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Herztod und Zwischenfall.

Weil du mich Freiheit lehrtest
von

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Vogelfrei


 

03 Kapitel: Vogelfrei
 

Das Phänomen der Orientierungslosigkeit besagte, dass zwei sich einander fremde Menschen zu einer nicht vorhersehbaren Zeit begegnen werden. In einer unbestimmten Situation, zu einem unbekannten Grund und einer Bestimmung, die weit im Dunst der Zukunft lag. Es kostete viel Überwindung einen Passanten auf der Straße anzusprechen und sich der Schmach hinzugeben, dass der menschliche Verstand nicht mehr in der Lage war die Umgebung zu sondieren und im Kopf ein logisches Netz aus Straßen und Wegen zu erstellen, dem man bedingungslos folgen konnte. Wenn ein Mensch nicht weiter wusste, musste er sich eine Niederlage zugestehen. Und das machte Niemand gerne. Vor allem nicht, wenn derjenige sich in einer Großstadt befand. Jeder wollte besonders intelligent, besonders gebildet vor den Mitmenschen aussehen, obgleich sie keinen von ihnen kannten.

Nur wer frei von diesen Zwängen war und unbeholfen durchs Leben schritt konnte auch über seinen Schatten springen und wildfremde Leute auf der Straße ansprechen.

"Wow! Du sag mal, bist du so etwas wie ein Philosoph?" Hizumi, der schon seit seiner Kindheit einen Dreck für diese unpersönliche, hochgeschraubte, überbewertete Höflichkeit übrig hatte - was zur Folge führte, dass er seine Umwelt grundsätzlich und ausnahmslos mit »Du« anredete -, war vollkommen fasziniert von seinem Begleiter. Er hatte diese wohl sortierte und gepflegte Wortart, die er so zuvor in seinen verhältnismäßig jungen Jahren nicht gehört hatte. Hizumi hatte seinen Bruder oft mit solchen Worten reden hören, als würde er die Höflichkeit studieren wollen, aber der Fremde, der mit eleganten, weitläufigen Schritten neben ihm über den Boden zu schweben schien, verlieh diesem Ausdruck einen ganz eigentümlichen Charme. Der Fremde erinnerte ihn an einen Fels. Tiefgründig, beständig und unzerstörbar.

Wieder lächelte der Andere, doch der Ausdruck in seinem Gesicht sprach das Unwohlsein aus, was er dabei empfinden musste. Hizumi fragte sich, warum der Fremde sich damit so quälte oder ob es ihm gar nicht bewusst war?

"Nein, philosophisch bin ich nicht", antwortete sein Begleiter in knappen Worten. Sie waren jedoch machtvoll genug, dass Hizumi sich gar nicht traute eine weitere Frage zu stellen. Dennoch fühlte er sich keineswegs verletzt oder bedroht. Der Fremde strahlte eine Präsenz aus, wie er sie sonst nur ein seiner Heimat erlebt hatte. Hizumi kam sich vor, als konnte er wie ein Blinder sein ganzes Vertrauen in seinen Begleiter stecken. Er kam sich vor, als brauchte er sich den Weg den sie gemeinsam gingen nicht merken. Er blieb stehen, wann immer der Langhaarige stehen blieb und ging weiter, wenn der Größere sich wieder in Bewegung setzte. Hizumi achtete nicht auf die Ampeln oder die Passanten. Er fühlte sich geborgen in einer Sicherheit, in der er einfach die Augen hätte schließen und über einen schmalen Steg hoch oben in schwindelerregenden Höhen gehen können, so lange der Fremde sich in seiner Nähe befand.

"Da wären wir", ertönte es auf einmal neben ihm. Fragend schaute Hizumi den Fremden an, eh er begriff, dass sie bereits vor dem kleinen, unscheinbarem Gebäude des Maruyasu standen. Hizumi wagte einen kurzen, verwirrten Blick über die Schulter und sah den Weg entlang, den sie gekommen waren, dann zurück zum Maruyasu. Das Restaurant war noch ganz im altjapanischen Stil erbaut und passte mit dem geschwungenen Vordach, dem roten Sichtschutz , den halbverfallenen Blumenkübeln und den kleinen Gebetsmühlen vor dem Schaufenster so gar nicht ins Bild der neu-industriellen Großstadt namens Tokyo. Es war ein regelrechter Zeitsprung, wenn man über die Straßenseite ging und das Maruyasu betrat. Der Geruch von angebranntem Fett, frischem Fisch, Tang, Sake und dem schweren Zigarettenrauchdunst hing in der Luft. Hizumi nahm unbewusst einen tiefen Atemzug und inhalierte die Gerüche in seine Lunge. Hier war es fast wie zu Hause, auch wenn einer der Stadtbewohner seine piekfeine Nase rümpfen würde vor Ekel.

