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Les Misérables

von

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V.

Eine Melancholie hatte sein junges Herz ergriffen und er wusste nicht, wie er sie jemals stillen sollte. Mit einem resignierenden Seufzen betrachtete er den Sonnenaufgang über Paris.

Die Villa hatte eine so einzigartige Lage, dass er ihn in vollen Zügen genießen konnte. Eigentlich. Nicht so am heutigen Morgen. Irgendetwas war anders.

Die Stadt, sie war ... sündig. Böse. Irgendwie eine andere. In der Ferne sah er die Türme Notre Dames im sanften Morgennebel aufragen. Plötzlich sehnte er sich nach dieser Kirche. War heute nicht Sonntag? Ob es wohl schon zu spät war für den Gottesdienst? Er hatte gar kein Zeitgefühl mehr.

Er warf einen Blick auf die Uhr und ein mattes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Wenn er sich jetzt anzog und ging, dann würde er es noch schaffen. Dann biss er sich auf die Unterlippe. Er sollte nicht alleine nach draußen gehen, er hatte es versprochen. Aber er wollte auch ungern Malik aus dem Schlaf reißen. Vor allem nicht an einem Sonntag.

Aber mit ihm umgab er sich lieber als mit einem der Diener. Er vertraute ihm einfach mehr.
 

Seine Sorge war unbegründet, wie sich wenig später herausstellte. Malik war schon vor dem Sonnenaufgang wach gewesen und als Olivier ihm schüchtern seine Bitte vortrug, lächelte er ihn freundlich an und stimmte ihm zu.
 

Die Kutschfahrt verbrachten sie schweigend, aber es war ein angenehmes Schweigen.

"Ich werde in der Zwischenzeit spazieren gehen", sagte Malik und widerstand dem Drang, Olivier auf die Wange zu küssen.

Selbiger nickte, lächelte und drehte sich dann um.
 

Dem jungen Franzosen war auf eine seltsame Art mulmig zumute, als er die Stufen hinaufstieg. Notre Dame ragte mächtig über ihm empor, die in Stein gehauenen Heiligen an der Außenbalustrade starrten mit ihren leeren Gesichtern in verschiedene Richtungen. Als Kind hatten sie ihm ziemliche Angst eingejagt und Olivier war immer sehr ungern zur Kirche gegangen, auch wenn er ein wirklich braves und gottesfürchtiges Kind gewesen war.

Er hatte sich vor ihren leeren Blicken gefürchtet, hatte geglaubt, dass sie ihm direkt in die Seele blickten und ihr Urteil über ihn machten.

Damals, als Kind, was, wenn man es so bedachte, noch nicht allzu lange her war.

Die klaren, ebenmäßigen Choräle, die dumpf aus dem Inneren drangen, veranlassten den Knaben dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen und mit etwas Mühe eine Hälfte der schweren Flügeltüren aufzuschieben.
 

Sofort stieg ihm der Geruch der Zeit in die Nase und die steinerne Kühle. Der Geruch der Kirche, alt und drückend, aber auf eine gewisse Weise auch irgendwie tröstlich.

Olivier, darauf bedacht, nicht aufzufallen, schlich sich in eine der letzten Bänke.

Die Kirche war nicht besonders voll und so hatte er auch von hier hinten eine sehr gute Sicht auf den Altar und auf den Pfarrer, welcher gerade die Arme zum Pater Noster ausgebreitet hatte.

Olivier stimmte murmelnd in die Sprechmelodie mit ein, während er die Hände faltete.

Es war wirklich kühl hier drin, es fröstelte ihn, aber es fühlte sich angenehm an.

Hier fühlte er sich beschützt, geborgen.

Er dachte an Enrico. Dachte daran, dass das hier vielleicht der einzige Ort war, an dem er vor ihm Schutz finden konnte.

Schutz finden. Wie das klang. Als würde Enrico ihm jemals etwas antun wollen. Auch wenn er Enricos harte und gnadenlose Seite durchaus nicht vergessen hatte und dann war da eben die Ungewissheit, ob er sie auch vor ihm zeigen würde.

Er seufzte und schloss die Augen, um sich mehr auf sein Gebet konzentrieren zu können. Dabei entging ihm, wie der Blick von einem trübblauen Augenpaar behutsam auf ihm lag. Nur für einen Moment, dann wandte es sich ab.
 

