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Herztod und Zwischenfall.

Weil du mich Freiheit lehrtest
von

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Das Phänomen der Orientierungslosigkeit


 

02 Kapitel: Das Phänomen der Orientierungslosigkeit
 

Sein Vater hatte ihn gewarnt. Seine Mutter hatte ihn gewarnt. Sein Bruder, seine Freunde, ja sogar die Frau an der Kasse in seinem Lieblingssupermarkt, die ihm mit schaurigen Geschichten das Rauchen abgewöhnt hatte; Sie alle hatten ihn gewarnt: Eine Großstadt wäre nichts für ihn. Und als er sich auch noch den Sammelpunkt, das Zusammentreffen des kulturellen Vermögens von ganz Japan ausgesucht hatte, hielten sie ihn für verrückt. Der Einzige, der ihn nicht für verrückt gehalten hatte, war der Junge mit dem Down-Syndrom gewesen, der am Ende der Straße lebte und ständig die Blumen aus den Vorgärten riss. Höchst aufmunternd. Als Abschiedsgeschenk hatte er keine Party gekriegt, nur ein feines »Aus dir hätte etwas werden können«-Schulterklopfen seines Vaters und einen Kuchen mit der Aufschrift »Bis in zwei Wochen«, der auch nur so groß war wegen den Zuckergussbuchstaben. Es machte ihn traurig, dass ein ganzes Dorf von ihm erwartete, das der Umzug in einem Desaster enden würde und er spätestens in einigen Wochen, höchsten in zwei Monaten wieder hier auf der Matte stand. Sein Bruder hatte es schließlich auch dorthin geschafft. Und nur, weil dieser der Erstgeborene war, ein besseres Zeugnis hatte und politische Zeitungen schon in Kindesalter gelesen hatte, wollte keiner ihm zutrauen, dass er möglicherweise in diese Fußstapfen treten konnte. Auch wenn er in einem Blumenladen enden würde, das wäre ihm egal. Sogar als Gesellschafter in einem Hostel würde er sich zufrieden geben - Hauptsache er lebte in Tokyo und genoss ein Leben fernab seiner Familie und dem lästigen Dorfleben.

Ja, so patriotisch hatte er vor vier Tagen noch gedacht.

Nun hockte er auf einer der randvoll gepackten Kartons und starrte auf den chaotisch verteilten Inhalt, das er bereits aus einer der Hälfte gerissen und grob in der Wohnung verteilt hatte. Die andere Hälfte ertürmte sich neben ihm. Nur eine einzelne Topfpflanze, die er zärtlich auf »Erika« getaufte, hatte ihren angestammten Platz auf der Fensterbank gefunden. Wohl der einzige Gegenstand, der in dieser Wohnung sortiert beziehungsweise positioniert war. Der Rest seines Hab und Guts war noch verpackt oder lag kreuz-und-quer in der Wohnung herum. Eigentlich konnte er sich nicht mehr erinnern, wo genau er was hingelegt hatte. Aber das störte ihn nicht weiter, so lange er seine Zahnbürste fand und seine Unterhosen und seinen Rasierer und.. naja, wenn er ehrlich war, dann benötigte er doch alles, was nun unauffindbar war.
 

Hizumi stieß ein verzweifeltes Seufzen aus, dass aus den Tiefen seiner Lunge hervor stieg. Hilflos sank er auf seinem jämmerlichen Sitzplatz zusammen, der sich unter seinem Gewicht leicht nach unten beulte. Hizumi vergrub das Gesicht in seinen Händen und verbarg sich in der Dunkelheit. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Er kannte Niemanden in dieser Stadt, er wusste nur, das sich hier irgendwo sein Bruder aufhielt. Er kannte den Namen seines Vermieters, mehr aber auch nicht. Zwar hatte er sich die Klingelschilder durchgelesen, aber diese Namen konnte er keinen Gesichtern zuordnen. Er konnte es unmöglich leugnen, das er sich verlassen fühlte. Seit den letzten Nächten hatte er kaum ein Auge zu bekommen. Hizumi war es nicht gewöhnt allein zu sein und es machte ihm Angst, wenn nachts fremde Geräusche in seiner Wohnung zu hören waren. In der gestrigen Nacht war es sogar soweit gekommen, dass er aus dem Bett gesprungen war und jeden Raum abgesucht hatte, bis er - an Erika geklammert - auf der Couch hockte und auf den ausgeschalteten Fernseher starrte. Schwarze Augenringe brannten sich in seine Haut, die Haare standen wie ein zu oft benutzter Wischmob unkoordiniert von seinem Kopf ab und unentwegt knurrte sein Magen auf, da der Kühlschrank noch nicht angeschlossen war und wohl kaum ein Elektriker es bis zur Küche schaffen würde, bevor diese Misere in dem Raum nicht beseitigt war, weshalb er meistens zum Mittag etwas essen ging. Und da er sich in den meisten Fällen verlief musste er zunächst stundenlang die Karte studieren oder sich nach der ersehnen Mahlzeit bei den Passanten durchfragen. Die Adresse zu seinem Haus trug er immerhin nicht umsonst in seinem Portemonnaie. Ein guter Tipp seiner Mutter.