"Sind wir wirklich noch in Tokyo?", fragte Hizumi im Flüsterton, doch wieder wurde seine Frage nur mit einem weisen Lächeln beantwortet. Er kam sich nicht vor noch in der Stadt zu sein, die er Hals über Kopf vor wenigen Tagen bezogen hatte. In ihm wurde die Heimlichkeit des Dorfes geweckt, die er in den letzten Stunden so sehr vermisst hatte.

Da bis auf einen Tisch, der in der dunkelsten und hintersten Ecke von einem dunkel gekleideten Mann besetzt wurde, der sein Gesicht in einer vergilbten Tageszeitung verbarg, alles frei war, wählte der Fremde einen Platz für sie aus, der direkt am Schaufenster lag. Hizumi pellte sich aus der Jacke und stopfte das Halstuch in seinen Ärmel, eh er sich setzte und sofort die Nase in eine der beiden Speisekarten steckte. Seinen Begleiter hatte er fast gänzlich vergessen, während er die Speisen durchforstete. Aber der Langhaarige hatte Recht. Hier bekam man noch für humane Preise etwas zu Essen und falls der Laden wirklich noch vom alten Stamm sein sollte, dann waren es sogar diese unmenschlichen, riesigen Portionen, die ein Sterblicher mit einem normalen Magen alleine gar nicht herunter bekam.
 

"Hallo die Herren, was darf ich Ihnen bringen?" Eine junge, schlanke Bedienung mit kurzen Haaren, die sie mit einem blau karierten Kopftuch nach hinten gebunden hatte, war mit Schreibblock und Kugelschreiber neben ihnen aufgetaucht, begrüßte sie mit einem überaus heiteren Grinsen. Hizumi bemerkte sie dennoch nicht, auch wenn ihre unangenehm hohe Stimme durchaus nicht zu überhören war. Aber er konnte sie von der Speisekarte nicht lösen, die er wie verrückt in seinen Händen hin und her drehte und sich die Gerichte durchlas. So eine üppige Auswahl hatte er bei sich zu Hause noch nie gesehen.

"Für mich nur einen Kaffee. Schwarz.", antwortete seine Begleitung als Erster, ohne auch nur einen Blick in die Karte geworfen zu haben.

"Hai!" Schnell schrieb die Frau es auf ihren Notizzettel. "Wie immer aufs Haus! Und für Sie?"

Hizumi schreckte auf, wie Jemand der nur kurz während eines langweiligen Unterrichtes die Augen schließen wollte, aber gänzlich eingeschlafen war. Grinsend kratzte er sich am Hinterkopf und tippte mit dem Zeigefinger auf das, was er haben wollte. "Für mich zwei Nudelsuppen und das Chashudon! Vielen Dank."

Wortlos verzog die Bedienung sich wieder in die Küche. Blinzelnd sah Hizumi ihr hinter her, eh er sich langsam zu seinem Fremden umdrehte und ihn fragend ansah.

"Habe ich etwas falsch gemacht?", fragte er irritiert und entlockte dem Langhaarigen wieder ein leises Auflachen. Und wieder war es benebelt mit dem schaurigen Unterton des Zwangs und der Zurückhaltung. Der Andere hatte einen so schönen Klang in der Stimme, aber wenn er lachte, dann klang es, als würden Dämonen grollen.

"Nein, nein, durchaus nicht. Es ist nur .. ungewöhnlich, dass ein Gast vom Maruyasu so viel isst", erklärte ihm der Andere. Hizumi hob nachdenklich eine Augenbraue. War das gerade die höflich formulierte Version von »Sie sind verfressen?«. Warum war das ungewöhnlich? Nur weil die Schnösel, die hier lebten, wegen den vielen Abgasen und chemischen Unreinheiten in der Luft keinen gesunden Appetit mehr hatten, bedeutete das doch nicht, dass er wegen zwei Nudelsuppen und einer Kleinigkeit dazu einen übergroßen Magen hatte.