Olivier sah auf. War da etwas gewesen? Nein. Der Pfarrer schloss gerade sein Gebet und Olivier murmelte ein Amen.

Die Orgel begann zu spielen, Olivier erkannte die Melodie, deshalb brauchte er kein Gesangsbuch. Er stimmte nur leise in die Gesänge mit ein, er mochte nicht auffallen.
 

Der Gottesdienst tat Olivier gut. Er genoss ihn, trotz der Kälte, die in seinen Körper kroch. Er zog seinen Mantel enger um seinen Körper.

Es war seltsam. Vor kurzem hatte er erfahren, dass seine Familie ausgelöscht ... verschwunden war. Alle, mit denen er sich umgeben hatte, sie alle waren fort. Im Grunde schien niemand mehr zu wissen, wer Olivier les Demondés war. Er fühlte sich erstaunlich gefasst dafür, dass das alles noch nicht allzu lange her war. Die Kirche verschaffte ihm die innere Ruhe, nach der er sich so lange gesehnt hatte.
 

"... Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund", murmelte der Junge und plötzlich standen ihm dabei Tränen in den Augen. Tränen, die er sich nicht erklären konnte. Er stand auf, um die Hostie zu empfangen, den Leib Christi. Die anderen Kirchenbesucher drängten ebenfalls nach vorne und einmal wäre er beinahe gestolpert. Es dauerte lange. Er starrte, während er sich vorwärtsbewegte. Wie mechanisch. Fühlte sich plötzlich wie eine Puppe unter all diesen Menschen, die im Grunde dasselbe wollten wie er. Er bewegte kaum seine Füße, um nach vorne zu gelangen.
 

Schließlich stand er vor dem Pfarrer, mit in Kummer schwimmenden Augen blickte er auf.

"Der Leib Christi", sagte der Pfarrer behutsam und der Knabe murmelte als Antwort ein ersticktes Amen, ehe er sich die Hostie zwischen die Lippen schob. Ehe er jedoch auf wackeligen Beinen Richtung seiner Sitzbank zurückstolpern konnte, spürte er den sanften Druck einer Hand auf seiner Schulter.

"Mein Sohn, der Beichtstuhl steht dir jederzeit offen", hörte er eine geflüsterte Stimme und er drehte sich nicht um und antwortete auch nicht, nur eine Träne war es, die über seine Wange rann.
 

Und plötzlich ertrug er es nicht mehr. Ertrug sie nicht mehr, die Menschen um sich herum, die sich mit Sünde nur so beladen hatten, auch wenn er sich einbilden musste, das zu spüren, denn er konnte ja unmöglich in sie hineinsehen.

Enrico konnte das bestimmt. Enrico ...

Olivier wurde einen Moment schwindelig, blieb stehen und stützte sich mit einer Hand an einer Säule ab.

"Was ist denn los mit dir?", stellte er die Frage an sich selbst. "Komm doch zur Ruhe ..."

Immerhin war das der Ort, an dem er sich sicher fühlen sollte, behütet und hier sollte er Absolution empfangen. Für eine Sünde, die er, so war er sich plötzlich sicher, noch begehen würde. Früher oder später. Wenn er bei ihm blieb. Aber er konnte sich ihm nicht entziehen, nicht entkommen.

Ein leises Schluchzen wand sich aus seiner Kehle, das in dem allgemeinen Gemurmel um ihn herum unterging.
 

Wie verloren er sich plötzlich fühlte, verloren und zurückgelassen. Er musste hier aus dieser Kirche raus. Wieso war er überhaupt noch hier? Er hatte sich mit dem Teufel eingelassen. Und er hatte plötzlich grauenhafte Angst, ihn hierher zu bringen.

Olivier setzte sich wieder in Bewegung, Richtung Ausgang, stolpernd und konnte beinahe gar nicht schnell genug aus dem Gebäude herauskommen, das ihn mit einem Mal zu ersticken drohte.
 

Als er schließlich nach draußen gelang und sich mit sich hebender und senkender Brust umsah, war niemand da. Malik war nicht da, die Kutsche war weg.

Er blickte sich verwirrt um. Der Blick der Heiligen traf ihn.

"Ich habe nichts getan!", rief er plötzlich laut aus und seine Stimme klang so hell und so verzweifelt in seinen eigenen Ohren, dass er davon erschrak.

