
 

In der Abtei mussten wir Instrumente in erster Linie erlernen, um den guten Anschein zu wahren. Nach außen musste das Bild einer vorzeigbaren Bildungseinrichtung aufrechterhalten werden. Natürlich sagte man uns das nicht so direkt. Die Lehrer meinten, das Musizieren helfe dabei, uns beim Bladen zu verbessern. Es regt die Hirnströmungen an. Es ist ein Ventil für alle überflüssigen Gefühle, die wir beim Bladen ja nicht zeigen durften. Es fördert die Konzentration und die Fingerfertigkeit. Oder so.

Jedoch achteten sie immer darauf, dass die Musik nicht zur größten Leidenschaft eines Jungen wurde. In Europa sagt man, aus Russland kämen gute Musiker, weil ihr Instrument ihre größte Leidenschaft sei. Wir aber sollten das Bladen zu unserem Lebensinhalt machen. Musik war nur ein Mittel zum Zweck.
 

Bei mir hatten sie damit keine großen Probleme. Ich bin, genau wie Ivan, vollkommen unmusikalisch. Als man mir eine Klarinette in die Hand gab, beäugte ich das Gerät wie ein Stück Treibholz. Ein Stock mit Klappen, mehr nicht. Ivan und ich durften dann malen, damit auch wir etwas vorzuweisen hatten. Das machte Spaß, wir tupften enthusiastisch auf Leinwänden herum und dachten uns abenteuerliche Interpretationen dazu aus.

Sergeij lernte eine Weile Trompete, gab es aber auf, als er älter wurde und keinen Jazz spielen durfte. Und Kai wurde so schnell langweilig, dass er verschiedene Dinge ausprobierte und sich so irgendwie durchschummelte.
 

Bei Yuriy war das anders. Ausgerechnet bei ihm. Ich glaube, man nahm ihm nur deshalb sein Cello nicht weg, weil er auch im Bladen so gut war. Yuriy war der Junge mit zwei Leidenschaften. Eigentlich durfte das gar nicht gehen. Und ich weiß sicher, dass Volkov auch mit Argusaugen über Yuriys Entwicklung wachte, damit er auch ja keinen winzigen Schritt von dem Weg abkam, der für ihn vorgesehen war. Jedoch passierte das nie. Yuriy spielte wie ein zweischneidiges Schwert, mit mathematischer Genauigkeit und purer Lust, und genauso bladete er auch.
 

Ich habe nie verstanden, wie das möglich war. Ich konnte ihm nur zuhören, wie jemand zuhört, der noch nie gewusst hat, was Musik eigentlich ist.
 


 

Ein langgezogener, tiefer Ton lässt meinen Brustkorb vibrieren. Beinahe hätte ich den Schlüssel fallengelassen. Leise schließe ich auf und trete ein, während das Vibrieren mit der nächsten Tonfolge, die sich gemächlich nach oben schraubt, verebbt. Eine Melodie, wankend zwischen verhaltener Angst und epischer Trauer, sehr romantisch, soviel erkenne ich noch. Es ist, als würden die Töne gegen mein Trommelfell schlagen und meinen Kopf von dort aus betäuben. Das ist immer so. Ich brauche nur zwei Sekunden zu lauschen, dann bin ich schon in einer Trance.

So leise wie möglich lege ich Schlüssel, Schuhe und schließlich meine Tasche ab, obwohl es wahrscheinlich eines Bombeneinschlags bedarf, um Yuriy innehalten zu lassen. Er hatte seit guten drei Jahren nicht mehr gespielt, bevor wir vor ein paar Monaten diesen Herrn kennenlernten, der früher Cellist im Staatsorchester gewesen war. Er hat die Gicht, und unter seinen Kindern und Enkeln spielt niemand Cello. Er und Yuriy haben sich eine Ewigkeit lang unterhalten, und das Gespräch endete damit, dass Yuriy wie ein geölter Blitz zur Bank schoss und einen beträchtlichen Teil der Abfindung abhob, die wir damals wegen der Sache mit der Abtei erhalten haben. Seitdem ist er wieder im Besitz eines Cellos, besorgte sich neue Saiten und einen Bogen und erfüllt die graue Platte, in der wir leben, mit einer Musik, die die alten Babuschkas zugleich lachen und weinen lässt. Das Grausame ist: Er ist sich dessen nicht bewusst.
 

Seine Tür ist nur angelehnt. Ich stoße sie ein Stück auf und bleibe im Rahmen stehen. Wie eine grazile, helle Spinne klettert seine Hand am Griffbrett hinauf und hinab. Er hat den Kopf leicht geneigt und sein Gesicht zeigt einen vagen Ausdruck von Verzückung, als wäre er ein Zuhörer und könnte selbst nicht fassen, dass jemand so etwas Schönes erzeugen kann. Es ist, als hätte es diese drei Jahre nie gegeben.

Der letzte Ton verklingt mit einem vorwitzigen Vibrato und Yuriy lässt die Hände sinken, bevor er aufsieht und bei meinem Anblick kurz die Augenbrauen hebt. „Erschreck mich doch nicht so.“

„Entschuldige. Aber du merkst doch eh nichts, wenn du spielst.“

„Das ist kein Grund, sich an mich heranzuschleichen.“

„Ich merk’s mir.“ Das Lächeln, das seine Musik in meine Wangen gegraben hat, ist noch nicht verschwunden. „Was hast du da gespielt? Klang romantisch…“ Ich versuche, mit meinem Halbwissen zu trumpfen.

„Ganz recht“, antwortet er. „Schumann.“
 

Ich ziehe anerkennend die Mundwinkel herunter, woraufhin er die Augen verdreht. Er weiß ganz genau, dass ich keine Ahnung von Komponisten habe. Aber eins habe sogar ich bemerkt: die Deutschen haben es ihm angetan. Ich versuche, ihn noch ein Bisschen bei der Stange zu halten und frage ihn danach.

„Natürlich“, sagte er, „An denen kommst du nicht vorbei. Hier, hör mal: Bachs Cello Suite eins, Präludium.“ Er hebt die Hände und spielt ein hübsches, flottes Stück. Wieder presst sich die Musik wie Watte an meinen Kopf und lässt mich in halb-schwebendem Zustand dastehen, den Mund ein Stück geöffnet, die Arme kraftlos baumelnd. Ich komme mir vor, wie ein Idiot, aber sobald Yuriy spielt, muss ich mit meiner Tätigkeit aufhören und ihm einfach zuhören. Egal, was ich tue, egal, wo ich bin.
 

Nach zwei Minuten ist alles vorbei, das Cello verstummt, Yuriy streckt sich und ich blinzele, als wache ich gerade auf. Er verstaut das Instrument wie immer in seinem Kasten und lehnt es vorsichtig gegen die Wand hinter dem Bett. So ein Cello nimmt ganz schön viel Platz weg, bemerke ich nicht zum ersten Mal; es zieht die Blicke automatisch auf sich, ob es nun versteckt in seinem unförmigen Koffer liegt, oder frei im Raum steht.
 

„Du wolltest doch noch einkaufen gehen, oder?“, fragt Yuriy und ist schon halb an mir vorbei gegangen. Ich drehe mich zu ihm um und sehe, dass er nach seinen Schuhen greift. „Willst du etwa mitkommen?“, necke ich, „Pass auf, draußen scheint die Sonne. Nachher zerfällst du noch zu Staub.“

„Solange ich nicht anfange zu glitzern, ist alles in Ordnung“, entgegnet er, und ich bin erstaunt darüber, wie aktuell sein Wissensstand über Trends ist, obwohl er seinem Instrument inzwischen mehr Zeit widmet, als seinen sozialen Kontakten. „Na schön, wie du willst“, sage ich und greife nach dem Einkaufsbeutel.

