Zum Inhalt der Seite

Der Scherbensammler

Mehr als nur ein Gesicht
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Frühlingsfest

Wie jedes Jahr zur Kirschblüte veranstaltete die Domino High ein Frühlingsfest mit sportlichen Events, Darbietungen der künstlerischen AGs und natürlich einem Wandel unter blühenden Kirschblüten. Auch für das leibliche Wohl war bestens gesorgt. Zu dieser Veranstaltung konnte jeder kommen, der wollte. Mittelschüler nutzten diese Gelegenheit, um zu überprüfen, ob sie nach ihren Prüfungen an diese Oberschule wechseln wollten, Eltern besuchten ihre Sprösslinge und manch einer, der schon in einer Beziehung steckte, bekam Besuch von seiner Liebsten oder seinem Liebsten. Nur einer wollte sich am Liebsten aus allem raushalten. Leider war ihm das nicht vergönnt. Ob er wollte oder nicht, er war nun mal Schüler an der Domino High und somit zur Teilnahme an sämtlichen Schulfesten verpflichtet. Wenigstens durfte er etwas einigermaßen Sinnvolles tun und das Fußballturnier überwachen. Gerade bezogen die Fußballer seiner Klasse Aufstellung auf dem Feld. Sie bestanden ausnahmslos aus Jungs, mit einer einzigen Ausnahme. Ein hochgewachsenes, rothaariges Mädchen mit vor Lebensfreude funkelnden grünen Augen war als Stürmerin aufgestellt. Seto Kaiba hielt nicht viel von Mannsweibern wie ihr, obwohl sie sich nicht so zimperlich anstellten wie andere Jammerliesen aus seiner Klasse. Diese Kate Thompson war für ein Mädchen ziemlich unerschrocken. Völlig gelassen wärmte sie sich neben den Dumpfbacken Wheeler und Taylor auf. Was Kaiba wirklich irritierte, war die Tatsache, dass die personifizierte Unschuld Ryou Bakura ebenfalls in dem Team war. Dabei sah man es dem zierlichen Jungen gar nicht an, dass er schnell genug rennen konnte, um überhaupt mal an den Ball zu kommen.

‚Über was für einen Scheiß mach ich mir denn jetzt schon Gedanken?’, fragte Kaiba sich missgelaunt. Es passte ihm ganz und gar nicht in den Kram, plötzlich an seinen Mitschülern Interesse zu finden. Das waren alles dumme, unreife Bälger. Rotzfrech und ungehobelt und respektlos noch dazu. Mit so was wollte wirklich niemand, der einen IQ, der höher als der einer Pizzatomate war, Umgang haben. Und Kaiba konnte von sich ganz ungeniert behaupten, überaus klug zu sein.

‚Jedenfalls intelligenter als der restliche Abschaum, der hier so kreucht und fleucht.’, dachte Kaiba gar nicht freundlich.

Dann hob er die silberne Trillerpfeife, die um seinen Hals baumelte, an die Lippen und blies durchdringend hinein. Taylor und Wheeler stießen an.
 

Der Schweiß rann Kate in Strömen über den Körper, doch sie kümmerte sich nicht weiter darum. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf das Spiel. Es war wichtig, zu gewinnen. Dann würden sie gegen die 1F ran dürfen und das waren wirklich harte Brocken. Wenn sie es schaffen sollten, auch dieses Spiel für sich zu entscheiden, bekämen die Mitglieder der Mannschaft der 1B eine Auszeichnung für die Klasse und eine bessere Sportnote. Nicht, dass Kate es nötig gehabt hätte. Sie hatte bereits eine Eins, was aber nur daran lag, dass es für sie nichts Schöneres gab, als sich sportlich zu verausgaben. Besonders Fußball liebte sie über die Maßen. Zu schade, dass in Japan alle Welt Baseballverrückt war.

Der Ball kam von Joey Wheeler zu ihr. Sie nickte ihm zu, dribbelte das runde Leder um einen Gegenspieler und holte schließlich weit aus, damit jede Menge Kraft hinter dem Schuss steckte und dem Keeper die Lust verging, den Ball halten zu wollen. Ihr Fuß berührte den Ball und schickte ihn mit einer irren Geschwindigkeit gen Tor. Sie hatte es genau richtig gemacht. Der Schuss hatte den richtigen Pepp und verfehlte sein Ziel nicht. Jubel brandete auf an den Spielfeldrändern. Kate lächelte zufrieden. In knapp einer Minute würde das Spiel abgepfiffen. Wenn sie sich bis dahin keine grobe Fahrlässigkeit leisteten, hatten sie gewonnen.

Unwillkürlich blieb Kates Blick an ihrem Klassenkameraden Seto Kaiba hängen, der den Schiri machte. Er wirkte äußerst gelangweilt und nicht im Geringsten am Ergebnis des Spieles interessiert.

‚Wie typisch für ihn. Eigentlich hätte ich mir das denken können.’, ging es Kate durch den Kopf.

Der hochgewachsene, brünette Junge scherte sich herzlich wenig um andere. Das bekam man immer wieder im Klassenzimmer zu spüren. Irgendwie verbreitete Kaiba eine eisige Aura, die jedem verdeutlichte, wie gern er seine Ruhe hatte. Alles in allem war er der perfekte Soziopath. Sozusagen das Paradebeispiel. Bestimmt war er stolz drauf.

„Hey, Thompson, pass gefälligst auf!“, wurde die junge Frau unwirsch aus ihren Gedanken gerissen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie Kaiba angestarrt hatte. Wie peinlich!

Sie sah sich nach dem Sprecher um und entdeckte einen arg in Bedrängnis geratenen Taylor. Zum Zeichen dass sie wieder voll da war nickte sie ihm zu, dann in Richtung Ball und anschließend deutete sie auf sich. Taylor hatte zwar sonst nicht viel in der Birne, aber wenigstens diese Botschaft verstand er. Ehe der Gegner des Jungen sich versah, hatte dieser den Ball schon an Kate weitergegeben, die geschickt Devlin auswich und an Wheeler abgab, der sich daraufhin dem Tor widmete. Auch der Blonde hatte Erfolg beim Torschuss. Kaum war das Leder im Netz gelandet, drang ein ohrenbetäubendes Pfeifen an Kates Ohr. Das Spiel war um, sie hatten gewonnen! Erneut brach ein Lächeln auf ihren Zügen aus. Bevor sie sich jedoch davon machen konnte, wurde sie von ihren nicht minder glücklichen und ebenso verschwitzten Mannschaftskameraden erdrückt. Am Angenehmsten war da noch Ryou Bakura, der scheinbar ein wirksameres Deo verwendet als die anderen. Von ihm ging kein beißender Schweißgeruch aus. Stattdessen konnte Kate gut und gerne behaupten, dass er sauber duftete. Ja, duftete. Ein Junge. Irgendwo war das unbegreiflich.

Nachdem man sie halb zerquetscht hatte, suchte sie nach Kaiba. Er stand immer noch am Spielfeldrand mit einer noch gelangweilteren Miene als zuvor.

‚Warum wundert mich das jetzt nicht?’, dachte Kate belustigt.

Doch das Grinsen verging ihr recht schnell, als Kaiba sie anraunzte: „Was starrst du so? Hab ich was im Gesicht?“

Einen Moment lang konnte Kate ihn nur pikiert anstarren, während sie an einer schlagfertigen Antwort überlegte, dann aber sagte sie kühl: „Glaub ja nicht, dass DU es wärst, den ich angesehen hab. Dafür ist mir meine Sehkraft echt zu schade.“

Bevor ihr kratzbürstiger Klassenkamerad etwas erwidern konnte, hatte sie sich schon zum Gehen gewandt. Sie lechzte nach einem Schluck Wasser. Oder besser gleich einem ganzen Eimer!
 

Unverschämte Bande! Sie alle!

Kaiba schnaubte verächtlich. Offensichtlich wurden in der heutigen Gesellschaft nicht mal mehr die Mädchen zu Respekt und Höflichkeit gegenüber anderen erzogen. Dabei ließ der junge Firmenchef völlig außer Acht, dass er sich nicht unbedingt besser benahm. Andererseits, er hatte Geld. Jede Menge Geld, so dass er sich seine Unhöflichkeit und Arroganz leisten konnte. Wenn er dagegen diese Thompson betrachtete, was hatte die schon? Kam aus einer unscheinbaren und ebenso unwichtigen Familie, glaubte aber, große Töne spucken zu können. Früher oder später würde das Mädchen aufwachen und feststellen müssen, dass Frechheit nicht immer siegte.

‚Vielleicht kann ich sie das in Chemie spüren lassen.’, überlegte der rachsüchtige Teil in ihm.

Währenddessen nahm Kaiba die Trillerpfeife ab, gab sie der Sportlehrerin zurück und beschloss die Biege zu machen, um irgendwo auf diesem verdammten Schulgelände Empfang mit seinem iPhone zu bekommen. Das war leichter gesagt, als getan, da die Domino High mitten in einem herrlichen Funkloch lag und nur mit Mühe und Not ISDN- Interner bereitstellen konnte. Deswegen wurde auch kein Informatikkurs angeboten, was Kaiba ziemlich bedauerte. Es war ja nicht so, als ob er dumm wäre, aber er hatte auch seine Fachgebiete und alles was mit Zahlen und technischen Geräten zutun hatte, gehörte dazu. Ging es allerdings um die Analyse eines Gedichtes sah der Firmenchef etwas alt aus. Er war durch und durch rational veranlagt. Was kümmerte ihn da, was irgendein längst verstorbener Idiot von Dichter sich dabei gedacht hatte, ein paar belanglose, ekelhaft schwülstige Worte hinzuklatschen?

Kaiba wanderte über das Schulgelände, die Menschen um sich herum geflissentlich ignorierend. Sein iPhone hatte noch immer keinen Empfang, was ihn ziemlich wurmte. Zu allem Überfluss traten ihm dauernd irgendwelche kleinen Kinder auf die Füße ohne sich dafür zu entschuldigen oder gar in Ehrfurcht zu erstarren, weil er Seto Kaiba war.

‚Ignoranten.’, dachte er knurrig.
 

Für Kate war der Rest des Festes ziemlich spaßig. Sie hatte geduscht und sich ihre Schuluniform angezogen, danach Tea getroffen, kurz mit ihr geschwatzt und ihr gesteckt, dass Tristan noch ein Spiel zu absolvieren hatte, bevor er sich mit der Brünetten treffen konnte. Jetzt amüsierte Kate sich erstmal über eine Aufführung der Theatergruppe, während sie an einem Eis schleckte. Natürlich mit Schokoladengeschmack. Sie war verrückt nach allem, was auch nur ansatzweise schokoladig schmeckte. Da sie so viel Sport trieb sah man ihr das gar nicht an. Kate war einfach ein aktiver Mensch, sie konnte kaum einen Moment stillhalten, so dass es ihr auch ziemlich schwer fiel, den Theaterleuten länger als fünf Minuten zuzusehen, ohne unruhig zu werden. Da sie aber unbedingt wissen wollte, wie es ausging, verblieb sie, wo sie war, hibbelte allerdings auf ihrem Platz ordentlich herum, was ihr ein paar böse Blicke eintrug.

Als die Vorführung vorbei war drehte Kate sich um, machte einen großen Schritt nach vorn und stieß prompt gegen einen Widerstand. Ihr Schokoeis ebenfalls. Leider handelte es sich dabei um Kaiba und sein weißes Hemd.

‚Oh, oh. Nicht gut. GAR nicht gut!’, dachte sie panisch, schluckte und setzte dann eine zerknirschte Miene auf.

„Tut mir echt Leid. Ich hab nicht...“

Doch Kaiba unterbrach sie schon.

„Spar dir dein Gewinsel.“, knurrte er ziemlich angepisst.

Seine eisigen, blauen Augen durchbohrten sie geradezu. Kate lief ein kalter Schauer über den Rücken. Mit Kaiba war nun mal nicht gut Kirschen essen. Sie schluckte. Dann wurde sie sauer. Sie wollte sich doch entschuldigen!

„Wie kommst du dazu, mich so anzupfeifen, wo ich mich doch gerade für meine Ungeschicktheit entschuldigen wollte?“, gab sie nicht minder wütend zurück.

Kaibas Augenbraue wanderte in die Höhe.

„Sollte mich eigentlich nicht wundern. Immerhin ist dir deine geschätzte Sehkraft ja zu wertvoll, um sie an mich zu verschwenden.“, erwiderte er in ätzendem Tonfall.

Empört stemmte Kate die Hände in die Seiten, wohlweislich vergessend, dass sie noch immer die Eiswaffel in der einen gehalten hatte und jetzt ihre Uniform versaute.

„Jetzt hör mir mal zu, du ungehobelter Klotz, wenn du einen auf Etepetete machen willst, bitte, aber das ist nich lang kein Grund, mich runterzumachen, zu unterbrechen und meine Entschuldigung als ‚Gewinsel’ abzutun.“, fauchte sie erbost.

Diese Unverfrorenheit. Am Liebsten hätte sie ihm eine reingehauen. Kaiba verschränkte die Arme vor der Brust und verschmierte damit die ganze Bescherung erst recht.

„Wenn du dich mit mir anlegen willst musst du schon früher aufstehen, Thompson.“, sagte er vernichtend, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ Kate völlig perplex stehen. Vor lauter Empörung klappte ihr glatt die Kinnlade runter.

‚Was bildet der sich eigentlich ein?’, dachte sie, während sie ihm nachstarrte.

Ihre grünen Augen bohrten sich geradezu in seinen Rücken. Kaiba würde ja schon sehen, was er davon hatte, wenn er sie über Gebühr reizte. Das konnte wirklich Ärger geben. Kate schauderte es bei dem Gedanken daran zwar etwas, aber andererseits hatte Kaiba es verdient. Das nächste Mal, wenn er sie so runterputzte sollte gefälligst Cleo auf den Plan treten und übernehmen. Dann würde diesem arroganten Kerl das Lachen schon noch vergehen...

Ungeahnte Konsequenzen

Nach dem Frühlingsfest war Kaiba noch schlechter auf seine Klassenkameraden zu sprechen, als ohnehin schon. Es verging kaum ein Tag, an dem der Firmenchef nicht am Liebsten seinen Kopf gegen die nächste Wand gehauen hätte. Wie dumm konnte man eigentlich sein? Vor allem Wheeler bewies immer wieder aufs Neue, wie wenig intelligent er tatsächlich war. So machte er Athen kurzerhand zur Hauptstadt Italiens, den Vatikan zum Vulkan und der Mount Everest war plötzlich in den Anden. Aber nicht nur in Erdkunde wäre Kaiba beinahe vom Stuhl gefallen. In Mathe musste er Tea Gardner an der Tafel erleben, die verzweifelt versuchte, eine Stammfunktion zu bilden, damit sie ein Integral errechnen konnte. Klar, sie war ein Mädchen und eigentlich nicht ganz so doof, aber Mathe lag ihr einfach nicht. Im Englischunterricht blamierte Taylor sich, als er versuchte Shakespeare einigermaßen angenehm vorzulesen. Bei dem grauenvollen th rollten sich Kaiba glatt die Zehennägel hoch. In Geschichte verwechselte Yugi Muto dann den ersten mit dem zweiten Weltkrieg, machte die Deutschen zu den Siegern und plötzlich waren es die Russen, die für die Vernichtung von ca. 6 Millionen Juden verantwortlich waren. Da war das Maß schon fast voll. Kaiba glaubte nicht, dass es noch schlimmer kommen könnte. Doch das war bevor man ihn zwang in Chemie die Abfrage dieser Göre Thompson mitanzusehen. Das Weib war einfach nicht geschaffen für Naturwissenschaften. Sie bekam keine Reaktionsgleichung hin und hatte anscheinend noch nie was von Oxidationszahlen gehört. Einzig und allein, dass Thompson für ihre miserable Leistung eine entsprechend schlechte Note einsteckte, sorgte dafür, dass Kaiba nicht wahnsinnig wurde. Leider hielt das nicht für lange an. Mit einem geradezu absurd fröhlichen Grinsen verkündete der Kurslehrer, dass die Klasse sich in kleinen Gruppen zusammenfinden sollte, zwecks Experiment. Sie sollten eine Neutralisation von Salzsäure durchführen. Kaiba packte das Grauen. Er hasste es, wenn er einen auf sozial machen musste, aber ihm war auch klar, dass er keine andere Wahl hatte, wollte er keinen Anschiss kassieren. Eigentlich kümmerte ihn so was herzlich wenig. Jedoch hatte die Sache einen kleinen Haken. Da er ein bedeutender Mann war, der ein Unternehmen zu leiten hatte, hatte er im Laufe der Jahre einiges an Fehlstunden angehäuft, die ihn die Zulassung zum Abitur kosten konnten, wenn er nicht brav tat, was die Lehrkräfte von ihm verlangten. Dazu gehörte dann eben auch Gruppen- bzw. Partnerarbeit, etwas, was Kaiba wirklich nicht ausstehen konnte.

Wenigstens hatte er Glück. Nun ja, verhältnismäßig. Wheeler tat sich mit Taylor zusammen und Gardner mit Yugi. Ryou Bakura, der stillste und bei weitem beliebteste Junge der Klasse, hatte die Kratzbürste Thompson für sich erobern können. Da nur noch zwei weitere Jungen im Kurs waren, konnte Kaiba sich damit anfreunden, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Er würde den beiden Idioten den Aufbau und die Durchführung des Experimentes überlassen und den Papierkram erledigen. Sollten sie es allerdings vermasseln, das gab er ihnen gleich ganz klar zu verstehen, würde er dafür sorgen, dass sie es allein ausbadeten.
 

Bevor jedoch auch nur mit dem Bereitstellen der Materialien begonnen werden konnte, klingelte es. Stühle scharrten über den Boden, Bücher wurden in Taschen gestopft und dann unter lautem Geschnatter der Raum verlassen. Nur eine ließ sich auffallend Zeit. Das war Kate Thompson. Sie hatte während der peinlichen Abfrage an der Tafel innerlich vor Scham gebrannt. Überdeutlich war sie sich des gehässigen Blicks von Kaiba bewusst gewesen. Er war ein alter Klugscheißer, der es immer besser konnte und wusste und auch jeden spüren ließ, wie intelligent und begabt er doch war. Zugegeben, dumm war der Kerl nicht, nur so furchtbar arrogant, dass Kate ihm am Liebsten die Kreide an den Kopf geworfen hätte, als sie an der Tafel stand und sich unter den Fragen des Lehrers wand.

‚Ich hätte doch Physik wählen sollen!’, dachte sie angefressen, während sie ihre Chemiesachen in ihre Tasche packte, diese schulterte und den Raum verließ. Dabei streifte sie versehentlich Kaibas Arm, der noch ziemlich unbeweglich an seinem Platz verharrte und einfach an die Wand starrte. Er meckerte sie nicht einmal an, obwohl sie ihn ohne seine ausdrückliche Erlaubnis berührt hatte. Irritiert zog Kate eine Augenbraue hoch, zuckte dann innerlich die Schultern und machte, dass sie auf den Sportplatz kam, wo in den Pausen immer Fußball gespielt wurde. Danach würde man sie mit 25 anderen in den Musikraum pferchen, wo sie irgendeinen uralten Choral singen würden. Die Lehrerin hatte irgendwie ein Faible dafür, so dass sie ihre Schüler liebend gern damit quälte. Oder mit Wagner. In diesem Falle musste irgendetwas Miss Montague aufgewühlt oder sonst wie verärgert haben. Meistens war dann der Hausmeister Schuld, der einfach nicht aufhören konnte, die Lehrer zu sabotieren wo er konnte, obwohl er doch eigentlich einen reibungslosen Ablauf des Schulbetriebes garantieren sollte. An der Domino High lief sowieso kaum etwas, wie es sollte. Das galt vor allem für den Umgang der Schüler untereinander. Mobbing war an der Tagesordnung. Hier herrschte das Gesetz des Stärkeren.

Kate gehörte zu den Leuten, die sich durchsetzen konnten, wenn sie es mussten, so dass sie vor Lästereien meist verschont blieb. Zudem war bekannt, dass sie hin und wieder ziemlich brutal werden konnte. Man ließ es daher lieber gar nicht erst auf einen Versuch ankommen. Das war zumindest für Kate positiv und sie war sich auch nicht zu schade, mal für jemand Schwächeren in die Bresche zu springen, obwohl sie mit Strebern eigentlich nichts anfangen konnte. Aber sie konnte Angeber genauso wenig leiden und von denen gab es sehr zu ihrem Leidwesen mehr als genug an der Domino High. Seto Kaiba war nur einer davon.
 

Die Pause war relativ schnell vorüber, so dass Kate zusah, dass sie zum Musikraum kam. Miss Montague hasste Verspätungen und war nur sehr selten geneigt, sie zu verzeihen. Gut, bei den Schülern, die ein Instrument spielen konnten und die aus wahrer Freude am Fach Musik gewählt hatten, drückte die ältliche Lehrerin schon mal eher ein Auge zu, als bei denen, die keinen Bock auf Kunst gehabt hatten, was ziemlich viele waren, wenn man bedachte, dass der Lehrer für Kunst ein alter, wirrköpfiger Trottel war, der sich weder Namen noch Gesichter merken konnte und zudem als Trinker verschrien war. Da bissen die meisten in den sauren Apfel und ließen sich lieber mit irgendwelchen Uraltliedern und Wagner quälen. Ab und zu erbarmte Miss Montague sich auch ihrer Schäflein und erlaubte ihnen, etwas Modernes zu singen beziehungsweise zu spielen. Kate, die eine Altstimme hatte, war bislang weder positiv noch negativ aufgefallen. Dies sollte sich am heutigen Tage ändern. Zu ihrem Glück war Kaiba ein astreiner Tenor und hatte einen Sitzplatz ganz am anderen Ende des Raumes zugewiesen bekommen. Wie alles andere auch mussten auch die Plätze der Schüler einer Ordnung folgen. Miss Montague war geradezu verrückt danach.

Unter Geschnatter, Gekicher und Gelächter nahmen die Schüler Platz, gespannt, was sie heute erwarten würde. Die Lehrerin klatschte mehrmals in die Hände, damit Ruhe einkehrte. Brav verstummten die jungen Leute, die ganz genau wussten, dass sie nachsitzen durften, wenn sie den Bogen überspannten. Und auf Nachsitzen bei Miss Montague war wirklich niemand scharf.

„Guten Morgen, Klasse.“, begrüßte Miss Montague also ihre Schützlinge.

Der Gruß wurde halbherzig erwidert, dann verkündete die ältere Frau den Ablauf der heutigen Doppelstunde. Unter mehr oder weniger leisem Getuschel wurden Notenblätter verteilt und Duke Devlin aus der 1F dazu verdonnert, die Begleitung am Klavier zu sein. Auf ein Zeichen Miss Montagues hin begann Devlin zu spielen. Der Sopran musste zuerst loslegen, gefolgt vom Alt. Danach waren der Tenor und der Bass an der Reihe. Kate stand zwischen Tea und einem anderen Mädchen namens Chiyo. Unwillkürlich wanderte ihr Blick durch den Klassenraum und blieb schließlich an Kaiba hängen. Er sah konzentriert auf das Notenblatt, aber Kate war sich ziemlich sicher, dass er gar nicht wirklich mitsang. Das passte auch gar nicht zu ihm und seiner arroganten, gönnerischen Art.