Es war so still. Wieso war es so still? Plötzlich spürte er etwas Kaltes auf seiner Wange und die von Kummer getrübten Augen wandten sich zum Himmel.

"Es ist schon Winter?", flüsterte er, als er die Schneeflocken bemerkte, die sacht und unschuldig vom Himmel rieselten.

"Wann ist es Winter geworden?", sagte er leise zu sich selbst. Beinahe entsetzt über diesen Zustand. So lange war er doch noch gar nicht von zuhause fort. Solange ...
 

Plötzlich spürte er, wie sich ein feuchtes Tuch gegen sein Gesicht drückte und das Letzte, bevor er ohnmächtig wurde, war ein beißender Gestank.
 

Als Olivier wieder erwachte, hatte er ein schreckliches Déjà-vu. Er befand sich in einem Zimmer. In einem roten Zimmer mit großzügigem Mobiliar und schummrigen Leuchten.

Er rührte sich, doch diesmal konnte er sich nicht bewegen.

"Guten Morgen, mein Kätzchen...", ertönte eine scheinheilig sanfte Stimme an seinem Ohr und mit einem Ruck richtete er den Kopf auf.

"Zidler!", stieß er mit Entsetzen aus. Ihm drehte sich alles und er hatte Kopfschmerzen.

"Stets zu Diensten."

Täuschte er sich, oder war die Stimme von tiefster, menschlicher Bosheit durchtränkt?

"Was wollt Ihr von mir?"

Zidlers kleine, stechenden Augen ruhten auf ihm. Auf seinem Körper. Auf seinem nackten Körper. Wann hatte man ihn seiner Kleider entledigt? Doch das schlimmste war die Art, wie er ihn ansah. Nicht etwa lüstern, nein. Mehr wie ein Stück Fleisch, dessen Marktpreis es festzustellen galt. Ihn grauste es, als er diesen Blick erkannte.

Zidler, der bisher an einem Tisch gelehnt und auf das Erwachen des Jungen gewartet hatte, setzte sich ihn Bewegung, wobei seine Kleidung, teilweise aus Leder, knirschte. Olivier konnte sich nicht entsinnen, wann der Mann jemals Leder getragen hatte. Bestimmt nicht, wenn er seine hohen Gäste empfangen hatte.

"Was ich von dir will, mein Junge...", sagte er langsam.

"Nun, lass es mich so formulieren. Ich wurde wirklich übel aufs Kreuz gelegt, als ich einen Handel über dich schließen wollte. Das ist nichts, was ich mir üblicherweise gefallen lasse, nur ... spielten hierbei wohl höhere Mächte eine Rolle. Ich bin nicht gerade erfreut gewesen, dich mitsamt einer weiteren sehr lukrativen Einnahmequelle zu verlieren."

"Lass Malik da raus...", sagte Olivier und tat mutiger, als er sich augenblicklich fühlte.

Um Zidlers Mundwinkel zuckte es. Es verlieh ihm einen sehr schmierigen und kalten Wesenszug.

Plötzlich fühlte sich Olivier in seiner Nacktheit über alle Maßen gedemütigt, wie als wäre ihm diese Tatsache jetzt erst bewusst geworden. Er wich dem boshaften blick des Mannes aus.

"Ihr tut, als sei ich der einzige Knabe auf der Welt", sagte er leise. "Warum quält Ihr mich, warum könnt Ihr mich nicht einfach in Frieden lassen?"

"Oh, die Frage nach dem Warum ist einfach beantwortet." Er trat näher an Olivier heran und strich ihm über die Stirn, wie man es manchmal mit kranken Kindern zu tun pflegte. "Weil ich es kann."

"Was habt Ihr jetzt mit mir vor?"

"Das werde ich sehen. Je nachdem, inwieweit du gewillt bist, mir die ein oder andere Wahrheit zu verraten.

"Ich verstehe nicht ..."

"Ich denke, du verstehst mich sehr gut. Ich fange gleich mit der ersten Frage an. Wer oder was ist dieser Tornatore wirklich?"

Oliviers Augen weiteten sich und wandten sich in Richtung eines Fensters. Draußen wurde es noch nicht mal dunkel. Er biss sich auf die Unterlippe.