Der Supermarkt ist nur ein paar Ecken entfernt. Der Weg führt an einer Grundschule und einigen Häuserblocks vorbei, deren Eingänge in einem regelmäßigen Muster die Straße säumen. Aus einem offenen Fenster im ersten Stock dringen die Geräusche eines im Fernsehen übertragenen Fußballspiels heraus und von den Hinterhöfen schallt das Kreischen von Kindern. Yuriy schlendert neben mir her, die Hände in den Taschen, und heftet den Blick auf alles, was sich vor uns bewegt. Da es davon recht wenig gibt, dreht er den Kopf regelmäßig in eine andere Richtung.
 

Ich weiß nicht, worüber ich mit ihm sprechen soll. Habe ich noch nie gewusst. Unsere Gespräche sind mit der Pubertät verebbt; seitdem hatten wir mehr durch Schweigen miteinander kommuniziert, als durch irgendetwas anderes. An der kleinsten Geste kann ich erkennen, wie es ihm geht. Und natürlich merke ich auch sofort, in welcher Verfassung er ist, wenn ich ihn Cello spielen höre. Ich kann mich nicht genau erinnern, wie es früher war, aber mich lässt der Gedanke nicht los, dass sein Spiel damals ausgeglichener war. Yuriy ist nicht mehr so gelassen, wie damals. Auch wenn er äußerlich ruhig scheint, ist da doch immer etwas, was vorher nicht da war. Wie ein leichtes Zittern in den oberen Tönen.

Ich kann mir ein leises Seufzen nicht verkneifen, als ich den Kopf zu Yuriy wende. Mein Blick bleibt an seinem Hals hängen, wo kurz über dem Kragen drei kleine Leberflecken hervorblitzen. Sie liegen in einem flachen, eckigen Bogen, wie der Gürtel des Orion.
 

Er bleibt stehen. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich noch ein paar Schritte laufe, bevor ich bemerke, dass ich ihn nicht mehr ansehe. Ich drehe mich um. „Was ist denn?“ Er steht wie angewurzelt auf dem Gehweg und starrt auf die Klingelschilder eines Aufgangs. Sein Gesichtsausdruck schwankt irgendwo zwischen Erstaunen und Nachdenklichkeit. „Was ist?“, wiederhole ich und gehe zu ihm zurück. Ich sehe mir die Klingelschilder an, entdecke aber nichts Ungewöhnliches.

„Rostropowitsch“, sagt Yuriy und deutet auf eines der Schilder.

„Ja, das sehe ich. Und? Ist das irgendein Star?“, frage ich grinsend.

„Rostropowitsch war einer der besten Cellisten seiner Zeit. Aber er ist seit ein paar Jahren tot.“

„Oh“, mache ich, denn etwas Besseres fällt mir nicht ein. „Na, dann kann es ja schon mal nicht der Richtige sein.“

„Natürlich nicht“, entgegnet Yuriy fast beiläufig. „Aber es ist schon seltsam…so häufig ist der Name ja nicht.“

Kurzentschlossen strecke ich die Hand aus und drücke den Klingelknopf. „Hey!“, ruft Yuriy, doch es ist natürlich zu spät. Ich grinse ihn an, und wir warten auf das Knacken in der Gegensprechanlage. Doch nichts passiert. „Tja“, sage ich und hebe die Schultern, „Ist wohl grad niemand zu Hause.“
 


 

Ich könnte eine Tasse mit einem Löffel anschlagen, und Yuriy würde mir sagen, welchen Ton ich damit erzeugt habe. Ich könnte ihm ein Radio hinstellen, und er würde, mit ein Bisschen Routine, die Lieder in Notenschrift mitschreiben. Er hat das absolute Gehör; das ist eines der beeindruckendsten Dinge, die ich kenne. Schließlich kann ich selbst nicht einmal nach Noten singen, wenn ich das Lied nicht vorher schon einmal gehört habe. Für mich sind das nur Punkte mit Strichen auf Linien, und ab und an Kästchen und Schnörkel.
 

Er feuchtet den Finger mit der Zunge an und fährt über den Rand des Glases, das vor ihm steht. Wir sitzen am Küchentisch; das Licht fällt durchs Fenster und bricht sich im Wasser. Ich schäle Kartoffeln, oder besser, ich will eigentlich Kartoffeln schälen, aber mein Finger ist viel öfter unter dem Messer, als die Knollen. Die Ablenkung durch Yuriy trägt nur dazu bei. Er trinkt einen Schluck und wiederholt die Prozedur. Der reibende Ton, der jetzt erklingt, ist ein wenig tiefer. Wenn ich nicht aufpasse, fängt er gleich an zu experimentieren. Dann wird er sämtliche unserer Gläser aus dem Schrank holen, um eine Tonleiter oder irgend so etwas zu basteln. „Wenn du Musik machen willst, setz dich gefälligst an dein Cello und lass das Geschirr in Ruhe!“, sage ich deswegen, achte aber darauf, dass meine Stimmlage einen leichten Spott wiedergibt. „Oder noch besser: mach dich mal nützlich!“ Ich schiebe ihm das Messer und eine angeschnitzte Kartoffel hin, stehe auf und strecke mich. Dann mache ich das Fenster auf, lehne mich gegen den Sims und beobachte ihn. „Fünf Mal dumm angestellt schützt vor Arbeit, was, Boris?“, fragt er, während er schon die ersten langen Schalenfetzen abschält. Seine Hände sind schön. Langfingrig und schmal, aber trotzdem sehr männlich, eben nicht weich, gar nicht: die Knöchel an den Gelenken, und auch ein paar Sehnen, sind deutlich zu erkennen.

„Machst du das Radio an?“
 

Ich muss nur neben mich greifen, um das Gerät zu erreichen, denn es steht gleich am Fenster auf der Ablage. Wir empfangen in der Küche nur einen Sender, aber zum Glück ist der ziemlich gut. Irgendein altes Stück tröpfelt aus den Lautsprechern, das mich jedes Mal an unsere Kindheit denken lässt, obwohl es dafür schon wieder zu jung ist. Ich sehe uns beide, Yuriy und mich, vor meinem inneren Auge, wie wir in einem Frühling in dem alten Schuppen saßen, der windschief auf dem Gelände der Abtei stand. Wir nahmen auf wackeligen Stühlen Platz, die sie dorthin gebracht hatten, als Reparieren vergeblich geworden war. Es muss etwas passiert sein, vorher, aber ich weiß nicht mehr, was. Vielleicht hatten wir etwas gesehen, das uns auf das Thema gebracht hatte. Es war das erste Gespräch, das ich jemals über Mädchen und Liebe geführt hatte.
 

Das Sonnenlicht fällt an mir vorbei auf sein Profil. Als wir klein waren, hatten seine Haare einen helleren Ton, glaube ich. Wenn man jeden Tag miteinander zu tun hat, jahraus, jahrein, bemerkt man nicht, wie sich jemand verändert. Man braucht ein altes Foto, um es zu sehen, und dann fällt es einem wieder ein; ja, richtig, dein Gesicht war damals weicher, das habe ich ganz vergessen.