"Sie sagten, Sie seien Neu hier in Tokyo. Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?" Die Frage des Fremden rettete ihn aus seiner Verschämtheit und sein bedrückter Gesichtsausdruck wechselte wieder in das grinsende Strahlen, dass ihn immer begleitete wie sein eigener Schatten.

"Aus Osaka!"

"Oh, dann sollten Ihnen große Städte doch keineswegs fremd sein."

Mit dampfenden Schüsseln kam die Bedienung aus der Küche zurück, stellte eine elegante Tasse vor dem Fremden ab und servierte ihm die beiden Nudelsuppen und das Chashudon. Dankend nahm Hizumi beides Entgegen und griff nach den Stäbchen, die er erst ein paar Mal glückbringend zwischen den Handflächen rollte, eh er von Allem etwas probierte.

Wahre Euphorie überkam ihn. Es schmeckte tatsächlich genauso wie Daheim! Der Teufel konnte ihn dafür holen, aber er hatte dieses kleine Fleckchen Ort in Tokyo bereits lieb gewonnen und war froh darüber seinen Begleiter angesprochen zu haben.

"Es schmeckt ausgezeichnet!", rief er Richtung Küche. Aber Keiner schien sich die Mühe zu machen eine Antwort zu geben. Das war der einzige Unterschied zu seiner Heimat. Im Dorf hätten sie sich spätestens jetzt in eine schier endlose Unterhaltung verwickelt und sich angefreundet. Aber ihr in Tokyo war alles etwas stumpfer und kälter, als während die Leute ebenfalls aus diesem unpersönlichen Beton gegossen worden.

"Naja..", begann Hizumi nach einer Weile leise und ließ Löffel und Stäbchen wieder sinken, hielt den Blick in die Nudelsuppe gerichtet, als könne er darin seine Zukunft lesen. Langsam sah er zu seinem Gegenüber auf, der sich zurück gelehnt und Beine überschlagen hatte, und somit an seinem Kaffee schlürfte. Dabei sah dieser Hizumi mit sanftem Blick an. "Wenn ich ehrlich bin, dann komm ich gar nicht aus Osaka", sagte er vorsichtig lächelnd. "Ich komme aus einem kleinen Dorf, das in der Nähe liegt. Aber da gehört irgendwie alles zu Osaka und das kennen die Leute eher."

Der Fremde nickte aufmerksam. Hizumi war verwundert darüber, dass er keinen dummen Kommentar zuhören bekam. Seine ganzen Verwandten hatten ihn stets dafür ausgelacht, wenn er diese Erklärung ablieferte. Aber den Andere schien es entweder nicht zu interessieren oder es störte ihn nicht, genauso wenig wie die Tatsache, dass Hizumi ihn andauernd Du-zte.

Hizumi lächelte verlegen und aß weiter, bis er nach einigen Bissen wieder aufhörte. Während er noch herunter schluckte, wischte er seine Hand an der Hose ab und streckte sie über den Tisch. "Ich heiße übrigens Hizumi.".

Einige Sekunden verstrichen, in denen der Fremde seine Hand nur anschaute, eh er die Tasse auf den Tisch stellte und seine Hand mit einem starken, selbstsicheren Händedruck erwiderte. Hizumi glaubte damit einen Packt mit dem Teufel einzugehen, so überwältigend war diese knappe Geste. "Angenehm.", erwiderte der Andere und nahm seine Tasse wieder in die Hand.

"Also, was führt Sie nach Tokyo?"

Wieder wurde die gemütlich aufkommende Stille durch eine simple Frage durchbrochen. Hizumi schluckte die Nudeln herunter und lächelte. "Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder! Unn, du sag mal ziehst du die Handschuhe eigentlich nie aus?", fragte der Jüngere und schob sich etwas von dem Chashudon zwischen die Kauleisten. Der Fremde betrachtete seine Hände. "Nicht, dass es mich stören würde. Aber das ist für mich eben ungewöhnlich!", hakte Hizumi schnell nach und schlürfte an der Brühe.

"Sie sind sozusagen meine zweite Haut", beantwortete der Langhaarige nach einem kurzen Schweigen schließlich seine Frage.

"Hast du dich verletzt?", kam gleich die nächste Frage von Hizumi, der sich die zweite Schüssel heran zog und zuerst die kleinen Lauchringe futterte.

