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Can you keep a secret?

swear this one you'll save. [LavixKanda]
von

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Ätzend.

Es war einer dieser unausstehlichen Tage, an denen man sich besser die Decke über den Kopf zieht und im Bett liegen bleibt. Es war der erste Tag nach den Ferien. Natürlich empfindet wohl jeder Mensch das frühe Aufstehen als lästig, aber für Yuu Kanda war es mehr als lästig. Es war als würde sich das Tor zur Hölle öffnen und all seine Dämonen aussenden, nur um ihm auf die Nerven zu gehen.
 

Der schwarzhaarige Asiate hatte sich auf seinem Platz in der letzten Reihe niedergelassen, nachdem er sich an den lauten, nervenden Leuten vorbeigezwängt hatte, die sich seine Mitschüler schimpften.

Nachdem er seinen Block und einen Kugelschreiber aus seiner Tasche gekramt hatte, lehnte er sich auf seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er setzte sein übliches “Lasst-mich-in-Ruhe-Gesicht“ auf und schloss genervt die Augen.

Diese Stimmen um ihn herum. Die kichernden Mädchen und Typen, die sich mit den lächerlichsten Dingen begeistern ließen, gingen ihm einfach ungemein auf die Nerven.

Der Tag hatte grade erst angefangen und er wünschte, die Welt würde von einem Meteorit getroffen und die komplette menschliche Rasse ausgelöscht werden.
 

Wenigstens blieb es ihm erspart, neben sich eines dieser unterbelichteten Wesen sitzen zu haben.

So wohl die Stühle zu seiner Linken und zu seiner Rechten waren frei, da die meisten seine Nähe mieden. Bisher hatte Kanda immer Erfolg damit gehabt, einfach nur genervt auszusehen und die anderen mit Giftblicken bestraft zu haben, so bald sie ihn auch nur anschielten.
 

Heute schien ein Lebensmüder einen extrem ausgeprägten Wunsch nach dem Tod zu haben, den der Platz zu seiner linken wurde auf einmal eingenommen.

Der Junge fühlte, wie seine Zornesader sich meldete und ballte die Faust. Wer konnte auch nur auf die Idee kommen, sich neben ihn zu setzen?

Wer war dieser Lebensmüde Schwachmat?
 

„Hey! Ich bin Lavi! Freut mich dich kennen zu lernen!“
 

Kanda öffnete die Augen gerade zu weit genug um dieses rote Etwas neben sich zu erkennen. Das Etwas schien also den Namen Lavi zu tragen. Gut, dann wusste er nun, wer der nächste auf seiner Liste der Personen war, die er eines Tages grausam und kalt aus der Weltgeschichte radieren würde.
 

„Tsk. Verzieh dich.“
 

Er sah, wie sich das Gesicht des scheinbar neuen Schülers aufgrund von Verwunderung kurz verformte. Yuu war der Meinung, dass er jetzt noch beschissener aussah, und das ohne ihn überhaupt genau angesehen zu haben.
 

„Ach komm schon! Warum sitzt du hier ganz allein? Hast du keine Freunde?“
 

Erneut ein Zucken seiner Zornesader. Was maßte sich dieser Penner überhaupt an? Wie konnte er es wagen, sich neben ihn zu setzen und dann auch noch derartige Fragen zu stellen, obwohl es doch offensichtlich war, das er absolut nicht zum Reden aufgelegt war.

Der Idiot musste lebensmüde sein, anders konnte er es sich nicht erklären.

Kanda wollte keine Freunde. So etwas war unnötig, befand er. Wozu sollte man sich so etwas wie einen Freund ans Bein binden? Er konnte darauf verzichten, jemanden am Bein hängen zu haben, der ihm nur unnötig zur Last fallen würde. Der Schwarzhaarige hatte nichts übrig für Dinge wie Freundschaft.
 

„Ich brauche keine Freunde. Und jetzt nochmal: Verzieh dich.“
 

Scheinbar erheiterte diese Aussage den Rotschopf, denn dieser musste kurz auflachen. Anstatt dass er sich wegsetzte, packte er seine Schulsachen auf den Tisch, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinterm Kopf.
 

„Wir werden ganz bestimmt super Freunde Yuu! Du wirst schon sehen, bald bist du nicht mehr so alleine!“
 

Was zum?! Woher kannte dieser Bengel seinen Namen? Nicht nur dass er überhaupt etwas über ihn wusste, warum war es ausgerechnet sein Vorname? Niemand hier wagte es den Japaner beim Vornamen zu nennen. Absolut. Niemand. Und das war begründet.

Das Blut in den Adern des Schwarzhaarigen schien zu kochen. Wer war dieser bildungsresistente Intelligenzallergiker?
 

„Kanda verdammt! Für dich, Kanda! Und was zum Henker willst du hier? Seh ich so aus, als hätte ich ein Problem damit, allein hier zu sitzen? Hast du ein Aufmerksamkeitsdefizit? Wenn das der Fall ist, solltest du zu deiner Mutter und dich mal ordentlich ausheulen, aber geh mir verdammt nochmal nicht auf den Sack!“
 

Die Auseinandersetzung schien nun auch die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen, den sowohl Mädchen als auch Jungen drehten sich nach den Beiden um und starrten sie an. Nicht dass es ungewöhnlich war, dass Yuu Kanda schlechte Laune hatte. Es war einfach ungewöhnlich, beinahe unglaublich, dass es jemand wagte sich dem Miesepeter auch nur auf zwei Meter zu nähern und dann auch noch anzusprechen. Dieses Privileg hatten bisher nur die Lehrer genossen, und selbst die hüteten sich davor, ihm zu nahe zu kommen oder gar zu berühren.
 

„Hast du immer so schlechte Laune? Dir scheint die Einsamkeit nicht zu bekommen, mein Freund.“
 

Als er das freudige Grinsen dieses Lavis neben sich sah, wäre er ihn am liebsten an den Hals gesprungen und hätte ihn in all seine Einzelteile zerlegt. Die Fäuste, die er vorher schon geballt hatte, waren nun so eng geschlossen, dass sich seine Fingernägel in die Haut gruben und Schmerzen verursachten. Er würde diesem Idioten beibringen, was es bedeutete, sich Yuu Kanda zum Feind zu machen.
 

„Ich mach dich –“
 

„Meine Herren! Ich darf doch bitten. Möchten sie sich bitte auf ihre Plätze setzen und sich ruhig verhalten? Ich bin mir sicher, dass ihre Unterhaltung auch bis nach den Unterricht warten kann, Mr. Kanda.“
 

Mist! Der Sozialkundelehrer war in die Klasse gekommen. Wie sehr hasste er diesen Herr Mikk. Abgesehen von seinem schmierigen Grinsen und seinem unangenehmen Geruch nach Rauch, war er auch einer der Lehrer, die sich liebend gern mit dem Japaner anlegten. Nicht, weil er ein persönliches Problem mit ihm hatte, sondern weil Kanda einfach schlauer war als er. Zumindest war Yuu davon überzeugt.
 

Grummelnd, aber gehorchend, rutschte Yuu wieder ordentlich an den Tisch heran und verschränkte erneut die Arme vor der Brust. Dieser Tag war mit Abstand das schrecklichste Übel, das ihn seit einigen Jahren überkommen hatte. Dieser Lavi, war mit Abstand das schrecklichste Übel, das ihn seit einigen Jahren überkommen hatte…
 

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Das hier gestaltete sich schwieriger als gedacht. Lavi wurde von seinem Gramps dazu beauftragt, sich in eine Schule einzuschreiben, um etwas über einen Unfall vor ungefähr neun Jahren zu erfahren. Es war nicht so, als wäre das Problem, sich in eine neue Schule einzuschreiben, darin war er nämlich geübt. Aber die Zielperson schien eine harte Nuss zu sein.
 

Nachdem der Lehrer seinen neuen Klassenkameraden zurechtgestutzt hatte und der Unterricht begann, lehnte der Rothaarige sich weiter in den Stuhl zurück um unauffällig seinen Blick über den schwarzhaarigen, hochgewachsenen Asiaten schweifen zu lassen.

Kein Zweifel. Diese Person neben ihm war Kanda Yuu, ein 19-Jähriger Japaner der seit 3 Jahren auf diese Schule ging und vermutlich mit den Vorkommnissen von vor neun Jahren verbunden war.

Das hier war seine Zielperson, über die es galt so viel herauszufinden wie möglich.

Aber wie sollte er das anstellen? Lavi war ein Profi, was das Schnüffeln anging und eigentlich hatte er auch kein Problem seine Rolle so zu spielen, dass er sein Ziel erreichte. Aber Kanda Yuu schien nicht auf eine Freundschaft eingehen zu wollen. Jetzt zumindest noch nicht.
 

Lavi war in Gedanken versunken, als er den eiskalten Blick des Japaners endlich wahrnahm und den Blick nach einem breiten Lächeln abwandte. Wie lange hatte sein Tischnachbar schon bemerkt, dass er angestarrt wurde?

Der Rotschopf zupfte an seinem grünen Haarband herum und begann den Unterrichtsstoff mitzuschreiben.

Wie ätzend es war, jedes mal aufs Neue das Gleiche zu hören. Nun, zumindest war seine erste Unterrichtsstunde nicht Geschichte gewesen.

Es war nicht so, als wäre Lavi schlecht in der Schule, aber es ödete ihn an, immer wieder den selben Stoff durchzunehmen und so zu tun , als hätte er all das noch nicht gehört. Und abgesehen davon, hatte es ohnehin meist keinen Sinn, sich in der Schule anzustrengen, da er nach Beendigung seines Auftrags wieder gehen würde.
 

„Kanda Yuu, abweisend, unfreundlich, unsozial.“ – waren die ersten Notizen, die er sich zu den Charaktereigenschaften des jungen Japaners machte. Lavi war nicht entgangen, dass 90% der Klasse sich von ihm fürchteten, während die restlichen 10% aus Mädchen bestanden, die ihn scheinbar trotz seiner menschenverachtenden Art abgöttisch anhimmelten.

Warum nur? Wegen den langen Haaren? Lavi glaubte nicht, dass diese Mädchen in der Zeit, die sie mit Kanda in einer Klasse gewesen waren, wirklich viel mehr über ihn in Erfahrung gebracht hatten als er in den letzten Minuten.
 

Und was ihm noch merkwürdiger vorkam, als das abweisende Verhalten von Yuu, war dieser Mr. Mikk. War dieser Lehrer lebensmüde, oder weshalb fürchtete er sich nicht vor Kanda Yuu’s Zorn? Lavi fand dass Kanda’s Giftblick durchaus etwas war, was einen Furcht und Schrecken lehren sollte.
 

Der Rothaarige seufzte lautlos vor sich hin und riss eine Ecke von aus seinem Heft, ehe er den Stift zückte und begann eine kleine Nachricht darauf zu schreiben, welche dann von ihm gefaltet und zu Yuu geschoben wurde.
 

