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Anrufe

Tatsächlich hatte Gilbert sich nach dem Essen sofort wieder ans Telefon gesetzt. Er wurde nicht müde, Ludwigs Nummer zu wählen, bis der Anrufbeantworter dranging, dann aufzulegen und es noch einmal zu versuchen.

„Er ist ganz schön beharrlich“, sagte Alfred beeindruckt, während er die fettigen Papiere, in die die Hamburger gewickelt gewesen waren, in die Papiertüte stopfte.

„Natürlich. Er ist schon für Ludwig um die halbe Welt geflogen. Da wird er jetzt nicht aufgeben, nur weil er zwei Stunden lang nicht ans Telefon geht.“

Alfred schüttelte den Kopf und sah Antonio an. „Naja... es sieht fast aus, als würde er noch eine Weile hier sitzen, bevor er schlafen geht. Willst du trotzdem ein Bett für die Nacht haben?“

„Dagegen hätte ich nichts einzuwenden“, erwiderte Antonio und grinste.

„Ich zeige dir das Gästezimmer“, sagte Alfred und stand auf. „Es gibt nur eins, und wir müssen die Betten noch beziehen... es sieht nicht so aus, als wollte unser Dauertelefonierer hier dabei helfen.“

„Wahrscheinlich nicht.“

Sie lachten, aber Gilbert verzog keine Miene. Vielleicht hatte er sie nicht einmal gehört. Ohne aufzusehen, legte er den Hörer auf, nahm ihn wieder ab und wählte die Nummer noch einmal.

„Ich hoffe wirklich, er ist nicht allzu enttäuscht“, sagte Antonio besorgt, während er Alfred eine Treppe hinauf folgte. „Ludwig ist ihm ziemlich wichtig.“

„Wenn das so ist, kriegt Ludwig sich vielleicht bald ein“, sagte Alfred schulternzuckend. „Vielleicht schafft Gilbert es, ihn zu überreden, ein bisschen offener zu werden. Hier...“

Er öffnete eine Tür und betrat ein Zimmer, in dem zwei Betten und ein Schrank standen – und allerlei Kartons und Kisten, die auf dem Boden und den Fußenden verteilt waren.

„Oh. Ich hatte es gar nicht so voll in Erinnerung... naja, ich habe ewig keine Gäste mehr gehabt, und ihr hattet euch nicht angekündigt!“ Er lachte auf und griff nach einer Plastikkiste auf einem der Betten, die anscheinend mit Comics gefüllt war.

„Das macht doch nichts. Ich hätte nie gedacht, dass wir unsere erste Nacht schon bei dir verbringen. Es ist wirklich ein Wunder.“

„Ich denke nicht, dass es ein Wunder ist“, erwiderte Alfred, zuckte die Achseln und schleppte die Kiste nach draußen. „Eher ein glücklicher Zufall. Ich war sowieso am Flughafen, weil...“

„Warum?“, hakte Antonio nach, griff nach einem Karton und trug ihn Alfred hinterher.

„Weil sie dort ein kleines Problem hatten und mich als Helden um Hilfe gerufen haben.“

„Wirklich?“

„Nein“, gab Alfred zu. „Weil mein sechster Sinn mir gesagt hat, dass dort jemand meine Hilfe braucht.“

„Wirklich?“, fragte Antonio noch einmal.

„Natürlich. Was glaubst du denn, warum ich da war?“

„Bist du oft unterwegs, um mit deinem sechsten Sinn zu spüren, wann jemand Hilfe braucht?“

Alfred seufzte frustriert. „Also schön. Eigentlich war ich da, weil ich verabredet war.“

„Verabredet? Mit wem?“

„Mit Jenny.“

„Wer ist das?“

„So ein Mädel eben“, antwortete Alfred mit einer beiläufigen Handbewegung. „Hab sie neulich kennengelernt. Ich habe ihr geholfen, ihr Fahrrad zu reparieren... doch, das stimmt wirklich!“, sagte er beleidigt, als Antonio ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. „Ich bin ein Held, egal, was du denkst! Jedenfalls habe ich ihr meine Nummer gegeben, falls sie noch einmal in Schwierigkeiten geraten sollte. Sie wirkte wie der Typ von Mädchen, das oft in Schwierigkeiten gerät, wenn du verstehst... ja, und vor ein paar Tagen hat sie mich angerufen. Wir wollten uns heute am Flughafen treffen. Sie ist nicht gekommen. Das ist alles.“

„Sie hat dich versetzt“, sagte Antonio verblüfft.

