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Lieto fine

Die Lobby des Hotels war um diese Uhrzeit nicht gut beleuchtet, aber noch gut genug, damit man eine kleine Gestalt in der hinteren Ecke erkennen konnte. Zuerst hatte Eduard sie ignorieren wollen, doch dann trat er ungläubig näher.

„Feliks?“

Feliks hob verschlafen den Kopf und wischte sich ein paar dünne Haarsträhnen aus den Augen. „Hey, Eduard. Da seid ihr ja schon.“

„Raivis konnte es nicht erwarten“, erklärte Eduard und deutete auf Raivis, der vor der Heizung neben der Tür stehen geblieben war und bedächtig seine Hände auftaute.

„Ach“, murmelte Feliks.

„Was machst du so früh schon hier?“, fragte Eduard und musterte die beiden geleerten Gläser auf dem Tisch.

„Wieso früh? Wohl eher spät, oder?“

Eduard sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr morgens.

„Ich hab nur ein bisschen mit Ivan zusammen gesessen“, brummte Feliks.

„Mit Ivan?“

„Hmm. Ich hab gewonnen.“

„Gewonnen? Sag nicht, ihr habt ein Wettsaufen oder irgendeine andere Dummheit veranstaltet.“

„Nee“, antwortete Feliks und grinste zufrieden. „Aber gewonnen hab ich trotzdem.“

Eduard seufzte leise und mahnte sich zur Geduld. „Es ist wohl ein bisschen früh dafür, aber Raivis will Toris unbedingt sehen. Weißt du, wo er ist?“

„Klar“, brummte Feliks. „Wir teilen ein Zimmer. Da.“

Umständlich kramte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und ließ ihn auf den Tisch fallen.

„Danke“, sagte Eduard und zögerte kurz. „Willst du nicht mitkommen und dich hinlegen, Feliks?“

„Warum?“

„Es ist schon fünf Uhr morgens.“

„Siehst du“, sagte Feliks und nickte. „Schon fast wieder Morgen. Bringt jetzt auch nichts mehr, sich noch hinzulegen. Ich schaff das schon.“

„Nun mach keinen Unsinn. Komm mit.“

„Ich will nicht“, sagte Feliks trotzig. „Da ist ein fremdes Ding in meinem Zimmer.“

„Ein fremdes Ding?“, wiederholte Eduard verwirrt.

Feliks schob die Unterlippe vor. „Liet ist es jedenfalls nicht. Es weiß nicht einmal, wer Liet ist.“

„Ach, das meinst du.“ Eduard seufzte leise. „Das... das wird sich geben, Feliks. Ganz sicher.“

„Aber wann?“, brummte Feliks und starrte in sein leeres Glas. „Ivan und ich haben darüber geredet, eine Ewigkeit lang. Was, wenn er sich nie wieder erinnert?“

„Ach was“, sagte Eduard und schüttelte wütend den Kopf. „Hat Ivan das etwa gesagt? Ihm kann es doch nur Recht sein, wenn Toris sich nie wieder daran erinnert, wer er war.“

„Wieso?“, fragte Feliks leise.

Eduard lachte trocken auf. „Würdest du gerne jemandem gegenüber treten, den du umgebracht hast?“

„Weiß nicht“, sagte Feliks ernst. „Weiß nicht, ob ich's wollen würde. Ivan will jedenfalls, hat er gesagt.“

Verblüfft sah Eduard ihn an. „Warum sollte er das wollen?“

„Er sagt, er kann erst beginnen, etwas wieder gut zu machen, wenn Liet wieder weiß, was schief gelaufen ist. Vorher macht es ja keinen Sinn, stimmt's?“

„So betrachtet...“, murmelte Eduard, der noch immer nicht wusste, was er von der Sache halten sollte.

„Vielleicht schafft ihr es ja, Liet einen Denkanstoß zu geben oder so“, sagte Feliks und zuckte die Achseln. „Wenn nicht, dann nicht.“

„Wir werden sehen, was sich machen lässt“, antwortete Eduard, obwohl er selbst keine Ahnung hatte, was sich denn sollte machen lassen. Er griff nach dem Schlüssel und nickte Feliks zu. „Du bleibst wirklich hier?“

Tak“, brummte Feliks.