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„Kannst du mir deine Schulhefte borgen, damit ich den Unterrichtsstoff nachholen kann, den ihr vor den Ferien hattet?“
 

Plötzlich lag da dieser Zettel, auf dem dick und fett „Yuu“ stand. Im Normalfall ignorierte der junge Japaner derartige Zettelchen . Immerhin kamen sie oft genug geflogen. Meistens standen darin unnütze, sinnlose Dinge, wie Fragen zu seiner Person, ob er denn heute Nachmittag Zeit hätte, eine Freundin habe oder wie seine Handynummer lautete.

Kanda wusste nicht weshalb, aber er hatte den Brief von Lavi geöffnet und runzelte nun die Stirn. Augenblicklich fragte er sich, ob auf seiner Stirn dick und fett "Wohlfahrt" stand.

Diesem Idioten würde er niemals helfen. Was bildete er sich ein? Dass sie tatsächlich Freunde waren, nur weil er sich neben ihn gesetzt hatte? Und das auch noch ohne den Schwarzhaarigen zu fragen?

Das konnte doch nicht wahr sein. Wenn es für menschliche Fehleinschätzung eine Grenze gab, war dieser Idiot definitiv an sie gestoßen.

Kanda nahm das Stück Papier und riss es sorgfältig in kleine Stücke, die er auf einen Haufen am Rand des Tisches schob um ihn anschließend zu entsorgen.

Sollte dieser Prolet sich doch bei anderen einschleimen und sie nerven. Yuu Kanda hatte keine Interesse an Freundschaft, und noch weniger an nervenden, rothaarigen, Idioten.
 

Nachdem der Unterricht endete, packte Kanda seine Sachen in die Umhängetasche und machte sich auf den Weg aus dem Klassenzimmer.

Der Tag hatte ihm vollstens gereicht und er würde erst mal ein paar Stunden ohne andere Subkreaturen in seiner Gegenwart brauchen, um die heutigen Geschehnisse zu verdauen. Der erste Schultag nach den Ferien war tatsächlich so grausam gewesen, wie er es befürchtet hatte.
 

„Yuu! Yuuuuu! Warte maaal!“
 

Ein Seufzen entrann seiner Kehle. Diese nervtötende Stimme, die bei Kanda gewisse Mordgelüste weckte, kam unglaublich schnell von hinten und wurde zunehmend lauter.

Wie gern würde er dem Neuankömmling das Maul stopfen.
 

„Kanda. Mein Name ist Kanda, verdammter Idiot.“
 

Nur aus den Augenwinkeln, schielte er den nun neben sich stehenden, wie ein Hund hechelnden, neuen Mitschüler an.

Was wollte die Ausgeburt der Hölle nur von ihm?
 

„Wir haben morgen zusammen Geschichte und ich weiß nicht, wo C15 ist. Wartest du morgen am Schultor auf mich und zeigst mir den Weg in den Unterrichtsraum?“
 

Ätzend. Es gab kein besseres Wort, das die jetzige Situation besser beschrieb.
 

„Hör mir zu. Ich werde extra langsam für dich sprechen, damit das in dein verweichlichtes Hirn geht: Ich.will.mit.dir.nichts.zu.tun.haben. Also kümmer dich selbst darum oder frag jemand anderen. Falls du morgen nicht zum Unterricht kommst, heiße ich das auch herzlich willkommen. Und jetzt lass mir meine Ruhe.“
 

Der Langhaarige schaute nochmal giftig drein, wandte dem verdutzt aussehenden Lavi den Rücken zu, und verließ das Schulgelände.

Wie penetrant war dieser Lavi Bookman überhaupt? Kanda verstand nicht, weshalb Gott ihn jedes Mal aufs Neue strafte. Was hatte er nur falsch gemacht? Womit hatte er den Groll der Welt auf sich gehetzt? Alles was er wollte, war seine verdammte Ruhe. Er wollte keine Freunde, nicht reden, nicht angefasst werden und vor allem wollte er keinen Lavi Bookman neben sich sitzen haben.

Während er die eine Hand in die Hosentasche geschoben hatte, während er durch die Parkanlage zu seiner Wohnung schlenderte, hebte er die Andere um auf die Armbanduhr zu sehen. Es waren noch vier Stunden bis er zur Arbeit musste.
 

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Es war unangenehm so kalt abgewiesen zu werden. Auch für Lavi, der einiges gewohnt war, war es nicht angenehm von einer Person so behandelt zu werden, obwohl er wirklich nichts Böses gemacht hatte. Yuu Kanda konnte ihn nicht ausstehen, das war ihm klar. Aber dennoch gab er nicht auf, er dachte nicht daran. Auch diesen Auftrag würde er gewissenhaft erfüllen und zu den imaginären Akten in seinem Kopf ablegen. Er war ein Bookman, es gab keinen Auftrag, der zu schwer für ihn war.

Er würde herausfinden, was damals im ‚Hopefull Love‘ – Waisenhaus geschehen war.
 

Vor neun Jahren war ein Waisenhaus ein paar Städte weiter auf mysteriöse Art und Weise abgebrannt. Bis heute waren die genauen Umstände unbekannt und da es kaum Überlebende dieses Feuers gab, hatten sich auch die bisherigen Befragungen als eher ernüchternd herausgestellt. Die wenigen Personen, die überlebt hatten, standen nach wie vor unter Schock oder waren zu diesem Zeitpunkt noch zu jung gewesen, um sich daran zu erinnern.

Einer der Überlebenden war Kanda Yuu. Und er schien etwas mit dem Vorfall zu tun zu haben. Er war der einzige Überlebende des Waisenhauses, der noch bei vollem Verstand war und zudem stand er dem Pater, der die Einrichtung geleitet hatte näher als die Anderen. Zumindest besagten das die wenigen verwertbaren Zeugenaussagen.
 

Yuu Kanda, was war damals vor neun Jahren geschehen und welches Geheimnis verbirgst du?
 

Es war später Abend geworden, als Lavi sich in ein ordentliches, weißes Hemd, eine schwarze Hose und glänzende Lederschuhe warf.

Seine Arbeit war zu dieser Stunde noch nicht getan.
 

„Hey alter Panda, bist du bald fertig oder müssen wir für dich die Zeit anhalten? Falls so etwas für dich überhaupt existiert…“
 

Lavi fragte sich oft, wie alt sein Lehrmeister und eigentlicher Ziehvater wirklich war. Der kleine, alte Mann schien von zerbrechlicher Statur und machte den Eindruck schon mehr tot als lebendig zu sein.

Zumindest wenn man ihn nicht reden hörte. Der Alte Bookman hatte es faustdick hinter den Ohren. Es gab kaum jemanden, der so viel wusste wie er. Er war alt, aber trotzdem weder senil noch dement.
 

„Zügle deine Zunge. Sonst zeige, ich dir wie unangenehm die Zeit sein kann.“
 

Der ältere Herr kam in einer Sonderanfertigung von Anzug dahergelaufen. Lavi konnte nicht anders als bei diesem Anblick zu lachen. Es war beinahe so als würde man versuchen einen Gartenzwerg elegant aussehen zu lassen. Es war schier unmöglich.
 

„Hättest du dir nicht wenigstens eine andere Frisur machen können? Falls das mit diesem .. Gestrüpp überhaupt möglich ist? Immerhin gehen wir nicht in irgendein Lokal. Wir sollten nicht gleich negativ auffallen, es sei denn wir wollen hochkant rausgeworfen werden.“
 

Wieder erntete der Bookman Junior einen bösen Blick. Ja, heute hatte er schon einige Blicke dieser Sorte gesehen und allmählich war er ihnen überdrüssig.
 

„Falls dir mein Aussehen nicht passt, solltest du wohl eine Schlafmaske aufsetzen, anstatt nur einer Augenklappe. Wir fallen nicht negativ auf. Ich, falle nicht negativ auf. Alles was negativ auffällt ist deine Umgangsform, Bürschchen. Und jetzt lass uns gehen. Sonst kommen wir zu spät.“
 

Gesagt – Getan. Wenige Minuten später stellte Lavi den Motor des, zugegeben, etwas älteren Wagens ab. Sie befanden sich vor einem Lokal, das eigentlich der Treffpunkt der asiatischen Geschäftsleute war. Es gab wohl kaum ein angesagteres Restaurant unter Businessmenschen, als dieses hier.

Das Essen sollte angeblich vortrefflich schmecken und der Service ein absoluter Genuss sein.

Freundlichkeit und Professionalität sowie die beste Qualität an Essen zeichneten das Yume Sakura aus.

Einziges Problem für die beiden Bookmans: unter den ganzen Asiaten würden sie herausstechen und eventuell Blicke auf sich ziehen. Das war tatsächlich etwas ungeeignet, wenn man beachtete, dass sie nicht zum Essen, sondern zum Arbeiten hier waren.
 

„Trödel nicht, lass uns rein gehen!“
 

Erst die grimmigen Worte des kleinen Opas weckten Lavi aus seinen Gedanken. Was würde ihn hinter der dunklen Glastür erwarten?

Er betete dafür, dass es nicht sein letzter Abend sein würde. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das hier für ihn gut ausgehen würde.
 

Nachdem die Beiden das Lokal betreten hatten, wies man ihnen einen Doppeltisch zu, der eine gute Lage im Eck hatte. Von hier aus konnte man das Geschehen unbemerkt beobachten.

Es war nicht so, als wären sie von Mafiabossen umzingelt und müssten sich vor diesen verstecken. Aber es war einfacher sich untereinander zu besprechen, wenn man unbeobachtet war.
 

Lavi sowie der Opa blätterten die Speisekarte durch, die wirklich eine breite Auswahl an, für sie gänzlich unbekannten, Gerichten hatte.

Er war froh auch ein paar, wenn auch wenig vertretene, europäische Gerichte unter den vielen japanischen, chinesischen, koreanischen und anderen asiatischen Speisen zu entdecken.
 

Kaum hatten sie die Karten beiseite gelegt, kam ein junger, schlanker Mann auf sie zu.

Die schwarze Kleidung schmeichelte seinem Körper wirklich sehr, befand Bookman Junior.

Als er nun aber erkannte, wer vor ihnen stand, wurde er beinahe etwas bleich um die Nase herum.

Der Kellner, der zu ihnen kam, war niemand weniger als Kanda Yuu, in einem schwarzen Anzug. Er trug weiße Handschuhe, während sein Haar von einer vanillefarbenen Schleife zusammengehalten wurde.

Lavi hatte viel erwartet, aber das seine Zielperson sie sogar bedienen würde, war außerhalb seiner Vorstellungskraft gewesen. Er wusste, dass Kanda hier arbeitete, deshalb waren sie ja heute Abend hier her gekommen. Aber er hatte nicht erwartet, ihn gleich am ersten Abend hier anzutreffen. Eigentlich galt es nur, das Umfeld von ihm zu observieren um herauszufinden, wie der junge Japaner lebte.
 

So wie Kanda Lavi jetzt ansah, befürchtete er, dass sein Leben ein jähes Ende finden würde und Yuu ihn mit diesem wütenden Blick durchbohren würde.

Oh ja, er freute sich auf den morgigen Schultag.
 

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Sooo ~

Das war das erste Kapitel!

Wenn ihr wollt, könnt ihr mich wissen lassen, was ihr von der FF haltet!

Wie denkt ihr, geht es mit Lavi und Kanda weiter?