"Lasst Ihr mich gehen, wenn ich Euch etwas sage?", murmelte er geschlagen.

"Das nicht", erhielt er die grausam ehrliche Antwort. "Aber ich würde dich zumindest am Leben lassen. Und wenn du ganz brav bist, wird auch deine Bestrafung nicht allzu schlimm ausfallen."
 

"In die Kirche?" Enrico schnalzte missbilligend mit der Zunge. Auch das noch. Er hatte mit diesem Verein nie etwas anfangen können, da war es wohl nicht verwunderlich, dass er es nicht allzu gut hieß, wenn sein erklärtes Feinsliebchen so eine Gottesliebe hegte. "Tse..."

Er winkte dem Hausdiener, dass er verschwinden konnte und sah nach draußen. Es fing bereits an, zu dämmern.

Im Winter war er durchaus schon früher auf den Beinen, als bei Dunkelheitseinbruch. Die Sonne schien ja nicht und Enrico hielt das aus, im Gegensatz zu Bakura, der aufgrund seiner von Geburt an hellen Haut diese strikte Richtlinie einhalten musste, da er sich unglaublich schnell Verbrennungen zuzog.
 

Seit wann verbrachte man so lange in der Kirche? Selbst wenn Olivier und Malik danach nachhause gelaufen waren, so hätten sie doch längst zurück sein müssen und das noch ehe Enrico erwachte.

"Hmm", brummte der ehemalige Kaiser. Dann entschied er sich dafür, dass Kontrolle besser war als Vertrauen und verließ die Villa, wobei er nicht mal daran dachte, sich um der Tarnung willen Winterkleidung anzuziehen, sondern einfach in einem Seidenhemd nach draußen trat.

Er konnte Oliviers Geruch noch ganz deutlich wahrnehmen, auch wenn es schon Stunden her sein musste, ehe er das Haus verlassen hatte.

In Windeseile langte er bei der Kirche an und trat auf den Vorplatz. Sein Blick glitt einen Augenblick abfällig über die in Stein gemeißelten Heiligen, doch als er vor die schwere Flügeltür trat, zögerte er tatsächlich.

Es war lange her gewesen. Und eine gewisse Hemmschwelle war immer geblieben. Trotz Ungläubigkeit, trotz Verachtung für die Kirche. Erinnerungen, die er vor ewigen Zeiten, wie es ihm schien, hier zurückgelassen hatte.

Schließlich drückte er doch die Türen auf und sofort stieg ihm der, in seiner Nase, unerträgliche Gestank von Weihrauch in die Nase. Es schien, als bereitete man gerade die Abendmesse vor. Enrico hustete tatsächlich etwas, dann trat er auf den Mittelgang und straffte die Haltung: Er konnte in leichter Entfernung die Gestalt eines Pfarrers erkennen.

Er trat näher, legte es bewusst darauf an, dass man ihn bemerkte und der Gottesmann drehte sich um.

"Gott zum Gruße, Monsieur", sagte der Mann freundlich, doch Enricos Miene blieb ungerührt.

"Ich bin auf der Suche nach einem Knaben, der heute Morgen dem Gottesdienst beigewohnt haben muss. Wenn er hier war, wird er Euch sicher aufgefallen sein, grünes Haar, blaue Augen, zierliche Gestalt."

Der Priester schien einen Augenblick konzentriert nachzudenken und sagte dann langsam: "Ja ... Ja, so ein Knabe war heute Morgen tatsächlich da. Ich habe ihm die Beichte angeboten, da er sehr verloren wirkte. Ihr seid auf der Suche nach ihm?"

"Könnt Ihr mir sagen, wo er ist, Pater?"

"Nein, er hat den Gottesdienst leider vorzeitig schon wieder verlassen-"

Plötzlich stutzte der Mann und er schien nachzudenken, wo er Enrico vielleicht schon einmal gesehen hatte.

Selbiger allerdings verfluchte sich selbst für seine eigene Unachtsamkeit und erwiderte nur: "Dann hält mich nichts weiter hier, ich muss gehen."

Damit wandte er sich abrupt auf dem Absatz um und verfluchte dabei sein eigenes schlagendes Herz, das tatsächlich gerade Furcht empfand. Die Furcht davor, erkannt worden zu sein.
 

Es war zu lange her. Zu lange, als dass er ihm sein Jungbleiben irgendwie würde erklären können.
 