‚Argh, was mach ich mir denn Gedanken um den blöden Idioten?’, fauchte sie sich an.
 

„Stopp, stopp!“

Miss Montague klatschte erneut in die Hände. Sofort verstummten die Schüler. Sie sahen ziemlich irritiert zu ihrer Lehrerin, die sich eine aus dem Alt vornahm. Kate Thompson war die bemitleidenswerte Leidensträgerin.

„Rüber zum Sopran!“, kommandierte Miss Montague energisch.

Das Mädchen gehorchte widerstandslos, wie selten. In dem ganzen Stimmengewirr mochte es niemandem aufgefallen sein, doch die Rothaarige war ziemlich abrupt in den Sopran gewechselt, so dass die Harmonie des Zusammenspiels der einzelnen Stimmen ziemlich gestört war. Daher hatte Miss Montague abgebrochen und das Mädchen hinübergeschickt auf die andere Seite der Klasse. Dort musste sie sich zu denen gesellen, die regulär als Sopran sangen, direkt neben den Tenor und damit auch in unmittelbare Nähe von Kate Thompsons Intimfeind, Seto Kaiba. Dieser hatte tatsächlich nicht mitgesungen, weil ihn Musik nicht interessierte. Er konnte zwar Noten lesen, sang aber höchst ungern und nur unter Zwang. Im Unterricht versuchte er sich, so oft er konnte, darum zu drücken. Meistens gelang ihm das auch, weil Miss Montague zu sehr mit dem Alt und dem Bass beschäftigt war. Dass die Lehrerin jetzt ausgerechnet Kate Thompson dem Sopran zugeteilt hatte, machte es nicht unbedingt erträglicher für den jungen Unternehmer. Er seufzte.

„Von vorne bitte!“, ertönte Miss Montagues Stimme.

Devlin haute in die Tasten und neben Kaiba erklang hoch, rein und klar ein astreines ‚Catch a falling star and put it in your pocket. Never lade it fade away.’

Irritiert sah er zu dem Haufen Mädchen, der den Sopran zu singen hatte. Sein Blick blieb an Kate Thompson hängen. Die freche Rotzgöre war es tatsächlich, die so perfekt sang, dass Kaiba hätte kotzen mögen. Das hatte er ihr gar nicht zugetraut. In den vorigen Musikstunden war sie eher eine derjenigen gewesen, die Anschiss von Miss Montague kassiert hatten, weil sie so schief sangen. Wie kam es, dass jeder Ton, den die Rothaarige nun hervorbrachte, exakt auf die Note zutraf, die auf dem Blatt angegeben war?

Unwirsch schüttelte Kaiba den Kopf. Hatten alle diese Göre unterschätzt? Oder machte sie sich einen Spaß daraus? Je länger er sie betrachtete, desto seltsamer kam ihm das ganze vor. Ihre Gesichtszüge wirkten viel weicher, weniger ausgeprägt und jünger als zuvor in Chemie an der Tafel. Zudem lockte ihr Haar sich leicht. Kaiba bezweifelte, dass Kate Thompson der Typ Mädchen war, der in den Pausen aufs Klo verschwand, um für eine Generalüberholung des Gesichtes zu sorgen. Sie war zu burschikos und unweiblich, um sich auf ein solches Niveau herabzulassen.

‚Ich sollte aufhören, einer dummen, ungehobelten Pute wie ihr so viel Aufmerksamkeit zu widmen. Hinterher wird mir noch sonst was unterstellt.’

Zu seinem Glück klingelte es in diesem Moment zur kleinen Pause zwischen den Stunden. Kate machte, dass sie davon kam, ohne auch nur irgendwen in ihrer unmittelbaren Nähe eines Blickes zu würdigen.
 

Wie erniedrigend. Sie hasste es, zu nah bei männlichen Wesen sein zu müssen. Dass man sie vom Alt zum Sopran geschickt hatte, war natürlich einleuchtend. Dennoch war es eine Frechheit. Schließlich konnte man Jungs nicht über den Weg trauen. Am wenigsten denen, die einen anstarrten und dabei glaubten, man bemerke sie nicht.

Sue schnaubte leise. Oh ja, sie war nicht dumm. Es war ihr rasch aufgefallen, ohne, dass es sie vom Singen abgelenkt hätte. Irgendwie spürte sie, wenn man sie längere Zeit ansah. Ihr war das furchtbar unangenehm und für gewöhnlich wand sie sich dann unter diesen Blicken. Im Musikunterricht war das natürlich schlecht. Ob Kate ihr böse war?

„Hey, warte doch mal kurz.“

Die Rothaarige wandte sich um. Und erstarrte. Ein schmächtiger Junge mit freundlichen, sanften braunen Augen und weißen Haaren sah sie lächelnd an.

„Was ist?“, fragte Sue knapp.

Sie begann, sich unwohl zu fühlen. Überdeutlich nahm sie den forschenden, entwürdigenden Blick ihres Gegenüber war. Wie hieß er noch gleich?

‚Irgendwas mit R war es...’, dachte sie, während sie sich redlich Mühe gab, dem Jungen zuzuhören.

„Du singst wirklich sehr schön, Kate. Warum hast du das erst jetzt so öffentlich unter Beweis gestellt?“, wollte der Junge wissen.

„Aber... ich bin nicht Kate.“, hörte Sue sich schon sagen.

Sie war nun mal eine ehrliche Haut.

„Bist du nicht?“, entfuhr es dem Jungen, Ryou, erinnerte sich ein Teil ihres Gehirns, erstaunt.

„Bin ich nicht. Mein Name ist Sue.“, erwiderte das Mädchen, einen Schritt zurückweichend.

Ryou runzelte die Stirn. Eben wollte er etwas sagen, als es schellte und das laute Klatschen Miss Montagues zum Unterricht gemahnte. Hastig machte Sue, dass sie aus der Nähe Ryous entkam, nur um sich wieder beim Sopran einzufinden, wo sie vor Angst fast krepierte, weil sie sich überdeutlich der Nähe der Tenöre bewusst war. Sie begann sogar zu zittern.
 

„Aufhören, sofort!“

Schon wieder unterbrach Miss Montague die singenden Schüler. Diesmal klang sie allerdings etwas ungnädiger.

„Kate Thompson, marsch zum Alt und entscheide dich gefälligst, welche Stimme du singen willst!“, befahl die Musiklehrerin barsch.

Irritiert gehorchte Kate.

‚Was hab ich überhaupt beim Sopran gemacht? Ich singe doch immer Alt!’, wunderte sie sich, während sie versuchte, wieder in das Lied hereinzukommen und die Töne halbwegs ordentlich zu treffen.

Das Salzsäure- Duell

Wenn es einen Gott gab, musste er Kate hassen. Dessen war sie sich ganz sicher. Warum sonst sollten sie und Ryou in Chemie noch einen dritten Laborpartner bekommen? Ausgerechnet in den Stunden, wo sie eine Neutralisation von Salzsäure durchführen sollten, mussten diese anderen Idioten, mit denen Kaiba zuerst ein ‚Team’ gebildet hatte, krank sein. Oder eher gesagt, schwänzen, weil sie keinen Bock auf Unterricht hatten. Aber das war man ja zur Genüge gewohnt, auch von Leuten aus der eigenen Klasse. Wheeler und Taylor beispielsweise schwänzten recht häufig, wenn in einem Fach eine Abfrage anstand. Man konnte fast immer sicher sein, dass einer der beiden an die Reihe kam. Nur in Chemie, da hatten sie Glück wund wurden verschont, da Kate schon das Lieblingsopfer ihres Lehrers war und daher recht oft zur Tafel gebeten wurde, wo sie sich einen abbrach, halbwegs gut aus der Nummer wieder rauszukommen.

Wie das Leben aber nun mal spielt bekam Kate keine Chance, ihren Kopf noch im letzten Moment aus der Schlinge zu ziehen. Nach der Pause war noch alles in Ordnung. Sie kam vom Sportplatz und trat gemeinsam mit Ryou den Weg ins zweite Untergeschoß an, wo sich die Physik- und Chemieräume befanden. Die beiden saßen ohnehin nebeneinander und so schwatzten sie über dieses und jenes. Kate entging dabei allerdings die Tatsache, dass ihr Laborpartner sie eingehender musterte, als die Tage zuvor. Sie war mit ihren Gedanken noch beim Spiel, das sie leider verloren hatten.

‚In der nächsten Pause fordern wir Revanche!’, dachte sie vergnügt.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Züge, blieb dort jedoch nicht sehr lange erhalten. Der Chemielehrer kam recht schnell, um seinen Schützlingen die Tür zum Heiligtum aufzuschließen und kaum, dass alle brav ihre Plätze eingenommen hatten und der Lehrer mit der Anwesenheitsliste durch war, wurde Kate wieder einmal unter Beweis gestellt, wie viel Pech ein einzelner Mensch doch haben konnte, wenn er nicht darum bat. Sicher, das Leben war kein Ponyhof, aber musste es gleich SO aus dem Ruder laufen?
 

„Ruhe bitte. Wie ich sehe, sind wir heute ein paar weniger, als sonst.“, bemerkte Mr Johnson, der Chemielehrer trocken. Schweigen.

„Tja, ich fürchte, Seto, Sie müssen sich zu Ryou und Kate gesellen.“, fuhr der Lehrer unbeeindruckt fort. Er ignorierte geflissentlich die saure Miene des jungen Unternehmers, ebenso wie Kates demonstratives Stöhnen. Allein Ryou machte sich nichts aus dieser kleinen Planänderung. Er war ein umgänglicher Typ und ziemlich gelassen, wenn es um so was ging. Durch seinen Yami war er einiges gewöhnt, so dass ihn Kaiba nicht unbedingt einschüchterte. Deswegen grüßte Ryou Kaiba auch ganz höflich, als dieser mit einem Gesicht wie Sieben Tage Regenwetter an den Tisch in der ersten Reihe gestiefelt kam und sich missmutig neben Kate niederließ. Diese machte ein angewidertes Gesicht, rückte mit ihrem Stuhl von ihm ab und gab vor, den Erläuterungen Mr Johnsons zu folgen.

„Dann wären wir so weit. Sie könne jetzt mit dem Aufbau des Versuchs beginnen.“, eröffnete der Lehrer die Schlacht.

Wie ein geölter Blitz war Kate von ihrem Stuhl gesprungen und zu den Schränken mit den Erlenmeyerkölbchen, Reagenzgläsern und dem restlichen Zubehör verschwunden. Ryou derweil blieb völlig gelassen und als Kaiba keinerlei Anstalten machte, aufzustehen, übernahm es der Weißhaarige für Kittel und Schutzbrillen zu sorgen. Wenig begeistert legte Kaiba beides an. Auf Anraten des Lehrers hin banden sich die Leute mit langen Haaren, in diesem Falle Kate und Ryou, einen Zopf, damit sie unversehrt blieben. Schließlich war niemand scharf darauf seine Haare an eine Chemikalie zu verlieren.

„Du solltest öfter einen Pferdeschwanz tragen, Kate.“, meinte Ryou mit einem Lächeln.

Die Rothaarige sah ihn erstaunt an.

„Echt? Wieso?“

Zugegeben, das war schon praktisch, wenn einem die Haare nicht dauern ins Gehege kamen.

„Weil es hübsch aussieht.“, antwortete Ryou.

Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.

„Findest du?“, hakte Kate ungläubig nach.

Das war das erste Mal, dass ein Junge ihr öffentlich ein Kompliment gemacht hatte.

Okay, sie war nicht wirklich die Unschuld vom Lande. Es hatte da den ein oder anderen Kerl in ihrem Leben gegeben und ein paar wilde Knutschereien, aber keiner von denen hatte ihr gesagt, dass sie hübsch aussah, wenn sie ihre Haare hochband. Das hörte sie wirklich zum ersten Mal. Natürlich schmeichelte ihr das ungemein. Welches Mädchen hörte schon nicht gern, dass es hübsch war?

„Klar. Sonst würde ich es ja nicht sagen, oder?“

Ryou amüsierte sich ziemlich bei ihrer offenkundigen Verwunderung. Scheinbar war die burschikose Kate doch Mädchen genug, um solche Komplimente anzunehmen.

„Danke.“, sagte sie jetzt, wahrlich verlegen.

Einzige Reaktion von Kaiba war ein Schnauben. Hübsch, dieses Flintenweib?

‚Wohl kaum.’, dachte er, eine Augenbraue hochziehend.

„Was?“, fauchte da im nächsten Moment Kate erbost.

Sie funkelte den Brünetten an. Es war ja schon schlimm genug, dass er ihr und Ryou als Anhängsel zugeteilt worden war, aber konnte er dann nicht seine dumme Klappe halten? Musste er sich in alles einmischen?

„Nichts.“, gab Kaiba genervt zur Antwort.

Er spielte mit einem Kugelschreiber rum, da er es nicht für nötig hielt, sich am Aufbau des Versuches auch nur in irgendeiner Art und Weise zu beteiligen.

„Wie wär’s wenn du aufhörtest so faul zu sein und zur Abwechslung mal einen Handschlag zu tun?“, ließ Kate nicht locker.

Da er schon mal mit von der Partie war, konnte er wenigstens was Produktives leisten, fand sie. Offensichtlich war Kaiba andere Meinung. Er schnaubte nur wieder, vorgebend, sie nicht gehört zu haben.

„Dann eben nicht!“, maulte die Rothaarige, griff nach dem kleinen Fläschchen, in welchem die Salzsäure aufbewahrt wurde und schraubte den Verschluss ab.

„Hast du den Messbecher, Ryou?“, fragte sie ihr Gegenüber freundlich.

„Oh. Nein, den hab ich vergessen.“, fiel selbigem ein.

Rasch erhob er sich.

„Warte kurz, ich hol einen aus dem Schrank.“

Er schenkte Kate ein entschuldigendes Lächeln.

„Ach, macht doch nichts.“, erwiderte sie gelassen.
 

Diese Ruhe sollte jedoch nicht lange vorhalten. Kaiba konnte es einfach nicht lassen. Er gab einen verächtlichen Laut von sich.

„Was ist denn jetzt schon wieder, du Großkotz?“, wandte Kate sich genervt an den großgewachsenen Jungen.

„Bakura benimmt sich wie ein Hund.“, ätzte Kaiba, verschränkte die Arme vor der Brust und warf Kate einen herausfordernden Blick zu. Sie verdrehte die Augen.

„Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“, erwiderte sie grob, während sie unwirsch die Flasche mit der Salzsäure auf den Tisch knallte. Da es sich um Glas handelte, gab es ein unschönes Klirren, das Kaiba alarmierte. Dieses Weib war derart unbeherrscht, dass sie es mit Leichtigkeit fertig brächte, den Behälter durch ihre Unachtsamkeit zu zerstören.

„Pass gefälligst auf, was du da treibst.“, mahnte Kaiba, diesmal nicht ganz unfreundlich klingend. Doch Kate bekam seine Worte in den falschen Hals, wie immer, wenn man sie kritisierte. Sie konnte mit Kritik einfach nicht umgehen und fühlte sich dann persönlich angegriffen.

„Weißt du was? Wenn du es so gut kannst, dann mach es doch selbst!“, blaffte sie, griff wieder nach der Salzsäure und hielt sie Kaiba vors Gesicht. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken ihm das selbstgefällige Grinsen einfach aus der Visage zu ätzen. Nur den Bruchteil einer Sekunde, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Nun ja, fast. Ryou kam genau in dem Moment wieder, als die Situation zu eskalieren drohte.

„Spinnst du? Nimm sofort die Säure da weg!“, nörgelte Kaiba, der nicht scharf drauf war, Verätzungen davon zu tragen. Dafür war er nun wirklich zu attraktiv.

„Als ob ich so ungeschickt wäre!“, höhnte Kate, nur ausgelassener mit der Flasche vor seiner Nase fuchtelnd.

„Hey, hey, ganz ruhig, ja?“, schaltete Ryou sich ein, der den Messbecher auf den Tisch stellte.

Zwei wütende Augenpaare wandten sich ihm zu.

„Halt die Klappe!“, erklang es unisono von den Streithammeln, die sich, nachdem sie das losgeworden waren, wieder fixierten.

„Thompson, du bist eine Frau. Natürlich wirst du es verkleckern.“, erklärte Kaiba herablassend.

Da klappte ihr glatt die Kinnlade runter. Sie zuckte zusammen, als ob sein Kommentar sie tatsächlich verletzt hätte. Nur Ryou, der das ganze bangend mitverfolgt hatte, fiel auf, dass Kate plötzlich ein viel spitzeres Profil hatte. Ihre Augen waren dunkler und funkelten boshaft. Etwas, das der Junge nur von seinem Yami gewohnt war. Auch schien sie größer. Kate war mit ihren 1, 75 Metern schon recht groß für ein Mädchen, jetzt sah es aus, als ob sie noch mal um fünf Zentimeter gewachsen wäre, was unter normalen Umständen natürlich komplett unmöglich gewesen wäre. Aber Ryou hatte Erfahrung mit Yami Bakura, daher hielt er es nicht für ganz abwegig, auch wenn er sich wunderte, wie das sein konnte, da Kate keinen Milleniumsgegenstand besaß.
 

„Was hast du gesagt, du Ratte?“, fauchte das Mädchen erbost.

Ihre grünen Augen hatten sich vor Zorn verdunkelt und blitzten ihn jetzt geradezu an. Kaiba hätte beinahe Angst bekommen. Aber eben nur beinahe. Er war schließlich Seto Kaiba. Nichts und niemand war in der Lage, ihn das Fürchten zu lehren. Eine dumme Rotzgöre wie Kate Thompson schon dreimal nicht.

„Du hast wohl nicht nur ein Problem mit deinem Hirn, sondern auch mit deinen Ohren.“, stichelte der Unternehmer, dabei sein Gegenüber nicht eine Sekunde aus den Augen lassend.

Sie unterdrückte einen Wutschrei. Ehe Kaiba sich versah, hatte er ihren Fuß in seiner Kehle liegen. Er bekam Atembeschwerden, da sie Druck darauf ausübte. Zudem tat es ziemlich weh.

„Ich an deiner Stelle wäre nicht so frech, du kleiner Bastard.“, zischte Kate hasserfüllt.

Jetzt hatte sie ihn so weit. Kaiba war bereit, so etwas wie Angst zu verspüren. Sein Blick wanderte hilfesuchend zu Ryou, der seine Mitschülerin nur ungläubig anstarrte, als traue er seinen Augen nicht. Okay, von Bakura war also kein Beistand zu erwarten.

Wo steckte eigentlich der Lehrer? Mr Johnson war nirgends zu sehen. Das machte die Sache auch nicht besser. Es verdeutlichte Kaiba eher, dass er verdammt noch mal in der Klemme steckte. Und zwar extrem.

„Aha, jetzt sagen wir ja gar nichts mehr. Ich wusste es doch, nur eine große Klappe und nichts dahinter.“, kam es von Kate.

Ihre Augen strahlten eisige Kälte aus, sandten Schauer des Grauens über den Rücken des sonst so hartgesottenen Geschäftsmannes.

„Warum winselst du nicht eine Runde um Gnade?“, schlug das Mädchen in süffisantem Tonfall vor.

Offensichtlich genoss sie es, ihn sich so winden zu sehen. Kaiba zog eine Augenbraue hoch. Nur weil er wirklich Schiss hatte musste er es sie noch lange nicht wissen lassen. Er entschied sich dafür zum Angriff als beste Verteidigung.

„Vergiss es, Thompson. Einer Frau beuge ich mich nicht.“, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen. Daraufhin begann Kate nur zu lachen.

„Thompson? Glaubst du etwa, du hättest diese dumme Nuss vor der Nase?“

Sowohl Ryou, als auch Kaiba spitzen die Ohren. Letzterer fühlte sich in seiner Annahme, dass seine Mitschülerin nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, bestätigt. Ryou hingegen wurde aufgeregt. Oder eher gesagt, der Geist des Milleniumsringes wurde es.

„Wen denn sonst?“, rutschte es Kaiba heraus, der sich ein Grinsen kaum verkneifen konnte. Langsam und vor allem vorsichtig, damit sie es ja nicht mitbekam, ließ er seine Hand in Richtung ihres Fußknöchels wandern. Er war nicht geneigt, sich von einer solchen Mistgöre vorführen zu lassen. Oh nein, er war Seto Kaiba. Niemand durfte es wagen, seinen Stolz zu verletzen.

Kate schnaubte.

„Mein Name ist Cleo. Und ich an deiner Stelle würde mir das gut merken, Kaiba!“, knurrte die Rothaarige böse. Da sie zu sehr damit beschäftigt war, in seine blauen Augen zu starren, um ihm zu zeigen, wer der Chef im Ring war, erwischte Kaiba sie ziemlich eiskalt, als er seine Hand mit festem, unerbittlichem Griff um ihre Fessel legte. Überrascht schnappte Kate nach Luft. Sie verlor das Gleichgewicht, schwankte und spürte, wie ihr die Flasche mit der Salzsäure aus der Hand zu rutschen drohte.

„Oh Fuck...“, entfuhr es ihr wenig damenhaft.

Kaiba grinste. Jedoch nicht für lange, da die Salzsäurenflasche ihm gefährlich nahe kam. Zum Glück trat in diesem Moment Mr Johnson auf den Plan.

„Thompson, Kaiba!“, bellte er, „Aufhören mit den Sperenzchen, aber sofort!“

Anstandslos gehorchten beide. So wurde ein größeres Unglück verhindert.

„Nachsitzen, Sie beide. Den Rest der Woche lang. Hab ich mich klar ausgedrückt?“, fauchte die Lehrkraft und stemmte die Hände in die Seite. Betreten nickten die beiden Sünder, warfen sich jedoch, kaum, dass der Lehrer ihnen den Rücken zugewandt hatte, garstige Blick zu.

„Das ist nur deine Schuld!“, sagten sie wie aus einem Mund.

Oh du schönes Nachsitzen!

Stocksauer kehrte Kate dem Lehrerzimmer den Rücken. Sie machte, dass sie zum Sportplatz kam, wo sie sich abreagieren konnte. Vor nicht einmal einer Viertelstunde hatte sie erfahren, dass sie den Rest der Woche nachsitzen musste. Nur warum, dass hatte man ihr nicht verraten. Und sie wusste auch nicht, was sie verbrochen hatte, dass die Strafe gerechtfertigt war. Alles, was ihr bekannt war, war, dass es auch Kaiba, den arroganten Kerl, getroffen hatte. Es musste daher etwas mit Chemie zu tun haben. Deswegen war Kate ja zum Lehrerzimmer gegangen, um bei Mr Johnson zu erfragen, weswegen sie nachmittags länger bleiben musste. Allerdings hatte der Lehrer nicht gerade einen guten Tag gehabt und sie ziemlich angefahren. Ob sie ihn für dumm verkaufen wolle. Sie wisse doch genau, was vorgefallen war und solle jetzt bloß nicht so unschuldig tun. Aber genau da lag ja der Hase im Pfeffer. Kate wusste wirklich nicht, was passiert war. So blieb ihr nur eine Möglichkeit. Sie musste jemanden fragen, ob sie sich seltsam benommen hatte. Zum Glück erinnerte sie sich daran, dass Ryou Zeuge gewesen sein musste, so dass sie ihn fragen konnte. Mit ihm verstand sie sich relativ gut. Es sollte also kein Problem darstellen, ihn ein wenig auszuquetschen.