Beziehungsweise: Wird Lavi diesen Abend überhaupt noch überleben?!
 

lg Sweetness-Love ♥

Worst Case Scenario

Kanda Yuu hatte wie üblich seine Spätschicht angefangen und auch für die ersten Stunden ruhig hinter sich gebracht.

Es war nie eine Vorliebe von ihm gewesen, andere Menschen zu bedienen, aber er brauchte das Geld. Natürlich gab es viele Dinge, die ein junger Mann wie er tun konnte.

Unter anderem auch Dinge, die er niemals in Erwägung ziehen würde. Yuu zog das Bedienen ganz klar dem Einräumen von Supermarktregalen vor. Hier würde er zumindest keine Personen aus seiner Schule treffen.
 

Zumindest hatte er das immer gedacht.

Dieser Tag sollte ihn eines Besseren belehren.
 

Kanda verrichtete seine Arbeit immer gewissenhaft, wenn auch nicht mit einem Lächeln auf den Lippen. Er wusste was die Gäste des Lokals wollten und er bot es ihnen. Kanda war unübertrefflich was es anging, den besten Service zu bieten.

Nicht, weil er es so toll fand, sondern weil sein Stolz es ihm nicht erlaubte, schlampig zu arbeiten oder gar Fehler zu machen.
 

So wollte er auch die eben angekommenen Gäste an Tisch 18 bedienen. Die Handschuhe noch einmal zurecht gezogen schritt er leise an den anderen Tischen vorbei und näherte sich seinem Ziel. Er erwartete ein Pärchen oder ein verschwiegenes Paar von Businessherrschaften. Aber was ihn an Tisch 18 erwartete, war schlimmer als schmutzig grinsende Firmenchefs oder verliebt drein schauende Trottel.

Ja, er hatte einen Trottel vor sich. Wohl einen der größten, die es gab.

Lavi Bookman. Der Vollidiot der ihm schon in der Schule den letzten Nerv geraubt hatte.

Wie hatte er nur herausgefunden, dass er hier arbeitet? Warum war er hier? Und wer war der Alte der auch am Tisch saß?
 

War Lavi tatsächlich hier um Kanda noch mehr zu erniedrigen? Stand dieser Idiot etwa drauf von ihm bedient zu werden? Versuchte Lavi es jetzt auf die Art und Weise, weil es mit der Freundschaftsnummer nicht geklappt hatte?
 

Egal welche Lavis Beweggründe waren, Kanda musste da durch. Er konnte es sich nicht erlauben jetzt einfach umzudrehen und nach Hause zu gehen. Ersten würde sein Chef das nicht sonderlich gut finden und zweitens würde das wie eine eingestandene Niederlage aussehen. Kanda Yuu würde sich nicht von diesem Rotschopf unterkriegen lassen.

Heute nicht, morgen nicht, und nicht in tausend Jahren.

Also ging er die letzten Schritte an den Tisch, sah Lavi in die Augen und öffnete den Mund.
 

„Was darf ich Ihnen bringen?“
 

Er würde diesen Idioten wie jeden anderen hier im Lokal behandeln.

Keine Emotionen, keine Gefühlsregungen, keine Gewalt.

Yuu sagte sich selbst, dass es ihm nichts ausmachen würde, dass es ihn nicht im geringsten stören würde und dass er das hier hinter sich bringen würde.

Nun, er redete es sich eher ein. So einfach war das nämlich gar nicht, denn der Rothaarige glotzte ihn an, als wäre er das achte Weltwunder. Als dieser nun auch noch begann, undeutliche Worte vor sich herzu stammeln, fühle der Langhaarige seine Zornesader zucken.
 

„Wir nehmen zweimal das Yakiniku-Menü, einmal ohne Sake in der Sauce. Danke.“
 

Hätte der Alte nicht den Mund aufgemacht, wäre Kanda dem Jüngeren womöglich augenblicklich an den Hals gesprungen und hätte ihn bis zum Tode gewürgt. Was bildete sich diese Made überhaupt ein, hier aufzutauchen?

Sorgfältig und gleichzeitig zügig notierte sich Kanda die Bestellung und die dazugehörigen Getränke.

Desto eher die Beiden ihr Essen hatten, desto eher würden sie gehen, nicht wahr? Also gab es keinen Grund hier noch länger herumzustehen. Kanda machte auf seinen Absätzen kehrt und schritt genauso leise wie er gekommen war, wieder davon.
 

Nachdem er in der Küche bescheid gegeben hatte und sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, verlangen schon andere Gäste nach ihm.

Das hier war kein Zuckerschlecken, selbst für jemanden wie Yuu Kanda nicht. Natürlich gab es weitaus schwerere Arbeiten, aber was Yuu hier zusetzte, war weniger die körperliche Arbeit als die gierigen Blicke der Gäste.

Wie oft hatte er schon gesehen, wie man ihm lüstern hinterher gesehen hatte? Wie oft hatte er zu viel Trinkgeld bekommen um kurz darauf ein eindeutiges Angebot bekommen?
 

Die Welt war schlecht. Überall. Selbst an einem Ort wie diesem.

Yuu Kandas Welt war schon immer schlecht gewesen, und würde es wohl auch immer bleiben.
 

Nachdem er einen anderen Tisch bedient hatte und das leere Geschirr zurück in die Küche gebracht hatte, bekam er die Teller von Tisch 18. Nach einem tiefen Seufzen nahm er sie schließlich und bahnte sich seinen Weg zu den zwei unbeliebten Gästen. Nichts war erniedrigender als vor Lavi kriechen zu müssen. Absolut. Nichts.

Wenn er das Geld nicht so nötig hätte, würde er den Job sofort schmeißen und das Lokal verlassen.

Aber hier ging es nun mal nicht nur um ihn, sondern noch um eine andere, ihm zugegeben, wichtige Person.
 

„Mit den besten Empfehlungen aus der Küche.“
 

Den Standartsatz brachte er auch noch auf die Reihe, als er die Teller servierte.
 

„Kann ich Ihnen sonst noch einen Gefallen tun?“
 

Nach dem üblichen „Danke, nein“, konnte er gehen. Wie dankbar war er dem merkwürdigen alten, kleinen Mann gewesen, als er diese Worte ausgesprochen hatte?

Lavi schien mittlerweile zu versuchen Kanda nicht mehr anzusehen.

Yuu konnte weder die ätzend grünen Augen auf sich spüren noch die nerv tötende Stimme vernehmen. Welch eine Erleichterung das doch war!
 

Eines stand fest, morgen würde Lavi Bookman seinen letzten Atemzug machen.

Wäre Yuu nicht so erledigt, würde er wohl nach Schichtende vor dem Lokal auf ihn warten.

Aber jetzt, als sein Chef ihn endlich nach Hause gehen lies, verschwendete er keinen Gedanken mehr an Lavi. Er wollte keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden, an diese Bazille, die begann sein Leben noch lästiger zu gestalten, als es ohnehin schon war.
 

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Dieser Abend war schrecklich gewesen. Lavi hatte in Kandas Augen gesehen, wie angepisst er war. Nun, scheinbar war Yuu Kanda ohnehin rund um die Uhr angepisst, aber Lavi hätte schwören können, dass der Schwarzhaarige drauf und dran war, ihn mit seinem Blick zu erstechen.

Wie konnte ein Typ nur so abweisend und gleichzeitig beängstigend wirken?

Und warum hasste er Lavi schon jetzt so sehr? Der Bookman konnte sich nicht vorstellen, dass man diesen Blick und das Verhalten des jungen Japaners irgendwie anders deuten konnte.
 

Yuu Kanda hasste ihn vom ersten Moment an und es würde sich als verdammt schwierig gestalten, etwas über die Vergangenheit des Japaners herauszufinden, wenn dieser weiterhin so abweisend war.
 

„Was ist los mit dir? Hat dir das Essen nicht geschmeckt?“
 

Der Alte schien nicht zu verstehen, dass Lavi diese Situation unangenehm gewesen war.

Vielleicht wollte er es auch einfach nicht verstehen, da er Lavi schon von Anbeginn der Zeit predigte, dass Gefühle und eigene Meinungen in diesem Beruf nicht zählten. Lavi sträubte sich dagegen, das Leben als Bookman als Beruf zu bezeichnen. Würde es ein einfacher, normaler Beruf sein, könnte er am Abend ganz normal sein, müsste sich nicht rund um die Uhr mit dem einen oder anderen Fall befassen und nicht Stunden damit verbringen, sich den nächsten Schritt zu überlegen und festzuhalten, was er erlebt hatte. Nein, das Leben als Bookman war kein Beruf, es war wie ein Schwamm, der alles aufsaugte, selbst die eigene Persönlichkeit.
 

„Sorry Gramps, lass uns bitte einfach heim gehen. Ich bin müde und will schlafen.“
 

Natürlich war Lavi nicht halb so müde wie nervlich am Ende. Angesichts der Tatsache, dass er Kanda Yuu verärgert hatte und schon gemerkt hatte, dass dieser scheinbar keine sanfte Seite besaß, fürchtete er sich von morgen. Ja, er würde einen qualvollen Tod sterben, dem war er sich sicher.

Aber anderseits konnte der Rothaarige es nicht erwarten, mehr über Kanda zu erfahren und ihn vielleicht irgendwann sogar zu verstehen.
 

Der Ältere vermied es weiter darauf herumzureiten, scheinbar schien er die Geschichte zu schlucken. Wobei es recht fragwürdig war, dass Lavi tatsächlich müde war. Immerhin war er es gewohnt bis tief in die Nacht aufzubleiben um seine Arbeiten zu erledigen. Aber vielleicht war es wirklich nicht so schlecht, heute eher ins Bett zu gehen. Immerhin wollte Lavi noch eine ruhige, wohlige Nacht in seinem warmen Bett verbringen, ehe er morgen von Yuu Kanda erstochen werden würde.
 

Allerdings sollte Lavi gleich eines besseren belehrt werden, denn sein Tag war noch nicht am Ende angelangt. Als er in der kurzfristig gemieteten Wohnung seine Jacke auf das Sofa fallen ließ, kam der ältere Bookman und begann über das Geschehen im Restaurant zu reden.
 

„Ich verstehe nicht, was du hast. Kanda Yuu scheint etwas distanziert zu sein und möglicherweise tut er sich schwer, Emotionen nach außen zu tragen, aber er kam nett herüber. Es sah so aus, als würde sich das restliche Personal auf ihn verlassen, was uns den Hinweis gibt, dass er Gewissenhaft arbeitet und womöglich auch was seine restlichen Aktivitäten betrifft, zielstrebig und ehrgeizig ist. Er scheint weder menschenverachtend noch aggressiv. Auch scheint er keine extremen Berührungsängste aufzuweisen, wie es der Rest der damals im Waisenhaus anwesenden Personen tut. Entweder hat er die damaligen Ereignisse als Einziger so gut verarbeitet, oder aber er hat etwas damit zu tun.“
 

Lavi musste laut seufzen und sah den Opa mit geweiteten Augen an. Hatte dieser Kanda gerade als nett bezeichnet?
 