"Ich möchte nun einmal meine Hände nicht schmutzig machen", sagte der Fremde in einem eisigen Tonfall, der Hizumi erschaudern ließ. Wie erstarrt schaute er den Anderen an, nahm dann vorsichtig einen weiteren Schluck von der salzigen Brühe seiner Nudelsuppe.

"Sag mal", durchbrach er zurückhaltend die Stille, als wäre es ihm verboten noch einmal das Wort zu ergreifen, "gehörst du zur Mafia oder so?"

Sein Gegenüber schmunzelte belustigt. "So könnte man es auch ausdrücken."
 

Hizumi wollte sich gerade mit den restlichen Nudeln vollstopfen, eh sie gänzlich in der salzigen Brühe aufquellen würden und einen klumpigen Kloß aus Stärke und Mehl hinterlassen würden, als sein Gegenüber mit solch einer unbemerkbaren Hektik sich plötzlich erhob, dass der junge Japaner aus Indirekt-Osaka sich an seiner überaus verboten köstlichen Nudelsuppe verschluckte. Er hustete mehrmals heftig und schlug sich mit der geballten Faust auf die Brust, sodass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Mit wässrigen Augen sah er zu dem Fremden auf, der mehrere Geldscheine aus seinem länglichen Portemonnaie zog und sie zusammengefaltet unter seine Untertasse schob. Hizumi fiel gleich die Höhe der Summe auf und damit wollte der Andere doch nicht seinen Kaffee bezahlen, der ohnehin aufs Haus ging, so wie es im noch in Erinnerung kleben geblieben war! Das war das Geld für sein Essen!

Gerade als er protestieren wollte, war der Fremde um den Tisch herum getreten und packte ihn am Oberarm. Grob wurde Hizumi auf die Beine gezogen. Sein Herz schlug binnen weniger Sekunden schneller und das Blut rauschte ihm durch die Ohren, dass er die leisen, raunenden Worte des Anderen beinah nicht verstanden hätte: "Wir sind hier nicht länger sicher. Keine Angst, Ihnen wird Nichts passieren, dafür sorge ich."

Hizumi hatte gerade noch genügend Zeit nach seiner Jacke zu greifen, eh er mit schnellen Schritten dem Anderen folgte. Der Fremde rief noch eine Verabschiedung in die Küche, eh sie das Maruyasu unauffällig verließen. Hizumi kam sich dennoch vor die ein Flüchtling, der vor einem zivilen Offizier verfolgt wurde. Er konnte den Anschlag auf seinem Rücken vorstellen, wie sie abgeknallt wurden, wenn sie nicht aufpassten, was sie machten. Er konnte nicht einmal wirklich fassen, was gerade mit ihm geschah oder weil er vor Angst nicht davon lief. Seine Beine waren steif, wie zwei leblose Stöcke, die von unsichtbaren Mächten wie die Gliedmaßen einer Marionette bewegt wurden. Er klebte regelrecht an der Seite seiner Begegnung. Doch Hizumi fühlte in diesem Moment keine Reue. Er bereute es in der Tat nicht, so seltsam es auch klingen mochte, dass er den Fremden angesprochen hatte, dass er sich von diesem begleiten ließ, mit ihm gespeist hatte und ihn auch jetzt folgte, obgleich er nicht wusste, wer oder was sie verfolgte oder bedrohte. In der Nähe des Langhaarigen spürte er keine Gefahr. Es war wie verrückt!

Vorsichtig warf Hizumi einen Blick über die Schulter.

"Nicht umdrehen!", kam es leise von der Seite und in solch einem befehlenden Ton, dass Hizumi stur geradeaus sah und sich nicht traute einen weiteren Seitenblick zu riskieren. Er konnte nur spüren, wie ihnen etwas im Nacken saß. Das typische Gefühl, wenn man sich verfolgt fühlte brach in ihm aus, wie eine mit Toxinen gefüllte Phiole, die man gegen die Wand warf und sie zum Zerplatzen brachte, als würde man mit dem Zeigefinger vorsichtig gegen eine Seifenblase stupsen. Beklemmung schnürte seinen Oberkörper zu, während sein Herz so hart gegen seinen Rippenbogen hämmerte, dass ihm die Brust schmerzte. Angst kroch über seine Schultern hinweg, wie ein Nachtmahr. Hizumi fiel es sehr schwer dem Drang, sich umdrehen zu wollen, zu widerstehen. Ebenso wie das Verlangen nach der Hand des Fremden zu greifen, um Schutz in seiner Nähe zu wissen.