Nicht nur deswegen beeilte Kate sich, den Sportplatz zu erreichen. Ryou, dem man es wahrlich nicht ansah, war ein ziemlich guter Fußballer, aber auch ein netter Kerl. Mit ihm konnte man noch reden, ohne dass der Junge gleich Hintergedanken hatte. Das hatte schon fast Seltenheitswert, wenn man sich da mal Taylor ansah, der ohne Ende Mädels abschleppte, was Tea Gardner so gar nicht passte. Sie war schon seit ewigen Zeiten scharf auf ihn, nach dem es mit Yugi nicht geklappt hatte.

‚Ist mir schleierhaft, wie man Taylor toll finden kann.’, dachte Kate bei sich, als sie den Sportplatz erreichte und Tea am Spielfeldrand auf und ab hüpfen sah. Das Spiel war schon mitten im Gange, doch das störte Kate nicht sonderlich. Für sie war immer Platz. Zur Not würde Ryou für sie aussteigen. Das war ziemlich nett von ihm, wie die Rothaarige doch einräumen musste. Weder Wheeler, noch Taylor, noch Devlin würden das tun. Dazu waren sie zu eigennützig. Aber heute hatte Kate Glück. Wheeler spielte nicht mit. Er schien sich in eiliger Hast noch ein paar Englischvokabeln reinzubimsen.

‚Typisch!’, schoss es Kate durch den Kopf.

Sie ließ ihre Tasche neben Tea zu Boden fallen, zog ihren Blazer aus und gesellte sich dann zu Ryou, der bislang allein gespielt hatte, weil Taylor dann doch lieber mit Devlin antrat, als mit dem Weißhaarigen. Die anderen Jungs unterschätzen Ryou, wie Kate nur zu gut wusste. Wenn er wollte konnte der schmächtige, zerbrechlich wirkende junge Mann ganz schön schnell rennen und seine Schüsse hatten einen ziemlichen Pfiff. Aber es gab sich ja niemand die Mühe hinter die Fassade zu blicken.

‚Das musst du gerade sagen!’, höhnte eine Stimme in ihrem Hinterkopf.

Zugegeben, was Kaiba betraf, bemühte Kate sich auch nicht unbedingt, ihn näher kennen zu lernen. Nicht einmal bei Taylor, Wheeler und Devlin war sie daran interessiert. Dabei waren die Drei tausendmal umgänglicher als der Eisklotz. Aber Kate hatte generell wenig Lust, sich mit anderen Menschen zu befreunden, aus Angst sie könnten herausfinden, wie sie lebte. Womit sie sich herumschlug. Offensichtlich war sie ihnen schon suspekt genug, nur weil sie Fußball mochte.
 

„Hey, da bist du ja!“, begrüßte Ryou sie freundlich, ja, regelrecht begeistert.

Kate grinste, ihm zuzwinkernd.

„Was hast du denn geglaubt? Dass ich dich im Stich lassen würde? Ich musste nur noch was mit Mr Johnson klären, wegen dem Nachsitzen.“, antwortete sie, drehte rasch mehrere kleinere Runden und fühlte sich dann aufgewärmt genug, um sich dem Spiel zu widmen.

„Über links, Ryou, ja?“, raunte sie ihm zu, als sie sich den Ball von ihm holte.

Er nickte, konnte dabei aber ein Grinsen nicht unterdrücken. Kate war eine der wenige, die mit links besser bzw. fester schießen konnten als mit rechts. Alle Welt erwartete daher von ihr, den Ball mit rechts voranzutreiben. Meist tat Kate das auch. Sie wollte nicht unbedingt an die große Glocke hängen, dass sie links stärker war als rechts. Das würde ohnehin niemand glauben, war sie doch ‚nur’ ein Mädchen, das sich das Recht, mit den Jungs Fußball spielen zu dürfen, hart erarbeitet hatte. Eigentlich hatte sie auch diese Fügung Ryou zu verdanken, wie ihr auffiel.

‚Irgendwie ist er ständig da, wenn ich Hilfe brauche.’, überlegte sie, während sie den Ball annahm, Devlin auswich und wieder an Ryou abgab. Dann lief sie sich frei, weil Taylor sich vorsichtshalber ins Tor gestellt hatte, um einen Treffer verhindern zu können, sollte sie es wagen darauf zu schießen.

Es dauerte gar nicht lang, da war die Pause schon wieder rum. Kate, die das Spiel über darüber gegrübelt hatte, wie sie Ryou am Ehesten Informationen entlockte, hielt den passenden Zeitpunkt für gekommen. Sie schlenderten gemeinsam zum Spielfeldrand, wo sie ihre Taschen abgelegt hatten.

„Du, Ryou?“, begann Kate doch recht zögerlich.

„Ja, was gibt’s denn?“, wollte er wissen, einen gewissen Unterton, der Neugier verriet, nicht unterdrücken könnend.

„Gestern in Chemie, hab ich mich da seltsam verhalten?“

Ryou legte den Kopf schief.

„Das kommt darauf an, wie du ‚seltsam’ definierst.“, erwiderte er gelassen, spitzte aber die Ohren. Natürlich war ihm was aufgefallen. Zumal diese andere Kate ja auch behauptet hatte, Cleo zu heißen und damit beansprucht hatte, eine eigene Persönlichkeit zu sein.

„Na ja, als ob ich nicht ich wäre.“, erklärte Kate mit einem schwachen Lächeln.

Ihr war klar, dass sich das ziemlich bescheuert anhören musste, doch sie wollte endlich Klarheit haben, damit sie nicht ganz dumm da stand, wenn ihr behandelnder Psychologe sie nach der vergangen Woche fragte. Zum Glück standen solche Sitzungen für sie nur noch wöchentlich an. Das machte es einfacher, sich halbwegs normal zu fühlen.

„Du hast Kaiba deinen Fuß an die Kehle gesetzt und ihn mit der Salzsäure bedroht.“, gab Ryou Auskunft, sie dabei keine Sekunde aus den Augen lassend.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte Kate laut, dann murmelte sie: „Cleo...“

„Was hast du gesagt?“

Sie hatte Ryou beinahe vergessen, so sauer war sie geworden. Diese blöde Mistkuh musste ihr auch alles versauen. Cleo war die Kämpferin, dafür zuständig in brenzligen Situationen das Ruder zu übernehmen, damit dem Körper nichts geschah. In letzter Zeit aber machten die drei Mädchen, von denen Kate bewusst bekannt war, dass es sie gab, was sie wollten. Das war nun wirklich nicht sonderlich förderlich, zumal Kaiba sie wohl kaum bedroht haben konnte. schon gar nicht in der Schule.

‚Bestimmt hat er nur eine dumme Bemerkung gemacht.’, überlegte Kate.
 

Den restlichen Schultag verbrachte Kate damit, Cleo zu verwünschen und dem Unterricht halbwegs zu folgen. Bald standen wieder Prüfungen an. Da wollte sie nicht versagen, was sie immer ziemlich Mühe kostete, da sie der sportliche Typ war und ihr nicht viel an Büchern lag. Sie sorgte lieber selbst für Action, als nur von ihr zu lesen. Und was war besser dafür geeignet als sportliche Betätigung? Nur Leichtathletik und Kunstturnen mochte Kate nicht, ansonsten war sie nicht sonderlich wählerisch, was das anging. Sie tanzte sogar, allerdings nur HipHop, da sie die klassischen Tänze ziemlich doof fand und auch nur wenn ihr danach war, was selten vorkam. Es musste schweißtreibend sein, um sie von anderen Dingen ablenken zu können. Zum Beispiel im Matheunterricht wünschte sie sich, dass sie einfach aufspringen und eine Runde Basketball spielen konnte, was natürlich nicht ging. Deswegen zappelte Kate auch häufig und bekam Ermahnungen. Kein Lehrer ahnte von ihrer Krankheit. Und ihre Mitschüler noch weniger. Zumindest glaubte Kate das.

Schließlich gongte es. Mathe war vorbei und das Nachsitzen konnte beginnen. Mit einem Seufzer packte Kate ihre Sachen in die Tasche, nahm sie an sich und verließ den Raum, nicht ohne einen mitleidigen Blick von Ryou aufgefangen zu haben. Auch Kaiba, der ihr kurz darauf folgte, sah alles andere als begeistert aus. Dieses verdammte Nachsitzen kostete ihn wichtige Arbeitszeit. Vielleicht konnte er Mr Johnson ja davon überzeugen, dass diese Göre Thompson ganz allein Schuld war. In Kaibas Augen war sie es ja auch. Er hatte sich nur zur Wehr gesetzt und war dafür bestraft worden. Wie ungerecht!

Mr Johnson wartete schon auf die beiden Sünder, ein genüssliches Grinsen auf dem Gesicht.

„Wie schön, dass Sie so unverzüglich erschienen sind. Sie werden zunächst einmal in der Vorbereitung aufräumen. Die Schränke dort sind schrecklich unordentlich.“, sagte der Lehrer, dabei die angesäuerten Mienen seiner Schüler geflissentlich ignorierend.

„Sie dürfen in zwei Stunden gehen.“

Dann verschwand Mr Johnson und überließ Kaiba und Kate der Arbeit. Schweigend, sich aber böse Blicke zuwerfend, begannen sie mit dem Aufräumen.

„Oh mann... das wurde wohl vor zwanzig Jahren zuletzt gesäubert.“, moserte Kaiba, der eine Stauballergie hatte, es aber niemals öffentlich zugegeben hätte.

„Tja, dann fang doch einfach an die ganzen dämlichen Kolben daraus zu räumen, schnapp dir ein feuchtes Tuch und entsorg den Staub.“, antwortete Kate gelassen, wohlwissend, dass Kaibas Bemerkung nicht für ihre Ohren gedacht gewesen war.

„Vergiss es.“. fauchte der Unternehmer, setzte sich bockig auf die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann eben nicht, aber glaub bloß nicht, ich würde deine Arbeit machen.“, gab Kate scharf zur Antwort, ehe sie sich ihrer Aufgabe widmete.
 

Eine Weile herrschte Schweigen, dann hielt Kate es nicht länger aus. Sie wusste ja jetzt, dass es Cleos Schuld war, dass sie hier versauern musste. Vermutlich hatte Kaiba sie provoziert, aber er konnte ja nicht ahnen, dass Cleo schnell ausflippte. Und zudem mordsgefährlich sein konnte.

„Du kannst ruhig gehen.“, sagte Kate leise, Kaiba dabei nicht ansehen.

Stattdessen gab sie sich den Anschein, mit Hingabe den Schrank abzustauben.

„Was ist denn mit dir los?“, rutschte es Kaiba raus.

Er starrte sie verwundert an. Jetzt wandte Kate sich ihm zu.

„Ich meins ernst, geh ruhig. Hier rum zu sitzen bringt dir nichts, deine Firma leitet sich schließlich nicht von allein.“

„Wer bist du und was hast du mit Thompson angestellt?“, wollte der Unternehmer wissen, sie misstrauisch musternd.

„Zur Abwechslung bin ich es wirklich. Also, verzieh dich, bevor ich es mir anders überlege.“

‚Oder Cleo beschließt, dir dein hübsches Gesicht tatsächlich wegzuätzen.’, fügte Kate in Gedanken hinzu.

„Wie du meinst.“

Mit einem raschen Sprung war Kaiba von der Fensterbank runter, schnappte sich seine Schultasche und wandte sich zum Gehen.

„Aber glaub bloß nicht, dass ich dir jetzt dankbar bin!“, knurrte er, dann verschwand er tatsächlich.

„Dummkopf. Ich bin vielleicht doof, aber so doof nun auch wieder nicht!“, schnaubte Kate, während sie sich weiter der Strafarbeit widmete.

Sie wunderte sich gerade über sich selbst. Wie kam sie überhaupt dazu, so abartig freundlich zu Kaiba zu sein? Hatte er das denn verdient, nachdem er mehr als deutlich gemacht hatte, was er von ihr hielt?

‚Vermutlich nicht, aber er kann auch nichts dafür, wenn Cleo droht, ihn umzubringen.’, dachte Kate bei sich, zwang sich dann aber, an etwas anderes zu denken, da sie nicht scharf darauf war, länger als nötig über Kaiba und dessen Verhaltensweise nachzugrübeln.

Die Ruhe vor dem Sturm

Noch vor Ablauf der zwei Stunden hatte Kate einen Großteil des Schrankes aufgeräumt und gesäubert. Da sie einen dringenden Termin hatte, beließ sie es dabei. Schließlich würde sie den Rest der Woche in diesem miefigen Kabuff zubringen. Da kam es auf ein Staubkorn mehr oder weniger nun auch nicht an. Oder ein paar Minuten.

‚Mr Johnson wird schon nichts dagegen haben.’, dachte Kate, schulterte ihre Tasche und verließ den Chemietrakt durch eine Notausgangstür, die immer offen war. Zumindest von innen. Wenn man sie benutzte, wurde kein Alarm ausgelöst. Der Hausmeister ging mehrmals am Tag hindurch, daher hatten sie dort den Strom abgeschaltet. Außerdem kam man schneller vom Schulgelände runter, wenn man den Chemie- und Physiktrakt durch diese Tür verließ. Und Kate hatte es ziemlich eilig, da es bis zum Krankenhaus ein recht langer Weg war. Wenn sie den Bus noch erwischte, würde sie gerade rechtzeitig zu ihrem Termin erscheinen. Verpasste sie ihn, kam sie zu spät. Wenigstens hatte sie Glück, was ihren Therapeuten anging. Doktor Banner war ein noch recht junger, freundlicher Mann, der verstand, wenn einem mal was dazwischen kam und man dadurch nicht auf die Sekunde pünktlich sein konnte.

In ihrer Hast bemerkte Kate nicht, dass jemand ihr folgte.
 

Der Bus war natürlich längst weg. Also musste Kate wohl oder übel zu Fuß gehen.

‚Was soll’s. Banner hat Verständnis dafür.’, ging es ihr durch den Kopf, während sie unverdrossen drauf los marschierte, darauf bedacht, nicht unnötig zu trödeln. Dafür, dass sie zu ihrem wöchentlichen Gespräch mit ihren Psychiater war, war sie ziemlich gut drauf. Das wunderte Kate ein bisschen. Sie nahm es aber hin und als gutes Zeichen. Schließlich bedeutete dieses Gebaren, dass sie sich wohlfühlte, mit ihrem derzeitigen Leben zufrieden war. Nun ja, wenn man mal von dem Nachsitzen absah und der unbestreitbaren Tatsache, dass Sue und Cleo sich nach Gusto in ihr Leben einmischten. Kate hatte Einmischung noch nie sonderlich gemocht. Sie wollte lieber selbst bestimmen. Vor allem über das, was sie tat und unterließ. Deswegen fiel es ihr besonders schwer, hinzunehmen, dass in ihr mehr als nur eine Persönlichkeit steckte.

‚Das erinnert mich so an früher...’

Kate lebte nicht bei ihren Eltern. Sie hatte sie nicht einmal kennengelernt, weil sie so früh gestorben waren. Stattdessen war sie bei ihrem alleinstehenden Onkel aufgewachsen. Sie schluckte. Daran wollte sie lieber nicht denken. Es waren keine glücklichen Zeiten gewesen. Dass sie an Multipler Persönlichkeitsstörung litt, hatte man bemerkt, als sie auf die Mittelschule kam. Als erste Maßnahme war sie längere Zeit stationär behandelt worden, dann hatte man sie nach Domino geschickt. Hier gab es ein Heim für Menschen mit DIS. Dort lebte Kate und sie musste sagen, es gefiel ihr ausgesprochen gut. Auch wenn sie die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, eines Tages allein leben zu können.

Und weil sie eine Multiple war, hatte sie keine Freunde. Nicht einmal innerhalb des Heimes, obwohl sie natürlich mit den anderen Bewohnern sprach und lachte. Aber niemand durfte in ihr Herz sehen. Sie behielt ihre Geheimnisse für sich. Gut, Banner bekam einiges zu hören, aber das kam daher, dass Sue ein ganz schön geschwätziges Ding sein konnte, wenn sie denn wollte. Zwar mochte sie Männer nicht besonders, aber zu Banner hatte sie Zutrauen gefasst. Er war ihr bester Freund. Sue war es auch, die mitbekam, wie der Doktor sich um Zugang zur kalten, unnahbaren Cleo bemühte, wie er Ai tröstete, ihr Bonbons schenkte und ihr erlaubte Disneys ‚König der Löwen’ zu schauen, ihren Lieblingsfilm.

Dass Kate davon erfuhr lag nur daran, dass Banner ihr gewisse Dinge erzählte. Und sie führte ein Tagebuch, als Therapiemaßnahme. Meist war es Sue, die hineinschrieb und Kate so wissen ließ, was sich ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Das war schon recht nützlich, da die verschiedenen Persönlichkeiten auch unterschiedliche Charakterzüge, sowie Vorlieben und Abneigungen aufwiesen und damit Chaos und Verwirrung stiften konnten. Dieses Tagebuch half Kate dabei, nicht völlig den Verstand zu verlieren.
 

Endlich erreichte Kate ihren Zielort. Mit raschen Schritten durchmaß sie das Foyer. Sie kannte das Gebäude mittlerweile in- und auswendig, war sie doch eine regelmäßige Besucherin dieser Räumlichkeiten. Im Fahrstuhl drückte sie die große, rote Acht. In diesem Stockwerk und dem darunter befand sich die Psychiatrie, sowie die Büros der Psychologen und der Chefärztin. Dieser Frau war Kate nur einmal begegnet. Sie war nicht privat versichert. Deswegen bekam sie auch keine Chefarztbehandlung, was sie aber nicht sonderlich störte, da sie die Frau nicht unbedingt mochte. Ihren behandelnden Arzt, Banner, mochte sie dafür umso mehr. Er war noch relativ jung, kaum Anfang Dreißig, trug eine Brille, die er immer dann zurecht rückte, wenn er nervös war und er hatte meist ein Lächeln auf den Lippen. Seine Haare waren lang und schwarz; er band sie im Nacken zu einem Zopf zusammen. Es passte irgendwie zu ihm fand Kate. Von Statur her war Banner groß, aber dünn, nicht sehr muskulös, aber das musste er auch nicht sein, da er sich meistens mit psychisch erkrankten Jungendlichen beschäftigte und er zwar Allgemeinmedizin hatte mitstudieren müssen, doch über Blutabnehmen ging er nie hinaus. Das Absonderlichste an dem jungen Arzt war sicherlich, dass er sich einen fetten Kater namens Pharaoh hielt und das Tier ständig mit sich herumschleppte, beziehungsweise es ihm nachlief. Besonders Ai war fasziniert von Katzen und konnte nie genug davon bekommen, Pharaoh zu kraulen, wenn sie denn an der Reihe war, den Körper zu lenken. Weil das kleine Mädchen eben so ein Zutrauen zu Banner entwickelt hatte, hielt der Scherbensammler es für das Klügste, Ai nur dann die Kontrolle über Kates Körper zu überlassen, wenn ein solcher Gesprächstermin anstand. Für Kate selbst war das nicht unbedingt optimal, da sie dann keine Chance hatte, mit Banner über weitere Behandlungsmethoden und dergleichen zu reden. Aber sie konnte sich nun mal nicht aussuchen, wer wann an der Reihe war, den Körper zu übernehmen. Das entschied immer noch der Scherbensammler, der auch gern mal Mist baute. So wie eben in Chemie, als er Cleo erlaubt hatte, Kaiba ernsthaft Angst einzujagen...
 

„Ah, Kate, da bist du ja!“, begrüßte Banner seine Patientin mit einem breiten Lächeln. Sie war spät dran, aber das kannte er von ihr. Sie war einfach ein bisschen verpeilt und diese Unpünktlichkeit schien all ihren facettenreichen Persönlichkeiten anzuhaften, so dass es ihn nicht sonderlich störte, zumal er nur ein paar Patienten hatten, die schon so weit waren, dass sie außerhalb des Krankenhauses leben durften. Doktor Lyman Banner hatte sich auf Menschen mit DIS spezialisiert, um nicht zu sagen nur auf die Jugendlichen, die davon betroffen waren. Die meisten von ihnen waren auf Station, aber einige, so wie Kate, deren Scherbensammler schon gefestigt genug waren, hatten die Erlaubnis bekommen, außerhalb des Krankenhauses zu leben. Zwar wohnten nur die wenigsten bei ihren Eltern, aber die Betroffenen bekamen einen Platz in einem Wohnheim, das extra zu solchen Zwecken eingerichtet worden war.

Banner beobachtete seine Patientin, während sie sich mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl vor ihn fallen ließ.

„Hallo, Doc. Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Ich musste nachsitzen und hab zu allem Überfluss auch noch den Bus verpasst.“, erwiderte sie auf seine zuvor ausgesprochene Begrüßung.

Der junge Arzt zog eine Augenbraue hoch.

„Nachsitzen? Wieso das denn? Hast du denn was ausgefressen?“, wollte er auch gleich wissen. Auf seinem Schreibtisch lag aufgeschlagen Kates Akte, in der er alles peinlich genau eintrug, was sie in ihren Sitzungen so erzählte. Das rothaarige Mädchen seufzte.

„Glauben Sie mir, das wird Sie keinesfalls freuen.“, begann Kate unbegeistert. Dann setzt sie Banner genau auseinander, wie es zu dem Zwischenfall in Chemie gekommen war.

„Und das Ende vom Lied war, dass ich dank Cleo Nachsitzen muss, ausgerechnet mit diesem arroganten Kerl Kaiba.“

Ganz eindeutig eine Beschwerde, wie Banner festmachte. Während der Erzählung hatte er sich eifrig Notizen gemacht.

„Kommt es denn in letzter Zeit vermehrt vor, dass während der Schulzeit eine andere Persönlichkeit übernimmt?“, erkundigte der Arzt sich neugierig.

„Ja, schon. In Musik letztens muss Sue das Kommando gehabt haben, weil ich mich plötzlich beim Sopran wiederfand und ich kann eigentlich überhaupt nicht singen und wenn dann, Alt.“

„So, so...“

Banner zog eine Augenbraue hoch, eine weitere Notiz zu den anderen hinzufügend.

„Was ist mit deinem Medikament? Nimmst du das regelmäßig?“, fragte er.

Kate nickte nur. Sie hatte ihren Blick gesenkt gehalten, doch jetzt sah sie ihn an. Ganz deutlich war Furcht in ihren grünen Katzenaugen zu erkennen.

„Ich... ich muss aber nicht wieder in stationäre Behandlung, oder, Doc?“

Ihre Stimme zitterte leicht. Was Kate am meisten fürchtete, war, dass irgendein Außenstehender hinter ihre Krankheit kam und sie bei allen anderen verpetzte. Sie befürchtete, dass man sie meiden könnte wie eine Aussätzige. Und wenn sie zu allem Überfluss wieder im Krankenhaus leben musste, würde sie kaum ihr Abitur bestehen. Dann würde das nichts mit dem Sportstudium. Ihre komplette Zukunft war drauf und dran gerade mal den Bach runterzugehen.
 