„Gramps, bitte, ich bitte dich wirklich, versuch nicht mal das Wort “Nett“ und den Namen Yuu Kanda in einem Satz gleichzeitig zu verwenden. Das kann nur schief gehen. Kanda Yuu ist nicht nett und erst recht ist er nicht so gut wie du ihn hinstellst. So wie er sich in der Schule benimmt, ist er menschenverachtend, das ist eigentlich gar kein Ausdruck mehr für sein Verhalten. Und aggressiv wäre auch stark untertrieben. Er wollte mir nach den ersten zehn Minuten, die ich neben ihm gesessen habe, an die Gurgel springen.“
 

Für diese Aussagen erntete der Rotschopf mit der Augenklappe einen skeptischen Blick. Was war los mit dem Alten? Verstand er es wirklich nicht? Kanda Yuu schien zwar nicht böse zu sein, aber dennoch wollte dieser Mensch nichts mit anderen Subkreaturen zu tun haben. Und er war nicht nett, nein, das war er wirklich nicht.
 

„Junge, du solltest wirklich schlafen gehen.“
 

Das war also, was Lavi als Antwort bekam? Anscheinend stellte der alte Bookman Lavis Personenanalyse tatsächlich in Frage. Was war hier los? Immerhin wusste Lavi doch, was er gesehen und gehört hatte. Und er war froh, dass er es nicht auch noch zu spüren bekommen hatte.

Ein letztes Seufzen von Lavis Seite, ehe er die Schultern hängen ließ und in sein Zimmer schlurfte.

Das konnte ja noch heiter werden. Ein Misanthrop der es scheinbar auf ihn abgesehen hatte und ein alter Sack, der ihm nicht glaubte.

Lavi Bookman war dem Untergang geweiht.
 

Nun war es Zeit für die Hausaufgaben. Auch wenn der junge Bookman eigentlich ins Bett wollte und auch noch duschen musste, vernachlässigte er seine Hausaufgaben nicht. Es war wichtig zumindest in den ersten Wochen als guter Schüler rüberzukommen. Leute die ihre Hausaufgaben machten, kamen leichter an ihre Mitschüler heran. Vielleicht würde Yuu Kanda eines Tages seine Hausaufgaben vergessen und würde ihn dann darum bitten, von ihm abschreiben zu können.

Natürlich war es lästig sich jetzt noch hinzusetzen, Hausaufgaben machen zu müssen und anschließend noch ins Bad zu huschen, aber auch für einen Bookman, der nicht mal seinen eigenen Namen wusste, war Hygiene wichtig. Auch für einen Lavi, der eigentlich nicht Lavi hieß, war es wichtig zumindest ein bisschen wie jeder andere in seinem Alter zu sein.
 

Doch letztlich kam es nicht so weit, denn als Lavi sich über Algebra machte, sank sein Kopf immer weiter nach unten, bis er sich schließlich auf dem Heft befand und seine Augenlieder sich schlossen.

Es war schon immer anstrengend gewesen, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen, egal wie oft er das nun schon hinter sich gebracht hatte.
 

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Yuu Kanda hatte erst vor etwa zwei Stunden seinen Schlaf gefunden. Grundsätzlich tat er sich schwer dabei einzuschlafen und seine Gedanken über den nervigen Bastard, der nun neben ihm saß, halfen dabei nicht wirklich.
 

Es war gegen drei Uhr morgen, als sein Handy neben dem Kopfkissen vibrierte. Kanda behielt es immer in seiner Nähe, immer eingeschaltet. Es konnte ihn ohnehin niemand anrufen, der ihn nervte, da er seine Nummer niemandem gab. Es gab nur wenige Personen, die seine Nummer kannten und eine davon, versuchte ihn nun um diese Uhrzeit zu erreichen.
 

Der junge Japaner brauchte nicht lange um zu reagieren. Es gab kaum etwas, was ihn mehr aufschrecken ließ als das Vibrieren seines Handys. Denn wenn sein Handy sich mal rührte, dann kündigte es Probleme an. Auch wenn Yuu Kanda nicht sehr sozial war, eigentlich war er sogar absolut unsozial, gab es eine Person, die ihn selbst um diese Uhrzeit wecken konnte ohne einen schrecklichen Tod zu erleben.
 

„Kanda Yuu hier.“
 

Das was er dann am Handy zu hören bekam, veranlasste ihn dazu in seine Klamotten zu schlüpfen, sich die Autoschlüssel zu krallen und ohne sich die Haare zu kämmen, die Wohnung zu verlassen.
 

Es war nicht so, als hätte er dieses Szenario nicht schon oft durchgemacht, aber dennoch war es jedes Mal aufs Neue anstrengend und erschreckend. Um nicht zu sagen, beängstigend.

Kanda kannte keine Angst. Zumindest war er fest davon überzeugt, dass dieses ziehende Gefühl in der Magengegend keine Angst, sondern Aufregung war. Dass es wohl letztlich eine Mischung aus beidem war, konnte er sich nicht vorstellen.
 

Seine Hände waren kalt, als er die Autotür zuschlug und das große, weiße Gebäude betrat, dass er grundsätzlich nur mit diesen Gefühlen besuchte. Es dauerte ihm zu lange, den Fahrstuhl zu benutzen, also ging er wie immer zum Treppenschacht und eilte zu Fuß in den achten Stock.

Als er die Tür nach einem kurzen Klingeln und dem anschließend ertönendem Surren öffnete, kam ihm schon eine in weiß gekleidete Frau entgegen.
 

„Wie geht es ihm?“
 

Kanda machte sich nicht die Mühe, die Frau großartig zu begrüßen. Es verlief jedes Mal so. Sie rief ihn an, er machte sich unverzüglich auf den Weg, überquerte dabei auch gerne ein paar rote Ampeln, kam mit schweißnassen und kalten Händen im achten Stock an, wo sie ihn schon erwartete und machte sich dann mit ihr zusammen auf den Weg zu Zimmer 24.
 

„Das Übliche. Er fing wie immer an herumzuschreien und nach Ihnen zu verlangen.“
 

Kanda schwieg kurz.
 

„Ist er wieder handgreiflich geworden?“
 

„Leider ja.“
 

Die Miene des Asiaten verdüsterte sich etwas mehr, als sie es ohnehin schon war.

Jedes mal stellte er diese Frage aufs Neue und jedes Mal wusste er die Antwort schon bevor die Krankenschwester den Mund aufmachte.

Er hatte einfach die Hoffnung, dass es sich irgendwann ändern würde. Dass er sich irgendwann ändern würde.
 

Und so betrat er mit der Blondine Patientenzimmer 24.

Besser gesagt betraten sie den Raum in dem einer der vielen Gäste dieser Institution untergebracht waren. Hier gab es keine Patienten, sondern nur Gäste. Das hier war kein Krankenhaus.
 

Kanda befand sich in einer psychiatrischen Einrichtung.
 

„Yuu! Mein lieber, lieber Yuu! Da bist du ja endlich! Wo warst du denn so lange?“
 

Kanda war noch nicht am Bett angekommen, als ihm sein Gegenüber schon um den Hals fiel.

Die Umarmungen von ihm waren schon immer stärker gewesen, als die anderer Menschen.

Wenn der junge Japaner ehrlich war, tat es sogar etwas weh, so wie sein Brustkorb gerade zusammengepresst wurde.
 

„Ja, ich bin hier. Also beruhige dich und leg dich wieder hin. Tut mir leid, ich habe etwas länger gebraucht.“
 

Die Schwester blieb im Hintergrund. Allgemein kamen die Pfleger und Schwestern dem Gast aus Zimmer 24 nicht zu nahe, wenn er derartig aufgewühlt war. Es gab nur eine Person, die ihn dann beruhigen konnte und diese Person war Kanda Yuu.
 

Niemand verstand das Verhältnis zwischen den Beiden so wirklich. Man konnte es aber durchaus als etwas komplizierte Freundschaft bezeichnen. Auch wenn der Patient aus Zimmer 24 eine offensichtliche Zuneigung für den Japaner hegte, konnte man nicht von Liebe reden. Es war mehr ein brüderliches Verhältnis, eine brüderliche Liebe, die beide miteinander verband.

Allerdings verband nicht nur das die Zwei, sondern auch ihr gemeinsames Erlebnis.

Niemand sonst außer Kanda kam hier her um sich um diesen Patienten zu kümmern.

Womöglich weil Patient 24 keine Familie oder gar Freunde hatte, außer ihn.

Kanda war seine Familie, sein Lebensinhalt, alles was ihn noch lebendig wirken ließ.
 

„Yuu, warum sind deine Haare denn wieder so unordentlich? Komm her und lass sie mich kämmen.“
 

Und wie immer tat Kanda, was man ihm sagte. Er setzte sich auf den Rand des weißen Bettes und reichte dem Dunkelhaarigen hinter ihm die Bürste, die in der Schublade des kleinen Tisches war, welcher am Bett stand.

Kanda sah jedes Mal so aus, wenn er hier ankam. Er war immer müde, sein Haar zerzaust und seine Hände kalt. Und es war jedes Mal so, dass sich die Person, die ihm nun fröhlich grinsend das lange Haar bürstete, erst beruhigte, sobald er den Raum betrat.
 

„Sag mal, warum bist du so still, Yuu? Stimmt etwas nicht?“
 

Das war untertrieben. Der Junge, der ihm jetzt das Haar glatt kämmte drehte jedes Mal durch, wenn er aus seinem geistesabwesenden Zustand erwachte. Immer wieder schrie er nach dem Schwarzhaarigen und ließ auch die Pfleger, Schwestern und Ärzte nicht an sich heran. Und wenn eine dieser Personen ihm zu nahe kam, schlug er um sich. Und was das anging, war er um einiges gefährlicher als der Rest der Patienten hier.
 

„Alma, du musst aufhören die Menschen hier zu verletzen, du weißt dass es ihnen sehr weh tut, wenn du sie schlägst. Das macht sie traurig und verursacht Schmerzen.“
 

„Macht es dich auch traurig, wenn ich sie schlage?“
 

„Ja. Sehr sogar.“
 

„In Ordnung, dann werde ich es nicht mehr tun! Aber nur für dich Yuu, hast du gehört, nur für dich!“
 

Ja, er hatte es gehört. Schon etliche Male, immer denselben Satz.

Und er wusste, dass er das nächste mal, wenn er kommen würde, wieder dieselben Worte aussprechen würde und dass sich nichts an Alma Karmas Verhalten ändern würde.

Auch nach neun Jahren würde sich Alma nicht ändern.

Yuu Kandas Welt, würde sich nach neun Jahren nicht ändern.

Immerhin hatte er diese Vorstellung innerhalb der letzten neun Jahre schon etliche Male gesehen. Sie verlief immer gleich allerdings schienen die Schauspieler nie zu einem Ende zu kommen.

Ja, er fühlte sich wie ein Schauspieler, oder eher eine Marionette.

Ob Kanda es wollte oder nicht, er musste das hier tun.

Er hatte keine Wahl. Er hatte nie eine gehabt.

This ain't no fun

Es war ein schrecklicher Morgen.