Es war -an diesem Tag im Frühling, in diesem Schuppen, zwischen Staub und Holz- wie ich es später in irgendwelchen Büchern las; in wichtigen Werken, die man in der Schule lesen muss: Einer von uns fragte „Weißt du, wie das ist? Das Küssen?“, und der andere sagte im Brustton der Überzeugung „Klar, komm her, ich zeig’s dir.“

Ich weiß nicht mehr, wer von uns was gesagt hat, aber ich weiß noch, dass seine Lippen kalt waren, als wir uns diesen kindlichen Kuss gaben, genau wie die Jungen in den Büchern, der nichts zu tun hatte mit Liebe oder anormaler Sexualität. Wir hatten die Augen geschlossen, die Münder aufeinander gepresst, aber es war nicht spannender, als mit abgebrochenen Stuhlbeinen Fechtkämpfe auszutragen.
 

Eine ungeschälte Kartoffel trifft mich am Oberkörper. „Seit wann bist du so verträumt?“, fragt Yuriy, geht zum Waschbecken und lässt Wasser über seine Hände laufen. „Kannst die Kartoffeln jetzt kochen.“

„Hmhm. Danke“, murmele ich und sehe ihm hinterher, als er den Raum verlässt. Natürlich lässt er mich kochen, obwohl ich darin viel schlechter bin, als er. Vielleicht ist das noch eine alte Teamchef-Attitüde, dass er die „niederen Arbeiten“ von anderen verrichten lässt und nur mal aus Höflichkeit drei Knollen schält. Dann höre ich die ersten Töne von nebenan. Er muss das Fenster in seinem Zimmer geöffnet haben, denn ich höre, wie seine Musik durch das Küchenfenster zu mir hereinschallt, viel klarer, als durch die Wand hindurch. Draußen ist das regelmäßige Geräusch von Schritten zu hören, das jetzt genauso regelmäßig unterbrochen wird, immer dann, wenn die Leute an unserer Wohnung vorbeikommen. Einige Minuten später erklingt das erste beifällige Gemurmel.
 

Plötzlich erschallt eine Stimme in für diese Situation beinahe unwirklicher Lautstärke. „Das nennst du Bach?! Lern erstmal richtig spielen!“ Wie ein Bombeneinschlag. Erschrocken mache ich zwei große Schritte zum Fenster und beuge mich hinaus. Gleichzeitig höre ich, wie der Bogen abrupt über die Saiten schrammt. Also hat Yuriy die Stimme auch erkannt. Doch draußen stehen nur ein paar Menschen, die mehr oder minder empört in eine Richtung starren, in die der Sprecher wohl gerade verschwunden ist. Ich spüre Yuriys Körper an meiner Seite, als er ebenfalls über meine Schulter hinweg nach draußen späht. „Hast du den Kerl gesehen?“, fragt er ganz nah an meinem Ohr. Ich schüttele den Kopf. „Nein. Aber ich hab mich doch nicht verhört, oder? Ich meine, ich würde diese Stimme immer wieder erkennen…“

Yuriy bewegt sich unbehaglich. „Nein, hast du nicht. Das war Volkovs Stimme, garantiert.“
 


 

Blut auf den weißen Kacheln. Es sind nur ein, zwei Tropfen, doch das genügt, um mir flau werden zu lassen. Yuriy nimmt das rotfleckige Taschentuch von seiner Hand und betrachtet den Schnitt. Er ist tief, zieht sich einmal quer über seine Fingerkuppe. Noch immer quillt Blut hervor, und mir wird schlecht.

Blut. Das war noch nie ein gutes Zeichen. Früher hat Ivan immer Nasenbluten bekommen, wenn er sich zu sehr aufregte. Blut führt unweigerlich zu Volkov, und an den will ich nicht denken, tue es aber doch die ganze Zeit.

Wir haben nichts mehr von dem Mann mit Volkovs Stimme gehört, doch das muss nichts heißen. Schließlich sind wir seitdem nicht mehr vor die Tür gegangen, trotz des schönen Wetters. Es geht einfach nicht.
 

„Was hast du denn gemacht?“, frage ich ihn und hocke mich vor dem Schrank hin, einerseits, um die Pflaster herauszuholen, andererseits, um die Wunde nicht mehr sehen zu müssen. Wir haben schon ewig keine Pflaster mehr gebraucht, deswegen liegen sie auch ganz hinten im Fach. „Ich hab nur einen Ton korrigiert“, kommt Yuriys Stimme von oben. „Wahrscheinlich sind meine Hände zu trocken. Und dann die Stahlsaiten…“

„Oha“, brumme ich, zupfe eines der Pflaster aus der Verpackung und richte mich wieder auf. Nur widerwillig, so kommt es mir vor, hält er mir seine Hand hin. Seine Fingerkuppen haben kaum noch ein Profil, so dick ist die Hornhaut an ihnen. Man sieht gerade noch so die Abdrücke der Saiten, wo er sie zuletzt heruntergedrückt hat: Ein Striemen über den kleinen Finger, der schmerzhaft tief wirkt, aber sehr weiche Ränder hat. „Damit wirst du wohl eine Weile nicht spielen können, hm?!“, frage ich, als ich fertig bin. Wir sehen beide auf seinen verarzteten Mittelfinger hinab. „Das geht schon“, sagt er. „Dann nehme ich halt die trägen Stücke.“
 

Ich frage mich, warum ich nicht von vornherein mit so einer Antwort gerechnet habe. „Hm“, mache ich deswegen. „Yuriy…ich finde, du solltest nicht die ganze Zeit spielen.“ Er verzieht den Mund. „Es hilft mir aber, meine Gedanken zu ordnen. Und zu vergessen.“

Vergessen müssen wir alle, denke ich. Vergessen muss Ivan, der seine Gedankengänge durch einen Therapeuten ordnen lässt. Vergessen muss Sergeij, der durchs ganze Land reist, um einen Ort zu finden, an dem er zur Ruhe kommen kann. Vergessen müssen wir beide, die wir übrig geblieben sind.

Ich will Yuriy nicht in der Musik verlieren. Der Blick seiner leeren, immer nach innen gekehrten Augen schneidet mich. Er lebt nur noch, wenn er spielt, alles andere verrichtet er mit einer kühlen Routine, die der Außenwelt vortäuscht, dass alles in Ordnung sei. Vielleicht ist es das für ihn auch. Ich habe es schließlich selbst lange nicht bemerkt. Mit Volkovs Auftauchen hat er sich nur noch mehr in sich zurückgezogen. Ich komme gar nicht mehr an ihn heran, und das verletzt mich.
 

Es ist das erste Mal, in diesem Augenblick, da ich diese Gedanken in Worte kleiden kann. Mein permanentes Unbehagen hat ein Gesicht bekommen, ein schmales, spitzes Gesicht, aus dem ein Paar toter blauer Augen zu mir aufblickt. Wie aus weiter Ferne höre ich zwei leise Kinderstimmen miteinander flüstern, dann verstummen, und dann sagt die eine „Das war alles?“, und kurz darauf lachen sie gemeinsam über etwas, das schon gar nichts mehr mit dem vorigen Thema zu tun hat.

Ich beuge mich das kleine Stück zu Yuriy hinunter und lege meinen Mund auf seinen. Es ist nichts mehr von der kindlichen Unschuld geblieben. Ich kann mich nicht damit herausreden, dass ich nicht wüsste, was ich tue. Seine Lippen sind heiß; ich spüre ihren weichen Druck, und wir denken wohl das Gleiche: hiernach wird alles anders sein, weil dieser Kuss plötzlich alles bedeuten kann. Ich dränge mich noch ein wenig mehr an ihn und küsse den Gürtel des Orion auf seinem Hals, ohne die Augen öffnen und nach ihm suchen zu müssen.