Doch im Moment hatte er andere Sorgen. Beziehungsweise eine.

Die Sorge um Olivier, die weiter wuchs, als er draußen plötzlich merkte, dass er ihn nicht mehr wahrnehmen konnte.

Er verengte die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein. War das die Luft da drin gewesen, die ihn so durcheinandergebracht hatte?

Er knurrte ärgerlich. Das war doch zum aus der Haut fahren. Wo steckte dieser Knabe bloß?

Plötzlich wandte sich sein Blick, einer Eingebung folgend, zu den roten Flügeln der Mühle. Seine Augen verengten sich.
 

Oliviers Augen waren angstvoll geweitet, als sich die schwere Hand auf seine Lippen senkte.

"Ich könnte sagen, dass ich dir die Zunge abschneiden würde, wenn du schreist. Aber dazu genieße ich deine Schreie zu sehr. Tu dir also keinen Zwang an."

Die Hand löste sich und wanderte den makellosen Leib herab. Lüstern leckte er sich über die Lippen. Dieser Junge sah aus wie ein Engel. Immer noch. Ob sich Tornatore wohl in der Zwischenzeit schon mit ihm vergnügt hatte?
 

Der Mann grinste sadistisch, als er einen Finger in den Jungen stieß und Olivier schrie leise auf, da es doch sehr wehtat. Eine Röte der absoluten Scham und Demütigung legte sich auf seine Wangen und er kniff die Augen zusammen. Vielleicht ging es schneller vorbei, wenn er sich an einen anderen Ort träumte.

Nachhause zu seinen Eltern oder zu ... Ja, zu Enrico, der ihn beschützte, der ihn behütete.

Mein Gott, er hatte doch nur in die Kirche gehen wollen. Beten wollen. Sich Gott unterwerfen in all seiner unendlichen Güte und Nachsicht.

Ob Gott ihm verziehen hätte? Oder sollte das am Ende die Buße sein, die er abzuleisten hatte, damit man ihm verzieh? Wenn es so sein sollte, dann wollte er es ertragen.

Was spielte es überhaupt noch für eine Rolle? Wie man es drehte und wendete, es wurde nicht besser. Auch wenn die Gesellschaft Enricos doch vorzuziehen war.

Ob er es annehmen sollte? Sich solange einreden, dass es ihm gefiel, was man mit ihm tat, was ihm geschah, dass es weniger wehtat?

Das war doch absoluter Blödsinn. Aber ...
 

Der Schmerz einer heftigen Ohrfeige brachte ihn von seinen Gedanken ab und ließ ihn mit großen Augen in das Gesicht Harold Zidlers starren.

"Bleib gefälligst da, wenn ich vorhabe, dich zu ficken!", befahl dieser kalt.

Olivier reckte das Kinn, dann spuckte er ihm ins Gesicht. "Fahrt zur Hölle!", spie er aus und Zidler wirkte einen Moment tatsächlich, als könne er seinen Ohren nicht trauen. Wurde dieses Früchtchen hier tatsächlich aufsässig? Das war doch ... typisch Aristokratenpack. Mit denen hatte man immer die meisten Scherereien.

"Ich glaube, du bist niemals richtig erzogen worden", knurrte der Mann drohend. Dann schlich wieder ein sadistisches Grinsen auf sein Gesicht. "Nun gut, ich habe da so meine Methoden. Du wirst sehen. Ob es dir gefällt, das bezweifele ich zwar, aber dafür werde ich umso mehr meinen Spaß haben."
 

Enrico machte sich nicht die Mühe, die Tür zu benutzen. Innerhalb von zwei Sekunden hatte er die Räume ermittelt, in denen man Olivier festhielt und mit einem Satz glitt er in schwindelerregende Höhen hinauf zu dem Fenster des Zimmers.

Noch ehe er das Sims erreicht hatte, hatte sich in ihm ein solcher Zorn aufgebauscht, dass die Fensterscheiben in tausend Stücke barsten.
 

Zidler hatte erschrocken innegehalten, als er sich dessen gewahr wurde und nun starrte er mit sich weitenden Augen auf das Loch, das mal ein Fenster gewesen war.

Der flackernde Blick glühend roter Augen traf Harold Zidler mitten ins Mark und plötzlich sah er unfähig sich zu regen.