Lavi hatte verschlafen und dann war auch noch das Wetter mehr als schlecht. Er klaubte seine Schulsachen zusammen, schlüpfte in Schuhe und Jacke, schwang sich die Schultasche über die Schulter und verließ das Haus ohne Frühstück.
 

Er war doch gestern tatsächlich über den Hausaufgaben eingeschlafen. Auch noch unter Algebra!

Nun, er hätte allerdings wohl doch einen Blick in den Spiegel werfen sollen, anstatt sich nur in Eile die Zähne zu putzen und die Haare zu ordnen, denn sämtliche angefangenen, aber aufgrund seiner Müdigkeit nicht vollendeten Formeln, standen in seinem Gesicht. Dabei kannte sich der Bookman doch eigentlich gut genug mit frisch Geschriebenem aus um wissen zu müssen, dass man sich nicht auf nasse Tinte legen sollte.
 

Gerade noch rechtzeitig bekam der Junge die Kurve und stürmte auf seinen Platz in der letzten Reihe, eher sein Lehrer das Klassenzimmer betrat. So schnell wie er gerannt war, war Lavi nun doch ziemlich außer Puste und erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass der Platz neben ihm leer war.
 

Kanda Yuu war nicht da. War er so wütend auf ihn gewesen, dass er nicht mehr zur Schule kam? Musste Lavi sich ernsthaft die Schuld am Fehlen des jungen Japaners machen? War es doch zu viel gewesen gestern im Lokal aufzutauchen?
 

Die erste viertel Stunde des Unterrichts verlief ruhig. Der Rotschopf war damit beschäftigt richtig wach zu werden. Die Sache von gestern ging ihm nicht mehr so einfach aus dem Kopf. Der Blick von Kanda ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
 

Und dann war da auch noch der Alte gewesen, der ihn in den Ohren lag, von wegen der Japaner war gar nicht so bösartig wie er ihn beschrieben hatte. Als könnte der Grauhaarige das wirklich beurteilen, er saß ja nicht neben ihm. Dem jungen Bookman hatte schon ein Tag gereicht um sich ziemlich sicher zu sein, dass Kanda kein Kind von guter Laune war. Viel mehr war Kanda der Advocatus Diaboli.
 

Wie konnte man nur so anti sein? Im Ernst, Kanda schien gegen alles und jeden etwas zu haben. Es war verwunderlich dass er mit anderen Menschen in einem Raum auskam ohne Amok zu laufen. Allerdings schien nicht viel dazu zu fehlen, denn oft genug hatte Lavi die Zornesader des Schwarzhaarigen gesehen. Kanda war gefährlich. Eine tickende Bombe. Und Lavi wusste schon jetzt, dass er das Ziel jener Bombe sein würde.
 

Es war schwer jemanden als Zielperson zu haben der so unnahbar war wie der Japaner.

Meistens hatte er nach spätestens drei Tagen eine gewisse Bindung zum Ziel aufgebaut, allerdings schien ihn das dieses Mal mehr als unwahrscheinlich. Es war beinahe schon fraglich ob er diesen Auftrag überhaupt erfüllen konnte, denn wie er mittlerweile schon gehört hatte, redete Kanda mit niemandem. Es gab absolut keine Person an dieser Schule, die irgendetwas von Yuu wusste. Die Lehrer eingeschlossen, diese mieden den mürrischen Schüler seit dieser einst nach dem Kendounterricht von einem Lehrer angesprochen wurde. Nicht, dass man ihn einfach angesprochen hatte, man hatte ihm an die Schulter gefasst. Das veranlagte den Jungen direkt mit seinem Bokutō auszuholen. Es war ein Wunder gewesen, dass Kanda nicht von der Schule geflogen war.
 

Der Rotschopf seufzte und ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Das war ein harter Fall.
 

Plötzlich wurde sein Name gerufen, was er erst beim zweiten Mal realisierte.
 

„…Lavi, würdest du bitte an die Tafel kommen und diese Aufgabe vorrechnen?“
 

Kurz ließ Lavi den Blick über die Aufgabe schweifen. Er wusste dass sie zur Hausaufgabe gehört hatte, die er nicht gemacht hatte.
 

„Du scheinst dich ja ausgiebig mit dem Stoff beschäftigt zu haben, so wie es aussieht.“
 

Natürlich verstand der verschlafene Junge nicht, worauf sein Lehrer hinauswollte, schließlich hatte er bis jetzt nicht bemerkt dass ein Teil seiner Hausaufgabe in seinem Gesicht stand.

Also erhob er sich von seinem Stuhl, ging an die Tafel und nahm die Kreide in die Hand.
 

Wie ging das doch gleich?
 

Nach und nach fügte er Klammern, Zeichen und Zahlen hinzu, doch auf das Ergebnis kam er noch nicht. Als es an der Tür klopfte und der Lehrer abgelenkt war, flüsterte ihm ein Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen links und rechts die Lösung zu. Scheinbar hatte er auch hier schon ein paar Verbündete gefunden.
 

„Danke!“
 

Nach einer kurzen, gewisperten Antwort schrieb er die Zahlen sorgfältig nieder, legte die Kreide beiseite und drehte sich grinsend zum Lehrer um, als hätte er absolut keine Probleme gehabt.

Allerdings wich sein Grinsen sofort wieder von seinen Zügen, denn die Person, die an die Tür geklopft hatte war ein absolut durchnässter Yuu Kanda, der jetzt im Raum stand und zwischen ihm und dem Lehrer hin und her sah.
 

„Du kannst auf deinen Platz, Lavi. Danke.“
 

Gesagt - getan. Lavi ging nach hinten und nahm Platz um zu beobachten wie sein Mitschüler dem Lehrer eine Entschuldigung für die erste Stunde zuschob und dann mit üblich mürrischem Blick seinen Weg zu seinem Platz bahnte.
 

Was hatte Yuu Kanda nur getrieben? So wie er aussah, könnte man vermuten dass er Kilometer zu Fuß gegangen war. Ganz zu schweigen von den Augenringen und der noch blasseren Haut als gestern. Er sah aus, als würde er direkt vom Friedhof kommen.

Der Besuch von Lavi im Lokal konnte ihm doch nicht so zugesetzt haben, oder?
 

Lavi traute sich nicht den Schwarzhaarigen anzusprechen, konnte aber die Augen nicht von ihm nehmen. Ihn überkam ein schreckliches Gefühl. Der Rothaarige fühlte sich verantwortlich für den Zustand seines Mitschülers, immerhin konnte er nicht ahnen, was wirklich geschehen war.
 

Yuu schien sich nicht mal annähernd für den Bookman zu interessieren, denn er schenkte ihm keinen Blick. Nicht mal einen verachtenden. Gar nichts. Keine Drohgebärde, absolut nichts.

Der schwarzhaarige Japaner saß einfach nur auf seinem Stuhl, während seine Haare tropften und sich auf seiner Haut feuchte Rinnsale bildeten.
 

Lavi hatte alles erwartet. Geköpft zu werden, erschlagen oder erwürgt zu werden. Aber nicht, dass er jetzt vollkommen ignoriert wurde.

Und irgendwie passte ihm das überhaupt nicht.
 

Etwas war faul an dieser Situation. Lavi kannte Kanda noch nicht lange, eigentlich gar nicht, wenn er ehrlich war. Aber eines war ihm klar, nämlich dass Yuu Kanda niemals so ruhig reagieren würde, nachdem was gestern vorgefallen war. Nun, zumindest würde er es normalerweise nicht ignorieren, so wie er es jetzt tat. Was war also der Fehler, den es galt zu finden?
 

Nicht dass Lavi sonderlich scharf darauf war von Kanda gelyncht zu werden, aber dass der Japaner so ruhig da saß und absolut nichts sagte, passte einfach nicht. Es war einfach falsch. Lavis Nase zuckte.

War das vielleicht die Ruhe vor dem Sturm?
 

Im Laufe des Unterrichts beobachtete der Rotschopf seinen Tischnachbarn ausgiebig.

Nach wie vor hatte sich nichts an dessen Haltung geändert, schlaff, erschöpft und absolut nicht angriffslustig. Langsam aber sicher wurde Lavi klar, dass es vielleicht gar nicht so war dass Kanda ihn nicht lynchen wollte, sondern dass er es einfach nicht konnte.
 

Dass Kanda Yuu beinahe einzuschlafen schien, hinderte ihn nicht daran sekundengenau zum Läuten der Schulglocke aufzustehen. Es war Pause. Der Schwarzhaarige Japaner sammelte die wenigen Sachen zusammen und schob sie in seine Hosentasche. Lavi war nicht entgangen, dass der Miesepeter ohne jegliche Schulutensilien gekommen war. Lediglich einen Kugelschreiber schien er bei sich gehabt zu haben und das Blockblatt hatte er mürrisch von dem Mädchen mit den schwarzen langen Zöpfen entgegengenommen.

Lavi konnte nicht anders als zu glauben, dass die Beiden sich näher kannten. Gab es vielleicht doch jemanden, mit dem Kanda Yuu vertraut war?
 

Egal, später würde der Bookman genügend Zeit haben um sich Gedanken darüber zu machen. Jetzt galt es erst einmal dem Japaner zu folgen und herauszufinden, was ihm über die Leber gelaufen war. So wie er sich verhielt, musste es etwas im Elefantenformat gewesen sein.
 

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Der Morgen war genauso schrecklich verlaufen wie die Nacht.

Nach etlichen Stunden die Yuu auf Almas Bett verbracht hatte, schienen die Medikamente bei diesem endlich anzuschlagen, denn Alma wurde dusselig, faselig, benommen.

Alma Karma sprach zwar so gut wie nie über wichtige Dinge oder interessante, aber sobald die Medikamente einsetzten, war alles aus und vorbei.
 

Es war 7:37Uhr als der müde Junge auf die Analoguhr am Tresen der Nachtschwester sah. Er musste sich beeilen um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Eigentlich wollte er nicht in die Schule. Genau genommen wollte er gar nichts, außer sich irgendwo zu verkriechen und darauf hoffen, dass die Welt untergehen würde. Aber sein Adoptivvater war der Meinung dass die Schule ihn ablenken würde. Nicht nur das, Froi Tiedoll war auch noch der Meinung, dass Kanda vielleicht Freunde finden würde.
 

Freunde. Als würde er Freunde haben wollen.
 

Unten am Parkplatz angekommen joggte er zu seinem Wagen, da es in Strömen regnete, zückte die Autoschlüssel aus seiner Jackentasche und stieg ins Auto sogleich er es aufgeschlossen hatte. Die Schlüssel im Zünder steckend versuchte er vom Fleck zu kommen. Er versuchte es.

Sein Wagen gab ein kümmerliches „Rattattattattatt“ von sich ohne auch nur Anstalten zu machen sich zu bewegen.
 

Das konnte nicht wahr sein. Die Welt musste ihn hassen. Es gab gar keine andere Erklärung für den ganzen Bullshit.
 

Er stieg aus, mürrisch und in Eile, klappte die Motorhaube auf und versuchte herauszufinden, was mit der Schüssel nicht stimmte. Kanda hatte kaum Ahnung von solchen Dingen. Ein Bekannter seines Adoptivvaters hatte sich bisher immer um die Autos gekümmert, wenn denn wirklich mal etwas nicht in Ordnung war. Allerdings reichten Yuu’s Kenntnisse aus um sagen zu können, dass es kein offensichtlicher Fehler war, der ihn davon abhielt rechtzeitig in die Schule zu kommen.
 