„Hat sie wohl“, erwiderte Alfred und zog die Schultern hoch. „Ich verstehe wirklich nicht, wieso sie das tun sollte... also, ich hole mal eben das Bettzeug.“

Er ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Antonio lächelte, schob einen verschlossenen Karton auf einem der Betten beiseite und ließ sich darauf fallen. Es war verständlich, dass Alfred ihm nicht sofort erzählt hatte, dass er am Flughafen gewesen war, weil sein Date ihn versetzt hatte. Das war schließlich nichts, womit man angab.
 

Francis hatte es sich gerade mit einem Glas Wein auf der Terrasse bequem gemacht, als er hörte, wie im Haus das Telefon klingelte. Mit einem theatralischen Seufzen nahm er die Beine wieder von dem Stuhl herunter und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Wer konnte ihn anrufen? Sollte es dieses hübsche Mädchen vom letzten Wochenende sein? Wie war noch gleich ihr Name gewesen... Angelique... oder Dominique? Ja, etwas in dieser Richtung...

Schwungvoll betrat er den Flur und nahm den Hörer ab. „Ja?“

„Bastard?“, erklang eine missmutige Stimme am anderen Ende.

Francis zog die Augenbrauen hoch. Es war nicht das Mädchen, stellte er leicht enttäuscht fest. Dafür war es jemand, von dem er seit einer halben Ewigkeit nichts mehr gehört hatte.

Non, Romano! Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?“

„Das wüsstest du wohl gerne, bastardo“, brummte Romano.
 

Der Hörer wurde abgenommen. In der Leitung herrschte Schweigen.

„Na also, West. Hast du dich jetzt eingekriegt?“

Ludwig antwortete nicht.

„Ich bin's, Gilbert. Ich bin extra nach Amerika gekommen, um dich zu suchen. Ich musste Sissi und Alfred dafür um Hilfe bitten, und ich hoffe, du weißt mein Opfer zu schätzen!“

Noch immer sagte Ludwig kein Wort. Gilbert spürte einen dicken Kloß in seinem Hals und versuchte, sich davon nicht beeinflussen zu lassen.

„Jetzt bin ich also hier. Ich habe... deinen Brief gelesen, West. Den, den du an Sissi geschrieben hast, weißt du noch? Und... lieber Himmel. Ich hatte keine Ahnung, dass die Sache dich so mitgenommen hat.“

„Wirklich nicht?“, fragte Ludwig schroff.

Gilbert runzelte die Stirn. „Warum klingst du so vorwurfsvoll, wenn du das sagst, Lutz? Wenn hier einer jemandem was vorzuwerfen hat, bin das ja wohl ich!“

Schweigen. Gilbert seufzte tief.

„Aber ich tue es nicht, okay? Ich denke, es tut dir auch so schon Leid, und weil ich eine so großzügige Person bin, verzeihe ich dir.“

„Du kannst mir nicht verzeihen“, sagte Ludwig.

„Nu.“

„Was, nu?“

„Nu“, wiederholte Gilbert. „Dann eben nicht. Ich möchte dich trotzdem wiedersehen, West. Und ich will, dass du mit mir kommst. Was willst du hier bei Alfred? Komm mit mir nach Hause.“

„Nach Hause?“, wiederholte Ludwig leise.