Jeder kannte seinen Orientierungssinn. Er war nicht besser als der eines labbrigen Toastbrotes, an schlechten Tagen erreichte er nicht einmal den Intelligenzquotienten einer soeben verstorbenen Kuh. Hizumi fragte sich tatsächlich, was ihn geritten hatte in diese Teufelsstadt zu ziehen. Er mochte Tokyo, aber die Fremde weckte ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust, welches er so noch nie in seinem Leben verspürt hatte. Einen kleinen Job hatte er schon in der Tasche und bald würde er sich auf die Suche nach seinem Bruder machen. Hizumi wollte ihn wiedersehen. Als sein Bruder ihm das letzte Mal unter die Augen getreten war, hatte dieser ihn im Krankenhaus besucht, da er dort wegen einer schweren Grippe genesen hatte , die ihn monatelang ans Bett fesselte und eine lange Rehabilitierungszeit benötigte. Diese Begegnung hatte vor acht Jahren stattgefunden, danach war sein Bruder von der Arbeit regelrecht verschlungen worden.
 

Seufzend erhob er sich von seiner provisorischen Sitzgelegenheit und bahnte sich, wie ein Storch im Salat herumstelzend, einen Weg über den herumliegenden Krempel Richtung Flur. Es war ohnehin Mittagszeit. Gefrühstückt hatte er nicht und sein Magen hing irgendwo auf Glatteis, was bedeutete, dass er in weniger als zwei Stunden bewusstlos zwischen seinen Sachen lag, wenn er sich nun aufraffte und mit neu gefasstem Mut weiter sortieren und einrichten wollte. Es grauste ihn davor, wenn er seine Möbel aufstellen musste. Keiner fühlte sich dazu bereit, ihm zu helfen. Da merkte er, wie viel er seinen Freunden und seiner Familie wirklich zu bedeuten schien. Sie machten alles mögliche um ihn die Suppe zu versalzen, nur damit er wie ein räudiger Köter zurück gekrochen kam. Aber nicht mit ihm!

Herrisch zog Hizumi seine ausgefranste Strickjacke über und band sich grob sein schwarzfarbenes Halstuch um, auf dem weiße Tropfen aufgestickt waren. Er wusste, dass er für die Verhältnisse dieser Stadt ein jämmerliches Bild abgab. Doch nur, weil er nun in Tokyo wohnte, fühlte er sich nicht gezwungen, in die nächst überteuerten Läden zu rennen und sich vollkommen neu ein zu kleiden. Woher sollte er das Geld auch nehmen?

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er Portemonnaie, Schlüssel und Handy dabei hatte, trat er mit einem Lächeln aus der Wohnung, in der Hoffnung Jemanden im Treppenhaus freudig grüßen zu können. Aber wie immer herrschte hier gähnende Leere. Hizumi fragte sich, ob hier überhaupt irgendeiner wohnte. Wie immer ignorierte er den Fahrstuhl, der mit offenen Türen regelrecht auf ihn wartete und hüpfte die Treppen herunter. Nach dem zweiten Treppenabsatz hielt er sich im Geländer fest und trat nur noch langsam einen Fuß vor den Anderen, als sein Kreislauf sich mit viel Schwindel und Sternchen meldete. Höchste Zeit etwas zu essen! Dabei schöpfte der Schwarzhaarige nicht einmal große Hoffnung, das er mit den paar Yen in seiner Tasche irgendwo irgendetwas zu essen bekam. Doch er wollte sich auch nicht auf die Straße stellen und sich das fehlende Geld zusammen betteln. Soetwas war jämmerlich und so Jemand war er keineswegs.