Er schlug die Motorhaube wieder zu, ging zurück in die Fahrerkabine und versuchte erneut sein Glück. Und wieder ohne Erfolg. Das war schon wieder zu viel für die Geduld des Jungen. Er schlug mit der Faust mit voller Wucht auf das Lenkrad, ehe er den Kopf senkte und die Stirn daran anlegte. Langsam ein und ausatmend versuchte er sich zu beruhigen.

Die Nacht war lang und anstrengend gewesen, vermutlich würde er ohnehin jemanden überfahren wenn er jetzt mit dem Auto unterwegs wäre.

Der Schwarzhaarige stieg aus, schlug die Autotür zu und verriegelte den Wagen.

Ihm blieb keine andere Wahl als im Regen zur Schule zu laufen. Die Schule, die ziemlich am anderen Ende der Stadt war.
 

Er hätte kotzen können.
 

Und so lief er. Er rannte nicht. Yuu wusste nicht weshalb er hätte rennen sollen. Er war ohnehin durchnässt bei diesem Starkregen und er würde sowieso zu spät kommen. Ob eine halbe oder eine ganze Stunde, wen interessierte das schon?
 

Ein normaler Mensch wäre nach dieser Nacht vermutlich einfach nach Hause und in sein Bett.

Aber Kanda Yuu war nicht normal. Außerdem wäre es absoluter Schwachsinn nach Hause zu gehen, nur weil er die Nacht kaum geschlafen hatte und sich um Alma kümmern musste. Immerhin kam das ein paar Mal im Monat vor und auch sonst bekam er nur selten genug Schlaf ab.

Er konnte nicht schlafen und er wollte es auch nicht. Zu schlafen war noch schlimmer als wach zu sein. In Kandas Augen war beides ziemlich beschissen, aber ihm blieb ja keine andere Wahl als sich zwischen einem von beiden zu entscheiden.
 

Seine Haut wurde eisig kalt. Die dünne Jacke die er trug war schon vollkommen durchweicht. Und doch bemerkte er nicht wie kalt und blass seine Haut geworden war, kümmerte sich nicht darum.

Auch dass sie langsam zu schmerzen anfing, da sie von der Blässe in eine Röte wechselte, störte ihn nicht. Um ehrlich zu sein, gefiel es ihm.

Der Schmerz war schon immer sein Begleiter gewesen, ob er es wollte oder nicht. Das einzig Gute daran war tatsächlich dass ihm dadurch klar wurde, dass er überhaupt noch am Leben war. Was, wenn man es genauer betrachtete, vielleicht sogar einem Wunder glich.
 

Yuu versuchte nicht mehr nachzudenken. Daran zu denken was die Nacht vorgefallen war würde nichts daran ändern dass genau das Gleiche wieder passieren würde. Und umso länger er darüber nachdachte, umso mehr hatte er die Schnauze davon voll. Aber Alma und dessen Probleme waren etwas, von dem er nicht einfach davonlaufen konnte. Er musste sich damit arrangieren, versuchen es stillschweigend zu ertragen. Stillschweigend war gut. Das bedeutete nämlich zeitgleich dass niemand bemerken konnte, wie durch er selbst eigentlich war. Und damit war nicht gemeint, dass seine Kleidung durchnässt war.
 

Durch war, ihn betreffend, untertrieben.
 

An der Schule angekommen war glücklicherweise niemand mehr auf dem Schulhof oder Parkplatz. Das ersparte ihm zumindest schon jetzt die ganzen Idioten sehen zu müssen, wie sie lachten, sich unterhielten und in ihrer rosa glitzernden Scheißwelt lebten.
 

Es war 23 nach acht als er endlich im Klassenzimmer ankam. Und als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und sich daraufhin umgedreht hatte, hätte er sie lieber gleich wieder geöffnet um zu gehen.
 

Lavi Bookman gleich am Morgen nach einer solchen Nacht gegenüberzustehen war zu viel des Guten.

Lavi war zu viel des Guten. Ein Murren unterdrückend reichte er die Entschuldigung die ihm die Nachtschwester ausgestellt hatte dem Lehrer und verzog sich auf seinen Platz, neben dem Lavi sich schon einige Sekunden eher niedergelassen hatte.
 

Kanda versuchte den Vollidioten neben sich zu ignorieren. Er wusste nicht was passieren würde, wenn er das nicht täte. Und darauf heute auch noch wegen Mordes in Untersuchungshaft zu müssen, konnte er tatsächlich verzichten.
 

Es war schwer nicht einzuschlafen. Aber die Tatsache dass er nicht schlafen wollte, nicht durfte, hielt ihn davon ab den Kopf auf die Tischplatte zu legen und sich einfach gehen zu lassen. In aller Öffentlichkeit zu schlafen wäre das Letzte gewesen. Aus vielerlei Gründen.
 

Der Japaner war sogar zu erschöpft um sich irgendwie mit Lavi zu beschäftigen. Weder wollte er an den Versager denken, noch ihn sehen. Vor allem nicht nachdem er und der Alte ihn gestern auf der Arbeit gestresst hatten. Lavi pisste ihn an. Und das ordentlich. Yuu war sich sicher, dass Lavi nicht einfach so aufgeben würde. Der Karottenkopf würde ihn sicherlich solange nerven bis er ihn eigenhändig ins Jenseits verbannte.
 

Es würde bald zur Pause läuten. Mit der Zeit hatte Kanda ein Gefühl dafür entwickelt, da er immer so schnell wie möglich aus dem Klassenraum wollte. Nichts war nerviger als überfüllte Gänge und das Gedränge durch das man sich dann durchkämpfen musste.
 

Aber er kam nicht weit. Jemand lief ihm nach und zerrte am Ärmel seiner Jacke. Dieser Jemand war Lavi, das verriet ihm die Tatsache, dass er ‘Yuu‘ genannt wurde.

Er berührte ihn. Hielt ihm am Arm fest. Er berührte ihn verdammt nochmal!

Mit einer barschen Bewegung schlug er die Hand von seinem Arm und fuhr herum um den Rothaarigen drohend anzusehen.
 

„Fass mich nicht an! Und jetzt verpiss dich!“
 

Er wollte keine Sekunde länger hier bleiben und sich mit dem Bastard herumschlagen. Das schwarze offene Haar fiel ihm ins Gesicht als er sich umdrehte und hastig davon schritt. Er musste hier weg.

Die Schritte verfolgten ihn und er hörte auch wieder, dass sein Name gerufen wurde. Aber das interessierte ihn nicht. Er wollte hier weg, weg von Lavi und allen anderen die ihn hätten anfassen und ansprechen können.
 

Schnell, und wie so oft, fand er sich in der Jungentoilette, hinter einer verriegelten Kabinentür.

Das war so ziemlich der einzige Ort, an dem ihn niemand nerven konnte. Auch wenn es verdammt abartig war sich an einen Ort zu verziehen an dem andere auf den Boden pissten, fühlte er sich hier wohl. Gemächlich und mit einer gewissen Erleichterung lehnte er den Kopf gegen die kühle Kabinenwand. Ein Atemzug nach dem anderen. Leicht. Einfach. Schwerelos.
 

Kanda war aber nicht schwerelos. Und das bemerkte er als er hart an der gegenüberliegenden Kabinentür aufschlug.
 

„Fuck!“
 

Er musste eingeschlafen sein. War er tatsächlich auf dem Klo eingeschlafen? Ehrlich? Das konnte doch nicht wahr sein.
 

Langsam richtete er sich wieder auf. Und oh Gott, er fühlte sich schrecklich. Wie lange war er weggetreten gewesen? Wie lange war er in dieser Lage auf dem Klodeckel gewesen? Es fühlte sich an wie Stunden.
 

Eigentlich sollten doch eher Beine oder Arme eingeschlafen sein, so wie er hier gesessen hatte. Aber gerade fühlte es sich eher so an, als wäre sein Hirn eingeschlafen. Eingefroren.

Gottverdammt, er war tatsächlich auf diesem siffigen Scheißhaus eingeschlafen.
 

Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, der sich unbemerkt im Laufe der Zeit auf seiner Haut gebildet hatte, entriegelte die Kabinentür und verließ seinen zugegeben, etwas widerlichen, Zufluchtsort. Kanda schritt an die Waschbecken, drehte einen der quietschenden Wasserhähne auf, ließ kaltes Wasser über seine Hände fließen. Die Kälte des Wassers tat gut. Anders als der Regen durch den er heute Morgen gelaufen war. Diese Kühle beruhigte ihn. Und das obwohl das Wasser so kalt war, dass es schon weh tat.
 

Der Japaner senkte sich etwas nach unten und klatschte sich etwas vom kalten Wasser ins Gesicht, ehe er den Wasserhahn wieder zudrehte. Nach einem weiteren Moment, in dem er sich einfach nur am Rand des alten Waschbeckens abgestützt hatte, stieß er sich ab und machte sich widerwillig auf den Weg in sein Klassenzimmer.
 

Ihm war nicht aufgefallen, dass seine Wangen unter der glänzenden Nässe rot schimmernden und seine Augen einen glasigen Ausdruck besaßen.
 


 


 

_________________
 

Seit Yuu ihn so harsch abgewiesen hatte und ins Jungsklo verschwunden war, waren jetzt schon 35 Minuten vergangen. 15 Minuten dieser Zeit waren Pause gewesen, aber der vorhin so mies gelaunte Kanda hatte bereits 20 Minuten des Geschichtsunterrichts verpasst.
 

Lavi fragte sich, wo zum Henker der Kerl abgeblieben war. War Yuu wirklich so böse auf ihn, dass er sich lieber vom restlichen Unterricht befreien ließ? Aber warum? Konnte er wirklich wegen der Sache mit dem Restaurant so böse auf ihn sein? So schlimm war Lavis Aktion ja nun auch nicht gewesen. Genau genommen war das ja nicht mal seine Idee gewesen! Daran war nur der Panda schuld!
 

Während er so zurückgelehnt im Stuhl versank, kritzelte er unachtsam auf seinen Unterlagen herum.

Es war noch nicht oft vorgekommen, dass jemand wirklich ein so großes Problem mit ihm hatte. Kanda schien die gesamte Menschheit für seinen Feind zu halten. Wobei, nicht die Ganze. Da gab es dieses Mädchen aus der ersten Reihe. Lenalee war ihr Name gewesen, wenn er sich nicht irrte. Lavi irrte sich nie. War da vielleicht etwas im Busch?
 

Egal was es war, er kam nicht dazu weiter darüber nachzudenken. Es klopfte an der Tür und kurz darauf trat Kanda ein. Wahnsinn. Lavi hatte nicht erwartet den heute noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Nach einer kurzen, gemurmelten Entschuldigung schlich sich der Schwarzhaarige auf seinen Platz, der dieses Mal etwas entfernt vom Lavis war.
 

Vielleicht war das auch besser so, denn Kanda schien noch schlechter gelaunt als vorher.
 