„Ja. Du hast nämlich eines, weißt du noch?“

„Nein, ich habe keines mehr. Ich habe kein Recht, nach Hause zu gehen. Nicht nach all den Jahren. Nicht nach allem, was passiert ist.“

„Nach allem, was vor einem halben Jahrhundert passiert ist, West! Komm doch endlich zurück und stell dich dem, was passiert ist! Und sei nicht so selbstmitleidig, das konnte ich an dir nie ausstehen!“

Ludwig schwieg.

„Wehe, du legst jetzt auf, West. Dann terrorisiere ich dich die ganze Nacht.“

„Ich lege nicht auf.“

„Na, das ist doch etwas. Das ist ein erster Schritt, oder? Du läufst nicht mehr weg.“

„Ich laufe nicht weg“, sagte Ludwig sehr leise. „Ich bin niemals weggelaufen. Das hätte ich gar nicht gekonnt, Gilbert. Es verfolgt mich bis heute.“

„Wenn es dich bis heute verfolgt und dich noch immer nicht gekriegt hat, musst du ja weglaufen“, sagte Gilbert nachdenklich. „Rein logisch gesehen.“

„Du verstehst, was ich meine.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstehe.“

„Ich werde nicht mit dir kommen.“

„Warum nicht?“, fragte Gilbert und umklammerte den Hörer. „Warum nicht, West? Ich will, dass du mitkommst.“

„Dann bist du der einzige, der das will.“

„Das bin ich nicht!“, widersprach Gilbert. „Sissi erwartet dich auch. Der hat eh damit gerechnet, dass du bald wiederkommst.“

„Gilbert, das ist nicht...“

„Und ich bin sicher, Feliciano wird im Dreieck springen, wenn du wiederkommst!“

Hoffnungsvoll wartete Gilbert auf eine Reaktion, doch er erhielt keine. „West?“, fragte er.

„Es hat gut getan, deine Stimme wieder zu hören, Gilbert“, sagte Ludwig am anderen Ende der Leitung und klang plötzlich um einiges kälter. „Aber das reicht mir völlig. Wenn du es wagst, noch einmal hier anzurufen, werde ich die Telefonleitung durchschneiden.“

„Wenn ich es wage? Für wen hältst du dich überhaupt, Lutz? Ich mache, was ich...“

„Und wenn du hier auftauchst“, sagte Ludwig sehr kalt, „bin ich nicht zu Hause.“

„Was? Aber West, das kannst du nicht ernst meinen! Du kannst doch... West? Oh nein, nein, nein! Du kannst nicht auflegen! Hey, West! Westen!“
 

Antonio schreckte aus dem Schlaf hoch, als mit einem Krachen die Zimmertür zugeschlagen wurde. Erschrocken setzte er sich auf und spähte durch die Dunkelheit.

„Gilbert?“

Er hörte ein wütendes Grunzen und ein Quietschen, als Gilbert sich schwer auf sein Bett fallen ließ.

„Hab ich dich geweckt, Toni? Tut mir Leid.“

Er klang überhaupt nicht so, als würde es ihm Leid tun. Antonio gähnte. „Hast du Ludwig erreicht?“

„Ja, habe ich.“

Überrascht sah Antonio durch die Dunkelheit in seine Richtung. „Wirklich? Und?“

„Frag nicht“, brummte Gilbert. „Frag einfach nicht.“

„Ist es nicht gut gelaufen?“

„Welchen Teil von frag nicht hast du nicht verstanden?“

Besorgt sah Antonio ihn an. „Werden wir morgen bei ihm vorbeischauen?“, fragte er vorsichtig.

„Nein“, antwortete Gilbert schroff. „Wir werden das nächste Flugzeug zurück nehmen. Nach Hause.“

Seine Stimme zitterte leicht.

„Gilbert?“

„Nein“, sagte Gilbert, drehte sich um und vergrub das Gesicht in seinem Kissen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Was Gilberts „Nu“ bedeutet: „Geben Sie mir ein Vollkornbrot, bitte.“ - „Wir haben aber nur noch Weißbrot.“ - „Nu.“ Komplett anzeigen

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