Durch meinen Kopf zieht das gleiche sanfte Stechen, das ich immer fühle, wenn ich seine Musik höre. Meine Sinne werden betäubt.
 

„Boris“, sagt er. Seine Stimme dringt durch die Watte in meinem Kopf, und ich löse mich von ihm. Das Sternbild auf seinem Hals ist rot. Ich muss mich in seiner Haut verbissen haben, das habe ich gar nicht gemerkt. Seine Hände liegen auf meiner Brust, als wolle er mich wegschieben, aber ich spüre keinen Druck. Er sieht mich direkt an, die Stirn leicht gerunzelt, sein Blick ist unerklärlich. Dann hebt er die Hand und legt sie an meine Wange, streift mit dem Daumen darüber. Ich höre leichtes Rascheln. „Du kratzt“, sagt er, und mir fällt ein, dass ich heute Morgen vergessen habe, mich zu rasieren.
 


 

Yuriy lehnt mit verschränkten Armen im Türrahmen, weichgezeichnet durch das kühle Licht des Morgens. Aus seinem Pullover lösen sich kleine Scharen von Staubkörnern und umschwirren ihn wie flimmernde Insekten. Ich vergesse das Telefonbuch auf meinem Schoß und das Handy, das vor mir auf dem niedrigen Wohnzimmertisch liegt und sehe ihn einfach an. Er erwidert meinen Blick, wir sehen uns in die Augen; ich kann noch nicht einmal erkennen, ob er überhaupt blinzelt. Irgendwann stehe ich einfach auf, das dicke Buch fällt zu Boden, ich mache einen Schritt darüber hinweg und bin schon bei ihm. Greife in sein Haar und ziehe ihn zu mir heran. Noch mehr Staub wirbelt auf.
 

Sobald ich ihn sehe, muss ich ihn küssen, es geht nicht anders. Wenn ich es mir verkneife, laufe ich ihm später hinterher, um es doch zu tun. Und er lässt es kommentarlos zu, warum auch immer. Ich kann mir weder erklären, woher dieses Verlangen nach ihm so plötzlich kommt, noch, warum er nie vor mir zurückweicht.

„Was willst du mit dem Telefonbuch?“, fragt er, sobald ich ihn freilasse. Wir hatten nie ein Telefonbuch. Immer, wenn eines im Briefkasten gelegen hat, haben wir es weggeworfen. Wenn sie irgendwo auslagen, haben wir sie ignoriert. Es gab für uns keinen Grund, eines zu besitzen, denn alle Nummern, die wir brauchen, sind unlöschbar in unserem Gedächtnis gespeichert. Aber als ich gestern zum Supermarkt ging -schnell und heimlich, immer mit diesem unangenehmen Kribbeln im Nacken- und dort ein Stapel der neuen Ausgabe lag, habe ich eines mitgenommen.

Ich nicke mit dem Kopf in Richtung des Sofas, damit er mir folgt. Als wir nebeneinander sitzen, schlage ich das Telefonbuch auf und zeige ihm die Nummer, die ich herausgesucht habe. Er formt mit den Lippen stumm den Namen nach, während er liest. „Rostropowitsch“. Dann sieht er mich stirnrunzelnd an. „Was soll das?“
 

„Naja, ich dachte, es interessiert dich vielleicht noch“, entgegne ich und beobachte, wie seine Augen sich aufhellen, etwas weniger tot werden.

„Aber Boris, wir wissen doch, dass es nicht der richtige ist.“ Er fängt an zu lachen, sehr leise zwar, aber es klingt echt. Ermutigt hebe ich die Schultern und greife nach dem Handy. „Na und? Jetzt will ich erst recht wissen, was für ein Mensch hinter diesem Namen steckt.“ In diesem Moment, in dem ich mich vorbeuge, spüre ich, wie seine Arme von hinten meine Taille umschlingen. Seine Hände liegen warm und schön auf meinem Bauch. Er lehnt den Kopf an meinen Rücken. Ich kann nicht atmen. Ich kann mich nicht einmal bewegen, geschweige denn etwas sagen. Das Telefon wird rutschig von Schweiß, doch dann schießt Wärme durch meinen Körper und löst die Spannungen. Ich lege meine Hand auf seine und streichle ihren Rücken mit dem Daumen, während die andere Rostropowitschs Nummer eingibt. Ich drücke die Lautsprechertaste und lege das Handy auf den Tisch. Die Freizeichentöne stechen regelmäßige Löcher in die Stille. Ich schiebe meine Finger in Yuriys Ärmel, um noch ein Bisschen mehr Haut zu ertasten. Dann schaltet sich der Anrufbeantworter ein, eine weibliche Maschinenstimme, die uns bittet, nach dem Ton zu sprechen. Mit dem leisen Gefühl von Erleichterung lege ich auf. Hätte jemand abgehoben, hätte es nur gestört, finde ich. Es hätte den ganzen Moment kaputt gemacht. „Lass es uns später noch mal versuchen“, murmelt Yuriy gegen meinen Rücken; ich spüre Hitze, wo sein Atem durch mein Shirt dringt.

„Wann ist für dich später?“

„Keine Ahnung.“
 

Ich lehne mich zurück, sodass Yuriy sich aufrichten muss, und lege einen Arm um ihn. Er legt den Kopf auf meine Schulter. Es ist unbequem; wir haben beide breite Kreuze, die sich jetzt irgendwie im Weg sind. Und er fühlt sich so anders an, wie ein Mann eben, was seltsam ist, gleichzeitig aber meine Neugier weckt. Natürlich kennen wir unsere Körper, ich weiß genau, wie er aussieht, und ich fand ihn schon immer schön. Aber ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, auch zu berühren, was ich sehe. Also warum jetzt? Warum so plötzlich? Es ist, als hätte unser Kuss einen Schalter bei mir umgelegt, von dem ich nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt. -Es kann aber auch sein, dass das alles nur eine Reaktion auf den psychischen Stress ist, dem wir ausgesetzt sind, seit Volkov aufgetaucht ist. Ja, das muss es sein. Wir klammern uns einfach ganz fest aneinander, weil wir niemand anderen haben, an den man sich klammern kann. Wenn Volkov irgendwann verschwindet, dann wird alles wieder normal werden, und wir werden mit niemandem darüber reden, und es wird auch nie zwischen uns stehen. Wir werden einfach einen Haken hinter die Sache machen.
 

Während ich in Gedanken versunken war, habe ich die Hand unter Yuriys Shirt geschoben. Das merke ich erst jetzt. Sie wandert stetig über warme Haut soweit nach oben, wie sie kann. Ich erreiche seine Schulterblätter. Dann wieder hinab über seine Seite –ich mache ihm eine Gänsehaut und bekomme selbst eine– bis hin zu seinem Beckenknochen, der meine tastenden Finger auf einer geschwungenen Bahn nach vorn führt. Ich kann die Fingerkuppen unter den Saum seiner Hose gleiten lassen, und es wird noch wärmer.
 

Yuriy richtet sich auf. Er ist plötzlich über mir und küsst mich. Seine Hand krallt sich in meinen Nacken, zieht mich näher zu ihm heran, und ich denke ganz automatisch, wie so oft, dass er der Teamchef ist und ich besser machen sollte, was er sagt. Yuriy hat nie falsche Entscheidungen getroffen. Ich öffne die Augen und blicke auf seine geschlossenen Lider, die von dichten, schwarzen Wimpern gesäumt sind, so schwarz, dass ich unweigerlich an eine Stelle denke, von der ich weiß, dass sein Haar dort die gleiche Farbe hat. Und dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los. Ich öffne seinen Mund mit der Zunge und dringe in ihn ein. Ein Gefühl überwältigt mich, das mir ein Loch in die Eingeweide zu reißen scheint.
 