Ein lauer Wind schlug ihm warm um die Nase, als er nach Draußen trat. Man merkte, dass der Frühling bald vorbei war und der Sommer mit sengender Hitze über das Land brennen würde. Er mochte den Sommer. Immer wenn es warm wurde passierte etwas Neues in seinem Leben.

Hizumi hoffte, dass es Etwas aufregendes war. Diese Passanten mit ihren stummen, angestrengten Gesichtern und der Büro-Leichenblässe, die ihm alle entgegen kamen, wie sie unentwegt in ihre Handys plärrten oder ihre Einkaufstüten modisch hin und her schwenkten, machten ihn noch ganz kirre.

Unschlüssig stand er auf dem Gehweg, ließ seinen Blick von Links nach Rechts gleiten und langsam wieder zurück. Als er gestern losgegangen war, war er rechts eingeschlagen und war nach stundenlangem Fußmarsch im Rotlichtviertel gelandet. Da erst einmal wieder herauszukommen, ohne Jemanden ansprechen und nach dem Rückweg fragen zu müssen, der einen den Weg auf der Karte erklären wollte, die er selbstverständlich im Hinterzimmer aufbewahrte, war- um es genauer zu sagen- recht schwierig gewesen. Irgendwann hatte er einfach einen Jungen angequatscht, aber auch nur, weil er noch vollständig angezogen war. Der Junge war freundlich gewesen und hatte ihm schnell erklärt wie er zurück kam. Und so nett wie er war, hatte er ihm gleich seine Telephonnummer auf die Hand geschrieben, falls er ihn noch einmal brauchte - Dass er dabei die Nummer eines Callboys auf seinem Handrücken stehen hatte, wusste Hizumi nicht-. Er war nicht naiv oder unwissend oder gutgläubig. Er hatte nur ein gesundes Vertrauen in die Menschen, gesunde Neugierde und ein immer strahlendes Lächeln auf seinen Lippen. Tokyo würde ihn nicht mürbe machen, sodass er sein Lächeln vergaß. Das konnte keiner!
 

Heute entschied er sich nach links zu gehen. Dem wachsenden Gedränge auf dem Gehweg zufolge, musste er irgendeinen Kern der Stadt erreichen, denn nach einigen hundert Metern wurde das Schieben und Drängen größer. Er passierte eine Ampel und fand sich in kleineren Gassen wieder, in denen das genaue Gegenteil herrschte: Ruhe und Ellenbogenfreiheit.

Jedoch endete diese Passage nach einigen Querstraßen und ein Geschäft in denen man zu günstigen Preisen speisen konnte war weiterhin unauffindbar. Hizumi zog eine kleine, zerfledderte Stadtkarte,ie er Gestern zufällig auf der Straße gefunden hatte aus der Jackentasche. Sein Haus hatte er mit Kugelschreiber und pinkfarbenem Marker großzügig eingekreist. Mit viel rätseln fand Hizumi den Weg den er gelaufen war.

Luftlinie zu seinem Haus: 3 Kilometer.

Fußweg: 5 Kilometer.

Hizumi schaute auf seine Armbanduhr und fluchte leise. Schon wieder war er eine Dreiviertelstunde unterwegs, ohne das er es gemerkt hatte. Zwar war er gut zu Fuß und beklagte sich nicht über einen längeren Weg, dennoch wollte er nicht schon wieder stundenlang umher irren, eh er halb verhungert an einem billigen Imbiss ankam, an dem er sich mit fettigen Nudeln vollstopfte. Leider war auf der Karte kein einziges Restaurant eingezeichnet und die Legende war vom Straßenschmutz und Abwasser unlesbar gemacht. Aber wenn er etwas weiter geradeaus ging, musste er laut dem Straßennetz auf einem Platz ankommen. Vielleicht wurde er dort fündig. Hizumi faltete die Karte wieder, die wegen den ausgeleierten Knicken beinah wie von selbst zusammen fiel, und steckte sie in die Jackentasche zurück, machte sich auf den Weg.
 