Das blonde Haar schien in Bewegung zu sein, rahmte das marmorne Gesicht beinahe wie eine Löwenmähne ein und die Miene ... die Miene des Eindringlings war so sehr verzerrt, so sehr, dass es unmöglich noch menschlich sein konnte und Zidler bekam es mit der nackten Angst zu tun.

"M-Monsieur", japste er erstickt, doch ihm wurde keine Möglichkeit gelassen, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen, zu bitten oder zu betteln, um sein jämmerliches Leben zu flehen.

Mit einer Schnelligkeit, die für ein menschliches Auge unmöglich wahrzunehmen war, war Enrico direkt vor Zidler und ohne, dass er eine Berührung spürte, fühlte er plötzlich, wie ihn eine unsichtbare Macht in die Höhe riss und ihm die Kehle zuschnürte.

Zidler begann zu japsen und riss die Augen auf. Enrico ballte die Hand langsam zur Faust und langsam und allmählich begann die Zunge Zidlers hervorzuquellen, während das Gesicht blau anlief.
 

Er wollte ihn töten. Er hätte ihn getötet, wenn nicht plötzlich die Stimme des einzigen Menschen zu ihm durchgedrungen wäre, auf den er überhaupt hörte.

"Enrico, bring ihn nicht um!"

Überrascht wandte er sich zu Olivier um. So abrupt, dass er die Macht über Zidler vernachlässigte und dieser aus einer Höhe von etwa 3 Metern zu Boden prallte. Ein lautes Knacken zeugte davon, dass der Arm gebrochen war.
 

Enricos Blick lag einen Augenblick auf Olivier. Dann ging er wortlos zu dem Jungen hin, nahm seinen Überwurf ab, um ihn damit einzuhüllen.

Seine Hände glitten flüchtig über die von dem Schlag noch gerötete Wange.

"Er hat dich angefasst", knurrte er, "nenn mir einen Grund, ihn am Leben zu lassen!"

Olivier erschrak ob der Härte, die in diesen Worten lag.

"Weil ..."

Ja, warum eigentlich nicht? Immerhin hatte Olivier Grund genug, um sich den Tod dieses Mannes zu wünschen. Er hatte ihn entführt, seine Familie ermordet, ihm das Leben zur Hölle gemacht, ihn ein zweites Mal entführt, geschlagen und fast vergewaltigt. Warum also nicht? Warum nicht?

Oliviers Blick glitt kurz zu Zidler, welcher mit schmerzerfüllter Miene versuchte, sich wieder zu berappeln, dann flogen seine Augen in die Höhe, wo sie direkt auf die flammenden Augen Enricos trafen.

Er öffnete die Lippen einen Spalt. "Du kannst ihm wehtun", sagte er dann leise. "Du kannst ihm sehr wehtun, aber ... töte ihn nicht. Ich ... möchte nicht, dass das auf diese Art geschieht. Ich .. ertrage es momentan einfach nicht ... Ich möchte einfach nur ... weg von hier, dieser Ort macht mich so krank ..."

Die Stimme versagte ihm und Enricos Blick wurde langsam wieder sanft. Das flammende Rot wich dem Saphirblau.

"Wenn es dein Wunsch ist, mein Täubchen", sagte er und küsste ihn auf die Stirn.

Dann fuhr er mit einem Ruck herum und schwang seinen Arm einmal in Zidlers Richtung, sodass es ihn von den Füßen hob und er mit einem entsetzten Schrei einmal quer durch das riesige Zimmer geschleudert wurde, nur um mit der vollen Wucht einer übernatürlichen Kraft an die nächste Wand zu prallen und abermals zu Boden zu fallen wie ein nasser Sack.
 

Er wollte sich schon wieder Olivier zuwenden, da fiel ihm etwas ein.

Er hatte ja heute noch nicht gespeist.

"Noch einen Augenblick, es wird nicht lange dauern", sagte er leise zu dem Jungen, woraufhin er zu dem am Boden kauernden Zidler schritt und den zwei Köpfe größeren und zweimal so breiten Mann ohne Mühe hochhob.

"Ich bin sicher, dass du absolut widerlich schmecken wirst", zischte er. "Du bist es nicht mal wert, dass ich dir einen Kuss meiner Dornen schenke, aber vielleicht siehst du es wenigstens als letzte Warnung."
 