In diesem Moment klingelt das Handy. Wir halten inne, lösen uns langsam; Yuriys Augen sind verhangen, sodass ich mich frage, ob er wohl gerade an das Gleiche gedacht hat, wie ich. Der Klingelton spielt nur noch irgendwo im Hintergrund, so bedeutungslos geworden wie das ständige Rauschen des Verkehrs auf der Schnellstraße. „Geh ran“, sagt Yuriy dann, und alle Geräusche bekommen wieder ihre ursprüngliche Intensität. Er lässt von mir ab und setzt sich wieder neben mich. Ich greife nach dem beharrlich klingelnden Handy und hebe ab; dabei schalte ich abermals den Lautsprecher an, auch wenn ich mir nicht recht erklären kann, warum. Vermutlich, weil ich die Nummer auf dem Display nicht kenne. „Hallo?“

„Guten Tag, Boris. Du hast mich angerufen, hier bin ich.“
 

Das Handy gleitet durch meine Finger hindurch und fällt zu Boden. Schräg hinter mir höre ich, wie Yuriy erschrocken die Luft einzieht. „Hallo, Boris? Was willst du denn von mir?“, dröhnt es scheinheilig vom Fußboden zu uns herauf. Ich packe das Gerät und drücke mit aller Kraft den Knopf mit dem roten Hörer ein, dann lasse ich es wieder fallen. Meine Hände zittern.
 


 

Es ist grausam, denke ich, immer und immer wieder, es ist so verdammt grausam.

In der Küche wird es immer dunkler, doch ich schaffe es einfach nicht, aufzustehen und das Licht anzuschalten. Yuriy ist kurz nachdem ich aufgelegt habe in sein Zimmer gestürzt, und ich wusste, dass ich ihm nicht nachlaufen durfte. Etwa eine Stunde lang war es still geblieben, bevor die ersten kläglichen Laute des Cellos durch die Wand drangen. Er quält es, das Instrument, foltert es. Manchmal klingt es so, als würde es gleich unter seinen zittrig-heftigen Strichen zerbersten. Er entstellt die Stücke, all die schönen Lieder, die alles ausdrücken können, außer das, was gerade in ihm vorgehen muss. Dazu muss er sie verstümmeln.

Ich sitze hier und höre ihm zu und höre doch wieder nicht hin. Volkov ist nur ein paar Straßen von uns entfernt, in einer Wohnung, die wahrscheinlich genauso geschnitten ist, wie unsere. Und auf seinem Klingelschild steht der Name „Rostropowitsch“. Es ist so grausam.
 

Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, wie er uns gefunden hat, aber letztendlich bringt das nichts. Er ist hier, und jetzt werden wir keinen Frieden mehr haben. Ich glaube nicht an den Zufall. Volkov ist hier, um Rache zu üben, ganz sicher. Ich bin nur froh, dass Ivan und Sergeij so gut wie unauffindbar sind. Ivan hat sich in die Hände von Amerikanern gegeben, um wieder gesund zu werden, und nicht mal Yuriy und ich wissen, wo genau er gelandet ist. Wir haben uns darauf geeinigt, keinen Kontakt aufzunehmen. Als hätten wir etwas geahnt. Sergeij wiederum wechselt seinen Aufenthaltsort so oft und so plötzlich, dass man ihn schneller aus den Augen verliert, als einem lieb ist.

Aber was soll ich mit Yuriy machen? Yuriy ist kaputt, und das sogar noch mehr als ich. Dass Volkov nach dem Gerichtsverfahren in den Knast kam, konnte ihn nicht beruhigen. Damals sagte er zu mir, der Knast, das sei einfacher, als eine Geschlossene; zumindest für jemanden wie Volkov. Der benimmt sich einfach ein paar Jahre lang ordentlich und lässt dann einen guten Anwalt Haftverkürzung beantragen. Yuriy hat immer Angst gehabt, dass Volkov irgendwie dort herauskommen könnte. Und nun hat er Recht behalten. Was soll ich machen? Solange Volkov existiert, werden wir nie ein normales Leben führen können.
 

Ich lege den Kopf auf meine verschränkten Arme. Ich kann euch nicht sehen, also seht ihr mich auch nicht. Ich wünschte, das wäre wahr. Ich wünschte, wir könnten einfach fliehen, irgendwo anders hingehen und es dort einfach nochmal versuchen. Aber das würde nicht klappen. Volkov würde uns überall finden, wenn wir nur länger als eine Woche dort blieben. Und ich will kein Leben auf der Flucht.

Meine Gedanken überschlagen sich und werden zu diffusen Fetzen in meinem Kopf, schwirren irgendwie herum und fühlen sich doch an, als würden sie sich zusammenpressen. Mein Bauch ist verkrampft wie vor einer wichtigen Prüfung. Wenn es den Krampf lösen würde, würde ich gern in Tränen ausbrechen, aber ich weiß genau, dass das nichts besser macht. Und außerdem würde ich nie so viel Tränenwasser zusammenkriegen. Seltsam, wir sind alle immer so stark und wollen uns nichts anmerken lassen; und dann ist man einmal allein und möchte die ganze Scheiße herauslassen, um es ein wenig erträglicher zu machen, und nichts passiert. Als hätte man über die Jahre, ohne es zu merken, schon alles in sich abgetötet. Kann es nicht mehr kontrollieren, dieses Stark-sein und das Sich-nichts-anmerken-lassen. Man sitzt da und starrt auf seine Hände und wartet darauf, dass etwas passiert, das ausdrückt, wie schrecklich es in einem aussieht. Aber es passiert einfach nichts; das einzige, worauf man warten kann, ist, dass das alles sich irgendwann zusammenzieht und implodiert. Man kann nur darauf warten, dass es einem die Eingeweide auseinander reißt.
 

Dann merke ich, dass Yuriy aufgehört hat zu spielen. Ich stemme mich hoch und gehe mit kleinen, wankenden Schritten zu seinem Zimmer. Ich muss nachsehen, ob alles in Ordnung ist.

Das Cello liegt auf dem Rücken, als wäre es gefällt worden, der Stachel ragt in die Luft. Der Bogen –ein Stück weiter, hingeworfen, vielleicht auch aus der Hand geglitten. Yuriy lehnt zusammengekrümmt an seinem Bett, die Arme auf der Matratze verschränkt und den Kopf auf sie gebettet. Er schläft. Ich setze mich neben ihn, sodass ich sein Gesicht sehen kann, halb verborgen unter wirren, roten Haarsträhnen. Vorsichtig streiche ich sie weg. Sein Gesicht ist furchtbar alt unter den Schatten, die scharf und schwarz vom Licht draußen gezeichnet werden. Die Lider wie von einer Schicht Ruß bedeckt. Ich verlagere mein Gewicht und presse meine Lippen auf seine Stirn, fühlte, wie sie unter ihnen in Bewegung gerät. Er blinzelt mich an, erschöpft. Ich lasse meine Finger über sein Gesicht wandern, die schmalen Wangen, die spröden Lippen, und dann ziehe ich ihn mit mir hoch und drücke ihn auf das Bett. Nun bin ich es, der die Verantwortung übernehmen muss. Er hat seine Kräfte schon längst aufgebraucht.
 