Mitleidig betrachtete Banner die junge Frau vor sich. Er ahnte, was in ihrem Inneren vorging. Aber er konnte sie beruhigen.

„Nein, eine stationäre Behandlung ist nicht erforderlich. Es ist ganz normal, dass es Schwankungen gibt, was das Übernehmen der anderen Persönlichkeiten angeht. Mach dir keine Sorgen. Wenn du dich an den Therapieplan hältst, kann nichts schief gehen.“, sagte er beruhigend.

Dann warf er einen Blick auf die Uhr.

„Soll ich dich gerade heimbringen? Meine Schicht ist ohnehin jetzt vorbei und du weißt ja, das Heim liegt auf meinem Weg.“

Die Aussicht auf eine Autofahrt erhellte sofort Kates Stimmung. Sie nickte eifrig, raffte ihre Sachen zusammen und wartete, bis Banner in seinem Büro ein wenig Ordnung geschafft hatte. Dann verließen sie den Raum gemeinsam, spazierten zum Fahrstuhl und fuhren in das unterstes Geschoß des Krankenhauses, wo sich ein Parkhaus für die Angestellten befand. Banners klapprige alte Kiste konnte man kaum übersehen. Obwohl er ziemlich gut verdienen musste, wie Kate wusste, da sie einmal sein todschickes Haus gesehen hatte, weigerte er sich, ein anderes Auto zu fahren. Der junge Mediziner schloss das Vehikel auf, verfrachtete zuerst Pharaoh auf den Rücksitz und ließ dann Kate einsteigen.

Nachdem alle Passagiere saßen und angeschnallt waren, mit Ausnahme des fetten Katers vielleicht, startete Banner den Motor, setzte aus der Parklücke und verließ das niedrige, schlecht beleuchtete Parkhaus. Aus dem Radio schallte seichte Popmusik, während Banner den Wagen durch den Feierabendverkehr manövrierte. Kate saß wie immer mehr als nur fasziniert auf dem Beifahrersitz und beobachtete das Treiben auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Ganz verstand der Arzt ihre Faszination nicht, aber es amüsierte ihn doch immer wieder, wenn er dieses burschikose Mädchen von 17 Jahren sah, wie sie andächtig den Verkehr und die Fußgänger, die vorbeiziehenden Gebäude betrachtete. Das hatte etwas Niedliches an sich, was so gar nicht zu Kates üblicher Art passen wollte.
 

Schließlich erreichten sie Kates Wohnheim. Sie schnallte sich ab, öffnete die Autotür und stieg aus.

„Danke fürs Mitnehmen, Doc. Und bis nächste Woche!“

Banner sah ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war. Langsam schüttelte er den Kopf.

„Pharaoh, mein Junge, ich habe das Gefühl, das war nur die Ruhe vor dem Sturm.“

Ryou ahnt etwas

Es war gar nicht so einfach, Kate durch den nachmittäglichen Verkehr zu folgen. Ryou kam rasch aus der Puste, obwohl er als Fußballer doch eine recht gute Kondition hatte. Seit dem Vorfall in Chemie hatte der Weißhaarige einen Verdacht, den er bestätigt sehen wollte. Er kannte sich aus, wenn es um verschiedene Persönlichkeiten ging. Immerhin hatte er auch damit zu kämpfen.

‚Ey, das hab ich jetzt überhört!’, beschwerte sich der Geist des Milleniumsringes prompt bei seinem Wirt. Ryou ließ den Kopf hängen. Es konnte schon nervig sein, wenn man mit einem Typen wie Kura einen Körper teilen musste. Aber es brachte auch gewisse Vorteile, wie der schmächtige Junge zugeben musste. Dieser Gedanke wiederum schien Kura eine Weile ruhig zu stellen, so dass Ryou sich völlig darauf konzentrieren konnte, Kate nicht aus den Augen zu verlieren.

‚Zum Glück hat sie den Bus Richtung Krankenhaus verpasst. Wer weiß, wo sie ausgestiegen wäre?’, dachte Ryou, während er um eine Straßenecke bog.

Vor ihm ging Kate in ihrer Uniform, das lange rote Haar wippte auf und ab. Es hatte etwas Hypnotisierendes an sich.

‚Reiß dich zusammen, Ryou.’, schnauzte Kura, dem es wohl zu langweilig geworden war, sich in Racheplänen am Pharao zu ergehen.

Ryou gab vor, seinen Yami nicht gehört zu haben. Stattdessen legte er etwas an Tempo zu, da Kate schon wieder um eine Biegung zu verschwinden drohte.

‚Hoffentlich verrate ich mich nicht. Sie wird garantiert sauer werden. Oder diese gruselige Cleo kommt wieder zum Vorschein’

Mit diesem Weib wollte Ryou nun wirklich nichts zu schaffen haben. Nicht, nachdem er hatte mit ansehen müssen, wie sie Seto Kaiba beinahe Salzsäure ins Gesicht geschüttet hätte.

‚Du bist und bleibst einfach ein Weichei!’, höhnte Kura da, ‚Ich für meinen Teil würde mich gern mal mit dieser Cleo messen.’

‚Das sagst du aber auch nur, weil du keine Ahnung hast, was diese Frau so alles anstellen könnte!’, gab Ryou genervt zurück.

‚Ich steh auf Gefahr, wie du weißt.’, erwiderte Kura mehr als nur gelassen.

„Oh ja, und wie ich das weiß...“, seufzte der Weißhaarige leise, während er Kate um die Biegung folgte und wie angewurzelt stehen blieb.

Sie waren beim städtischen Krankenhaus von Domino angekommen.

‚Okay, jetzt mach ich mir echt Sorgen.’
 

Neugierig, wie Ryou war, hatte er sich nicht zügeln können, so dass er seiner Mitschülerin einfach weiter gefolgt war. Das war nicht wirklich leicht. Zwar schützte ihn die Menschenmenge im Foyer, aber Kate entfernte sich ziemlich hastig in Richtung Fahrstühle, wo kaum noch Möglichkeiten waren, um sich verborgen zu halten. Allerdings gab es da einen entscheidenden Vorteil seines Milleniumsringes. Nicht nur Kura wohnte darin, der Ring verfügte auch noch über gewisse andere Annehmlichkeiten. Zum einen konnte man damit die Gedanken anderer hören, solange sie sich um einen selbst drehten und, was noch viel nützlicher war, mithilfe des Ringes konnte man sich praktisch unsichtbar machen. So gelang es Ryou im letzten Moment, nicht aufzufliegen und mitzubekommen, welche Zahl Kate im Aufzug drückte. Kaum, dass das geschehen war, studierte er, mittlerweile wieder sichtbar für seine Umwelt, eine Übersicht über die verschiedenen Stationen des Krankenhauses.

‚Neunter Stock, Neunter Stock.’, überlegte er, während er die Übersicht überflog und schließlich an der richtigen Stelle stoppte.

‚Scheiße, die Psychiatrie.’, durchfuhr es Ryou.

‚Warum denn so geschockt?’, mischte Kura sich wieder einmal ungebeten ein, ‚Dass die Kleine einen Knall hat, hätte ich dir auch so sagen können.’

Ryou rollte mit den Augen. Wann lernte es sein Yami endlich, nicht einfach loszuplappern?

‚Werd ja nicht frech!’, drohte Kura.

Von Ryou kam kein Kommentar. Stattdessen beschloss er, heimzugehen und ein paar Dinge zu Googlen.

‚Auch wenn die Chemieaufgabe wohl wichtiger wäre...’
 

Auf dem Heimweg trödelte Ryou ziemlich. Ihm ging einfach nicht aus dem Kopf, was er über Kate herausgefunden hatte. Wieso ging sie in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses? Sie schien keinen seelischen Knacks zu haben. Abgesehen von den Stimmungsschwankungen und anderen seltsamen Anwandlungen, wie etwa sich seltsame Namen zu geben.

‚Könnte sie schizophren sein?’, fragte Ryou sich, während er an einer roten Ampel hielt.

Unwillkürlich sah er auf die Straße und erstarrte. In einem kleinen, verbeulten roten Auto saß Kate und neben ihr ein junger Mann, der Mitte oder Ende Zwanzig sein musste. Er sprach mit ihr, aber sie sah die ganze Zeit fasziniert auf den Verkehr. Bewegung kam in die Kreuzung. Kurz darauf war das Auto verschwunden.

‚Wer war dieser Mann? Ob er ihr Freund ist?’

Wenn Ryou es recht bedachte, wusste er eigentlich gar nichts von Kate. Nur, dass sie Fußball liebte und Sport ihr bestes Fach war. Okay, sie konnte nicht singen und Chemie war definitiv nicht ihr Fall. Aber abgesehen davon, was wusste er schon über sie, wenn er auch ihr Aussehen außen vor ließ?

‚Richtig, nichts.’, fasste Kura für seinen Wirt noch mal alles zusammen. Es klang leicht höhnisch.

‚Halt dich da raus!’, gab Ryou grob zurück, wurde aber von Kura mit einem bösen Blick bedacht und der Empfehlung, doch den Ring zu nutzen, um herauszufinden, wo Kate und der Mann hinfuhren.

‚Ich bin doch kein Stalker!’

‚Klar doch, Ryou. Vorhin hattest du keinerlei Probleme, ihr nachzuspionieren.’, bemerkte Kura süffisant.

Das Schlimme daran war, dass er Recht hatte. Ryou spürte die Neugier in sich immer weiter anwachsen. Er rang mit sich selbst. Sollte er Kate weiterhin verfolgen auf die Gefahr hin von ihr entdeckt zu werden? Oder sollte er heimgehen und über Chemie brüten?

‚Wenn du es nicht tust, wirst du dich sowieso nicht auf diese dämliche Titration konzentrieren können.’, wandte Kura zuckersüß ein.

Er kannte Ryou einfach zu gut. Und zudem war er ebenfalls neugierig, was er allerdings niemals zugegeben hätte. Zumindest nicht freiwillig. Daher war ihm nun daran gelegen, Ryou überreden zu können, seine kleine Verfolgungsjagd fortzusetzen.
 

Tatsächlich gelang es Kura erstaunlich schnell, ohne dass es großer Überredungskunst bedurft hätte. Der schmächtige Junge war einfach zu wissbegierig, als dass er seine Neugier hätte bezähmen können. Kate fragen, nein, das wagte er nicht. Sie konnte sehr verletzend werden, wenn man ihr zu nah trat, obwohl sie meist doch freundlich war.

‚Worauf wartest du noch?’, nörgelte Kura, der es eilig hatte, hinter das Geheimnis des rothaarigen Mädchens zu kommen.

‚Ist ja schon gut!’, erwiderte Ryou, nicht wenig genervt, aber dem Drängen seines Yamis doch nachgebend.

Er befahl dem Ring, Kate zu verfolgen. Anstandslos gehorchte der Milleniumsgegenstand. Ryou, der von der ganzen Rennerei genug hatte, beließ es bei einem relativ flotten Schritttempo. Er würde ohnehin ans Ziel kommen und Klarheit darüber erhalten, warum Kate in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses gegangen und hinterher mit einem Mann, der um Einiges älter war als sie, in einem Auto gesessen war.

Nach etwa zwanzig Minuten hatte Ryou sein Ziel erreicht. Er stand vor einem großen, gelben Haus, das etwas Seltsames ausstrahlte, was er nicht genau zu benennen wusste. Deutlich war da ein Schild im Vorgarten angebracht.

‚Wohnheim für zuwendungsbedürftige Jugendliche’ stand darauf in schwarzen Großbuchstaben. Das hieß natürlich nichts Anderes, als das in diesem Gebäude jede Menge psychisch kranke junge Menschen lebten. Und Kate war offensichtlich eine von ihnen, da der Ring immer noch stur in Richtung Eingangstür wies. Zwar befanden sich zur linken und rechten noch andere Häuser, doch sah keines davon so aus, als ob eine 17- jährige sich dort die Miete leisten konnte.

Ryou seufzte.

‚Okay, offensichtlich hatte ich Recht. Kate muss ein Problem haben...’

‚Fragt sich nur welches.’, mischte Kura sich erneut ein.

Diesmal war Ryou nicht empört über die Einmischung. Er nickte und nahm sich vor, Google, das ja bekanntlich alles wusste, zu fragen, was für Krankheiten Kate haben konnte.

Nachdenklich machte der Junge sich auf den Heimweg. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie passte der fremde Mann in das Bild hinein?

Ryou kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Aber eines nahm er sich vor: Kate im Augen zu behalten und hinter ihr Geheimnis zu kommen. Denn das sie eines wahrte, das war Ryou nur allzu klar. Niemand würde mit der Tatsache hausieren gehen, dass er in therapeutischer Behandlung war und sogar abgeschnitten von der Familie in einem Wohnheim lebte.

‚Was verbirgst du, Kate Thompson?’

Gipfeltreffen der Psychopathen

Zwei Tage waren seit dem ersten Nachsitzen vergangen. In dieser Zeit hatte Kate sich so gut es ging von Kaiba ferngehalten, was sich schwierig gestaltete, da er in Chemie immer noch in Ryous und ihrer Gruppe mit von der Partie war. Glücklicherweise hatten sie nur drei Stunden Chemie pro Woche. Dennoch sorgte Kate dafür, möglichst oft in der Vorbereitung zu sein und irgendwelche Utensilien zur Durchführung des Experimentes herauszukramen. Dank des Nachsitzens kannte sie sich jetzt verdammt gut aus. Kaiba hatte es sich nicht nehmen lassen, seiner Strafe zu entgehen, indem er wichtige geschäftliche Konferenzen vorschob, aber Mr Johnson mit ein paar Uniwürdigen Hausarbeiten abzuspeisen. Der Lehrer ließ Kaiba das auch durchgehen, hatte der Junge doch immerhin nur untadelige Zensuren. Mal von dem kleinen Zwischenfall mit der Salzsäure abgesehen hatte Seto Kaiba auch nie Schwierigkeiten gemacht, so dass Mr Johnson beschloss, ein Auge zuzudrücken. Kate allerdings musste weiterhin zwei Stunden nach dem Unterricht bleiben. Nicht, dass es ihr sonderlich viel ausgemacht hätte. Sie hatte schließlich niemanden, der auf sie wartete und dem sie Rechenschaft schuldig war, wenn man mal von Banner und der Heimleiterin Mrs McKenna absah. Jedoch musste Kate zugeben, dass die gute McKenna sich meistens mit den Bulimieerkrankten Mädchen und depressiven anderen Bewohnern herumschlug. Da Kate außer ihren drei anderen Persönlichkeiten keine weiteren Probleme aufzuweisen hatte, erfuhr sie nicht gerade viel Beachtung, was sie aber auch nicht störte. Sie mochte es nicht unbedingt, im Mittelpunkt zu stehen und betüddelt zu werden. Das erinnerte sie allzu sehr an früher. Als sie noch bei ihrem Onkel gelebt hatte.

Kate war lediglich aufgefallen, dass Ryou ihr seit ihrem ersten Nachsitzen nicht mehr von der Seite wich. In der Schule zumindest. Sie hätte niemals zugelassen, dass er sie nach Hause begleitete, auch wenn Ryou nichts so leicht umhauen konnte. Das hatte er zuletzt in Chemie eindrucksvoll bewiesen, als Mr Johnson sie an der Buttersäure hatte schnuppern lassen und die meisten im Kurs danach ziemlich grün um die Nase gewesen waren. Nur Kaiba hatte keine Miene verzogen. Und Ryou auch nicht. Warum auch immer ihr Kumpel sie nicht mehr aus den Augen ließ, Kate nahm es hin, ohne Fragen zu stellen. Ryou würde schon einen guten Grund haben und irgendwann mal mit der Sprache herausrücken. Dessen war sie sich ganz sicher.
 

Freitagmittag, die letzte Stunde vor dem Wochenende war Französisch. Ein Fach, das Kate ums Verrecken nicht beherrschte. Zum Glück hatte sie auch hier wieder Ryou an ihrer Seite, der sie in den Prüfungen mit Tipps versorgte, so dass sie bislang nur einmal durchgefallen war. Aber das war auch nicht Kates Schuld gewesen, sondern die des Scherbensammlers, der plötzlich Ai in den Vordergrund hatte treten lassen. Ein Kleinkind von vier Jahren beherrschte nun mal keine Fremdsprachen. Wenn es wenigstens Sue gewesen wäre, das fleißige, schüchterne Bienchen. Aber nein, es hatte ja ausgerechnet die Schwächste im Bunde sein müssen.

Kate seufzte. Sie besprachen gerade mal wieder das passé compose. Eine Zeitform, die ihr nur dann lag, wenn sie gut gefusselt war. Die Tatsache allerdings, nach dieser Französischstunde das Wochenende mit Nachsitzen zu beginnen, beschäftigte Kate um Einiges mehr als irgendwelche Verben, die man konjugieren sollte. Prompt wurde sie daher von der biestigen Lehrerin Mademoiselle Delacour zum Lösen einer Aufgabe drangenommen.

„Konjugieren Sie das Verb ‚être’!“, forderte Mademoiselle das Mädchen auf.

Irritiert zuckte Kate zusammen und starrte ihre Lehrerin an, wie ein Auto.

‚Scheiße, ich hab nicht aufgepasst!’, dachte sie, während sie auf ihre Lippe biss und krampfhaft überlegte, wie sie sich am besten durch die Aufgabe mogeln konnte.

„Ich warte.“, unterbrach Mademoiselle Kates Gedankefluss.

Die Rothaarige seufzte leise, dann aber erhob sie die Stimme: „ Je suis, tu es, il/ elle/ on est, nous sommes, vous êtes, ils/ elles sont.“

Das hatte Kate recht schnell heruntergeleiert. Ryou, der neben ihr saß, war erleichtert. So weit hatte sie es richtig gemacht.

„Wie schön. Kommen wir jetzt zu courir.“, verkündete Mademoiselle boshaft.

Ein unregelmäßiges Verb. Etwas Schlimmeres hätte sie sich nicht einfallen lassen können. Besorgt warf Ryou seiner Banknachbarin einen Seitenblick zu. Kate schien zu Verzweifeln.

„Tut mir Leid, Mademoiselle, ich kann courir nicht konjugieren.“

Die Lehrerin zog eine Augenbraue hoch.

„So, so. Sie wissen, dass das Hausaufgabe war?“, fragte sie eisig.

Betreten nickte Kate.

„Ja. Es tut mir Leid, Mademoiselle.“

Sie hatte nur keine Zeit mehr gehabt zu lernen. Nicht, nachdem Cleo ihren Körper übernommen und sich mit ein paar Jungs gekloppt hatte. Die Folgen davon waren immer noch allzu deutlich zu spüren. Und zu sehen ebenfalls.

‚Was musste Cleo sich auch ausgerechnet mit marodierenden Oberschülern anlegen?’, dachte Kate knurrig, während sie sich Mühe gab, möglichst zerknirscht dreinzuschauen, damit die Französischlehrerin nicht merkte, wie egal ihr diese unregelmäßigen Verben eigentlich waren.

„Wenn Sie noch einmal unvorbereitet zu meinem Unterricht erscheinen, sorge ich dafür, dass Sie durch Ihre Prüfung rasseln!“, keifte Mademoiselle wenig angetan ob der Tatsache, dass ihre Schülerin so unverfroren zugab, nichts für die Stunde getan zu haben. Und als Kate immer noch nicht angemessen reagierte, fügte die Lehrerin zischend hinzu: „Haben wir uns verstanden?“

Jetzt bekam sie endlich die Reaktion, die sie sehen wollte. Kate nickte mehr als betreten.

„Ja, Mademoiselle Delacour.“, sagte sei sehr kleinlaut.

„Bon. Alors...“

Damit ging der Unterricht weiter. Allerdings ohne, dass Kate ihm großartig gefolgt wäre.
 

Nach einer halben Ewigkeit klingelte es endlich zum Schulschluss. Jubel und Hektik brachen aus. Die Schüler packten hastig ihre Sachen zusammen und machten, dass sie davon kamen. Niemand legte Wert darauf, länger in der Schule zu bleiben als nötig. Nur Kate beeilte sich nicht. Sie musste ohnehin noch nachsitzen, wenn zum Glück nur noch diesen Nachmittag. Allerdings hatte sie nach dieser katastrophalen Französischstunde überhaupt keine Motivation irgendwelche idiotischen Reaktionsgleichungen von der Tafel zu wischen oder im Lehrmittelkabuff für Ordnung zu sorgen.

‚Und Kaiba, der Depp wird sich wohl längst wieder verzogen haben, um in seiner Firma für Recht und Ordnung zu sorgen.’, dachte Kate missmutig, während sie den Französischraum verließ und sich auf den Weg zum Chemie- und Physiktrakt machte.

„Hey, Kate, warte doch mal!“, hörte sie plötzlich jemanden rufen.

Sie drehte sich um. Es war Ryou, der gerade eben aus dem Jungenklo gekommen war und jetzt eilig auf sei zu rannte. Keine Minute später bremste der Weißhaarige vor ihr ab. Er lächelte schwach.

„Hast du schon was vor am Wochenende?“, wollte er dann leicht atemlos wissen.

Irritiert sah Kate ihn an. Hatte Ryou Bakura sie gerade gefragt, ob sie in den nächsten zwei Tagen irgendwelche Pläne hatte?

‚Ich glaub, mich laust die grüne Haselmaus.’, dachte Kate ungläubig, schüttelte aber wahrheitsgemäß den Kopf. Nein, sie hatte nichts vor. Wie jedes Wochenende würde sie daheim bleiben, über ihren Büchern hängen und vor Langweile fast sterben. Ohne Erlaubnis der Heimleitung durfte sie eigentlich nirgends hingehen, auch wenn weder sie noch Cleo sich an diese Regel hielten. Cleo am Allerwenigsten. Die Kämpferin verabscheute es, sich irgendwem oder –etwas unterordnen zu müssen. Sie ging wohin immer sie wollte. Meist war das in die Innenstadt, um sich mit irgendwelchen Halbstarken zu prügeln. Oder aber sie ging in ein nahe gelegenes Dojo, um ihre Kampfkünste zu trainieren. Da sie jedoch nicht immer den Oberbefehl über Kates Körper bekam, zumindest nicht am Wochenende, fiel das meist flach. Es war Ai, die an den freien Tagen ans Licht durfte, da sie im Wohnheim nicht sonderlich viel Schaden anrichten konnte, wenn man mal von geplünderten Keksdosen oder genässten Betten absah. Und natürlich von nicht erledigten Hausaufgaben. Aber damit musste Kate nun mal leben. Jeden einzelnen Tag, den sie noch auf dieser Erde verbringen durfte. Für ihre Krankheit gab es keine Heilung, wie etwa bei den Leuten mit Depressionen. So was konnte man überwinden. Sogar bei einer Borderline- Störung war das möglich. Nur eben nicht, wenn man eine Multiple war. Kate war dazu verdammt, den Rest ihres Lebens um die Oberhand über ihren Körper fürchten zu müssen. Sie würde niemals einen Freund haben können, ganz einfach, weil kein Mann der Welt ein Mädchen würde haben wollen, das noch drei andere Persönlichkeiten in sich trug und diese nicht kontrollieren konnte. Nicht, dass Kate sich nach einer Liebschaft verzehrt hätte, aber es tat schon weh, zu sehen, wie fröhlich die anderen Mädchen waren, weil sie Freunde hatten, die ihnen jeden Wunsch von den Augen ablasen, mit ihnen ausgingen oder zärtlich sprachen. Sogar die Streits waren etwas, um das Kate die vergebenen Mädchen beneidete. Sie hatte gar nichts. Nur Doktor Banner für zwei Stunden an einem Nachmittag in der Woche. Sie konnte nicht mal von sich behaupten normale Freunde zu haben. Höchstens Bekanntschaften, wie etwa Ryou.
 