Wieder verstrichen Minuten ins Land, während die Geschäfte rings um ihn herum exklusiver, die Preise teurer wurden. Hizumi schöpfte kaum noch Hoffnung, dass er für sein bisschen Geld hier etwas bekam. Dennoch gab er nicht auf und fand letzten Endes den Platz. Eindrucksvoll ragten die Hochhäuser in den grau melierten Himmel. Seit Tagen hatte er ihn nicht mehr im strahlenden, verträumten Blau gesehen. Tauben tummelten sich zwischen den Passanten, die über die Zebrastreifen regelrecht hin und her flüchteten. Hizumi wurde unsanft aus dem Staunen gerissen, als sich ein kleiner, pummeliger Geschäftsmann an ihm vorbei drängeln wollte und dabei unsanft die Kante des schweren Aktenordners in seine Rippen rammte. Hizumi machte einen Satz zur Seite.

"Verzeihung!", brummelte der Fremde und quetschte sich vollends an ihm vorbei, eilte mit schnellen Schritten davon. Verdutzt sah Hizumi ihm hinter her, rieb sich die schmerzende Stelle. Anscheinend hatten die Menschen hier keinen Respekt vor einem orientierungslosen, jungen Mann, der sich die Stadt ansah OHNE sich dabei fortzubewegen. Aber es störte ihn nicht weiter. Wenn alle in dieser Stadt so hektisch waren, musste er sich eben etwas einfallen lassen oder aus dem Quark kommen.

Auf der anderen Straßenseite entdeckte er einen kleinen Park, zu dem er sich flüchtete. Als er die Straße überquerte scheuchte er einen Taubenschwarm auf, der sich mit lautem Zetern und Flattern über seinem Kopf hinweg erhob und ein paar Meter weiter flog. Es war der erste Fleck Grün den er in der Großstadt entdeckt hatte und wohl auch der ruhigste. Es waren kaum Menschen hier. Ein mit Kies ausgefüllter Weg erstreckte sich vor ihm. Links und Rechts standen moderne, fast futuristische Bänke, auf denen es sich ein paar Leute bequem gemacht hatten. Langsam trat er ein paar Schritte voran. Hizumi musste darauf achten, dass ihm die Kinnlade nicht herunter fiel. Es war wunderschön hier, auch wenn es nicht ganz der Natur entsprach die er vom Dorf gewöhnt war und auch die Graffitis an der kleinen Steinmauer, die die Rasenfläche vom Weg abtrennte, taten ihr übriges, um den Ort ein klein wenig verschandelt aussehen zu lassen. Aber es war für ihn ein krasses Gegenteil zu den Betonwänden und betonierten Wegen, die er seit einer halben Woche durchgehend unter die Augen bekommen hatte.

Wieder kramte er die zerfledderte Karte aus den Tiefen seiner flauschigen Jackentasche, doch der Park war nicht eingezeichnet. Erneut rollte ihm ein leiser Fluch über seine Zunge. Morgen würde er zum Bahnhof fahren und sich von der Touristeninfo eine neue Karte besorgen! Dieses Teil von Anno Tuc war ja unberechenbar!

Unsicher schaute er sich um -wo auch immer er sich gerade befand, er mochte es hier, das stand außer Frage. Aber er würde liebend gerne wissen, wie er irgendwann wieder nach Hause fand, denn wie er hier hingekommen war, daran konnte der junge Mann sich überhaupt nicht mehr erinnern. Mit sorgsamen Zögern setzte er sich langsam in Bewegung, den Blick auf die frischblühenden Kirschbäume gerichtet, die anmutig zurecht geschnitten am Wegesrand standen. Der Kies war über und über mit herabgefallenen Blüten bedeckt und ein solch intensiver, betäubender Duft lag in der Luft, dass Hizumi nur flach atmen konnte. An einer Weggabelung blieb er erneut stehen und sah sich um. Zuerst blickte er zu seiner Linken, wo ein Fahrradfahrer plötzlich auftauchte. Im letzten Moment konnte Hizumi nach hinten ausweichen, bevor seine Rippen auch noch Freundschaft mit dem Lenker hätten schließen können. Erstaunt sah er dem Fahrrad nach und sah eine einzige Parkbank dort stehen, auf der Jemand saß. Mit seinen entspannten Zügen und den geschlossenen Augen, den Kopf nachdenklich in den Nacken gelegt, sah es fast aus als würde der Fremde inmitten Tokyos, umgeben von all dem Krach, meditieren.