Der Rotschopf fragte sich, wo seine Zielperson die ganze Zeit gewesen war. Doch nicht auf dem Klo! Niemand verbrachte so viel Zeit auf dem Klo. Und wenn doch, dann war Lavi sich sicher, dass er nicht wissen wollte, warum er so lange dort gewesen war.
 

Aber die Abwesenheit des Jungen bedurfte einer Notiz und so wurde zu der unauffälligen Liste die Lavi seit gestern führte ein weiterer Punkt hinzugefügt.
 

Es war nicht nötig im Geschichtsunterricht aufmerksam zu sein. Ganz und gar unnötig war es. Lavi kannte alle Fakten und Daten auswendig und Geschichte war das Fach, in dem er meistens schlief. Auch ein Bookman brauchte schlaf. Und da er nicht oft dazu kam nachts zu schlafen, holte er das wenn möglich auch in der Schule nach.
 

Aber auch wenn das Fach an sich nicht zu beachten war, konnte Lavi jetzt keinen auf faul machen. Es gab da ja immer noch Kanda Yuu.

Dieser jedoch tat gerade nichts. Und damit war tatsächlich absolut nichts gemeint.

Der Kopf des Jungen lag auf der Tischplatte während seine Arme schlaff neben seinem Kopf lagen und teils vom langen, seidig schwarzen Haar bedeckt waren
 

Schlief er etwa? Im Unterricht? Yuu Kanda? Im Ernst?!
 

Lavi hatte sich alles vorstellen können, aber nicht dass Kanda jemand war, der im Unterricht schlief. So weit wie ihm bekannt war, war Yuu recht diszipliniert und fiel bis auf kleinere Unannehmlichkeiten kaum negativ auf. Zwar schien er nicht sonderlich gut im Unterricht mitzuarbeiten, aber auch nicht so als würde er sich in die Schule setzen und schlafen.
 

Der Typ war ein einziges Mysterium und Bookman Junior befürchtete, dass das nicht nur daran lag, dass er sich gerade den zweiten Tag mit dem Japaner beschäftigte.
 

Es gab nichts was er sich weiter notieren hätte können, denn Kanda tat nichts. Er lag da und schlief.

Und das Beste daran war: der Lehrer interessierte sich absolut nicht dafür. Er laberte und laberte und laberte und obwohl Lavi sich sicher war, dass er bemerkt hatte dass Kanda schlief, unternahm er nichts um ihn zu wecken.
 

Vielleicht hatte der dickliche bärtige Mann auch einfach nur Angst vor ihm, wäre ja eigentlich gut nachvollziehbar gewesen. Der Rotschopf jedenfalls würde sich auch nicht trauen Kanda-schlägt-dich-tot jetzt zu stören.
 

Den Rest des Unterrichts fiel ihm nur noch auf, dass das Mädchen namens Lenalee des Öfteren zum schlafenden Miesepeter sah. Der Bookman glaubte Sorge in ihrem Blick zu sehen. Scheinbar hielt nicht nur er es für merkwürdig, dass Kanda schlief.
 

Und da er neugierig war, räumte er seine Bücher etwas langsamer als üblich in die Tasche als der Unterricht zu Ende war und das hübsche Mädchen an den Tisch des Japaners ging. Das was er dann zu sehen bekam, verschlug ihm schlechthin die Sprache. Wie traute sich das Mädchen nur Yuu so leichtfertig anzusprechen? Und warum rüttelte sie nicht einfach etwas an ihm, als er davon anfangs nicht wach wurde?
 

Schließlich erhob sich der schwarze Mob langsam, bis Kanda mehr oder weniger ordentlich auf seinem Stuhl saß und etwas verwirrt drein schaute. Nach einer weiteren Sekunde des Realisierens, stand der Japaner auf und ging wortlos und doch etwas rasch an der Schwarzhaarigen vorbei, die nach wie vor besorgt aussah.
 

Lavi konnte nicht anders als dem Japaner zu folgen. Sein Instinkt verlangte es.
 

Es war schwer den Schwarzhaarigen zu finden, der obwohl er doch gar nicht so viel eher als Lavi den Raum verlassen hatte, schon nicht mehr zu sehen gewesen war. So wie Kanda herum gewackelt war, hätte ihm der Bookman niemals zugetraut so schnell aus dem Staub zu sein.
 

Aber letztlich fand er ihn doch, sich an den Wänden entlang tastend, den Weg nach außen suchend. Suchte Kanda wirklich den Weg nach außen? Oder missverstand der Rotschopf das Bild das sich ihm bot? Wie konnte es sein dass der griesgrämige Japaner jetzt so mitgenommen wirkte?
 

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Er musste hier weg. So schnell wie möglich. Ihm war danach zu schreien und er wusste das genau das dafür sorgen würde, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkte. Und genau das wollte er nicht. Aufmerksamkeit. Yuu wollte einfach von dieser gottverdammten Schule weg und seine Ruhe haben.
 

Aber die bekam er so schnell nicht. Eigentlich war es gerade so, dass er alles nicht nötige ausblendete. Und vielleicht etwas mehr als er eigentlich wollte. Es fiel ihm schwer seine Gedanken zu ordnen und somit auch ganz normal aus diesem Gebäude zu gehen. Aber etwas entging ihm nicht.
 

Die Wärme und Schwere auf seiner Schulter.
 

Unweigerlich fuhr Kanda herum, vielleicht etwas zu schnell, denn sein Kopf wehrte sich merklich gegen die Rasche Bewegung. Trotzdem schlug er ohne Zögern die Hand von seiner Schulter und sah sein Gegenüber schnaubend und wütend an.
 

„Verpiss dich!“
 

Kanda fehlte sogar die Zeit und die Geduld eine Beleidigung anzufügen.

Es war nicht das erste Mal gewesen dass der Bastard es gewagt hatte ihn anzufassen.
 

„Was n‘ los mit dir, Yuu? Du siehst nicht so ganz frisch aus.“
 

Was zum Henker wollte die Augenklappe von ihm?! Er sah nicht ‘ganz frisch aus‘ ? Tickte der Typ noch ganz richtig?
 

„Was verstehst du unter 'verpiss dich' nicht, du Vollidiot? Lass mich in Ruhe und fass mich nicht an!“
 

Das war das Letzte was Kanda wollte. Angefasst zu werden. Und dann ausgerechnet auch noch von jemandem wie diesem Idioten. Niemals würde er das einfach so über sich ergehen lassen.
 

„Ich will dir nur helfen. Jetzt komm mal runter! Du schwitzt ja total!“
 

Ja. Sehr schön. Wunderbare Bemerkung , Idiot. Als würde er nicht selbst merken, wie verklebt sein Körper war obwohl er doch eigentlich fror.
 

„Lass mich einfach in Ruhe, kapiert?“
 

Um seinen Worten noch mehr Kraft zu verleihen, stieß er den Rothaarigen mit beiden Händen von sich. Obwohl er gerade nicht ganz bei der Sache war, konnte man nicht an seiner Muskelkraft zweifeln.
 

„Schön, dann eben nicht.“
 

Genau das wollte er hören. Kanda hasste es wenn sich andere um ihn sorgten oder versuchten sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Man hatte ihm zu lange ins Handwerk gepfuscht und sein Leben damit ruiniert. Er würde sich nie wieder auf andere verlassen. Niemals wieder.
 

Damit verließ er das Gebäude und machte sich einfach daran so weit wie möglich von diesem Ort zu verschwinden wie es nur ging. Am liebsten wäre er bis zur Klapse gelaufen um dort sein Auto zu holen, doch so weit schaffte er es nicht. Schwer atmend und mit einem stechenden Schmerz in der Lunge stützte er sich an einer Steinmauer ab.
 

Was war nur los mit ihm? Er fühlte sich so unglaublich schlapp. Er würde doch nicht krank werden? Kanda konnte nicht krank werden. Das durfte nicht passieren. Wenn er krank werden würde, wäre er auf andere angewiesen. Das durfte einfach nicht sein.
 

Wie gut dass er niemals lange krank war, wenn er denn wirklich mal krank wurde. Eine Nacht und vielleicht noch einen Tag, dann würde es ihm wieder gut gehen.
 

Zitternd durchsuchte er im Regen stehend seine Hosentaschen und fand dort schließlich das Objekt seiner Begierde: sein Handy.
 

Wenig später war er Zuhause angekommen. Er ließ sich vom Beifahrersitz gleiten, schlug die Tür hinter sich zu und steuerte auf die Haustür zu.
 

„Kanda, warte.“
 

Es ertönte das Geräusch von eilenden Schritten im Matsch. Flatsch-Flatsch-Flatsch.
 

In seinen Augenwinkeln sah er wie der Mann, der einem Hünen glich, an ihm vorbeisauste und dabei mit den silbern blitzenden Schlüsseln herumschwenkte.
 

Maria war, wie er selbst, von Tiedoll adoptiert worden und lebte seit dem auch in dessen Haus. Man konnte beide als Brüder bezeichnen, auch wenn Kanda nicht so weit ging.
 

Nachdem Maria die Tür aufgeschlossen hatte und etwas zur Seite getreten war, ging Kanda an ihm vorbei und wollte gerade seinen Weg zur Treppe nehmen, als ihm der Großgewachsene zuvor kam.
 

„Ich sag Tiedoll bescheid. Ruh dich aus.“
 

Nach kurzem Zögern ging der Langhaarige die Treppe weiter hinauf und den Gang entlang.

Nachdem er die Tür zu den vertrauten vier Wänden geöffnet hatte und den Raum betreten hatte, verschloss er die Tür hinter sich. Wenn Tiedoll davon erfahren würde, dass es ihm gerade nicht sonderlich prickelnd, um nicht zu sagen, zum kotzen ging, würde er hier Alarm schlagen und versuchen Kanda alles mögliche an Pillen und Wundertränken schlucken zu lassen.
 

Und darauf konnte der Japaner beileibe verzichten.
 

Er zog sich die nassen, klebenden Klamotten vom Leib und ließ diese ungeachtet auf den Boden klatschen. Er ging zum Kleiderschrank und suchte sich frische, trockene Boxershorts und ein Shirt raus, welches er sich kurz darauf überstriff. Nachdem er das getan hatte, suchte er sein Bett auf und ließ sich darauf sinken.
 

Nach kurzem Verschnaufen, die letzten Minuten waren außerordentlich anstrengend für ihn gewesen, lehnte er sich mit dem Hinterkopf gegen die kühle Mauer und zog aber zugleich die Decke über seinen ausgekühlten Körper.
 

Allerdings war nicht sein ganzer Körper so entsetzlich kalt geworden. Eigentlich störte Kanda die Kälte nicht sehr. Aber da gab es etwas, was ihn unglaublich sehr störte.
 

Er fühlte nach wie vor die Hand von Lavi auf seiner Schulter, obwohl diese nur kurz dort verweilt hatte.
 

Und er hasste das Gefühl. Niemand sollte ihn anfassen. Niemand durfte ihn anfassen. Er hasste es berührt zu werden und nun war er berührt worden. Von jemanden den er nicht mochte, nicht kannte und niemals mögen und kennen würde.
 