„Hallo? Erde an Kate!“

Ryou fuchtelte mit seiner Hand vor ihrem Gesicht herum. Für einen Augenblick hatte Kate einen unglaublichen traurigen, wehmütigen Ausdruck in ihren grünen Katzenaugen gezeigt. Jetzt aber schüttelte sie sich energisch und schien wieder völlig sie selbst zu sein.

„Entschuldige, Ryou. Ich war grad ein bisschen abwesend.“, sagte sie zerknirscht, seufzte leise und musterte ihn dann unverwandt.

„Worum ging es eben noch mal?“

Etwas irritiert zog Ryou eine Augenbraue hoch.

„Ich hatte dich gefragt, ob du am Wochenende schon was vor hast.“, wiederholte er dann aber geduldig seine Frage.

„Hm, oh ja. Stimmt.“

„Und?“, bohrte Ryou ungeduldig, der in den letzten Tagen eifrig Internetrecherche betrieben hatte.

„Wie ‚und’?“

„Hast du nun was vor oder nicht?“

Langsam wurde er doch ungeduldig. Kate schien überhaupt nicht bei der Sache zu sein. Er betrachtete sie näher. Komisch, in der Pause heute war ihm gar nicht aufgefallen, dass sie ein Veilchen hatte. Wo hatte sie das denn her?

‚Bestimmt hat diese Cleo Rabatz gemacht.’, mischte Kura sich ein, dabei genüßlich grinsend.

‚Halt die Klappe!’, moserte Ryou, der überhaupt kein Interesse daran hatte, sich auch noch mit seinem Yami rumärgern zu müssen.

‚Werd ja nicht freche, Kleiner. Sonst macht Kate mal mit mir Bekanntschaft!’, drohte Kura, der sich von nichts und niemandem den Mund verbieten ließ. Von Ryou schon gleich dreimal nicht.

„Nein. Eigentlich nicht.“, beendete Kate den Schlagabtausch zwischen Ryou und Kura.

„Und uneigentlich?“, hakte Ryou gleich begeistert nach.

„Auch nicht.“, kam es knapp von ihr.

„Toll. Was hältst du davon, am Samstag zu mir zu kommen und wir schauen uns ‚Stirb Langsam’ an?“

Damit hatte Kate nun gar nicht gerechnet.

„Du guckst Actionfilme?“, entfuhr es ihr ungläubig.

Prompt wurde Ryou rot. Am Liebsten sah er Animes. Oder Schnulzen, aber das konnte er der harten Kate doch nicht sagen! Eigentlich war es Kura, der die Actionfilme besaß. Und ein paar Horror- und Splatterfilme durften natürlich nicht fehlen.

„Stell dir vor, ich guck Actionfilme.“, gab Ryou sarkastisch zurück, „Also, was ist nun? Hast du Lust dazu oder willst du lieber in deinem Wohnheim vergammeln?“

Schon in dem Augenblick, da er dies aussprach, wusste er, dass er einen dummen Fehler gemacht hatte.

„Was hast du gesagt?“, fauchte Kate.

In ihren grünen Katzenaugen loderte es. Noch nie zuvor hatte Ryou das Mädchen so zornig gesehen. Nicht einmal bei dem Zwischenfall in Chemie.

‚Bravo!’, applaudierte Kura höhnisch, der aber nicht leugnen konnte, dass er die Show genoß. Mit etwas Glück würde er gleich Bekanntschaft mit Cleo machen.

‚Scheiße!’, durchzuckte es Ryou.

Er hatte nicht geglaubt, dass Augen, vor allem so grüne, wie die Kates, wahrhaftig lodern konnten wie Feuer. Grüne Flammen starrten ihn an. Von oben herab.
 

Moment mal. Von oben herab? Kate war doch eigentlich gleich groß wie er, also 1, 70 Meter groß. Wie konnte sie da plötzlich auf ihn herabsehen?

‚Cleo...’, dachte Ryou ziemlich verängstigt.

Er hatte in Chemie gesehen, dass sie fast an Kaiba heranreichte. Sie musste mindestens fünf Zentimeter größer sein als Kate.

„Was hast du gesagt, du miese kleine Ratte?“, zischte die Kämpferin erbost.

Sie hatte ihre Schultasche zu Boden fallen lassen, die Hände in die Seiten gestemmt und durchbohrte Ryou mit ihren Blicken. Dem Jungen wurde es langsam wirklich unheimlich. Nur Kura indes lachte innerlich. Es war nur zu deutlich, wie sehr er sich an dem Schauspiel ergötzte. Früher oder später würde er eingreifen. Aber noch nicht.

„Ich...hab es nicht so gemeint, Kate. Tut mir Leid. Ist mir so rausgerutscht.“

„Kate?“, höhnte da die Kämpferin, „Man sollte meinen nach der Salzsäure- Aktion hättest du kapiert, dass Kate nicht allein über ihren Körper zu bestimmen hat.“

„Cleo, dann eben.“, gab Ryou zurück, „Ich hab es nicht böse gemeint. Ich wollte nur, dass Kate mal mehr Kontakt mit ihren Mitmenschen hat. Mehr auch nicht.“

„ ‚Mehr auch nicht!’“, äffte Cleo den Weißhaarigen nach.

Immer noch wütend starrte sie ihn an.

„Ich sag dir mal was, du halbe Portion! Kate braucht keine Freunde, klar? Und schon gar keinen kleinen, schmächtigen Speichellecker wie dich!“

Das empörte Ryou über die Maßen. Mehr aber noch Kura, der sich gleich angesprochen fühlte, wie immer, wenn man seinen Wirt mit Beschimpfungen überhäufte. Er ließ sich ja Einiges bieten, aber das ging doch eindeutig zu weit!

„Speichellecker? Nimmst du deinen Mund da nicht ein bisschen zu voll, Weib?“, fauchte Kura, der sich einfach mal Ryous Körper bemächtigt hatte.

Cleo zog eine Augenbraue hoch.

„Wer bist du denn?“, wollte sie dann leidlich interessiert wissen.

Ihr war sofort klar gewesen, als sie diese Stimme hörte, dass sie es nicht mehr mit diesem kleinen Schwachmaten zu tun hatte. Zum einen war dieser Kerl größer als der Schwächling und er hatte auch einen tiefere Stimme. Insgesamt wirkte er viel männlicher, was Cleo nicht gerade abstieß. Im Gegensatz zu Kate hatte sie eine Vorliebe für Männer, die ihr Paroli bieten konnten. Und dieser Knallkopf, der sich ihr gerade präsentierte, gehörte unbestritten zu dieser Gruppe. Daher lächelte sie leicht, allerdings ohne einen Funken Wärme darin.

„Ich an deiner Stelle würde nicht so dämlich grinsen, Herzchen. Dazu hast du keinen Grund.“, erwiderte Kura mit hochgezogener Augenbraue.

„Ach ja? Dich mach ich locker fertig, Schmalzlocke.“

„Das werden wir ja sehen, Erdbeerhöschen.“

Cleo lief tatsächlich leuchtend rot an, als er das sagte. Woher zum Henker wusste der Kerl, dass Kate heut ein Höschen mit Erdbeeren drauf trug? Konnte der etwa durch Klamotten spannen?

„Na, überrascht?“, wollte Kura wissen.

Statt einer Antwort bekam er eine gepfefferte Ohrfeige.

‚Verdammt, für ein Weib schlägt sie fest zu.’, beschwerte Kura sich.

‚Selbst Schuld!’, gab Ryou zurück, der aber alles in allem erleichtert war, nicht länger mit Cleo konfrontiert zu sein.

„Du Miststück wagst es einen Mann zu schlagen?“, fauchte Kura nun erbost.

Er ballte seine Hände zu Fäusten und war drauf und dran sich ernsthaft mit diesem Mädchen, das er nur knapp überragte, zu schlagen, als Ryou ihm in Erinnerung rief, dass sie sich im Schulflur befanden und jederzeit von einem Lehrer gefunden werden konnten. Kura ließ sich die Argumentation Ryous kurz durch den Kopf gehen, befand dann aber, das Nachsitzen die Sache nicht wert sei und machte der hitzköpfigen Cleo stattdessen einen besseren Vorschlag.

„Heute Nacht, Punkt Zwölf auf dem Sportplatz!“

Mit diesen Worten schulterte Kura seine Tasche und verließ den Ort des Geschehens. Zurück blieb eine sehr verwunderte Cleo, die nicht leugnen konnte, dass der Typ, dessen Namen sie immer noch nicht kannte, Schneid hatte.
 

„Ach, bequemst du dich auch endlich mal her?“, ertönte Kaibas giftige Stimme, kaum, dass Kate den Chemieraum betreten hatte. Sie zuckte merklich zusammen.

„Was machst du denn hier?“, entfuhr es ihr überrascht.

Die anderen Tage hatte er sich doch immer verkrümeln können!

„Nachsitzen, was denn sonst?“, erwiderte Kaiba trocken.

Er lehnte mit verschränkten Armen an der Tür zur Vorbereitung.

„Aber...“, stammelte Kate verwundert, „...die letzten paar Tage warst du auch nicht hier.“

„Jetzt bin ich es aber, also hör auf zu lamentieren.“

„Okay, okay.“

Rasch stellte Kate ihre Sachen ab. Dann fiel ihr ein, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie zu tun hatte. Fragend sah sie Kaiba an, der sich ob ihrer Unwissenheit ziemlich zu amüsieren schien. Damit sie nicht auch noch hier ein Auftauchen Cleos riskierte, riss Kate sich zusammen.

„Was sollen wir denn diesmal machen?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

„Ich hatte mich schon gefragt, wann du dich danach erkundigst, Thompson.“, höhnte Kaiba, der auf das Kabuff hinter sich wies.

„Wir sollen heute Bücher sortieren und ein paar Kolben auswaschen.“, fügte er hinzu.

„Ah ja.“

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

Kate zog es vor, nicht darauf zu antworten. Stattdessen marschierte sie zum Spülbecken. Sie ahnte schon, dass Kaiba nicht würde abwaschen wollen, war es doch Weiberarbeit. Und sie hatte Einiges an Übung darin.

Nachdem sie genügend Wasser in das Becken hatte laufen lassen, griff sie nach einer Petrischale, die Kaiba ihr aber mit einem Handtuch sofort wieder aus der Hand riss.

„Bist du noch ganz dicht?“, fauchte er.

Erschrocken sah sie zu ihm auf, da er sie um gut anderthalb Köpfe überragte. Was hatte sie bloß diesmal falsch gemacht?

„Da ist Schwefelsäure dran, das kannst du nicht einfach so anfassen!“, belehrte Kaiba sie.

„Oh.“, antwortete Kate wenig geistreich darauf.

„Ja, oh.“, knurrte der Jungunternehmer, „Lass mich lieber den Abwasch machen. Kümmer du dich um die Bücher, das ist ungefährlicher.“

Irritiert gehorchte Kate. Wie kam es, dass Kaiba sich benahm, wie er sich benahm?

‚Hat der irgendwelche Drogen genommen?’, fragte sie sich, während sie brav die Bücher nach Jahrgängen trennte.
 

Nach Ablauf von zwei Stunden durften die beiden Sünder endlich gehen. Kate reckte sich. Sie hatte irgendwie gute Laune. Das Nachsitzen war nun endgültig vorbei und sie Kaiba los. Zumindest hoffte sie das. Schon wollte sie das Gebäude durch die Notausgangstür verlassen, als man sie zurückhielt.

„Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?“, drang Kaibas Stimme an ihr Ohr.

Sicher, dass sie sich verhört hatte, blieb Kate wie angewurzelt stehen.

„Willst du mich verarschen?“, entfuhr es ihr, während sie sich zu ihm umwandte.

„Nein, eigentlich nicht.“, erwiderte Kaiba, nun merklich kühler, „Ich wollte nur freundlich sein.“

„Tut mir Leid, aber normalerweise bist du das Arschloch vom Dienst, deswegen bin ich ziemlich verwundert.“

„So, so.“, war alles, was Kaiba dazu einfiel.

Dann fügte er aber hinzu: „Willst du nun oder nicht?“

Ein Blick auf den grauen Himmel draußen, brachte Kates Entschluss, zu laufen mächtig ins Wanken. Sie hatte nun wirklich keine Lust nass bis auf die Knochen zu werden.

„Okay.“, willigte sie ein.

Ohne ein weiteres Wort marschierte Kaiba davon. Kate sah zu, dass sie ihm hinterherkam. Sie stiegen die Treppen bis ins Erdgeschoß hoch, wo sich der Haupteingang befand. Keiner von beiden sagte etwas. Stattdessen schritt Kaiba nur schneller aus, als wolle er unbedingt verhindern von jemandem gesehen zu werden, so dass Kate Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Doch sie beklagte sich nicht. Vor Kaiba würde sie niemals Schwäche zeigen. Nur über ihren verstümmelten Leichnam.

Endlich hatten sie das Gebäude verlassen. Auf dem Parkplatz wartete schon Roland mit dem Privatwagen des jungen Unternehmers. Kaiba ließ Kate zuerst einsteigen, dann setzte er sich neben sie und wies Roland an, ihn zur KC zu bringen.

„Wo wohnst du überhaupt?“, wollte Kaiba dann wissen.

Kate zuckte zusammen, als habe man sie geschlagen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, Kaibas Angebot anzunehmen? Sicherlich würde er entsetzt sein, wenn er wüsste, dass sie in einem Wohnheim für psychisch kranke Jugendliche lebte. Und noch schlimmer, wenn er herausfände, dass sie eine Multiple war. Bestimmt würde Kaiba gerichtlich gegen sie vorgehen. Und sie müsste die Schule verlassen. Kaiba war mächtig genug, um ihre ganze Zukunft zu versauen, indem er sie einfach in eine Irrenanstalt abschieben ließ.

„Alles okay bei dir?“, erkundigte sich der Unternehmer beinahe teilnahmsvoll.

Ihm war keinesfalls entgangen, dass Kate arg zusammen gezuckt war, als er gefragt hatte, wo sie wohnte. Hatte sie etwas zu verbergen? Oder lebte sie bloß in schäbigen Verhältnissen, deren sie sich schämte?

„Was?“

Gehetzt sah sie ihn an. Kaiba zog eine Augenbraue hoch. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

„Ich hab mich lediglich nach deinem werten Befinden erkundigt.“, meinte er dann neutral klingend. Es ging doch nicht an, dass er Interesse an dem merkwürdigen Benehmen diesen Görs zeigte!

„Alles klar, mach dir keinen Kopf!“, log Kate rasch, sah aber Kaiba nicht an.

Man konnte es in ihren Augen lesen, wenn sie nicht die Wahrheit sagte. Selbst Menschen, die sie kaum kannte und mit denen sie nichts zu tun hatte, waren in der Lage das zu erkennen, so dass sie lieber kein Risiko einging. Kaiba merkte zwar, dass sie log, ging aber nicht weiter darauf ein. Was ging ihn das denn an? Kate Thompson hatte ihn rein gar nicht zu interessieren und dass er ihr angeboten hatte, sie mitzunehmen war nur eine Wiedergutmachung dafür, dass sie ihn hatte früher gehen lassen.

„Wo wohnst du denn nun?“, bohrte er beharrlich.

Kate steckte noch immer in einer Zwickmühle. Sollte sie ihm ihre richtige Adresse sagen?

Gerade als sie kurz davor war, sich in ihr Schicksal zu ergeben, hatte sie einen Geistesblitz. Schon machte sie den Mund auf und gab ihrem Mitschüler die genaue Adresse an. Bestimmt hatte Doktor Banner nichts dagegen, wenn sie sein Haus als ihr Zuhause ausgab. Er würde es verstehen. Sie lächelte, zufrieden, dass sie so eine elegante Lösung für ihr Problem gefunden hatte.
 

Wenig später erreichten sie schon Banners Haus, das recht groß und luxuriös war. Kaiba zog eine Augenbraue hoch, sagte aber kein Wort. Währenddessen hielt Roland am Straßenrand, Kate schnappte ihre Schultasche, öffnete die Autotür und wandte sich dann, halb im Aussteigen begriffen, Kaiba zu.

„Dank fürs Mitnehmen.“

Sie lächelte sogar. Bevor ihr Mitschüler den Mund aufmachen konnte, war sie schon ausgestiegen, hatte die Tür zugeknallt und wandte sich Banners Haus zu. Roland derweil trat aufs Gas und manövrierte den Wagen wieder auf die Straße zurück. Dabei warf er einen Blick in den Rückspiegel. Sein Arbeitgeber saß dort mit versteinerter Miene. Nichts war aus dieser Mimik abzulesen. Jedenfalls nicht für einen Außenstehenden. Roland aber, der seinen Chef nun mal gut kannte, wusste, dass ihn etwas beschäftigen musste. Und er war sich fast sicher, dass es mit dem jungen rothaarigen Mädchen zu tun hatte, das sie soeben zuhause abgeliefert hatten.

‚Für ein Mädchen aus der High Society benahm sie sich aber ziemlich vulgär und gewöhnlich.’, schoss es Roland durch den Kopf, während er das Auto durch den dichten Verkehr fädelte.

„Schauen Sie gefälligst auf die Straße, Roland!“, ertönte Kaibas autoritäre Stimme missmutig aus dem Fond des Wagens. Hastig beeilte der Angestellte sich, den Worten des Unternehmers Folge zu leisten. Er wusste nur allzu gut, dass seinem Chef schnell der Kragen platzte, wenn man ihm nicht gehorchte. Allerdings kam Roland nicht umhin, sich weiter zu fragen, was Seto Kaiba wohl dazu bewogen haben könnte, ein Mädchen dieses Kalibers mitfahren zu lassen...
 

Um Punkt Mitternacht fand Bakura sich auf dem Sportplatz ein. Dunkle Wolken zogen über den nächtlichen Frühsommerhimmel, ab und an konnte man ein paar Sterne erhaschen, sowie die silberne Sichel des Mondes. Die Bäume, die den Platz umstanden, wogten in einer sanften Brise hin und her. Insgesamt hatte die Atmosphäre etwas gespenstisches, obwohl auch friedlich. Gespannt sah Bakura sich um. Keine Spur von der rothaarigen Hexe.

‚Pah, sie ist feige und drückt sich.’, dachte er verächtlich, während er die Arme verschränkte, ‚Das hätte ich mir ja denken können.’

Ein Grinsen erschien auf seinen harten, kalten Zügen. Typisch Mädchen. Egal wie kämpferisch und brutal sie sich geben mochten, sie scheuten doch immer vor einem offenen Krieg zurück.

‚Nimm den Mund bloß nicht zu voll!’, riet aus dem Hintergrund Ryou, der am Liebsten daheim gewesen und die Wiederholung von ‚Mila Superstar’ geguckt hätte, aber leider war Kura nicht geneigt gewesen, seinem Wirt den Körper zu überlassen. Sie hatten sich lediglich darauf einigen können, die Folgen, die Ryou verpasste, auf Videokassette aufzunehmen, so dass er das Wochenende mit Fernsehen verbringen konnte, wo doch seine geplante Verabredung mit Kate geplatzt war. Natürlich nur dank Cleo.

Genervt warf Bakura einen Blick auf Ryous Armbanduhr. Es waren schon sieben Minuten nach Zwölf. Als er beschloss, gehen zu wollen, trat seine Gegnerin endlich auf den Plan. Ihm und Ryou fielen gleichermaßen beinahe die Augen raus bei ihrem Anblick. Das lange rote Haar flatterte in der Brise wie eine Fahne hinter ihr her. Ihre langen, muskulösen Beine steckten in schwarzen Stiefeln, die bis zum Knie reichten und der Rest ihres Körpers war in ein knappes schwarzes Top, wie einer ebenso kurzen und schwarzen Hotpants gewandet. In ihrer linken Hand hatte das Mädchen zwei Stöcke, wie man sie beim Kendo benutzte.

„Ich dachte schon, du kämst nicht.“, raunzte Bakura zur Begrüßung.

Spöttisch zog das Mädchen eine Augenbraue hoch. Ihre grünen Augen blickten hart und unbeugsam zu ihm auf, wenn auch der Größenunterschied zwischen ihnen nicht gerade nennenswert war.

„Was glaubst du denn? Ich nehme jede Herausforderung an. Und von einem weißhaarigen Psychopathen aus Prinzip schon.“, erwiderte Cleo gelassen.

Ihre Stimme war etwas rauer als Kates. Insgesamt schien sie noch selbstbewusster. Bakura wurde klar, dass dieser Kampf kein Klacks würde für ihn.

„So, so. Schlägst dich wohl öfter mit meinesgleichen, was?“, stichelte der Weißhaarige, der darauf brannte, seine Kräfte mit den ihren messen zu können. Zugegeben, es würde ziemlich unfair werden, denn sollte er merken, dass er am Verlieren war, würde er Cleo wohl oder übel ins Reich der Schatten verbannen müssen. Von einem Mädchen ließ Bakura sich nicht unterkriegen, geschweige denn demütigen.

„Könnte man so sagen. Nehmen wir mal diesen verrückten Ägypter mit dem Goldstab da.“, kam es ganz gelassen von Cleo. Sie erlaubte sich lediglich ein kleines Grinsen.

„Oha, Yami Marik? Na ob das klug war...“

Cleo schnaubte.

„Ich bitte dich, der Kerl hat mich um Gnade angewinselt, nachdem ich mit ihm fertig war.“

Das klang allzu beiläufig. Bakura selbst hatte schlechte Erfahrungen mit Yami Marik gemacht, weswegen er ihr nicht recht glauben mochte. Um herauszufinden, ob sie log oder wahr sprach gab es nur eine Möglichkeit: kämpfen. Genau aus diesem Grund schnappte Bakura sich auch einen der Stäbe, die Cleo so locker in der Hand hielt. Das quittierte sie mit einem leisen Lachen, gefolgt von einem kokett klingenden ‚Ungeduldig?’, das Bakura ziemlich aus dem Konzept brachte. Er erstarrte in seiner Bewegung, brauchte sogar einen Moment, um sich wieder zu besinnen. Dann aber nickte er. Sie sollte ja nicht glauben, er hätte sie bloß zum Schwatzen herbestellt. Nein, viel eher wollte er ein kleines Exempel statuieren, nämlich, dass sich niemand an Ryou zu vergreifen hatte, außer ihm selbst natürlich.