Es geht viel zu schnell. Wir küssen uns, kleben aneinander. Ich liege auf ihm, halte ihn mit einem Arm umschlungen und spüre, wie sein Körper immer wärmer wird. Meine Hand findet ihren Platz zwischen seinen Beinen, öffnet binnen Augenblicken seine Jeans. Ich ersticke sein leises Stöhnen mit meinem Mund. Seine Hitze geht auf mich über, löst den Krampf in meinen Eingeweiden.

Als ich fertig bin, hat sich sein Gesicht verändert. Auf seinen Wangen liegt eine unwirkliche Röte, der Atem zischt leise zwischen seinen leicht geöffneten Lippen –und in seinen Augen liegt der vage Ausdruck von Erschrockenheit. Habe ich das wirklich gerade mit ihm gemacht? Ich muss den Blick abwenden. Scham überkommt mich, als ich meine Hand betrachte, an der unübersehbar die Bestätigung haftet. Langsam stehe ich auf und taumele ins Bad, drehe den Wasserhahn auf. Das Rauschen dröhnt in meinen Ohren; irgendwann sind meine Finger wieder ganz rein, ich beuge mich kurzentschlossen vor und halte den Kopf unter den Strahl. Prickelnd zieht die Kälte über meine Kopfhaut, frisst sich ins Hirn und macht alles taub. Spült alle Gedanken und Gefühle weg. Vielleicht werde ich ohnmächtig, wenn ich nicht bald aufhöre, aber ich kann nicht aufhören. Vor meinen Augen tanzen bunte Flecken.
 


 

Als ich wiederkomme, ist Yuriy weg. Er ist einfach weg. Das Cello liegt immer noch mitten in seinem Zimmer, das Bett ist zerwühlt und die Falten im Laken werfen scharfe Schatten. Aber Yuriy ist nicht mehr da. Ich sehe im Flur nach und finde eine Lücke in der Reihe von Schuhen, die gleich neben der Tür anfängt. Erst in diesem Moment durchzuckt mich etwas, ich schaffe es gerade noch, ebenfalls ein Paar Schuhe überzustreifen, bevor mein Körper wie von selbst reagiert: mein Arm reißt die Tür auf, meine Beine tragen mich ungestüm die Treppen hinunter und die Straße entlang, meine Lungen pumpen sich mit maschineller Zuverlässigkeit so lange hart und unerbittlich voll und wieder leer, bis ich endlich Yuiry sehe. Er geht mit langsamen, festen Schritten, den Blick nach vorn gerichtet; das ändert sich nicht, als ich ihn einhole.

„Wo willst du hin?“, frage ich überflüssigerweise.

„Volkov.“

„Und dann?“

Keine Antwort.
 

„Und dann?“, wiederhole ich und wünsche mir einfach, dass er anhält und mich ansieht. Aber das tut er natürlich nicht. „Keine Ahnung“, sagt er stattdessen, „Es wird sich schon irgendwas finden.“

„Hör auf mit dem Scheiß!“ Wut ballt sich in mir zusammen und plötzlich werde ich kurzatmig. „Was willst du denn tun? Und vor allem –denk doch an die Konsequenzen!“ Ich kann mir sehr genau vorstellen, was er vorhat. Yuriy hat da keine Skrupel, und ich kann es verstehen. „Willst du dein Leben kaputt machen?“ Da bleibt er stehen, tatsächlich, und endlich wendet sich sein Blick zu mir. Ich stelle mich absichtlich schräg vor ihn, verdecke mit meinem Körper die Sicht auf seinen weiteren Weg. „Aber einer von uns muss das irgendwann tun“, sagt er, „Und warum nicht ich? Ich hatte immer die Verantwortung.“ Mir fällt ein, wie ich ihm auch jedes Mal die Führung überlassen habe, weil es ja so viel einfacher war. Als er weitergehen will, schließe ich mich ihm an. „Was soll das, Boris?“
 

„Du gehst da nicht alleine hin.“ Daraufhin erwidert er nichts, aber unsere Hände streifen sich kurz, wie unabsichtlich. Ein paar Augenblicke später schon stehen wir vor dem Haus, in dem Volkov sich eingenistet hat. Diesmal ist es Yuriy, der ohne zu zögern den Klingelknopf betätigt. Aus der Gegensprechanlage dringt nur ein kurzes Knistern, bevor uns das schrille Summen entgegenschlägt, das anzeigt, dass die Tür geöffnet werden kann. Energisch stößt Yuriy sie in das Haus hinein. Uns schlägt der Geruch von verkochtem Kohl und Pisse entgegen.
 

„Wie willst du es tun?“, frage ich leise, atemlos, während ich halb neben, halb hinter ihm die Stufen erklimme. „Am liebsten mit meinen eigenen Händen“, erwidert er, „Damit ich kontrollieren kann, wie lange es dauert.“

Wann hat er sich so verändert? Es muss irgendwann passiert sein, als wir beieinander waren, als meine Berührungen sein Gesicht neu formten. Plötzlich fürchte ich mich vor seiner dominanten Entschlossenheit. Und laufe fast gegen ihn, als er stehenbleibt. Vor uns eine Tür. Angelehnt. Er wirft einen flüchtigen Blick über die Schulter zu mir, als wolle er noch einmal fragen, warum ich mitkomme. Dann betreten wir die Wohnung.
 

Die Tapeten sind altmodisch gemustert und es riecht nach Reinigungsmittel. Schlagartig meine ich zu wissen, dass hier jemand gestorben ist, dass er ein paar Tage in einem Sessel lag, bevor man ihn fand. Aber das kann nur Einbildung sein. Liegt wahrscheinlich an dem komischen Licht, das irgendwie stumpf ist, als wäre die Luft hier drin zu dick, um einen Sonnenstrahl ungehindert hindurchzulassen.
 

Volkov sitzt im Wohnzimmer, auf dem Schoß eine Knarre. „Setzt euch.“ Wir nehmen auf dem Sofa Platz. Yuriy schlägt ein Bein über das andere und stützt den Ellenbogen auf der Armlehne auf. Ich sehe mich flüchtig im Raum um und bemerke mit leisem Schrecken, dass in einer Ecke ein Cello an der Wand lehnt. Ausgerechnet ein Cello. Vermutlich will er uns verhöhnen.

„Was willst du, Volkov?“, fragt Yuriy in die dumpfe Stille hinein.

„Kannst du es dir nicht denken?“, entgegnet er.

„Doch. Du willst von uns wissen, wo Ivan und Sergeij sind und uns dann umlegen. Aber ich dachte, ich lasse es mir noch mal durch dich bestätigen.“

Volkovs starre Augen wenden sich von ihm ab und wandern zu mir. „Na, Boris, bist du immer noch Yuriys kleiner Aufpass-Wauwau? Wie niedlich.“

„Red‘ keine Scheiße!“, sagt Yuriy scharf.