//Dabei sieht er nicht einmal aus wie Jemand, der das Wort »Meditieren« kennt//, dachte sich Hizumi und betrachtete den Fremden mit schief geneigtem Kopf. Lange, zu einzelnen kleinen Zöpfen geflochtene, rabenschwarze Haare; Ledermantel; elegante, scharfgeschnittene Gesichtszüge und eine blässliche Haut, die im Licht der einfallenden Sonne weiß zu schimmern schien. Hizumi schluckte kurz. Seltsame Kreaturen trieben sich hier herum, so viel hatte er in den wenigen Tagen nach seiner Ankunft bereits gelernt. Aber sein Herz schlug vor Aufregung so schnell, dass er gar nicht bemerkte, wie er sich auf die Gestalt zubewegte, noch bevor er den Gedanken des tieferen Interesses überhaupt geformt hatte.

//Naja, wenigstens sind Punks recht nette Leute.//

Und nur weil er nach dem Weg fragen wollte würde der Mann ihm sicherlich nicht den Kopf abreißen. Er hätte ja auch einen anderen Passanten fragen können, doch er spürte eine Verbundenheit, die ihn zu dem Fremden führte. Es war, als musste er mit ihm sprechen.
 

"Unnn.. 'Tschuldigung!" So schnell er konnte überwand Hizumi die letzte Distanz zwischen ihnen, doch der Fremde schien sich nicht angesprochen zu fühlen. Hizumi spürte einen Stich in seinem Herzen. "'Tschuldigung", sagte er noch einmal, diesmal zögerlich, aber etwas lauter, als er direkt vor dem schwarzbekleideten Mann stand. Aus direkter Nähe sah der Langhaarige noch faszinierender aus, als würde er von Innen heraus strahlen. Zähneknirschend verpasste er sich eine gedankliche Ohrfeige. Pfui deibel, so etwas dachte man doch nicht!

Einige Sekunden geschah Nichts. Hizumi spielte mit dem Gedanken einfach wieder zu gehen und sich Jemanden zu suchen der geistig auch anwesend war. Doch gerade als er einen Schritt nach hinten machte, öffnete der Fremde seine Augen. Hizumi erschrack, fuhr beinah voller Ehrfurcht zusammen. Diese Augen. Machtvoller, tiefgründiger hätten sie nicht sein können. Hizumi geriet ins Stottern, als er hektisch seine Karte so vor den Bauch hielt, dass der Andere draufschauen konnte.

"Kannst du.. Kannst du", wiederholte er mehrere Male hilflos. "Kannst du mir zeigen, wie .. naja.. Ich bin nicht von hier und hab ehrlich keine Ahnung, wie ich zurück komme." Unruhig trat er von einem Fuß auf den Anderen, während er stocksteif da stand und mit dem Zeigefinger auf den pinfarbenen Kreis auf seiner Karte deutete, auch wenn er meilenweit daneben zeigte. Er hatte keine Ahnung, warum er allein durch den Blick des Mannes so nervös wurde und gerade wünschte er sich eher, dass ein bodenloses Loch unter seinen Füßen aufklaffte und ihn aus dieser Peinlichkeit herausriss. Hizumi versuchte durchzuatmen. Vielleicht verstand der Kerl ihn ja nicht?
 

"Nein, eigentlich wollte ich etwas Essen und hab mich dabei verlaufen", versuchte er sich weiter zu erklären. Na toll, jetzt quasselte er auch noch. Hizumi knüllte unbemerkt seine Karte zusammen, als er merkte, wie das Blut ihm in den Kopf schoss. Unbeholfen rang er sich ein Lächeln ab. Vielleicht lag es auch nur daran, dass kein Muskel sich in dem Gesicht des Fremden zu bewegen schien. Der Langhaarige sah ihn nur an, mit diesem unheimlich durchdringenden Blick und einer unendlichen Ruhe, die er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen oder gespürt hatte. So etwas wie Angst machte sich allmählich in ihm breit und zerquetschte seinen Brustkorb wie eine Wallnuss im Nussknacker.

"Weißt du vielleicht wo man hier günstig etwas Essen kann?" Himmel, wie dümmlich er sich vorkam. Vermutlich stank er auch noch wie der letzte Landstreicher, weil seine Dusche seit zwei Tagen streikte.