Für ein paar Meter kniff Hizumi die Augen zusammen, als sie in eine lichte Gasse traten. Farben tanzten vor seinen geschlossenen Lidern hin und her, wie Licht, dass sich in einer Ölpfütze brach.

Als er seine Augen wieder öffnete, befanden sie sich bereits am Ende der schmalen Gasse. Er hatte keine Ahnung mehr, wo er sich befand. Und um diese Straße auf seiner Karte zu suchen würde bestimmt irgendeine Aufmerksamkeit auf sie lenken. So viel hatte er aus den Filmen schon gelernt, die er früher mit Beisein der Nachtschwester im Krankenhaus immer geguckt hatte. Ja, das hier war alles nur ein böses Filmklischee und gleich würde er von einem Hochhaus fallen und beim Aufschlag in seiner unordentlichen Wohnung aufwachen und merken, dass ihm Erika aus mysteriösen Umständen schon wieder auf den Kopf gefallen war. Erneut kniff Hizumi verzweifelt seine Augen zusammen, aber als er sie öffnete und schon lachen wollte, weil das alles nur ein böser Traum gewesen war, stand er gemeinsam mit dem Fremden vor einer Fußgängerampel und wartete auf Grün.
 

"Was passiert hier?", flüsterte er. Seine Stimme bebte bereits vor Angst, die er während des Laufens nicht in seiner Kehle gespürt hatte.

"Erinnern Sie sich an den Mann, der in der Ecke saß?" Im Gegensatz zu seinem Flüsterton klang die Stimme des Fremden, der unberührt in normaler Lautstärke sprach, wie brachial Gewalt, die seine Gehörgänge sprengte.

"Mann in der Ecke?" Hizumi durchforstete sein Gedächtnis. Auch wenn es nur wenige Minuten zurücklag, konnte er sich kaum noch an jedes Detail erinnern. Sie hatten vor dem Maruyasu gestanden, hatten es betreten. Er hatte den Innenraum nur flüchtig gemustert, aber plötzlich fiel es ihm wieder ein. "Ja! Der Mann hatte die ganze Zeit zu uns herüber geschaut!"

"Das stimmt, aber er verfolgt uns nicht."

"Wie jetzt?"

Ungläubig schaute Hizumi seinen Begleiter an. Die Ampel sprang währenddessen auf Grün und Hizumi tat einen unbeholfenen Schritt nach Vorne, als auch der Fremde sich wieder in Bewegung setzte und dieses schnelle Großstadt-Tempo an den Tag legte, mit dem Jeder hier langraste. Er stolperte, als er mit der Fußspitze an der Bordsteinkante hängen blieb, aber nach wenigen Schritten hatte er sein Gleichgewicht wieder gefunden und schloss zu seinem Begleiter auf.

"Wie? Warum ist der Kerl das nicht? Hallo?! Könntest du mir das jetzt bitte endlich mal erklären?!" Hizumi, der mit der Hand nach der Schulter des Anderen gegriffen hatte und ihn somit zum Stehen zwang, spürte, wie seine Angst langsam in Wut umschlug. Es machte ihn rasend, dass er nicht wusste wo er war, was hier passierte oder wer der Kerl war, der ihn mit diesem sanften Blick tadelte. Ja, was geschah hier eigentlich? Er war nicht nach Tokyo gekommen, um Hals über Kopf in ein Abenteuer zu fallen. Er war hier um Jemanden zu suchen und wenn er ihn gefunden hatte, hier zu leben, weil er auch etwas in seinem Leben erreichen wollte. Er war hier, weil er es allen Anderen zeigen wollte, die ihn bisher nur ausgelacht hatten und nicht, um irgendeinem Terrorakt zum Opfer zu fallen.

Der kalte Ausdruck, der wie wunderschöne, aber bittere Eiskristalle, in den Augen des Größeren lag schlug um. Trauer triefte aus diesen schwarzen Tiefen, an denen Hizumi sich nicht satt sehen konnte. Augenblick ließ er den Älteren los. "Unn, tut mir leid. Ich.. Ich wollte dich nicht kränken", gab Hizumi von sich, da er auf einmal den Drang verspürte sich entschuldigen zu müssen. Aber anstatt eine Antwort oder wieder irgendeine Höflichkeitsfloskel um die Ohren geschlagen zu bekommen, packte ihn der Fremde am Arm und zog ihn weiter.