„Also ja.“ Ein süffisantes Grinsen breitet sich auf Volkovs Gesicht aus. Er fährt mit den Fingerspitzen über seine Knarre. „Nun, ganz recht, Yura, so Leid es mir tut, aber ich muss euch aus dem Weg schaffen. Gerade bin ich wegen guter –wegen sehr guter– Führung frühzeitlich entlassen worden, aber es gibt da, wie ihr wisst, ein Problem.“
 

Nun erkenne ich, wovor Yuriy sich schon seit langem fürchtete: Wir wissen zu viel. Wir haben alles, was damals in der Abtei passierte, mit angesehen. Wenn wir wollen, können wir damit in die Öffentlichkeit gehen und Volkov eine erneute, noch härtere Strafe aufbürden, und nicht nur ihm. Wir kennen eine ganze Reihe von Leuten, die den Behörden noch gar nicht bekannt sind. Im Gegensatz zu allen anderen Kindern, die damals dort ausgebildet wurden, haben wir jeden Raum des Gebäudes mindestens einmal gesehen, sind wir über jede Stufe des Trainingsprogramms im Bilde; aber vor allem wissen wir von den geheimen Experimenten, die sie dort an Menschen machten. Schließlich sind wir ein Teil davon. Der einzige Grund, warum wir damals, bei der ersten Verhandlung, noch nichts erzählt haben, war der, dass uns ganz einfach niemand geglaubt hätte. Erst jetzt, nachdem wir die kurze Therapie hinter uns und ein neues Leben begonnen haben, steigt die Gefahr für Volkov, dass man uns ernst nähme.
 

„Ich denke, ihr wisst, dass nicht alle anwesenden diese Wohnung wieder verlassen werden“, meinte Volkov. „Lasst es mich doch kurz und schmerzlos machen.“

„Nein, lieber nicht.“ Yuriy steht auf und geht auf ihn zu, bleibt so dicht vor ihm stehen, dass sie sich fast berühren. Ich kann nur seinen Rücken sehen. „Was willst du“, sagt er leise, „für ein paar Minuten mehr Lebenszeit?“ Als ich sehe, wie sich Volkovs Miene verändert, wie angeregt er auf einmal meinen Freund betrachtet, wird mir schlecht. „Yuriy…“

„Halt’s Maul!“, unterbricht Volkov mich, seine Stimme ist heiser geworden. Dann wandert sein Blick wieder zu Yuriy. „Sprich weiter. Wie meinst du das?“ Yuriy hebt den Arm und deutet hinter sich; ich bemerke, dass sein Finger direkt auf mich zeigt. „Es war nicht geplant, dass er mitkommt. Also hätte er es doch verdient, noch ein paar Stunden am Leben zu bleiben, oder? Lass uns das fair und sauber erledigen. Wie wäre es, wenn du Boris noch mal gehen lässt? Und dafür bekommst du dann…eine kleine Aufmerksamkeit.“
 

Volkov stößt zischend die Luft aus. „Wie nobel“, höhnt er. „Seit wann verkaufst du dich, Yuriy? Sieht dir gar nicht ähnlich. –Aber gut: im Prinzip hast du ja recht. Und ich möchte mir nicht vorhalten lassen, ich wäre ein ungerechter Mann. Nun, erbringe deine Leistung, dann wird er die Wohnung verlassen können.“

„Was?!“, entfährt es mir laut, doch Volkov gebietet mir noch einmal Schweigen: „Misch dich nicht ein. Sei lieber dankbar! –Und du…“ Er streckt denn Arm einladend nach Yuriy aus und legt die Hand mit der Knarre neben sich auf der Armlehne ab. „Auf die Knie.“ Und er tut es wirklich. Ich kann mich nicht rühren. Weiß nicht, was ich machen soll. Ich würde so gerne sein Gesicht sehen, den Blick, den er Volkov zuwirft und der diesen veranlasst, voller Begierde zurückzustarren; ich will einfach in seinen Augen lesen können, wie ernst er das meint, was er gerade tut.
 

Volkovs Hand vergräbt sich in dem schönen, roten Haar. Er will Yuriys Kopf in seinen Schoß ziehen, doch in diesem Moment bewegt er sich. Er packt Volkov bei beiden Handgelenken und kommt mit einem Satz wieder auf die Beine. „Immer noch das gleiche, perverse Arschloch!“, zischt er.

Mit einem Mal stehe auch ich. Ich muss aufgesprungen sein, als mein Körper realisierte, dass ich nun doch nicht Zuschauer eines widerlichen Schauspiels sein würde. Ich stürze zu den beiden und winde die Knarre aus Volkovs Hand, doch ich bin selbst so zittrig, dass sie mir aus den Fingern gleitet und irgendwo hinrutscht. Volkov bekommt einen Arm frei und schlägt Yuriy, schleudert ihn von sich weg, sodass er stolpert und im Fallen ausgerechnet das Cello mit sich zieht, das mit einem hohlen Klang neben ihm aufkommt.
 

Nun stehen wir uns gegenüber. Volkov und ich. Ich versuche, einen Blick auf Yuriy zu erhaschen, aber er verdeckt die Sicht mit seinem breiten Kreuz. Sein Blick ist voller Hass, und ich bekomme immer noch Angst vor ihm, obwohl ich inzwischen genauso groß bin wie er und vielleicht auch ein bisschen zu stark für ihn. Er stürzt sich auf mich, seine Hände schießen förmlich nach vorn und grabschen nach meinem Hals. Wahrscheinlich ist er gerade ein wenig durchgeknallt. Umbringen will er mich auf jeden Fall. Ich ramme ihm die Faust in den Magen, treffe aber nicht richtig. Er bekommt mich zu fassen und gibt mir einen Hieb. Ich pralle gegen irgendetwas und lande auf weichem Untergrund. Das Sofa.
 

Als nächstes höre ich erneut diesen charakteristischen Laut, den Klangkörper von Zupfinstrumenten von sich geben. Yuriy hat das Cello am Hals gefasst und es auf Volkovs Rücken geschlagen. Vermutlich wollte er den Kopf treffen. Volkov geht zu Boden, windet und tritt um sich; dabei trifft er Yuriys Beine. Yuriy taumelt zurück und fällt über den niedrigen Tisch, der mal vor dem Sofa stand. Ich sehe es voraus, kann aber nicht so schnell die Worte formen, und genützt hätte es wohl eh nichts. Er prallt mit dem Rücken auf das Möbel, rollt seitlich weg und bleibt liegen. Ich höre sein schmerzerfülltes Stöhnen. Sofort will ich mich aufrappeln, doch plötzlich steht Volkov vor mir und stößt mich zurück, gibt mir eine Ohrfeige, sodass ich Sterne sehe. Alles dreht sich. Schmerz in meinem Kopf. Ich sehe, wie er auf Yuriy zugeht, der noch immer am Boden liegt.
 

Tunnelblick.

Volkovs schwerer Stiefel, daneben Yuriys schmale, weiße Hand.

Ich versuche, scharf zu sehen.

Ich versuche, zu ihnen zu gelangen.

Volkov wegzustoßen.

Der Stiefel hebt sich und kracht auf den weißen Fleck herunter.

Yuriy schreit.
 

Erst jetzt schaffe ich es, wieder auf die Beine zu kommen. Volkov scheint in irgendeinen Rausch verfallen zu sein. Er tritt immer wieder zu, auf die Hand, auf andere Stellen von Yuriys Körper. Ich suche eine Waffe. Irgendeine. Meine Finger bekommen etwas zu fassen, ich werfe nur einen flüchtigen Blick darauf, bevor ich mich von hinten auf Volkov stürze.

Er hat mich offensichtlich vollkommen vergessen. Seine Gegenwehr ist minimal, als ich ihm das Ding in meinen Händen gegen die Kehle drücke. Vielleicht bin ich aber auch zu stark. Ich schließe die Augen und drücke und bete, dass es bald aufhört.
 