„Fein. Dann fangen wir mal an.“

Wie geschäftsmäßig das klang. Als ob sie es gewohnt war, sich mit Leuten zu schlagen.

‚Na ja, wundern würde es mich jedenfalls nicht.’, warf Ryou ein, der schon um seinen Körper fürchtete. Die Schmerzen durfte er nämlich meistens ausbaden.

‚Klappe, ich muss mich konzentrieren!’, fauchte Bakura entnervt.

Aus irgendeinem ihm unbekannten Grund war er total nervös in Cleos Nähe. Lag es daran, dass er sie nicht einzuschätzen wusste? Oder doch an etwas Anderem?

„Bereit?“, riss ihn da Cleo aus seinen Gedankengängen.

Grimmig nickte Bakura. Er ließ ihr sogar den Vortritt. Ein großer Fehler, wie sich noch zeigen sollte. Vorerst war er damit beschäftigt, ihre noch recht lockeren Schläge abzuwehren, die aber doch recht gut koordiniert waren, wie er zugeben musste.
 

Bald schon geriet Bakura ins Schwitzen. Zwar ging es Cleo ganz ähnlich, aber sie hatte mehr Ausdauer, wie der Weißhaarige mit Schrecken feststellen musste. Wenn das so weiter ging würde er vor Erschöpfung aufgeben müssen. Und das wollte Bakura überhaupt nicht. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Alles in ihm arbeitete, um ja nicht schmerzhaft von Cleos Stock getroffen zu werden. Nicht immer erfolgreich, aber er hatte auch ein paar Treffer landen können, die sein Gegenüber nicht einfach so weggesteckt hatte.

Nach einer weiteren halben Stunde war bei beiden das Maß voll. Sie hatten zwar eher zögerlich begonnen, waren aber immer forscher und brutaler geworden, so dass eine größere Anstrengung vonnöten gewesen war, um durchzuhalten. Irgendwann aber waren alle Kräfte verbraucht. Erschöpft sanken die beiden jungen Leute auf den kühlen Rasen.

„Oh mann...“, sagte Cleo.

„Das war gut.“, sagte Kura.

Dann sahen sie sich an.

„Wir sollten das öfter machen.“, sagten sie wie aus einem Mund.

Sie begannen schallend zu lachen.

Jede Menge blauer Flecken

Als Kate am nächsten Morgen erwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie sich befand. Die Umgebung kam ihr jedenfalls nicht bekannt vor. Verwirrt blinzelte sie in die hellen Sonnenstrahlen, die durch die Schlitze in der Jalousie drangen und sie aufgeweckt hatten. Es roch auch völlig anders als in ihrem Zimmer im Wohnheim. Konnte es sein, dass sie gar nicht daheim war?

Bevor sie eine befriedigende Antwort auf ihre Frage finden konnte, ging die Tür auf und ein fröhliches ‚Guten Morgen!’ erscholl. Hereinspaziert kam Ryou Bakura, eine rosa Küchenschürze umgebunden und ein breites Lächeln auf den Lippen. Hinter him wehte der Duft von frisch gebackenen Pfannkuchen in den Raum. Kate blinzelte ihn reichlich verwirrt an.

„Ryou?“, hörte sie sich fragen.

„Ja, was ist?“

Der weißhaarige Junge grinste noch immer. Offensichtlich war er mehr als gut gelaunt.

„Wo bin ich hier überhaupt?“

Schlagartig wich das Grinsen aus seinem Gesicht.

„Kannst du dich denn nicht mehr erinnern?“, wollte er wissen, betroffen klingend.

Kate schüttelte nur stumm den Kopf. Was den gestrigen Abend anbelangte klaffte ein großes, schwarzes Loch in ihrer Erinnerung. Alles, was sie noch wusste, war, dass sie am Schreibtisch gesessen und Aufgaben gemacht hatte.

„Oh.“, machte Ryou, setzte sich dann aber auf die Bettkante und kratzte sich verlegen am Kopf.

„Dann sollte ich dir wohl besser erklären, was los ist.“, meinte er.

Kate nickte langsam.

„Also, Kura und Cleo hatten sich gestern Nacht zu einem kleinen Kampf verabredet und nachdem es bei einem Unentschieden blieb, hat Kura ihr angeboten, mit hierher zu kommen und bei uns zu übernachten, was sie auch angenommen hat. Zuerst wollte er ja mit ihr zusammen in meinem Schlafzimmer pennen, aber da hab ich ihn doch zur Vernunft bringen können. Deswegen liegst du hier, ich hab die Nacht auf der Wohnzimmercouch verbracht.“, erzählte Ryou gelassen.

Es dauerte einen Augenblick ehe Kate das verarbeitet hatte, dann sagte sie: „Okay.“

Mehr nicht. Ryou, ganz erstaunt, zog eine Augenbraue hoch, besann sich dann aber auf seine gute Kinderstube und forderte seinen Gast auf, ihm doch in die Küche zu folgen, zwecks Frühstücks. Dies tat Kate natürlich, da sie zugeben musste, dass sie hungrig war. Trotz dessen war sie ziemlich neugierig. Interessiert sah sie sich in der Wohnung um. Alles in allem war es sehr ordentlich. Sie bemerkte die immense DVD- Sammlung, die sich auf den Regalen im Wohnzimmer befand mit einem leichten Lächeln. Offensichtlich hatte Ryou ein Faible für Filme, was sie gut nachvollziehen konnte, obwohl sie Sport doch bevorzugte. Ein paar Topfpflanzen standen herum, alle in perfektem Zustand. Nirgends konnte Kate auch nur ein Staubkörnchen entdecken. Obwohl alles so klinisch sauber war, herrschte doch eine angenehme, gemütliche, fast schon heimelige Atmosphäre, was der Rothaarigen sehr gut gefiel. Sie mochte steriles Klima nicht.
 

Das Frühstück verlief recht harmonisch, wenn man mal davon absah, dass Kate sauer auf Cleo war. Sie konnte es partout nicht leiden, wenn die eigenwillige Cleo Streit anfing und Kämpfe anzettelte, deren Auswirkungen dann Kate ertragen musste. Nachdem sie erst einmal wach war, hatte sie nämlich feststellen müssen, dass sie eine nicht unerhebliche Menge blauer Flecken zierte, die auch alle schön wehtaten und ihr das Sitzen ein wenig erschwerten. Was hätte Kate nicht darum gegeben, Cleo einmal die Meinung geigen zu können?

‚Ich würde ihr liebend gern den Hals umdrehen!’, dachte Kate, während sie einen Pfannkuchen verputzte. Zu ihrer geringen Überraschung war Ryou ein extrem guter Koch. Irgendwie hatte Kate sich das schon gedacht. Gab es überhaupt etwas, dass ihr Kumpel nicht konnte? Außer Chemie vielleicht.

Das wagte Kate zu bezweifeln. Ryou schien ihr in jeder Hinsicht perfekt. Bis ihr einfiel, dass er von einem gewissen Kura gesprochen hatte, den Kate aber noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Lebte Ryou etwa mit jemand anderem zusammen? Aber wieso sollte diese Person dann Ryous Bett mit Cleo teilen wollen? Das verstand Kate nun wirklich nicht. Sinn ergab es auch keinen. Sie grübelte hin und her, was das wohl zu bedeuten habe, ob Ryou sich vielleicht einen Spaß mit ihr erlaubte, aber das traute sie ihm nicht zu. Offensichtlich hatte ihr Gegenüber ihre grüblerische Miene bemerkt, denn ein leises ‚Alles okay?’ riss Kate aus ihren wirren Gedanken. Sie nickte geistesabwesend.

„Sicher? Du siehst mir aber nicht so aus.“, sagte Ryou, der sich auf der Tischplatte aufstützte und sie forschend ansah. Die Rothaarige seufzte. Dann erwiderte sie den Blick des jungen Mannes.

„Ich kapier nicht so ganz, wer Kura sein soll.“, gestand sie schließlich.

„Ach so.“

Verlegen kratzte Ryou sich am Kopf. Er wusste nicht recht, wie er ihr das erklären sollte. Obwohl sie seine prekäre Lage doch am ehesten nachvollziehen können sollte. Immerhin schien sie selbst nicht so ganz allein in ihrem Körper zu sein. Aus diesem Grunde sollte es eigentlich kein Problem darstellen ihr die Sache mit Kura auseinanderzuklamüsern. Sicher würde sie Verständnis haben, befand sie sich doch in einer ähnlichen Situation.

„Was ist denn nun?“, bohrte Kate unnachgiebig.

Sie wollte ihre Neugier unbedingt befriedigt wissen. Bestimmt war es nichts Schlimmes. Ryou war einfach zu niedlich und unschuldig, als dass er Dreck am Stecken hätte haben können. Zumindest war das Kates Einschätzung. Mit einem Seufzer ergab Ryou sich in sein Schicksal.

„Es ist aber kompliziert. Und du darfst mich nicht für geisteskrank oder gestört halten, ja?“, nahm er ihr das Versprechen ab.

Artig, weil neugierig, willigte Kate ein, griff nach einem weiteren Pfannkuchen und ließ es sich ordentlich schmecken, während Ryou nach den rechten Worten suchte, um mit der Aufklärung der Sache anzufangen. Nach dem der weißhaarige Junge einige Minuten geschwiegen hatte, platzte er heraus: „Kura ist so was wie meine zweite Persönlichkeit.“

Mitten im Kauen hielt Kate inne. Ihr klappte die Kinnlade herunter und der halb zerkaute Pfannkuchen wurde auf recht unappetitliche Art und Weise sichtbar.

„Nicht dein Ernst!“, würgte das Mädchen hervor, während es versuchte, halbwegs Haltung zu bewahren.

Hilfsbereit wie immer klopfte Ryou ihr den Rücken, damit sich kein Fitzelchen Pfannkuchen in der falschen Röhre wieder finden konnte. Es dauerte etwas bis Kate sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

„Ich fürchte, das ist mein Ernst. Aber es ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Es ist kompliziert, keine Krankheit in dem Sinne.“, nahm Ryou den Faden wieder auf.

„Ach?“, machte Kate wenig hilfsbereit.

Sie runzelte ihre Stirn. So ganz kapierte sie nicht, was ihr Gegenüber wohl damit meinte. Auf eine Erklärung allerdings musste sie nicht lange warten. Ryou hätte niemals von ihr verlangt, es einfach so hinzunehmen. Sie verdiente es, ins Vertrauen gezogen zu werden.

Langsam nickte Ryou.

„Weißt du, ich finde, wir sollten das nicht in der Küche besprechen. Im Wohnzimmer ist es doch viel gemütlicher.“, meinte der Junge mit einem verlegenen Lächeln, während er die Schürze abband und Kate abwartend und auffordernd zugleich ansah. Mit einem Nicken erhob Kate sich, ließ aber Ryou den Vortritt. Immerhin war das hier seine Wohnung, sein Revier. Zudem fühlte Kate sich ein wenig unbehaglich, da sie nicht wusste, was sie erwartete.

‚Ach was, zur Not hab ich ja Cleo. Es sei denn der Scherbensammler baut wieder Mist und schickt stattdessen Ai.’, dachte sie bei sich, als sie Ryou ins Wohnzimmer folgte, wo dieser allerdings keinerlei Anstalten machte, sich zu setzen. Zwar bot er Kate die Couch an, doch er selbst bevorzugte es, zu stehen, beziehungsweise unruhig auf und abzugehen. Er hatte seine wahre Geschichte noch nie jemandem preisgegeben. Yugi und seine Clique waren nur hinter sein Geheimnis gekommen, weil Yugi selbst einen Milleniumsgegenstand besaß und daher bestens Bescheid wusste über die Geister, die solchen Artefakten inne wohnten. Mit dem Unterschied vielleicht, dass Yugi mit seinem zweiten Ich nicht unbedingt die Arschkarte gezogen hatte.

‚Willst du damit etwa andeuten, ich wäre kein guter Fang?’, knurrte Kura mehr als beleidigt, als er den Gedanken seines Hikaris aufgriff.

‚Nein, nein. Es ist nur...’

‚Ja?’

Kura zog höhnisch eine Augenbraue hoch. Er liebte es, Ryou in Bredouille zu bringen, ihn ein bisschen leiden zu sehen. So war er nun mal und eigentlich hatte sein Hikari sich daran gewöhnt. Zumindest sollte man das meinen.

‚Lass mich erstmal die ganze Sache Kate erklären.’, wich Ryou aus.

Er hoffte, dass Kura ihn nicht unterbrechen würde.
 

„Du verarschst mich doch!“, entfuhr es Kate.

Sie starrte Ryou mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Stirn war gefurcht. Sie konnte kaum glauben, was ihr in dieser halben Stunde erzählt worden war. Nein, das konnte einfach nicht wahr sein. Man bekam keine zweite Persönlichkeit, indem man ein altes ägyptisches Metallteil um den Hals trug und mal eine Sekunde lang nicht aufpasste. Völlig unmöglich!

„Seh ich so aus, als ob ich dich verarschen würde?“, erwiderte Ryou, der mit dieser Reaktion schon gerechnet hatte. Während er ihr nämlich erklärt hatte, was es mit dem Milleniumsring und Kura für eine Bewandtnis hatte, hatte er sie aufmerksam beobachtet. Ihre Gesichtszüge waren schon die ganze Zeit über entgleist. Dass sie ihn jedoch als Lügner anprangerte, das nahm er ihr irgendwo übel. Immerhin hatten sie beide ein ähnliches Problem.

„Hm, nein.“, musste Kate widerwillig zugeben.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich will trotzdem einen Beweis!“, forderte sie, Ryou scharf musternd.

Der Weißhaarige seufzte tief.

„In Ordnung. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, klar?“

Kate sagte gar nichts. Sie sah ihn nur gespannt an. Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Vor ihr stand immer noch derselbe weißhaarige Junge, den sie zu kennen meinte. Kate zog eine Augenbraue hoch.

„Zufrieden?“, schnarrte eine tiefe Stimme missgelaunt. Erstaunt sah Kate Ryou an. Seine Haare wirkten anders, etwas gestylter, punkiger, die Gesichtszüge waren nicht länger weich, sondern hart und kantig, um den Mund ein leicht bitterer Zug. Als sie die Augen erreichte, wich Kate unwillkürlich einige Zentimeter zurück. Sie waren zwar braun, wie die Ryous, aber nicht im Mindesten mit Wärme gefüllt. Nein, ihr starrten zwei unnachgiebige, stechende, harte Augen entgegen. Jeder Blick glich einem Pfeil, abgeschossen auf die Rothaarige, die sich nun wünschte den Mund nicht so voll genommen zu haben. Langsam ließ sie ihre Augen über den Rest von Ryous veränderter Erscheinung wandern: breitere, maskulinere Schultern, ein schmaleres Becken jedoch, eine breitere Brust, längere Beine, muskulöse Arme. Kate schluckte. Offensichtlich hatte Ryou sie nicht belogen.

‚Und jetzt ist mir auch klar, wieso er sich gut mit Cleo verstanden hat.’

Beim Gedanken daran erschauerte Kate leicht.

„Angst?“, fragte der andere Ryou gelassen klingend, während er Kate unverschämt musterte. Er hatte ja gewusst, dass sie anders als Cleo war. Sie hatte nicht das rechte Feuer, kein Selbstbewusstsein.

Kate schüttelte energisch den Kopf.

„Wieso sollte ich?“, brachte sie mutiger hervor, als sie sich fühlte.

Ein hartes, grausames Lachen kam von Kura. Dann machte er einige Schritte auf sie zu, beugte sich zu ihr herunter und sah ihr genau in die grünen Augen.

„Ganz einfach: ich hab im Gegensatz zu Ryou kein Problem damit, mir zu nehmen, was ich haben will.“, feixte der weißhaarige Psychopath.

Kate schluckte. Sie wollte sich nicht einschüchtern lassen, doch bei Kuras Auftreten war das fast unmöglich. Ihre Handflächen wurden schweißnass. Sie biss sich auf die Unterlippe, versucht, ihre Augen zu schließen, so dass sie nicht länger diesem kalten, mörderischen Blick ausgesetzt war.

„Und wie du Angst hast, Kleine.“, höhnte ihr Gegenüber voller Genugtuung.

Er liebte dieses Spiel. Vor allem dann, wenn er sich seines Sieges sicher sein konnte.

„Träum weiter, Angeber!“, erklang da auf einmal eine harschere, rauere Stimme, als die seines Opfers. Irritiert und missvergnügt ob dieser Störung untersuchte Kura Kates Gesicht. Er brauchte nicht einmal zwei Sekunden, um Cleo zu erkennen, die ihn selbstsicher angrinste. Seit der gestrigen Nacht wusste sie, wie weit sie Kura reizen konnte, ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen.

„Spielverderberin!“, knurrte Kura verstimmt, aber immer noch über sie gebeugt.

Im Gegensatz zu Kate schien diese Nähe Cleo kein bisschen zu stören oder gar zu ängstigen. Sie konnte mit Typen ihres Kalibers umgehen. Das hatte sie schon mehr als einmal bewiesen, ziemlich eindrucksvoll sogar.

„Stell dich nicht so verzogen an.“, gab Cleo zurück. Sie grinste noch immer.

„Ich hatte deiner kleinen Freundin gerade sehr eindrucksvoll bewiesen, wie gefährlich ich bin.“, beschwerte Kura sich, „Und dann tauchst du auf und machst alles zunichte!“

Cleo zuckte die Schultern.

„Nicht meine Schuld, Mann. Der Scherbensammler entscheidet, wer wann an der Reihe ist.“

„Scherbensammler?“, hakte Kura irritiert nach.

Doch Cleo wank ab.

„Ist nicht weiter von Interesse. Sag mir mal lieber, wie du es geschafft hast, mir so viele blaue Flecken zu verpassen.“
 

Cleo und Kura verbrachten ein paar vergnügliche Stunden damit, Egoshooter auf der X-box von Ryou zu zocken, wobei es den Weißhaarigen ziemlich anpisste, dass Cleo, als Mädchen, weniger oft starb als er. Sie erwies sich als recht geschickt mit dem Controller. Kura musste zugeben, dass er das nicht erwartet hatte. Irgendwie imponierte ihm das, aber gleichzeitig war er auch tierisch neidisch. Er hatte noch nie ein Mädchen getroffen, das ihm so ähnlich war. Normalerweise waren Weiber nicht brutal, aggressiv und gefährlich. Cleo aber war es. Sie war leicht zu reizen, verlor schnell die Beherrschung. Wenn sie wütend war, wollte man sie lieber nicht zum Feind haben, das hatte Kura schnell begriffen. Seit über 5000 Jahren lebte er auf dieser Erde. Er hatte eine Menge Frauen kennengelernt, doch keine einzige hatte sich mit ihm messen können, wenn es an Grausamkeit und Kälte ging, doch Cleo... Sie war wie etwas, dass er jahrelange gesucht, aber nie gefunden hatte und plötzlich war es da. Zwar hatte er es nie ausdrücklich vermisst; allerdings musste er zugeben, dass es gut tat, jemanden zu kennen, der seine Ansichten teilte, der dem Gesetz des Stärkeren folgte.

Auch Cleo war beeindruckt von Kura. Allerdings hätte sie dies nicht mal unter Folter zugegeben. Nein, sie war stolz darauf, dass niemand in ihr Herz kam. Sie leugnete sogar, ein solches zu haben. Sie war die Kämpferin. Es war ihre Aufgabe, den Körper und die darin wohnenden Persönlichkeiten zu beschützen. Sie konnte und durfte ihre Zeit nicht mit Nettigkeit verschwenden. Wenn sie versagte würde das ohnehin fragile Gerüst von Kates psychischem Zustand vollends einbrechen. Wenn es Cleo nicht gelang, die eigentliche Besitzerin des Körpers vor Schaden zu bewahren, waren sie allesamt verloren. Sie brauchten Kate, um überleben zu können. Wurde Kates Bewusstsein gelöscht, so verschwanden mit ihm auch Cleo, Ai und Sue, sowie der Scherbensammler. Deswegen durfte Cleo sich keinen Patzer leisten. In diesem ihrem Leben hatte die rothaarige Göre, die das Gefäß für drei weitere Mädchen bildete, schon genug Elend erfahren. Es war an Cleo zu verhindern, dass es wieder zu solchen Zeiten kommen konnte.

‚Was auch immer geschieht, ich darf mich nicht ablenken lassen.’, dachte sie entschlossen, obwohl es ihr schwer fiel, solche Gedanken zu führen, wo neben ihr doch Kura saß und sie mit seinen kleinen Gemeinheiten nur zu sehr belustigte und aufmunterte.
 

Erst gegen Nachmittag brach Kate auf, um wieder in ihr Wohnheim zurückzubringen. Gegen Ryous Versuch, sie zu begleiten, weigerte sie sich energisch. Es war schon schlimm genug, dass er überhaupt wusste, dass sie keine Eltern hatte, bei denen sie lebte, sondern, dass sie in einem Wohnheim für gestörte Jugendliche ihr Dasein fristete- zumindest außerhalb der Schulzeit. Zwar glaubte Kate nicht, dass Ryou diesen Umstand jemals weitertratschen würde, dennoch bevorzugte sie es, allein heimzugehen. So konnte sie in aller Ruhe nachdenken, sich überlegen, wie sie weiter vorgehen sollte. Eines Tages würde jemand Anderes hinter ihr Geheimnis kommen und diese Person würde gewiss nicht so wie Ryou sein und brav die Klappe halten. Nein, Kate musste Vorkehrungen treffen. Sie wollte nicht in Schimpf und Schande davongejagt werden.

‚Aber hat denn nicht jeder seine kleinen Geheimnisse?’, fragte sie sich, während sie tapfer durch den Regen marschierte, der genau in dem Moment eingesetzt hatte, da sie Ryous Wohnhaus verlassen hatte.

‚Und wenn dem so ist, wie könnte mich jemand verurteilen, weil ich nicht mit der Tatsache hausieren gegangen bin, dass ich eine Multiple bin? Ich meine... die wenigsten wissen was das ist, aber wenn sie es erst einmal herausgefunden haben, werden sie mich meiden wie die Pest.’, dachte Kate, innerlich über die blauen Flecken stöhnend, die Kura Cleo beigebracht hatte.

Es war ungerecht, wie die Menschen sich aussuchten, für wessen Situation sie Verständnis aufbrachten und wen sie an den Pranger stellten für angebliche Mängel. Doch so war es nun mal. Der Lauf der Welt war nicht zu ändern. Immer würde es Unterdrückte geben und immer Unterdrücker.

‚So wie Kaiba.’

Zwar hatte er Kate mitgenommen, aber das rechtfertigte noch lange nicht seine arrogante Art. Sie mochte es nicht, wie er mit seinen Mitmenschen umsprang. Na fein, dann hatte er eben einen Haufen Geld, aber das machte ihn doch nicht zu einem besseren Menschen! Nein, in Kates Augen war ein Mensch nicht mehr wert als ein anderer. Schon gar nicht, wenn man den Wert einer Person an ihrem Konto maß. Finanzieller Erfolg oder Ruin sagten nichts über jemanden aus und danach Leute zu beurteilen war mehr als nur oberflächlich.

‚Auch wenn ich selbst nicht unschuldig bin, wenn es ums Verurteilen meiner Mitmenschen geht.’, dachte Kate bei sich, während sie um eine Kurve bog.