Dann vergrub er die Zähne in dem Hals des Moulin Rouge-Besitzers. Sofort schoss ihm ein Schwall Blut in den Mund. Es schmeckte metallisch und giftig. Nach Rauch, nach Zigaretten, nach Alkohol, nach Huren, nach Boshaftigkeit, nach Sünde.

Er ließ von ihm ab und flüsterte ihm zu: "Komm ihm noch einmal zu nahe und ich werde dir bei lebendigem Leib deine stinkenden Eingeweide aus dem Körper holen. Und ich werde es sehr langsam tun, denn ich habe Stil."

Enrico grinste, dann ließ er ihn fallen.
 

Olivier hatte den Blick angewandt, als Enrico sich an Zidler vergriffen hatte. Das war ein Akt von purem Sadismus. Aber er hatte dem Vampir sozusagen seinen Segen dafür gegeben.

Als dieser wenig später seine Drohung aussprach, zweifelte Olivier keine Sekunde daran, dass er jedes Wort ernst gemeint hatte.

Im nächsten Moment spürte er zwei Arme, die sich einmal um seinen oberen Rücken wanden und einmal unter die Kniekehlen schoben.

Olivier klammerte sich in dem seidenen Hemd fest, als Enrico auf das Fenstersims trat, und barg das Gesicht an dessen Brust.

Im nächsten Moment glitt der Vampir in die Nacht hinaus und Olivier spürte, wie der eisige Wind durch seine Haare strich.
 

Malik war vollkommen aufgelöst, als Olivier schließlich wieder einigermaßen wohlbehalten zurückkehrte. Er ließ es sich nicht nehmen, sich persönlich um Olivier zu kümmern und auch, wenn Enrico den Jungen gerade am liebsten für sich alleine gehabt hätte, so wurde er von der plötzlichen Mütterlichkeit des Ägypters so überrollt, dass er ihn einfach ließ. Eine Weile zumindest.
 

Malik schloss den Jungen in seine Arme und küsste ihn auf beide Wangen.

"Olli, es tut mir so leid! Als ich zurückgekehrt bin, habe ich auf dich gewartet, aber du bist nicht aus der Kirche gekommen und niemand, den ich gefragt habe, hat mir Auskunft geben wollen."

Malik hielt kurz inne und ärgerte sich in Gedanken einen Moment darüber, dass man ihm aufgrund seiner Herkunft immer noch so eine feindliche Haltung entgegenbrachte, dann fuhr er fort: "Ich hab dich überall gesucht und als ich schließlich hierher zurückkam und Tornatore davon berichten wollte, sagte man mir, er sei schon längst weg, um dich zu suchen. Ich hoffe, er reißt mir nachher nicht den Kopf ab - was hältst du davon, wenn ich dir ein Bad einlasse?"

"Klingt gut", nuschelte Olivier, wobei er unwillkürlich schauderte, als er an die Ereignisse dachte, die erst so kurz zurücklagen. Er war nur haarscharf einer Vergewaltigung entgangen. Eine schreckliche Vorstellung.

Heißes Wasser erschien ihm jetzt das einzig Richtige.
 

Er war ziemlich durchgefroren von dem Wind ihrer kurzen Reise. Das Wasser ließ die Lebensgeister wieder in ihm erwachen. Was für ein furchtbarer Tag, ging es ihm niedergeschlagen durch den Kopf.

Vor allem ... es erschien ihm so makaber, wenn er bedachte, wie unbeschwert und leicht er früher sein Leben gelebt hatte und jetzt, wo er quasi auf sich alleine gestellt war, passierte ihm fast jeden Tag irgendetwas. Das hielt doch kein Mensch aus.

Mit einem Seufzen schloss er die Augen und glitt unter Wasser.

Es war angenehm. Geborgen. Fühlte es sich so ähnlich an im Mutterleib?

Olivier öffnete seine Augen unter Wasser, in dem Wissen, dass sie ihm brennen würden von den Badezusätzen und fuhr dann erschrocken hoch, als er die Kontur eines Gesichtes über sich erkannte.

"Malik, ich hab dich doch gebeten-"

Er hielt inne. Es war nicht Malik, den er vorhin gebeten hatte, ihn alleine zu lassen, sondern Enrico, der neben ihm auf dem Wannenrand saß und ihn betrachtete.