Gerade als er beschloss sich umzudrehen und wegzurennen, in der Hoffnung das Geschehene vergessen zu können, löste der Aristokrat sich aus seiner Haltung, beugte sich nach Vorne und stützte einen Unterarm auf die Knie, während er die noch freie Hand in seine Richtung streckte. Verständnislos starrte er auf die ihm entgegen gestreckte Hand. Wer zum Henker trug im Fast-Sommer noch Lederhandschuhe? Hizumi knautschte die Karte noch weiter zusammen.

"Es ist nicht weit von hier. Ich werde es Ihnen zeigen.".

Hizumi versteinerte endgültig zu einer Salzsäule. Der Befehl wegzurennen, wie ein kleines Kind, dass am alten Abwasserkanal eine Leiche gefunden hatte, blieb ihm ebenso auf halben Wege zu seinen Beinen stecken. Steif wie ein Zinnsoldat bewegte er sich auf die Bank zu, drückte dem Fremden die verbliebenen Überreste der zerknüllten Stadtkarte in die Hand. Allein schon wie der Langhaarige die Karte in die Hand nahm und es sorgsam auseinander faltete, als pelle er gerade ein rohes Ei, faszinierte Hizumi, sodass er sich beinah neben die Bank gesetzt hätte. Ohne zu Suchen, wo sie sich befanden, kreiste der Fremde mit dem Zeigefinger einen Park ein. Hizumi lächelte zerknittert. Zwei Blocks weiter war seine eigene Wohnung. Er überlegte sich ernsthaft am Bahnhof gleich auch nach einer Lesebrille Ausschau zu halten.

"Im Moment befinden Sie sich hier.", die Stimme des Fremden klang so wundervoll weich in seinen Ohren. Wie die Stimme eines Vaters, dem man stundenlang bei einer Gute-Nacht-Geschichte zuhören konnte. Aber der Mann redete mit einem Unterton, den Hizumi nicht ganz zu deuten vermochte. Er sprach warm, doch unter dem Klang seiner Stimme lag ein Zittern, ein leises Vibrieren, dass ihn irritierte. Die Erklärungen des Anderen strichen an ihm vorbei, wie ein unsichtbarer Geruch, den man in den Straßen nur unterschwellig war nahm. Er verfolgte den Finger, der über die Karte fuhr und ihm den Weg zu einem preiswerteren Viertel zeigte, aber es blieb nicht in ihm hängen. Seine Konzentration lag nicht in der Wortwahl des Anderen, sie galt nur dem Klang seiner wundervollen Stimme.
 

"... Und hier an der Ecke gibt es ein kleines Restaurant namens Maruyasu. Bestellen Sie dem Besitzer schöne Grüße von einem alten Freund." .

Hizumi erwachte mit einem Zucken aus seiner Trance. Hektisch nahm er die Karte wieder an sich, die der Fremde ordentlich zusammen gerollt hatte. Den Weg kannte er nun zwar immer noch nicht und wo das Maruyasu sein sollte, davon hatte er keine Ahnung, weil er sich schon nachdem er hektisch aufgesprungen war, nicht mehr daran erinnern konnte, wo der Langhaarige hin gezeigt hatte. Mit einer tiefen Verbeugung bedankte sich Hizumi und ging mit schnellen Schritten davon. Nach wenigen Metern blieb er wieder stehen. Verlegen lächelnd drehte er sich zu dem Fremden herum, der ihn mit aufmerksamen Blick musterte. Hizumi kratzte sich im Nacken.

"Unn.. Wo muss ich nochmal lang?"

Der Fremde senkte sein Kinn und schüttelte mit dem Kopf. Hizumi glaubte ein kleines, belustigtes Schmunzeln hinter den Zöpfen erkennen zu können. Wie eine Katze erhob sich der Langhaarige und strich mit wenigen Handgriffen den schwarzen Mantel glatt.

"Ich werde es Ihnen zeigen", sagte der Fremde und murmelte etwas unverständliches, eh sie gemeinsam los gingen.

"Was hast du gesagt?"

Der Andere lachte leise auf. "Ich sagte nur das Phänomen der Orientierungslosigkeit ...", der Rest ging unter dem Rauschen in Hizumis Gehörgängen unter. Auf einmal wusste er, was sich hinter der Stimme des Fremden verbarg.

Angst und die Sehnsucht nach einem Ende.

So sprach ein Mensch, der lebensmüde war.



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