Nicht mehr lange, dann hatte sie das Wohnheim erreicht.

‚Ich werde ein heißes Bad nehmen, danach einen guten Film schauen und mich danach ins Bett hauen.’, beschloss sie mit einem Lächeln. Schade nur, dass das nie geschehen sollte...
 

‚Du magst sie, nicht wahr?’

Ryou kicherte leise in sich hinein. Er verstummte nicht einmal, als Kura ihm einen bitterbösen Blick zuwarf, der nichts Gutes verhieß. Der Größere der Beiden schaute arg grimmig drein. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wanderte in der Wohnung auf und ab, als ob Bewegung ihn davon abhielte eine Dummheit zu begehen.

‚Komm schon, Kura, MIR gegenüber kannst du es doch zugeben!’, bohrte Ryou weiter.

Seine Neugier war kaum zu bezähmen. Dass er seiner dunklen Hälfte damit ziemlich auf den Keks ging, ahnte er zwar, aber er war nicht in der Lage, sich zu zügeln. Zum ersten Mal erlebte Ryou, dass Kura, der böse, brutale Kura, nett zu einem Mädchen gewesen war. Zugegeben, die Betreffende war ihm extrem ähnlich, aber sie war eine andere Person und in Anbetracht der Tatsache, dass Kura für seine Mitmenschen nur Spott, Hohn und Gleichgültigkeit übrig hatte, musste dieser Wandel etwas zu bedeuten haben. Ryou konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, zumal er Kura gut genug kannte, dass sein Yami freundlich zu jemandem wäre, der ihn nervte oder den er nicht leiden konnte.

‚Halt die Klappe und verrat mir lieber, wo du dieses Zeugs gegen blaue Flecken hingetan hast.’, knurrte Kura unfreundlich.

Ob und wie sehr er Cleo mochte, das ging nur ihn etwas an und sonst niemanden. Nicht einmal seinen naseweisen Hikari.

‚Du meinst das Voltaren- Schmerzgel?’, hakte Ryou nach.

‚Ja.’, kam es einsilbig zurück.

‚Nur, wenn du mir verrätst, ob du sie magst!’, konterte Ryou, der Einiges von Kura gelernt hatte. Dazu lächelte der Kleinere der Jungen unschuldig, gerade so als könne er kein Wässerchen trüben. Aber in Wahrheit, da hatte er es faustdick hinter den Ohren.

‚Erpressung!’, beschwerte Kura sich, musste aber dann einsehen, dass er sich wohl fügen musste, wollte er etwas gegen die blauen Flecken tun, die Cleo ihm Freitagnacht beigebracht hatte. Es waren erstaunlich viele, dafür, dass sie ein Mädchen war und Kura normalerweise mit unfairen Mitteln kämpfte. Widerwillig musste der Griesgram anerkennen, dass er in Cleo etwas gefunden hatte, von dem er nicht gewusst hatte, dass er es vermisste. Dieses Mädchen hatte Schneid.

‚Mir ist es gleich.’, unterbrach da Ryou seinen Gedankenfluss, ‚ICH hab ja keine Schmerzen.’

‚Du...!’

Kura fletschte die Zähne, was allerdings von seinem Hikari nur mit einem weiteren Kichern quittiert wurde.

‚Deal or no deal, Schätzchen.’, gab Ryou gut gelaunt zurück.

‚Schon gut, schon gut, aber hör auf mich weiter zu nerven.’, motzte Kura, der nun überhaupt nicht scharf darauf war, sein seltsamerweise vorhandenes Innenleben Ryou darzulegen.

‚Ich warte.’

‚Ja, ja.’

‚Selber.’

Kura raufte sich die Haare. Er wollte, konnte nicht... Nein, das war doch einfach unmöglich! Jetzt war er schon zu feige, seiner besseren Hälfte zu sagen, ob er jemanden mochte oder nicht.

‚Es ist doch nur... ich habe noch nie jemanden gemocht...’, dachte Kura unbehaglich, während Ryou sich ob seiner Pein kringelig lachte.

‚Also hatte ich Recht, ja?’, hakte der Kleine nach.

Grimmig nickte Kura, fügte aber in Gedanken ein knurriges ‚Ja’ hinzu. Danach wackelte er zum Badezimmerschrank, wo er denn auch fündig wurde. Ryou bewahrte alle Medikamente dort unten auf.

‚Da hätte ich auch von selber drauf kommen können.’, moserte Kura.

Es passte ihm überhaupt nicht, dass Ryou ihn so drangekriegt hatte. Normalerweise lief das genau andersrum. Kura war derjenige, der Erpressung als Mittel zum Zweck einsetzte.

‚Tja, du bist eben ein guter Lehrmeister.’, kicherte Ryou vergnügt.

‚Klappe!’

So ging es noch eine ganze Weile weiter, bis Ryou des Spielchens überdrüssig wurde und sich ‚Schlafen’ legte. Kura derweil tigerte vor dem großen Wohnzimmerfenster auf und ab. Die Abenddämmerung senkte sich langsam über die Stadt, aber er hatte keinen Blick dafür. Seine Gedanken waren auf dieses wilde, aggressive, rothaarige Mädchen gerichtet, welches es geschafft hatte, ihm Respekt abzunötigen, ja, sogar Zuneigung. In seinem Kopf war nur Platz für Cleo.

Hilfeschrei

Es war so dunkel. Regen prasselte unaufhörlich auf sie nieder. Der Wind war kühl, obwohl es Sommer war. Oder wenigstens beinahe. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie nach hause kommen sollte. Rettungslos verloren, so fühlte sie sich. Und das Schlimmste: sie war mutterseelenallein. Sie fror ziemlich. Die Straßen waren verlassen. Bei diesen Witterungsverhältnissen traute sich niemand aus dem Haus, was wohl auch vernünftiger war, wenn man mal bedachte, dass man sich mit Leichtigkeit eine Erkältung zuziehen konnte. Das rote Haar klebte ihr klatschnass an den Wangen, sah jetzt ziemlich dunkel aus, weil es eben vom Regen so durchnässt war. Ihre Kleidung hing an ihr, wie ein nasser Sack. Sie war ihr viel zu groß und weit. Ihr Körperbau war nun mal recht schmächtig. Als ein Windstoß sie erfasste, durchlief sie ein Zittern. Es war hoffnungslos, sie hatte sich verlaufen und niemand war da, der ihr helfen konnte. Zum einen traute sie sich nicht, einen Fremden zu fragen. Man hatte ihr eingeimpft, dass man mit Leuten, die man nicht kannte, nicht sprechen durfte. Es gab zu viele böse Menschen auf der Welt. Wie diese Person, die ihre kleine Flocke totgemacht hatte.

Bei der Erinnerung an Flocke, die kleine, weiße Katze, die sie immer mit tröstenden, blauen Augen angeschaut hatte, stiegen Schluchzer in ihrer Kehle auf, denen ein paar salzige Tropfen vorangingen. Sie vermischten sich mit dem kühlen Regen, der bereits ihre Wangen benetzte. Am Liebsten hätte sie geschrieen, aber es war ja doch niemand da, der sie hätte hören können. Also wanderte die traurig- gebeugte, kleine und sehr einsame Gestalt weiter durch die dunklen, grauen Straßen Dominos, ihren Kopf gesenkt haltend und bei jedem ungewöhnlichen Geräusch zusammen fahrend.
 

Ein Stromausfall. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Nicht genug damit, dass einer seiner Geschäftspartner ein Treffen hatte platzen lassen, nein, jetzt musste auch noch so ein bescheuertes Gewitter über der Stadt hängen, begleitet von monsunartigen Regenfällen und die komplette Firma lahm legen. Das Notstromaggregat konnte mit einem massiven Ausfall der Technik nicht konkurrieren und das bedeutete, dass er eine Menge Geld verlieren würde.

‚Und Nerven!’, dachte er kreuzgenervt, den letzten Rest kalten Kaffees in einem Anfall von Frust herunterstürzend. Zum Glück funktionierte sein Handy noch, so dass er wenigstens einen Teil der Geschäfte per Telefon erledigen konnte. Zu aller erst würde er seinen Elektriker zu sich bestellen, ihm die Ohren lang ziehen und dann sich erkundigen, wie bald das Netzwerk der Kaiba Corporation wieder ans Laufen gebracht werden konnte.

‚Das muss natürlich immer mir passieren.’

Seto Kaiba war kein geduldiger Mensch. Jedenfalls nicht, wenn es darum ging, seine Befehle auszuführen oder viel mehr seinen Willen zu vollstrecken. Er war jung, noch Schüler, aber zugleich so steinreich, dass die Queen vor Neid erblasst wäre. Zudem war er ziemlich intelligent, ein Stratege allererster Güte, gutaussehend, kein Zweifel, megaprofessionell, extrem arrogant- was er sich bei seinem hübschen Gesicht durchaus leisten konnte- und unterkühlt. Es gab auf der ganzen weiten Welt nur einen einzigen Menschen dem gegenüber Seto Kaiba, der Eisprinz, seine Maske fallen ließ. Dabei handelte es sich nicht etwa um seine Geliebte, mit so was verschwendete der Jungunternehmer nicht seine kostbare Zeit, sondern diese besondere Person war sein kleiner Bruder, Mokuba. Der Mittelpunkt seiner Welt, die Sonne seines Universums und sein Augapfel. Seinen Job als großen Bruder nahm Seto Kaiba mindestens so ernst, wie seine Steuererklärung, die übrigens ziemlich umfangreich war- aber das war ja kein Wunder bei dem Imperium. Für Mokuba tat der ältere Kaiba fast alles. Er kaufte ihm jedes nur denkbare Konsolenspiel, die Gerätschaften dafür natürlich sowieso und er sorgte dafür, dass Mokuba eine teure Schule besuchen konnte, auf der er genügend gefördert und gefordert wurde. Mit Zuwendung, echter, brüderlicher Zuwendung sah es allerdings eher dürftig aus. Um diese gewährleisten zu können, arbeitete Seto eindeutig zu viel. So kam es, dass Mokuba seinen Bruder nur selten und kurz zu Gesicht bekam, was diesen ziemlich verbitterte. Immer stand die Arbeit im Vordergrund. Zwar ernährte und kleidete sie den Jungen, doch er hätte gern mehr von seinem Bruder gehabt. Man konnte also mit Fug und Recht behaupten, dass Seto Kaibas Leben mit zwei großen Faktoren, die leider miteinander in Konflikt standen, angefüllt war. Zum einen war da die Firma, zum anderen Mokuba, der genauso wie Setos Geschäfte eine gewisse Zuwendung brauchte, um gedeihen zu können.

Ein Klopfen an der Bürotür ließ Kaiba aus seinen Gedanken schrecken.

„Herein!“, schnarrte er übellaunig.

Ohne Verzögerung betrat der Elektriker Nakamura den großzügigen Raum, seine Miene verhieß nichts Gutes.

„Was haben wir?“, raunzte Kaiba, kaum, dass er des Mannes ansichtig geworden war.

„Schlechte Neuigkeiten.“, musste Nakamura seinem Arbeitgeber mitteilen, „Der Blitz hat zwar den Blitzableiter getroffen, aber einige Hauptleitungen angeschmort. Die müssen erst alle repariert werden, vorher wird hier nichts funktionieren.“

Kaibas ohne schon düsteres Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Er sagte kein Wort, aber das musste er auch gar nicht. Man konnte ihm an der Nasenspitze ansehen, dass er vor Wut geradezu kochte. Allerdings war Kaiba ein Profi. Er regte sich niemals in der Öffentlichkeit auf. Auch nicht in seinem Büro. So was verschob er auf die Stunden der Nacht, die er in seinem Bett in der Villa Kaiba lag, während er versuchte Schlaf zu finden.

„Wie lange wird das voraussichtlich dauern?“, presste der junge Geschäftsmann zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, der Rücken war grade durchgestreckt, als ob ein Besenstiel in seinem Hintern steckte. Nakamura räusperte sich, offensichtlich peinlich berührt.

„Nun ja, das hängt davon ab, wie schnell ich an den nötigen Ersatz komme.“, gestand er schließlich. Was nutzte es schon, mit der unliebsamen Wahrheit hinterm Berg zu halten, wenn es früher oder später ohnehin ans Tageslicht kam?

„Ich werde tun, was ich kann.“, informierte Kaiba seinen Elektriker, „Und jetzt zurück an die Arbeit.“

Nakamura nickte beflissen, zog sich dann aber eilig zurück. Er stand ungern in der unmittelbaren Schusslinie, wenn es irgendwo Stunk gab. Dass Kaiba sauer war, war so klar wie Kloßbrühe. Da war es definitiv besser, den strategischen Rückzug anzutreten.
 

‚Wenn ich hier heute sowieso nichts mehr tun kann, kann ich auch heim fahren.’, schoss es Kaiba durch den Kopf.

‚Ja, das werde ich tun. Mokuba freut sich bestimmt.’

Schon ein wenig besser gelaunt packte Kaiba seine Sachen, schlüpfte in seinen Mantel und verließ seine Büroräumlichkeiten. Seine Sekretärin hatte schon längst Feierabend gemacht. Wie jeden Samstag war sie bereits um zwei Uhr nachmittags gegangen. Manchmal beneidete Seto seine Angestellten. Wenn sie das Gebäude der KC verließen waren sie Privatpersonen, sie konnten dann abschalten und machen, was sie wollten. Er hingegen war an 24 Stunden am Tag Firmenchef und das bei einer 7- Tage Woche an 365 Tagen im Jahr, manchmal auch 366. Je nachdem eben, ob es ein Schaltjahr war oder nicht. Ferien oder gar Urlaub gab es für ihn nicht, zumal er ja nicht nur Unternehmer, sondern auch Schüler war. Er hatte also doppelte Arbeit, weil man ihm zwar Einiges nachsah, aber trotzdem von ihm erwartete, die entsprechenden Leistungen zu bringen. Das stellte für ihn kaum ein Hindernis dar, war er doch unglaublich intelligent, nich dazu mit einer raschen Auffassungsgabe gesegnet. Es mangelte ihm also nicht an Talenten, eher an menschlichen Regungen. Aber auf diesen Sektor gab Seto Kaiba ohnehin nichts.

Während er noch mal nach dem Rechten sah und sich vergewisserte, dass er der einzige Mensch im Gebäude war, abgesehen vom Wachpersonal und Nakamura, ging er im Kopf seine Termine für die nächsten Tage durch. Da in der Villa Kaiba der Strom noch funktionieren sollte, konnte er auf sein Haus ausweichen, was die dringlichsten Geschäftsdinge anging. Er war ein Improvisationstalent, wenn es darum ging die Kaiba Corporation zu managen. Das hier war bei weitem nicht die erste oder gar schwerwiegendste Krise, die es durchzustehen galt. Er hatte schon Bedrohlicheres gemeistert, also würde ein kleiner Stromausfall ihn nicht aus der Bahn werfen.

‚Niemand, nicht mal die Natur sollte es wagen sich mir in den Weg zu stellen!’, dachte der junge Geschäftsmann grimmig, als er schließlich in seinen Wagen stieg.
 

Das Gewitter hatte nachgelassen, Regnen tat es allerdings immer noch in Strömen. Genervt von dieser Tatsache, denn solche Witterungsverhältnisse bedeuteten, dass Seto nicht gerade schnell voran kam, manövrierter der Brünette den Wagen um eine Kurve, nur um dann hart auf die Bremse zu treten. Wie von einer Luxuskarosse nicht anders zu erwarten blieb diese sofort brav stehen. Das Scheinwerferlicht traf groß und gelb auf einen Körper, der sich schwankend und sehr unsicher über die Straße zu bewegen versuchte. Der dazugehörige Kopf wandte sich mal nach links, mal nach rechts. Die weiße Haut glänzte gespenstisch von der Nässe und dem darauf auftreffenden Lichtschein. Langsam drehte die Person sich in Setos Richtung. Als er endlich das Gesicht erkennen konnte, klappte ihm die Kinnlade runter. Wie kam Kate Thompson völlig durchnässt und total fertig mit der Welt auf diese Straße, wo ihr Heim doch gut zwei Kilometer weg war?

‚Was mach ich denn jetzt?’, überlegte Seto.

Er konnte sie schlecht durch den Regen irren lassen. Vielleicht war sie volltrunken oder hatte Drogen genommen, dass sie sich so unsäglich benahm. In diesem Zustand und unter diesen Umständen war sie eine ziemliche Gefahr für sich selbst. Allerdings auch für arglose Autofahrer, wie er einer war. Allzu lange durfte er die Entscheidung nicht mehr aufschieben, da Kate schon weiter schwankte. Er würde sie zwar leicht einholen können, aber auf eine Verfolgungsjagd in einem heftigen Regenschauer war Seto ganz und gar nicht scharf.

‚Ich werde sie also einsammeln und den barmherzigen Samariter spielen müssen.’, dachte er nicht gerade angetan von dieser Vorstellung.

‚Ach was, ’, sagte eine andere Stimme in seinem Kopf, die verdächtig nach Mokuba und damit seinem Gewissen klang, ‚Was ist denn schon dabei, die Kleine mitzunehmen und sie nach Hause zu bringen?’

‚Eigentlich ist wirklich nichts Schlimmes daran zu finden.’

Mit diesem Gedanken schaltete Seto den Motor ab, öffnete die Autotür und bequemte sich hinaus in den eisigen Regen. Am Liebsten hätte er sich sofort wieder zurückgezogen, überwand aber diese traumhafte Vorstellung, um seinem Vorhaben nachzukommen.

„Hey, Thompson, bleib doch mal stehen!“, rief er laut zu dem klatschnassen Mädchen hin.

Sie reagierte allerdings nicht, sondern stolperte in aller Gemütsruhe, wie es ihm vorkam, in Richtung Gehweg.

‚Na klasse, ist die etwa so zu, dass sie nicht mal auf ihren Namen reagiert?’, ging es ihm angepisst durch den Kopf.

Eilig stapfte er durch den strömenden Regen auf das Mädchen zu. Grober als beabsichtigt packte er ihren Oberarm, drehte sie mit einem Ruck zu sich herum.

„Ich rede mit dir, du taubes Huhn!“, schimpfte er, erschrak aber, als er die merkwürdige Färbung eines ihrer Augen bemerkte. Ihre Gesichtszüge ähnelten eher denen eines Kleinkindes, rund, weich, noch nicht genau definiert. Aber es war auf jeden Fall Kate Thompson.

Wenigstens bekam er endlich eine Reaktion, nämlich in Form von Geplärre, das derart ohrenbetäubend war, dass Seto ihr am Liebsten eine geknallt hätte, damit sie die Klappe hielt.

„Loslassen!“, verlangte Kate mit weinerlicher Stimme und in einem Tonfall, der kaum zu einer 17- Jährigen passen wollte, einem Kindergartenkind aber gut zu Gesicht gestanden hätte.

Perplex starrte Seto sie an, während sie versuchte, ihren Arm aus seinem Griff zu befreien.

„Loslassen!“, plärrte Kate erneut, „Ai loslassen!“

Jetzt runzelte der mittlerweile ebenfalls durchnässte Seto die Stirn. Warum zum Teufel benutzte sie einen Namen, der nicht der ihre war? Und vor allem, wieso in einer Art und Weise, die man allgemein Kleinkindern zubilligte, aber nicht halbwüchsigen Frauen?

Tränen traten in die Augen des Mädchens und quollen dann daraus hervor, kullerten über ihre Wangen und vermischten sich mit dem nicht enden wollenden Regen.

„Hör mal, ich kann dich nicht laufen lassen. Hast du irgendwelches Zeug geraucht?“, herrschte Seto seine Klassenkameradin an.

Diese aber stimmte ein Wehgeheul an, dass er sich liebend gern die Ohren zugehalten hätte. Es nutzte nichts, er musste sie mitnehmen und in ärztliche Fürsorge geben. Bevor Kate reagieren konnte, hatte er sie grob hinter sich hergezerrt. Er verfrachtete sie ohne viel Federlesens auf die Rückbank seines Autos, schnallte sie sogar an, setzte sich ans Steuer und sah zu, dass er Land gewann. Je eher Kate medizinisch versorgt wurde, desto besser.
 

Im Krankenhaus erwartete ihn dann der nächste Schock: Kate war weder betrunken, noch hatte man Rückstände von Drogen in ihrem Blut finden können. Wie es aussah war sie kerngesund, wenn man mal von ihrem durchnässten Zustand und der Tatsache absah, dass sie ein Höllenspektakel veranstaltet hatte, als der Diensthabende Arzt sich ihr mit einer Spritze genähert hatte. Sie hatte die ganze Zeit geschrieen, nach einem Onkel Ly verlangt, den Seto nicht kannte- woher auch? Er wusste rein gar nichts über ihre Familie- und sich nach Kräften gegen das Blut abnehmen gewehrt, so dass zwei Krankenschwestern Kate hatten festhalten müssen. Allerdings waren diese Strapazen vergessen, sobald ein buntes und ziemlich peinliches Kinderpflaster in ihrer Armbeuge angebracht worden war. Stolz zeigte sie es Seto.

„Ai tapfer!“, verkündete sie im Brustton der Überzeugung.

Ja, sie besaß sogar die bodenlose Frechheit, ihn anzugrinsen! Das war schon beinahe zuviel für den sonst so hartgesottenen Geschäftsmann. Eine der Krankenschwestern kümmerte sich um Kate, während er mit dem Arzt sprach, der ihm klar machte, dass er dieses Mädchen kaum sich selbst überlassen konnte. Auch im Krankenhaus konnte man ihr keine Bleibe anbieten. Es gab nur eine Möglichkeit und die wollte Seto einfach nicht in Betracht ziehen. Auf keinen Fall konnte er Kate mit zu sich nach Hause nehmen! Nicht so, wie sie sich momentan benahm, obwohl sie recht friedlich war, wie sie so der Krankenschwester namens Umi erklärte, ihre Lieblingstiere seien Katzen und sie habe eine gehabt, die hieße Flocke. Ganz weiß war sie gewesen, wie frisch gefallener Schnee. Wobei Kate allerdings einen Wortschatz benutzte, den man sonst Vierjährigen zutraute, nicht aber Oberschülerinnen. Umi hörte sich das Geplapper mit einer Engelsgeduld an, ja, sie stieg voll darauf ein. Natürlich war Seto klar, dass es zum Job dieser Frau gehörte, nett zu durchgeknallten 17- Jährigen zu sein, die sich für Krabbelkinder namens Ai hielten, aber er selbst verlor allein beim Zusehen schon fast die Nerven.

„Es tut mir Leid, Mr Kaiba, aber ich fürchte, wenigstens bis Montag müssen Sie Miss Thompson bei sich wohnen lassen, es sei denn, sie kommt vorher wieder zu klarem Verstand. Ich verstehe, dass es schwierig für Sie ist, bitte Sie jedoch dennoch darum. Wir werden uns natürlich sofort mit Miss Thompsons Hausarzt in Verbindung setzen und Sie informieren, sobald wir etwas Neues wissen.“

Diese hohlen Phrasen kannte Seto aus anderen Bereichen des täglichen Lebens nur allzu gut, weswegen er sie auch ziemlich verabscheute. Im Moment aber sah er keine andere Lösung, als sich dem Willen des Arztes zu beugen. Irgendwie war er ja ein bisschen verantwortlich für Kate. Jedenfalls seit er sie in sein Auto verfrachtet und hergebracht hatte. Mit einem tiefen Seufzer ergab Seto sich in sein Schicksal.