Verlegen strich Olivier eine Strähne seines nassen Haares nach hinten und murmelte: "Ich hab nicht gemerkt, wie jemand hereingekommen ist."

"Wie geht es dir jetzt, Olivier?", fragte der Vampir sanft.

Der Junge zuckte mit den Schultern. "Ich ... weiß nicht. Besser, als man nach so einem Vorfall vermuten würde, schätze ich", fügte er dann unschlüssig hinzu.

"Wie weit ist er gegangen?"

Wieso hatte er nur auf diese Frage gewartet.

"Kannst du das denn nicht riechen?"

Enrico lächelte schwach. "Mir ist viel in die Nase gestiegen, als ich das Zimmer betreten habe. Das ist das Problem im Moulin Rouge."

Olivier schwieg eine Weile, dann sagte er, "Er hat ... seinen Finger in mich gesteckt und mich geschlagen, aber mehr hat er nicht gemacht."

Olivier bemerkte, wie sich Enricos gläserne Fingernägel nach diesen Worten tatsächlich in den Rand der Wanne gruben und kleine Risse bildeten.

"Das ist schon viel zu viel, wenn du mich fragst", murrte er finster. "Ich verstehe immer noch nicht, wieso du mich ihn nicht hast töten lassen."

"Enrico, nicht jedes Problem kann mit dem Tod beseitigt werden", sagte Olivier gedämpft und ergriff die Hand des Vampires, die sich in den Wannenrand gekrallt hatte, um sie sanft zu küssen.

Enrico war überrascht über die Geste - das erste Mal, das eine Zärtlichkeit von Olivier ausging.

"Ich will es einfach nur vergessen. Wie wäre es, wenn du morgen Abend mit mir in den Louvre gehst? Ich habe gehört, dass da gerade eine neue Ausstellung aufgemacht haben soll."



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Jeschi
2012-03-26T15:37:36+00:00 26.03.2012 17:37
Deine FF kommt mir ja gerade mehr als recht, weißt du das.
*im Yu-gi-oh Fieber* ^^"
Und dann noch Olli... ach ja~ xD

Ich mag die Ruhe der Kirche, du die so schön rüberbringst.
Da fühlt man sich beim Lesen so entspannt.
Kein Wunder, dass es Olli dahin zieht.

Die Wendung seiner Gefühle kommt schnell.
Aber ich mag es, wie du es darstellst.

Zidler... das derr nicht wahnsinnige Angst vor Enrico hat. o.O
Aber langsam musste ja mal was passieren, ne.

Hach ja. Ich könnte jetzt total ins Schmachten verfallen.
Wie Enrico ihn rettet. (Und wie blutrünstig du ihn da darstellst. Das ist echt wahnsinnig toll!)
Und das Ende... Ich finde es so süß, dass Olli sich ihm ein wenig öffnet, ihn sogar keine kleine Zärtlichkeit schenkt.
<3

Sorry, dass der Kommi so kurz ist.
Ich hab momentan kaum Zeit für Kommis. Aber ich wollte dir unbedingt mal wieder ne Review dalassen. Weil ichs doch so toll finde und überhaupt.

lg x3

Von:  Himmelblau
2011-11-30T18:47:01+00:00 30.11.2011 19:47
Ich hab mich wirklich gefreut, als ich gesehen habe, dass ein neues Kapital online ist!

Dein Schreibstil ist klasse! Ich bin ja sehr gespannt ob Zidler seine Lektion gelernt hat und würde mich freuen im nächsten Kapitel mehr von Marik zu lesen.

LG
Von:  Toastviech
2011-11-25T22:11:00+00:00 25.11.2011 23:11
ES GEHT WEITER!!!

Du weißt gar nicht welche Freude du mir damit machst!
Das Kapitel ist klasse!
Ich hätte diesen Miestkerl so lange leiden lassen bist er fast stirbt ,da hätte ich Oliver total bei Wort genommen.
So ein Schwein dieser Bordellbesitzer!

Das Ende war so schön ruhig wieder. Obwohl ich es fast erschreckend finde wie ruhig Oli bleibt. Er erlebt praktisch eine Hölle nach der anderen und er ist so naja entspannt. Ich würde ja durchdrehen...

LG Toasty


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