"Der Mann diente nur zur Ablenkung. Er war eine Finte, nichts weiter", erklärte der Fremde nachdem sie ein paar Straßen hinter sich gelassen hatten und Hizumi sich weiter bedingungslos mitschleifen ließ. "Schauen Sie vorsichtig hinter uns. Sehen Sie die Frau mit dem Regenschirm?"

Zögerlich sah Hizumi über die Schulter und sondierte kurz alles, was er zu sehen bekam. Ein paar Schüler, eine Frau mit Kinderwagen, viele Andere mit Aktentaschen und grauen Anzügen. Doch da erkannte er die junge Frau mit dem rotschillernden Regenschirm, die sie Mitten durch die Masse verfolgte. "Hab sie gesehen", sagte er leise und senkte seinen Blick wieder auf seine eigenen Füße. Im Unterschied zum Langhaarigen hatte er fürchterliche Angst, dass etwas geschah, wenn er laut sprach oder nicht demütig den Kopf zwischen die Schultern zog.

"Ist sie es?", fragte Hizumi, vernahm aus dem Augenwinkel jedoch das Kopfschütteln des Größeren.

"Nein, sie ist auch nur eine Finte. Sie sind wie Spielfiguren, die strategisch positioniert wurden. Hier links." Gemeinsam schlugen sie nach einer weiteren Biegung eine neue Richtung ein. Hizumi hielt nach den Straßenschildern ausschau, aber er konnte keines erkennen und ein größeres Gebäude, an dem er sich hätte orientieren können, war auch nicht in der Nähe.

"Haben Sie bemerkt, dass uns seit einiger Zeit ein Wagen verfolgt?"

Perplex schaute er den Fremden an, der noch immer seinen Arm gepackt hielt und ihn weiter drängte. Vorsichtig sah Hizumi die Straße entlang. Und tatsächlich, in unauffälliger Reichweite kroch eine kleine, schwarz lackierte Limousine hinter ihnen entlang und ließ sich von einem blassblauen, klapprigen Mitsubishi-Transporter überholen. Das hier war wirklich die Kulisse eines schlechten Hollywood-Streifens. "Die Limo?"

Der Fremde schüttelte erneut den Kopf. Hizumis Gesichtszüge zerknitterten vor Frustration, sein Begleiter deutete jedoch mit einem Nicken in Richtung des Lastwagens, der noch immer über die Straße polterte und eine dicke Abgraswolke hinter sich herzog. "Die Limousine ist eine weitere Schachfigur. Die eigentlich Agierenden sitzen immer in einem unscheinbaren Fahrzeug."
 

Hizumi blieb stehen. Blinzelte ein oder zwei Mal mit den Augen, dann verflog seine Angst wie eine zerpuffende Seifenblase und die Wut, die sich in seiner Magengrube angesammelt hatte, platzte hervor wie Galle. "Hör auf so einen Scheiß zu labern und such dir mal einen guten Psychologen!" Lauthals schrie er den Mann an, von dem er sich losgerissen und einige Schritte zurück gewichen war. Das die Passanten sich bereits zu ihm herum drehten, aber nur flüchtige und gelangweilte Blicke für sie übrig hatten, interessierte ihn nicht. Hizumi wollte sich nicht länger von diesem Mistkerl verscheißern lassen, denn irgendwann war sein Fass für bedingungsloses Vertrauen auch mal übergelaufen. Und die Schnauze hatte er ohnehin schon voll!

Doch der keimende Zorn, der in ihm aufgeschäumt war, verlor sich jäh, als der stumme Blicke unberührt auf ihm Lag. Hizumi war erschrocken von dieser Gleichgültigkeit, mit der der Andere seinen Vorwurf begegnete und ihn somit an ihm abprallen ließ. Und dann geschah etwas, mit dem der Jüngere nicht gerechnet hatte: Die Augen des Fremden, diese verträumten, wachsamen, trauernden, toten und machtvollen Augen seines Gegenübers verformten sich minimal zu zwei gefährlichen Schlitzen, die warnend auf ihn herabschauten. Der Größere streckte seine Hand aus und zog Hizumi am Rever seiner Jacke zu sich, so nah, dass sich ihre Gesichter beinah berührten. Hizumi spürte, wie die Angst in seine Glieder zurückfloss. Er hatte es tatsächlich vollbracht die Grundfeste alles ruhen Seins zu erzürnen und er spürte eine Präsenz um sich hüllen, die weitaus gefährlicher war, als das paranoide Gefühl im Nacken.