„Wie du meinst. Wir sehen uns bestimmt später noch.“

Damit gab er sich einen Ruck, riss sich von Feliks' entmutigendem Anblick los und ging hinüber zu Raivis. Irgendwann musste Toris sich wieder daran erinnern, wer er gewesen war. Er musste einfach.
 

Er erwachte, weil jemand das Zimmer betrat.

„Es ist so dunkel, ich sehe gar nichts. Wo ist der Lichtschalter?“

„Du kannst nicht das Licht anmachen, Raivis, sonst weckst du ihn auf.“

„Wenn ich ihn aber doch sehen will?“

„Ich bin wach“, sagte Toris und setzte sich auf. Sein Herz schlug schnell. „Raivis?“

„Toris?“

Das Licht unter der Decke ging flackernd an und Toris blinzelte. Er hatte kaum Zeit, sich Raivis genauer anzusehen, bevor dieser auf ihn zu stürzte und ihn an sich drückte.

„Toris! Ich habe mir Sorgen gemacht!“

„Ich mir auch“, sagte Toris und versuchte, sich aus Raivis' Umklammerung zu befreien. „Geht es dir gut?“

„Geht es dir gut?“, fragte Raivis, schob Toris ein Stück von sich weg und musterte besorgt die Beule an dessen Stirn, die noch immer sichtbar war.

„Ja.“

„Dann geht es mir auch gut!“

Raivis lachte und Toris lächelte. Im Hintergrund lehnte Eduard sich gegen den Türrahmen und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab.

„Komm doch her, Eduard!“, sagte Raivis ausgelassen und machte es sich auf dem Bett bequem. „Wir können wieder alle zusammen in einem Bett schlafen, wie früher!“

„Zum Schlafen ist es wohl ein wenig spät“, sagte Eduard, ging zum Fenster hinüber und sah hinaus. Draußen zeigte sich ein erster heller Schein am Horizont. „Die Sonne dürfte bald aufgehen.“

„Bist du müde?“, fragte Toris.

„Wir sind die Nacht durch gefahren“, sagte Raivis. „Eduard meinte, ich sollte mich noch erholen, aber ich wollte dich sehen... jetzt komm schon endlich, Eduard!“

Eduard sah weiter aus dem Fenster und tat, als habe er nichts gehört. Toris sah ihn mit großen Augen an.

„Mag er mich nicht?“, flüsterte er Raivis zu.

„Ach was“, erwiderte Raivis gedämpft und winkte ab. „Das ist Eduard. Er ist manchmal ein bisschen komisch.“

„Zu dir ist er nicht komisch.“

„Nein.“ Raivis überlegte kurz und kaute auf seiner Unterlippe. „Ich glaube, er weiß nicht, wie er mit dir umgehen soll. Ich meine, weil du Toris bist, aber überhaupt nicht weißt, wer Toris ist.“

„Das stimmt“, sagte Toris leise. „Ihr beide kennt mich besser als ich. Alle kennen mich, und ich erinnere mich an nichts.“

„Du wirst dich erinnern“, sagte Raivis tröstend. „Und ich habe dich trotzdem lieb.“

Toris nickte, aber er wirkte nicht überzeugt.

Eduard sah die beiden nicht an, sondern betrachtete den heller werdenden Himmel draußen. Die Sonne dürfte bald aufgehen, dachte er. Wie seltsam. In letzter Zeit waren so viele verrückte Dinge geschehen, und noch immer ging jeden Morgen die Sonne auf. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte lang. Wenn man sich auf eines verlassen konnte, dann auf den Sonnenaufgang.

Er zuckte zusammen und drehte sich um, als er hinter sich ein Stöhnen hörte. „Toris?“, fragte Raivis erschrocken. „Was ist los?“

Toris lag auf dem Rücken, die Augen weit geöffnet und auf Eduard gerichtet, obwohl er ihn nicht zu sehen schien. Nein, dachte Eduard, Toris sah nicht ihn an. Er sah an ihm vorbei aus dem Fenster.