Kanda ekelte sich von sich selbst. Und das Gefühl dass er spürte weckte erschreckende Erinnerungen, die ihn leider viel zu oft in den Sinn kamen.
 

Bilder. Gefühle. Geräusche.
 

Der Japaner verzog das Gesicht als würden ihn Höllenqualen dazu zwingen und sank zur Seite, die Hände gegen die Schläfen gepresst. Er drückte sein Gesicht in das kühle Kissen und versuchte diese Bilder und Stimmen zu ersticken, die in ihm hochkamen.
 

Er wusste dass nichts davon echt war. Und trotzdem fühlte es sich so echt an.
 

Ohne den Blick zu heben oder gar die Augen zu öffnen, verließ die eine Hand seine Schläfe und schob sich langsam, aber bestimmt und sicher, das Bett entlang bis sie den Nachttisch erreicht hatte. Nun musste er sich doch etwas auf die Seite drehen und strecken um an das zu kommen, was er wollte.
 

Jeder andere würde vermutlich in seiner Schublade herumkramen und aber nicht finden, was er ohne Suchen fand. Beinahe erleichtert zog er das was er wollte aus der Schublade und setzte sich langsam wieder auf.
 

Es war noch genügend Zeit bis Tiedoll nach Hause kommen würde und bis dahin würde er seine Ruhe haben. Und wenn nicht, war es ihm auch scheißegal. Der Schwarzhaarige hatte abgeschlossen und die Welt da draußen konnte ihn gerade mal ordentlich.
 

Die Welt da draußen, die er so sehr verabscheute.
 

Er setzte sich im Schneidersitz hin und wickelte das kleine schimmernde Metall langsam und vielleicht sogar etwas ehrfürchtig aus dem dünnen Stoff. Das was er hier in seinen Händen hielt war schließlich einer seiner wenigen, kostbaren und treuen Freunde, die ihn niemals enttäuschen würden.
 

Denn ein Kuss dieses Freundes war euphorisierend, befreiend, unglaublich erlösend.

Zumindest für den Moment.
 

Es gab wenige Dinge die Kanda als ästhetisch befand, aber dieses Rasiermesser war für ihn eine wahre Schönheit. Es gab einmal einen Film, den er sich mit seinen Mitbewohnern und Tiedoll ansehen musste. Dieser Film trug den Namen Sweeney Todd und handelte von einem mordenden Barbier. Das Rasiermesser dass dieser Mörder in seinen Händen gehalten hatte, glich dem von Kanda regelrecht aufs Haar.
 

Nur das Kanda seines eben nicht dazu nutzte um unwissenden Männern die Kehle zu durchtrennen.

Er brauchte es um den Bildern in seinem Kopf den Gar aus zu machen.
 

Und so fügte sich ein Teil dem anderen und das kalte Metall traf auf die weiche, warme Haut des Jungen. Eine unbestreitbar schöne Wärme ergoss sich über dessen Haut und mit dem Blut schienen all die schrecklichen Erinnerungen aus seinem Körper zu ströhmen. Es fühlte sich hervorragend an.

Wenn er es beschreiben würde, würde er es wohl als himmlisch bezeichnen, denn nur diese Gefühl vermochte es ihm wohlige Seufzer zu entlocken.
 

Es brauchte nicht viel bis er wieder bei Sinnen war und die Störfaktoren nicht mehr da waren. Sein Kopf war klar und er fühlte sich befreit. Es war so als hätte man ihn in ein Becken mit Eiswasser getaucht. Sein Verstand war glasklar und nicht mehr so betrübt wie noch vor einer Stunde.
 

Nachdem er das Blut, sein Blut, an einem Taschentuch abgewischt hatte wickelte er das Rasiermesser regelrecht liebevoll in das Stofftuch ein, aus dem er es zuvor befreit hatte, und schob es zurück zwischen das Zeug in seiner Schublade, ehe er den Nachttisch wieder zuschob.
 

Aus den Schnittwunden quoll immer noch die rubinrote Flüssigkeit, welche aus seinem Körper wich und damit einen unglaublichen Druck mit sich nahm. Es würde noch einige Zeit dauern, bis der Blutfluss stoppen und seine Wunden das Heilen beginnen würden.
 

Trotz der Tatsache dass sein Herz raste und seine Stirn nur so von Schweiß triefte, dachte er nicht daran die Tür aufzusperren um sich Medikamente gegen diese Erkältung geben zu lassen. Es würde auch ohne gehen. Alles ging ohne. Nun, beinahe alles.
 

Schlafen zum Beispiel ging nicht ohne. Kaum schloss Yuu die Augen und döste ein, huschten die Bilder zurück in seinen Kopf oder verursachten abartige Alpträume, denen er möglichst entging.

Der Japaner wusste nicht, wann das alles so intensiv wurde, aber es war so weit gekommen, dass er alle zwei Tage eine neue Pille schluckte. Diazepam hatte glücklicherweise eine Wirkung von beinahe zwei Tagen, andernfalls würde er womöglich täglich eine schlucken.
 

Aber anders ging es eben nicht. Kanda kam ohne Diazepam und die Klinge nicht aus. Sie bezeichnete er als seine engsten Freunde. So wie Alma ihn brauchte um sich zu beruhigen und nicht lachend in eine Kreissäge zu springen, brauchte Kanda Diazepam und das Messer.
 

Es gab niemanden, an den er sich anlehnen konnte um zu vergessen, was geschehen war.
 

Und so schluckte er die Pille und wartete darauf, dass sie wirkte. Und das tat sie auch. Niemals verfehlte dieses Wundermittel seine Wirkung und es vermochte ihn stets in den Schlaf zu wiegen. Sanft und ohne jegliche Angst glitt er in die Welt des Schlafes über, während sein Körper bleiern zur Seite sank und sich zwischen Bettdecke und Kissen niederlies.
 


 


 


 

So, take this night

Wrap it around me like a sheet

I know I'm not forgiven,

But I need a place to sleep

So, take this night

Lay me down on the street

I know I'm not forgiven,

But I hope that I'll be given

Some peace
 

Some peace
 

Some peace…



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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Von: abgemeldet
2017-07-19T19:39:53+00:00 19.07.2017 21:39
so wundervoll geschieben
wirst du die Story noch fertig schreiben?
mich würde sehr interessieren, wie Lavi es doch noch schafft Kanda nahe zu kommen
Von:  Kuare
2012-07-25T12:07:50+00:00 25.07.2012 14:07
Hoooooch... *seufz* Armes Kanda.
Ich frag mich wann Lavi gerafft hat, dass er Tinte auf der Stirn hat - und warums ihm keiner weiter gesagt hat ._.

Du schreibst es noch weiter oder ?
Ich würd die Story gern weiterlesen.
Von:  Kuare
2012-07-25T11:29:41+00:00 25.07.2012 13:29
Hoo, dieses Kapitel gefällt mir noch besser als das Erste.
Es ist interessant und ich mag deinen schreibstil.
Vor allem finde ich es gut, das du immer abwechselnd die Sichtweisen der beiden darstellst. Und vor allem, dass du das hinkriegst ohne das ein wirklicher Bruch entsteht. :)
Joa...ich finds gut xD <- weis nichts konstruktives zu sagen
Von:  Kuare
2012-07-25T11:04:51+00:00 25.07.2012 13:04
So weit so gut, bin mal gespannt wies weitergeht.
Besides "bildungsresitenter Intelligenzallergiker" ? Wie kommt man auf sowas ? - Das hat mich echt gekillt xD
Von:  Rabbit
2012-02-15T19:37:02+00:00 15.02.2012 20:37
Och der arme Kanda. D: Mensch der tut mir leid.

Und Lavi... LOL. Ist der nun den ganzen Tag mit seinen HAs auf dem Gesicht rum gerannt? /D
Bin übrigens mal gespannt wie der Yuu weich bekommt.... Sieht ja Momentan nach NULL Fortschritt aus. Wird immer noch so sehr gehasst. XD;;

Also ich persönlich bin kein Fan vom Ritzen und finde es auch immer etwas eigenartig, wenn Kanda es dann auch noch tut. Hoffe mal das Lavi ihn bald dazu bringt damit aufzuhören. D:

Tolles neues Chapter! Freu mich schon auf's nächste. :3
Von:  Diabolo_17
2012-02-07T15:58:55+00:00 07.02.2012 16:58
Ein erfreulich langes Kapitel x3

Kein Wunder ist Kanda nach so einer Nacht total müde und neben den Schuhen. Wenn Lavi den wirklichen Grund wüsste, dann würde er sich andere Sorgen um den Japaner machen.

*lach*
Das musste witzig ausgesehen haben, wenn Lavi noch die Algebragleichungen im Gesicht hatte durch die nasse Tinte, hoffentlich passiert mir das nie xDD

Den Teil, als sich Kanda geritzt hatte, musste ich leider überfliegen, da ich solche Szenen gar nicht lesen kann. Weswegen meine Beurteilung darüber ausbleibt.
Und ich hoffe, doch sehr das Lavi bald mal Yuus Herz erweicht, damit er sich eben nicht mehr ritzen und die Schlaftablette nehmen muss.

Aber dank dir habe ich nun einen Ohrwurm *auf die Textzeile am Schluss deutet* xD

Ich freue mich über das nächste Kapitel.
Lg. Diabolo_17
Von:  Ikuto_Kuro_Neko
2011-10-12T16:51:32+00:00 12.10.2011 18:51
wow

das Kap, war echt der Hammer.
*staun*
ich bin richtig gespannt wie es noch so weitergeht
Von:  Rabbit
2011-10-10T16:52:30+00:00 10.10.2011 18:52
Och armer Lavi. D: Der Gute hat es echt nicht leicht.
Und wenn er irgendwann weinen wird, dann schmelze ich! (ein weinender Lavi ist doch totale LIEBE! ; U ;)

Och Alma! *ihn drücken mag*
Ich liebe Kanda und Alma, wenn sie so ein Brüderliches Verhältnis haben. ; _; Als Paar mag ich sie nicht, weil sie mir im Manga wirklich eher wie Brüder vorkamen.
Frage mich wirklich was damals passiert ist.

Freu mich schon auf das nächste Chapter! ♥
Von:  BloodySnow
2011-10-09T13:56:52+00:00 09.10.2011 15:56
Der Ablauf der Geschichte ist dir definitv gelungen =)
Das wesentliche haben die Vorredner ja schon gesagt, also bleibt nur noch das warten auf das nächste, bestimmt genauso tolle, Kapitel =)
Von: abgemeldet
2011-10-09T11:29:09+00:00 09.10.2011 13:29
Irgendwie tun sie mir alle drei Leid QwQ
Lavi, weil er jetzt wer weiß was am nächsten tag erwartet, Yuu weil er nun wirklich kein leichtes Leben hat und Alma weil... weil er in ner Klappse steckt Oo"
Aber ich find's cool beschrieben, wie angepisst Yuu plötzlich ist, als er Lavi und sein Grandpa im Restaurant aufgetaucht sind xDD
Das war so typisch Yuu.
Schön geschrieben <3
Freu mich schon richtig auf das nächste Kapitel

lg Ruby-chan


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