"Das ist kein Scheiß, das sind gefährliche Menschen. Auch wenn Sie mir nicht glauben wollen, Hizumi-San, aber Ihr Leben ist gerade weitaus mehr in Gefahr, als wie Sie es vielleicht vermuten wollen", zischte der Fremde mit der Stimme eines grollenden Gewitters. Die Art, wie er das Wort »Leben« aussprach klang so furchterregend, das Hizumi im Innern seines Körpers begann zu zittern. "Diese Leute sind nicht irgendwelche Statisten, wie Sie es glauben möchten. Sie sind hinter mir her, aber ich verspreche Ihnen, dass ich Sie heile nach Hause bringen werde, denn diese Leute werden Nichts tun, eh ich nicht wieder allein unterwegs bin." .

In den ersten Sekunden nachdem er diese Information erhalten hatte, konnte sein Kopf nicht fassen, was ihm gerade zu Ohren gekommen war. Alles in ihm gefror zu einer tauben Masse und jeder Schritt, den er noch bis zu Hause gehen musste, wurde schwer und bleiernd. Hizumi fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sollte das Bedeuten, dass der Fremde nicht, sondern ihre Verfolger Angehörige der Mafia waren? Dieser Gedanke waberte wie eine Dunstwolke die sich nicht auflösen wollte, durch sein Gehirn,. Er rollte die Worte tonlos über seine Zunge, aber auch dadurch wurden sie kein Stück schmackhafter. So fühlte es sich also an, wenn man in Gefahr schwebte? Hizumi war sich nicht bewusst, dass er jede Sekunde sein Leben verlieren könnte. Je länger der Weg wurde und je schneller die Minuten ins Land strichen, desto verwirrter wurde der Jüngere, während der Gedanke sich langsam lichtete und zu einem logischen Gebilde in seinem Kopf wurde.

Den ganzen restlichen Weg über schwieg Hizumi und glotzte wie ein Frosch vor sich hin, ließ sich von dem Fremden weiter durch die Gassen und Straßen führen, durch die Menschenmassen hindurch, an den Autos vorbei, bis er Wohnsiedlung wieder erkannte und er sich nach wenigen Schritten vor seinem eigenen Haus befand.
 

Erst hier regte der Junge sich wieder und der Größere ließ ihn schließlich los.

"Da wären wir, Hizumi-San. Ich werde Sie nun allein lassen.".

Stille entstand.

"Hizumi-San?" .

Hizumis Gesicht bebte regelrecht. Wenn er daran dachte diesen Mann nie wieder zu sehen wurde ihm das Herz schwer. Er konnte nicht sagen warum, doch wenn er daran dachte, dann fiel ihm nur das Gefühl des Verlustes sein. Als würde er es noch bereuen, wenn er den Fremden gehen ließ. Es war so merkwürdig, doch der zuckender Muskel, der am mittleren Punkt seines Torsos unter Fleisch, Muskeln und Knochen eingebettet lag, zerfetzte regelrecht.

"Verlass mich nicht", wisperte er leise, gefolgt von einem hauchzartem Schluchzen, dass sich den Weg aus seiner Lunge gebahnt hatte. Es war eine Bitte, die er in seinem ganzen Leben noch nie ausgesprochen hatte, weil für ihn seelischer Schmerz ein regelrechtes Fremdwort gewesen war. Aber nun kam er sich vor, als würde er davon zertrümmert werden, denn erneut lag nur der ruhige Blick des Fremden auf ihn.

"Sie wissen, dass das nicht geht. Sayonara, Hizumi-San", sagte sein Begleiter mit leisen, stimmlosen Worten, als würde auch ihm schwerfallen dies auszusprechen. Doch kurz darauf drehte er sich herum und überquerte die Straßenseite. Hizumi blickte ihm sehnsüchtig nach, eh die Gestalt des Fremden hinter einem vorbeifahrenden, klapprigen, blassblauen Mitsubishi-Transporter verschluckt wurde.



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