Irgendwann ist es tatsächlich zu Ende. Volkovs Körper sackt in sich zusammen, ich mit ihm. Ich lasse mich neben Yuriy auf den Boden fallen. Wir sehen uns an. In seinem Gesicht steht Schmerz. Ich beobachte, wie seine Augen immer wieder nach unten zucken, aber ebenso schnell wieder die meinen finden, weil er wohl nicht sehen will, was mit seiner Hand passiert ist. Dann hört diese Bewegung der Augäpfel auf und er sieht nur noch mich, blinzelt ab und zu. Seine Mundwinkel heben sich. Er lächelt.
 


 

Ich habe Volkov mit einem Cellobogen erdrosselt. Als ich, viel später, es war schon dunkel, die Leiche beseitigte, sah ich es. Die straff gespannten Rosshaare hatten ein gutes Stück seines Halses durchtrennt. Er könnte also auch an seinem Blut erstickt sein.

Ich kümmerte mich um alles. Rückte die Möbel wieder gerade, säuberte die Wohnung, schaffte den Körper weg. Am nächsten Tag erledigte ich den Papierkram. Natürlich war Volkov unter falscher Identität gemeldet. Ich musste also nur einen Menschen auslöschen, der sowieso nicht existiert hatte.
 

Während ich das tat, war Yuriy schon im Krankenhaus. Ich erzählte, unser Auto wäre über seine Hand gefahren, weil die Hebebühne versagt hatte, als er es reparieren wollte. Für die anderen Schrammen und blauen Flecke hatte ich keine Erklärungen, aber sie fragten auch nicht danach. Das Schlimmste war wirklich seine Hand. Sie operierten stundenlang.
 

Als ich danach in sein Krankenzimmer kam, schlief Yuriy noch. Auf der Bettdecke lag ein eingegipstes und bandagiertes Etwas. Ich zog mir einen Stuhl heran und betrachtete das Ding, diesen seltsamen Kokon. Yuriy würde ausrasten, wenn er wach wurde: Mit dem Klotz konnte doch keiner Cello spielen!

Und dann erkannte ich es.

Er würde nie wieder spielen können.
 


 

Ich schlafe mit ihm. Das Fenster ist offen, von draußen dringen die Geräusche des täglichen Lebens und ein kühler Lufthauch herein. Doch unter der Decke ist es warm von seiner Hitze, die mich ganz durchtränkt. Die unversehrte Hand krallt sich fest in meinen Nacken, über die andere wache ich auch jetzt noch mit Argusaugen. Ich nehme ihn mir ganz vorsichtig, doch in letzter Zeit verlangt er oft nach mehr. Er ist mein Instrument. Ich spiele auf ihm und lausche verzückt den Liedern, die ich ihm entlocke.

Obwohl Volkov tot ist, hat sich das zwischen uns nicht wieder normalisiert. Wir haben uns nur noch wahnsinniger aufeinander gestürzt. Vielleicht liebt er mich. Aber das werde ich ihn nicht fragen.
 

Ich komme in ihm und spüre, wie sein Körper erschauernd darauf reagiert. Dann sinke ich neben ihn auf die Matratze. Er hebt die narbengespickte Rechte und will sie mir auf die Wange legen, doch ich halte ihn am Handgelenk fest und ziehe sie an meine Lippen. Mit ihnen ertaste ich alle Unebenheiten auf der Innenseite; mein Mund klettert an jedem Finger hinauf und küsst ihre Spitzen.

„Heute Morgen konnte ich den Bogen halten“, flüstert er, als ich fertig bin und ihn wieder ansehe. Ich kann nicht erkennen, ob er sich freut. Er klingt eher nervös.

„Wirst du versuchen, neu spielen zu lernen?“, frage ich leise.

„Hm…

Vielleicht.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (8)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  esperluette
2020-12-30T22:50:19+00:00 30.12.2020 23:50
Keine Worte <3
Von:  esperluette
2020-12-30T22:45:06+00:00 30.12.2020 23:45
Keine Worte <3
Von:  WeißeWölfinLarka
2019-10-08T23:20:21+00:00 09.10.2019 01:20
Ich musste jetzt doch Mal Saitenspiel lesen. Ich bin noch immer aufgewühlt.
Ein besserer und überlegterer Kommentar wird folgen, aber.... Wow. Hier ist wirklich alles drin, Kindheitstrauma, Musik, spannender Showdown.... Später mehr
Von:  Rabenfeder
2012-04-21T09:40:58+00:00 21.04.2012 11:40
Mir fehlen die Worte

So viel Gefühl, wow
Von: abgemeldet
2012-01-02T15:26:58+00:00 02.01.2012 16:26

Ich bin neidisch.

Ich hab die Fanfic heute Nacht gelesen und möchte mich nicht dazu äußern. Einen ordentlichen Kommentar kriegst du, wenn ich über diese Story hinweggekommen bin (so in zwei Jahren). Ich lösch den hier dann einfach.

Aber zumindest kann ich mir BoYu jetzt irgendwie besser vorstellen. Ich fand Yuriy aus Boris' Augen einfach faszinierend. Übrigens würde ich nicht sagen, dass eine reine darkfic war, ich hatte durchaus Stellen, an denen ich gelacht habe, auch wenn's insgesamt schon verdammt tragisch war. Der Schluss war toll. Was hast du bei der Überarbeitung eigentlich abgeändert? So aus Neugier?

Von:  Taiwolf
2011-12-04T17:46:45+00:00 04.12.2011 18:46
hey deine geschichte is echt cool aber ich habe eine bitte an dich kannst du vl einen ff von tala und hilary machen???????? aber bitte machs nicht soooooo wie manch andere das die 2 immer gleich im bett landen ;)
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-10-18T16:36:38+00:00 18.10.2011 18:36
deine geschichte hat mich völlig in den ban gezogen. du bringst vorallem so viel gefühl hinein dass man sich selbst fühlt wie einer deiner carachter, als wäre man miten im geshehen.

der anfang ist etwas komisch aber über die abtai gibt es viel mythen dass mir diese nichteinmal so unwarscheinlich klingt. ich spiele selber verschidene instrument. gerade wie du zuhöhrer und spieler beschreibst ist dir sehr gelung!

lg kya
Von: abgemeldet
2011-10-12T14:22:44+00:00 12.10.2011 16:22
Hey!

Ich finde deine Geschichte richtig gut. Sehr schön geschrieben und mit soviel Tiefgang, wie man ihn selten findet. Ein echtes Goldstück unter den Fanfics hier.
Das mit dem Musik- und Kunstunterricht fand ich am Anfang zwar einwenig unrealistisch, aber irgendwo war deine Begründung doch sehr einleutend, wobei man bei einer Trompete theoretisch gesehen natürlich nur eine Hand braucht, um sie zu spielen. ;)
Aber der Kunstunterricht hat mich sehr an den Unterricht in der Schule erinnert. Man malt einfach drauf los und denkt sich hinterher die tollsten Interpretationen aus, damit es dem Lehrer gefällt. XD

Die beginnende Beziehung zwischen Yuriy und Boris fand ich auch serh gut inszeniert. Das typische, und bei dieser Vergangenheit auch verständliche, 'man weiß noch nicht was es ist, aber solange es einem gefällt, macht man eben so weiter' kam wunderbar zum tragen.

Mir hat zwar einwenig der gewöhnliche Alltag im Leben der beiden gefehlt, á la 'Was machen sie eigentlich? Uni? Schule? Arbeit?' aber ich denke mal, dass du nur Ausschnitte zeigen wolltest und da ist das dann so okay, wie es ist. :)

Den Titel finde ich übrigens grandios. Mein weiß grob, dass es um Musik geht, aber er verrät nicht zu viel im Inhalt.

LG Kairelle


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