„Toris? Was hast du denn plötzlich? Tut dir was weh?“

Anstelle einer Antwort schnappte Toris nach Luft, als habe er Angst, zu ersticken. Eduard spürte, wie ihm kalt wurde vor Angst. Er durchquerte das Zimmer mit wenigen Schritten und kauerte sich neben dem Kopfende zusammen. Mit zitternden Fingern griff er nach Toris' Hand und drückte sie fest.

„Alles ist gut, Toris. Alles wird gut.“
 

„Alles ist gut, Toris. Alles wird gut.“

Die mit Blut besudelten Tücher, die zu Boden gefallen waren. Die völlig zerknitterte, verschwitzte Decke und das Kissen, auf dessen Bezug Spuren von Speichel, Blut und Tränen zu sehen waren. Toris' trockene Lippen, die sich mit jedem mühsamen Atemzug einen Spalt weit öffneten. Seine knochigen, kraftlosen Finger, die Eduard mit beiden Händen umklammert hielt.

„Nie wieder die Sonne aufgehen sehen, was redest du da für einen Unsinn? Du wirst gesund, Toris. Du wirst ganz sicher wieder gesund!“

Plötzlich wurde es hell. Eduard zuckte zusammen und fuhr zum Fenster herum. Die Sonne kämpfte sich über den Horizont. Er lachte auf und wandte sich mit einer leichtsinnigen, lächerlichen Hoffnung wieder Toris zu.

„Siehst du? Da ist sie. Die Sonne geht auf. Sieh sie dir an, Toris!“

Er umklammerte die Finger mit seinen eigenen, schweißnassen, drückte sie an seine Lippen. Toris öffnete die Augen langsam, wie widerwillig. Seine Augen waren direkt in das Licht gerichtet, aber ob sie es auch sahen, wusste Eduard nicht zu sagen.

„Sieh es dir an, Toris! Bitte!“
 

„Sieh es dir an, Toris! Bitte!“

Toris rang noch einmal nach Luft und sein kleiner Körper entspannte sich. Er betrachtete die Sonne draußen mit großen, staunenden Augen. Dann trübte sich seine Miene und er lächelte schief.

„Eduard? Warum zerquetschst du meine Hand?“

Eduard ließ seine Hand los, als habe er sich verbrannt, und wich ein Stück vor dem Bett zurück.

„Toris?“, fragte Raivis verwirrt. „Was ist passiert?“

„Was passiert ist?“, wiederholte Toris, runzelte die Stirn und sah an sich herunter. „Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen... eben war ich doch noch...“

Er verstummte und riss die Augen auf. Eben bin ich noch gestorben, vollendete Eduard in Gedanken den Satz.

„Du erinnerst dich wieder, oder?“, fragte Raivis und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ganz wirklich? Du bist wieder Toris, oder?“

„Ich bin wieder Toris? Wer soll ich denn sonst gewesen sein?“

„Du bist es!“, jubelte Raivis, warf sich auf ihn und umarmte ihn stürmisch. Toris japste nach Luft und hob unschlüssig die Hände. „Raivis! Nicht so grob!“

„Sieh mal, Eduard! Ich habe meinen großen Bruder wieder!“

„Ich bin nicht dein Bruder, Raivis“, sagte Toris und verzog das Gesicht. „Und jetzt lass mich los und erkläre mir, was...“

„Ich habe Toris wieder!“, schrie Raivis noch einmal und lachte mit Tränen in den Augen. Eduard nahm die Brille ab, wischte sie an seinem Hemd ab und sah mit einem versonnenen Lächeln zu, wie Toris weiter versuchte, sich von Raivis zu befreien. Es war vorbei, dachte er. Es war vorbei gegangen, indem es neu angefangen hatte. Ein Sonnenaufgang war das Ende gewesen, und ein Sonnenaufgang war der neue Anfang.

Im Nachhinein fand Eduard, er hätte es sich denken können.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Titel: Glückliches Ende. Wortspiel mit Liet, habt ihr's bemerkt? Haha. Don't explain the joke! Egal. Komplett anzeigen

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