„Also gut. Meine Nummer sollten Sie kennen.“, antwortete er dem Mann im weißen Kittel knapp, entfernte sich von ihm und trat zu Umi und Kate, die sich immer noch in Kindersprache unterhielten.

„Wir gehen.“, sagte er wenig freundlich und ebenso kurz angebunden zu Kate, die mit großen Augen zu ihm aufsah.

„Wo ist Onkel Ly?“, fragte sie schließlich mit einiger Anstrengung, die Augenbraue kritisch zusammengezogen.

„Keine Ahnung, mach keine Mätzchen und komm endlich!“, knurrte Seto, wartete aber die Antwort gar nicht erst ab, sondern griff nach Kates Handgelenk. Roh zerrte er sie hinter sich her, dabei ihr Gejammer, dass er ihr wehtäte geflissentlich ignorierend. Besorgt sahen Umi und der Arzt dem ungleichen Paar hinterher.

„Warum haben Sie es ihm nicht einfach gesagt?“, wollte der Engel in weiß von ihrem Vorgesetzten wissen. Der Arzt seufzte leise.

„Schweigepflicht. Er ist nicht mit ihr verwandt, also durfte ich auch nichts verraten.“

„Finden Sie das nicht ein bisschen gemein? Ich meine, der arme Kerl weiß offensichtlich überhaupt nicht, wie er mit ihr umgehen soll...“

Darauf sagte der Arzt kein Wort, er grinste nur, klopfte Umi auf die Schulter und begab sich zurück in sein Büro, wo er nach der Nummer von Doktor Lyman Banner forstete.
 

Seto derweil bemühte sich redlich, keinen Nervenzusammenbruch zu bekommen. Er schwieg im Auto, obwohl Kates Geschluchze ihn auf eine harte Probe stellte. Auch als sie die Villa Kaiba betraten und sie immer noch nicht aufhören wollte zu weinen, konnte er sich beherrschen. Er zeigte ihr ein Zimmer, in dem sie schlafen sollte, suchte ihr eigenhändig trockene Klamotten raus, die er aus irgendeinem Grund, der nicht mal ihm selbst klar war, im Haus hatte und half ihr beim Abtrocknen sowie Fönen. Dass er dabei ihre Unterwäsche zu Gesicht bekam machte es nicht gerade angenehmer, aber allein hätte sie es nie geschafft.

„Und nun?“, fragte er sie missmutig.

Kate sah ihn nur groß an, hüpfte dann von dem Sessel, indem sie gesessen hatte und rannte fast schon freudig auf den Schrank mit den DVDs zu. Sie betrachtete interessiert die Cover, nur um dann fündig zu werden, zu Seto zurückzueilen und ihm ‚Der König der Löwen’ unter die Nase zu halten. Es bedurfte keiner Worte, um herauszukriegen, was Kate von ihm wollte. Seufzend nahm er ihr den Film ab, schaltete Fernseher und DVD- Player ein und beobachtete dann wie Kate es sich wieder im Sessel gemütlich machte.

Kurz darauf war die Rothaarige so versunken in den Film, dass Seto wider Willen schmunzeln musste. So gebannt hatte er noch nie jemanden einen Disney- Film gucken sehen. Nicht einmal Mokuba war so fasziniert davon gewesen, als er noch jünger gewesen war. Trotzdem blieb Kate ein Problem. Wenn sie nicht schnell wieder normal wurde, würde er unweigerlich einen Nervenzusammenbruch erleiden. Seto Kaiba war ein gewiefter Geschäftsmann, aber ein hoffnungsloser Fall als Kindermädchen...

Ein Segen namens Mokuba

„Ich bin wieder zuhause!“, krähte es gegen halb Acht im Flur. Es folgte ein Poltern, als Mokuba seine Schuhe achtlos auf den Boden fallen ließ, dann einige Minuten Stille. Endlich aber steckte der schwarzhaarige Teenager seinen Kopf durch die Wohnzimmertür.

„Huh, Seto, bist du etwa schon zuhause?“, rutschte es ihm raus, weil er wirklich überrascht war seinen großen Bruder zu sehen. Normalerweise blieb er selbst am Wochenende ziemlich lang im Büro. Sehr zum Leidwesen des Kleinen, aber es war nun mal nicht zu ändern, so dass Mokuba sich mit der Zeit damit abgefunden hatte. Außerdem bescherte ihm Setos schlechtes Gewissen eine Menge Taschengeld und viele kleine Geschenke zwischendurch. Vielleicht war Mokuba dadurch verwöhnt, aber immerhin hielt es ihn davon ab, seinem schwer arbeitenden Bruder auf den Geist zu gehen. Dass Mokuba nicht brav daheim saß und seine Aufgaben machte oder sich mit seinen Videospielen beschäftigte, wusste Seto freilich nicht. Solange Mokubas Noten in der Schule stimmten, hing der Haussegen gerade. Dass das nur dank Mokubas Mitschülerin Rebecca Hawkins der Fall war verschwieg der jüngere Kaiba wohlweislich. Er kannte Seto gut genug, um sich dessen Reaktion ausmalen zu können, sollte er jemals dahinter kommen. Auch an diesem Samstag war Mokuba mit Rebecca unterwegs gewesen. Ihre Beziehung beschränkte sich längst nicht mehr auf schnödes Hausaufgaben machen und gemeinsames Lernen, viel mehr war eine waschechte Freundschaft daraus erwachsen, die Mokuba eine ganze Menge bedeutete. Damit Seto ihm nicht verbieten konnte, Rebecca zu treffen, erzählte er seinem älteren Bruder kein Sterbenswörtchen von seinem Privatleben, so wie Seto niemals auch nur ein Wort über das seine verlor. Die Gebrüder Kaiba hielten sich an gewisse Regeln, die in anderen Haushalten wohl als freundliche Missachtung gegolten hätte, bei Seto und Mokuba aber so selbstverständlich war, wie die Kirschblüte im Frühling.

Auf die Frage des Jüngeren hin hatte Seto mit den Augen gerollt und ironisch geantwortet, dass es wohl so sein musste, wenn er ihn hier sah.

„Wer ist sie und was macht sie hier?“, wollte Mokuba, der mittlerweile ganz in den Raum gekommen war und Kate entdeckte hatte, neugierig wissen. Er beäugte das rothaarige Mädchen, das immer noch wie gebannt den Fernseher anstarrte und jedes Mal freudig quietschte, wenn Timon oder Pumba im Bild erschienen. Bevor Seto antworten konnte, meldete Kate selbst sich zu Wort: „Da, Schwein!“

Dabei grinste sie Seto breit an, gespannt wirkend, welche Reaktion ihr Ausspruch wohl hervorrufen würde. Genervt verdrehte der Geschäftsmann die Augen, ein gutturales Knurren ausstoßend. In diesem Moment bemerkte Kate Mokuba. Sie sah ihn groß an, kletterte dann umständlich aus dem Sessel und packte ihn am Ärmel.

„Magst du Pumba? Oder magst du Löwen lieber?“, fragte sie, schon wieder ein absurdes Grinsen auf den Lippen, wartete aber die Antwort gar nicht erst ab, sondern plapperte fröhlich weiter: „Ai mag Löwen am Liebsten, weil sie wie Flocke sind, nur größer!“

Jetzt klang das Mädchen ernsthaft. Irritiert sah Mokuba von Seto zu Kate und wieder zurück. Offensichtlich war auch der jüngere Kaiba mit der Situation überfordert. Dies gänzlich nicht bemerkend ertönte Kates Stimme schon wieder: „Nur den bösen Löwen mag Ai nicht. Böse Leute sind schlecht!“

Mokubas Augenbraue wanderte immer höher.

„Seto?“, fragte er ungläubig, „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

Der Brünette knurrte böse. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich fürchte, doch.“, erwiderte er kurz angebunden.

„Das kapier ich nicht. Ich meine... wie alt ist die? Ungefähr 16 oder? Warum benimmt sie sich dann wie ein Kleinkind?“

„Wenn ich das wüsste!“, tobte Seto, der es nicht mehr länger aushielt, sich zu beherrschen. Seit er Kate gefunden hatte, war er ziemlich geladen, aber sie hatte es ihm auch nicht gerade leicht gemacht. Mokuba und Kate zuckten gleichermaßen zusammen, Letztere, weil sie nichts so hasste, wie Lärm und Geschrei gehörte eindeutig dazu. Da der kleine Bruder immer noch ein dickes Fragezeichen über seinem Kopf hatte, beschloss Seto ihn mit einem Seufzer einzuweihen. Also legte er los, berichtete von dem Stromausfall, wie er Kate aufgegabelt hatte, sie ins Krankenhaus gebracht und schließlich mit zu sich genommen hatte.

„Aber was genau sie hat, das hat man mir nicht verraten.“, beschwerte Seto sich mit Nachdruck, „Stattdessen speist man mich mit der Information ab, dass man sich an ihren Hausarzt wenden wird und wir dann von ihm hören.“

„Okay, ich kann verstehen, dass du sauer bist.“, gab Mokuba zu, einen Seitenblick auf Kate werfend, die wieder vor dem Fernseher saß und schief das peinliche Duett von Simba und Nala mitsummte. Seto seufzte. Was hatte er sich da nur wieder aufgehalst?

„Weißt du was, ich kümmer mich um sie und du ruhst dich aus. So wie ich das verstanden hab, dauert es noch, bis du wieder arbeiten kannst.“, bot Mokuba an, wohlwissend, dass er die Entscheidung bereuen könnte.

Seto zog eine Augenbraue hoch, akzeptierte diesen Vorschlag allerdings mehr als froh. Er nickte nur, zog sich dann ohne ein Wort zurück und überließ Kate ganz Mokuba.
 

Kurz darauf war der Film zuende, was Mokuba fast bedauerte. Er war jetzt 13 Jahre alt und somit aus dem Alter, in dem man sich mit Zeichentrickfilmen zufrieden gab. Aber er war noch jung genug, um sich daran zu erinnern, wie gern er früher als Grundschüler Disneyfilme gesehen hatte. Besonders ‚Der Glöckner von Notre Dame’, ‚Der König der Löwen’ und ‚Peter Pan’ hatten es ihm damals angetan. Deswegen konnte er Kates Faszination gut nachvollziehen.

„Ai hat Hunger!“, verkündete Kate plötzlich.

Ihre großen Augen bohrten sich direkt in die Mokubas, was diesem ein bisschen unangenehm war. Sie schienen ihn zu durchleuchten, etwas, was ihm nicht sonderlich behagte.

„Und was isst du am Liebsten?“, erkundigte er sich freundlich- bemüht.

Immerhin hatte er Seto dieses Babysitting angeboten, da musste er auch wenigstens nett zu Kate sein, bis ihr komischer Arzt sich dazu bequemte, mit den Fakten rauszurücken.

„Erdbeeren!“, trötete das Mädchen sofort. Ein breites Grinsen zierte ihre Züge. Skeptisch hob Mokuba eine Augenbraue.

„Da muss ich erstmal gucken, ob wir die noch da haben.“

Ganz sicher war Mokuba sich nämlich nicht. Zwar waren ihre Schränke gut gefüllt, aber das meiste verbrauchten sie ohnehin nicht, weswegen es regelmäßig von der Putzfrau weggeworfen wurde.

„Keine Erdbeeren?“

Sogleich verzog sich Kates Gesicht zu einer Miene, die Mokuba deutlich machte, dass sie gleich anfangen würde zu heulen.

‚Auch das noch! Das hat mir echt noch gefehlt...’, dachte er, während er sich darum bemühte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Er hielt Kate seine ausgestreckte Hand hin.

„Magst du mitkommen?“, bot er an.

Sie überlegte eine Weile, nickte aber dann und legte ihre Hand in seine. Überraschenderweise war sie kleiner, obwohl sie ungefähr in Setos Alter sein musste. Gemeinsam legten sie die Weg in die Küche zurück, die so ziemlich mit allem modernen Schnickschnack ausgestattet worden war, den man sich nur denken konnte. Kate aber würdigte die Möblierung keines Blickes, sie strebte auf den Kühlschrank zu. Dieses Verhalten kannte Mokuba gut von sich selbst, so dass er unwillkürlich lächeln musste. Er folgte ihr, um die Tür, die all die Köstlichkeiten, die in dem Kühlschrank verwahrt wurden, verschloss aufzutun. Als das geschehen war, hielt er Ausschau nach Erdbeeren. Es dauerte zwar eine Weile, aber schließlich wurde er doch fündig.

„Da hast du aber Glück gehabt.“, meinte er lächelnd, als er sah welch glücklichen Gesichtausdruck allein der Anblick der Früchte bei Kate auslösten.

Bevor sie die Erdbeeren allerdings verspeisen konnten, mussten sie gewaschen werden. Man konnte bei so was nie vorsichtig genug sein, fand Mokuba.
 

Während also Mokuba Babysitter bei Kate spielte, hatte Seto Zeit für sich. Etwas, was sehr selten vorkam, wie er zugeben musste. Er nutzte diesen unverhofften Freiraum, um einige Dinge zu erledigen, die liegen geblieben waren. Zum Beispiel beschäftigte er sich mit Urlaubsplänen. In diesem Sommer wollte er Mokuba die Freude machen und mit ihm nach Okinawa fahren. Oder auf die Seychellen. Je nachdem, wo der Kleine lieber hinwollte. Das würde Seto noch herauskriegen müssen. Bevor er sich jedoch wirklich zurücklehnen konnte, ertönte ein lautes und scheinbar ziemlich freudiges Quietschen aus dem unteren Stockwerk. Genervt runzelte Seto die Stirn, befand dann aber, dass das Ganze keine Inspektion wert wäre. Erst, als es überhaupt nicht mehr aufhören wollte, erhob er sich aus seinem ziemlich bequemen Sessel, um mal nach dem Rechten zu sehen. Schon als er nur die Treppe herab ging, schallte ihm eine Mischung aus Quietschen, Lachen und Gewimmer entgegen.

‚Was veranstalten die da?’, fragte Seto sich missgelaunt.

Zwar musste er sich nicht mit Arbeit rumschlagen, aber deswegen wollte er trotzdem seine Ruhe haben. Kreischende Kinder störten da nur.

‚Eigentlich sollte Mokuba das aber wissen!’

Seto hatte nicht die Absicht ein Donnerwetter vom Stapel zu lassen, auch wenn er nach all den Strapazen des Tages nicht übel Lust gehabt hätte. Stattdessen öffnete er die Tür zum Wohnzimmer nur einen Spalt, linste hindurch und konnte zuerst nur eine halb leere Schale mit Erdbeeren erkennen, die einsam auf dem Couchtisch standen. Dann kamen Mokuba und Kate ins Bild. Letztere eierte auf ihren Beinen auf und davon, während der Schwarzhaarige versuchte, sie einzufangen. Offensichtlich hatten beide eine Menge Spaß an der Sache, denn schon länger hatte Seto seinen kleinen Bruder nicht mehr so befreit und glücklich erlebt. Was Kate anging, nun, er kannte sie nicht gut genug, als dass er hätte sagen können, wann sie zum letzten Mal so einen albernen Gesichtsausdruck zur Schau getragen hatte. An ihrem breiten, absurd glücklichen Grinsen aber konnte Seto durchaus erkennen, dass sie sich köstlich amüsierte.

‚Na, die beiden haben ihren Spaß.’, dachte er beruhigt.

So musste er sich wenigstens nicht mit dieser kindlichen Kate befassen, sondern konnte in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Oder sich über die ärztliche Schweigepflicht aufregen, denn das war es letztendlich gewesen, was Seto daran gehindert hatte, in Erfahrung zu bringen, was mit Kate eigentlich los war.

„Hey, bleib stehen!“, rief Mokuba dem rothaarigen Mädchen zu, welches recht wacklig um das Sofa herumsprintete und überhaupt nicht daran dachte, Mokubas Bitte nachzukommen. Allerdings war der jüngere Kaiba nicht auf den Kopf gefallen. Er sprang einfach über die Lehne des Sitzmöbels, umfasste Kates Taille und hatte sie schon festgehalten. Sie strampelte, versuchte sich gegen ihn zu wehren, jedoch vergebens. Gnadenlos kitzelte Mokuba das Mädchen aus. Jetzt kam Seto auch hinter das merkwürdige Quietschen: Kate war es, die es hervorbrachte, weil Mokuba sie so stark kitzelte.

Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf die sonst so harten, kühlen Züge des Geschäftsmannes. Da die beiden ihn ohnehin nicht bemerkten, weil sie einfach zu vertieft waren in ihr kleines Spiel, wagte Seto es, die Tür ein Stück weiter aufzumachen. Er lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete, wie sein kleiner Bruder sich mit einer seiner Klassenkameradinnen verlustierte.

‚So was sieht man auch nicht alle Tage.’, schoss es Seto amüsiert durch den Kopf.

Eine ganze Weile sah er ihnen nur zu, bis Kate schließlich so müde war, dass sie sich kein Stück mehr rühren konnte. Sie riss ihren Mund auf und gähnte herzhaft.

„Ich merk schon, du bist reif für die Heia.“, kicherte Mokuba und ließ von ihr ab.

Schwach nickte Kate, hinzufügend: „Ai müde. Kann Ai ins Bett gehen?“

„Klar kannst du. Soll ich dich hinbringen?“, erkundigte Mokuba sich.

Wieder ein Nicken von der Rothaarigen.

„Und vorlesen!“, verlangte sie energisch.

Mokubas entgeistertes Gesicht sprach Bände und war nur dazu angetan, Seto in lautes Gelächter ausbrechen zu lassen. Sofort lagen die Blicke Mokubas und Kates auf dem großen Brünetten.

„Lasst euch nicht stören.“, meinte Seto lachend, „Ich bin nur heruntergekommen, weil ihr einen ganz schönen Lärm veranstaltet habt.“

„Ach so.“, kam es knapp von Mokuba, der rot anlief, weil es ihm furchtbar peinlich war, dass sein großer Bruder ihn so kindisch erlebt hatte.

Um davon abzulenken, stand Mokuba rasch auf, zog Kate hoch und sagte dann zu ihr: „Los, wir gehen nach oben in dein Zimmer.“

Brav gehorchte Kate, griff wie selbstverständlich nach Mokubas Hand und schenkte Seto ein schüchternes Lächeln, das dieser überrascht erwiderte. Verwundert sah er dem ungleichen Paar nach.

‚Ich wusste gar nicht, dass Mokuba so gut mit Kindern kann...’, dachte er.
 

Mokuba war tatsächlich ziemlich begabt im Umgang mit Kindern. Weil er kaum jemals Zuwendung erfuhr, wusste er sehr genau, was den Sprösslingen fehlte und wie man sie am besten bändigte. Seltsamerweise brachten die Kleinen ihm ein enormes Vertrauen entgegen, was wohl daran liegen musste, dass er noch nicht so alt war und auch nicht so enorm groß. Dadurch wirkte er nicht zu überragend und mächtig.

Gemeinsam machten Mokuba und Kate sich an den Aufstieg der Treppen in den ersten Stock. Es dauerte eine Weile, bis sie oben angekommen waren, weil Kate nicht gerade viel Kraft in ihren Beinen hatte. So musste Mokuba sich wohl etwas in Geduld üben, doch darin hatte er eine Menge Übung. Im Warten war er erstklassig. Allerdings erwartete ihn dann noch ein mehr oder weniger großes Hindernis: Kate war offensichtlich nicht in der Lage, sich allein umzuziehen, so dass der jüngere Kaiba ihr dabei wohl helfen musste. Mokuba biss sich auf die Unterlippe, ging die Herausforderung dann aber an. Es nutzte ja doch nichts. Irgendeiner musste es ja tun und da Seto schon einmal als Ankleider hatte fungieren müssen, konnte Mokuba diese Aufgabe auch auf sich nehmen. Er gab sich Mühe, sie so wenig wie möglich zu berühren. Zwar mochte ihr Geist der eines Kleinkindes sein, ihr Körper war es nicht. Deswegen musste Mokuba zusehen, dass er sich mit dem Umziehen beeilte, wollte er keine Reaktionen seines verräterischen Körpers erdulden müssen.

Als Kate schließlich im Bett lag, kramte Mokuba aus den Untiefen seines Zimmers ein paar Bilderbücher hervor, die er dem Mädchen auf die Bettdecke legte.

„Such dir eins aus, das les ich dir dann vor. Aber nur eins!“

Kate nickte verständig, besah sich eine Weile die Buchdeckel und zeigte schließlich auf ‚Die Prinzessin auf der Erbse’. Mit einem leisen Seufzer ergab Mokuba sich in sein Schicksal, klappte das Buch auf und begann mit lauter Stimme zu lesen.

Seto, der in diesem Moment an Kates Zimmer vorbeikam, kam natürlich nicht umhin, das zu hören. Er musste schon wieder lächeln, nahm sich gleichzeitig aber vor, Mokuba nach seiner Vorleseaktion zu danken. Schließlich war es nicht selbstverständlich, dass sein kleiner Bruder sich um eine Bürde wie Kate kümmerte. Ja, in diesem Fall war Mokuba wirklich ein Segen!

‚Dann kann ich ihm auch gleich von den Urlaubsplänen erzählen.’, fügte Seto gedanklich hinzu, während er einfach vor der Tür stehen blieb und darauf wartete, dass der Teenager sich durch das Märchen gequält hatte.

Stille Wasser sind tief...

Es dauerte eine ganze Weile, das Buch vorzulesen, da Ai ihn immer wieder unterbrach, auf die Bilder zeigte und wirres Zeug brabbelte. Schließlich aber konnte Mokuba das Buch zuklappen. Müde geworden rieb der Rotschopf sich die Augen, ließ sich von dem jüngeren Kaiba zudecken und über den Kopf wuscheln.

„Gute Nacht.“, gähnte das Mädchen, während es sich unter die Decke und in die zahlreichen Kissen kuschelte.

„Gute Nacht.“, erwiderte Mokuba mit einem Lächeln. Er betrachtete den Gast einige Minuten lang, bevor er zur Tür ging, das große Licht ausknipste und dafür die Nachtleuchte in die Steckdose neben der Tür steckte, damit das Mädchen, sollte es nachts aufwachen, sich nicht in völliger Dunkelheit wieder fand. Alle kleinen Kinder hatten Angst im Dunkeln.

‚Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Seto mich häufig in den Arm nehmen musste...’, schoss es Mokuba durch den Kopf. Seitdem waren einige Jahre vergangen und die Zärtlichkeiten, mit denen der große Bruder den kleinen bedachte, hatten rapide abgenommen. Irgendwo bedauerte Mokuba das. Jetzt war er zu alt, um sich in den Arm nehmen zu lassen. Seto würde es ohnehin nicht mehr tun, weil ihm zwischenmenschliche Nähe nicht geheuer war, wie der kleine Bruder sehr wohl wusste. Ein bisschen tat es Mokuba schon weh, dass Seto aufgehört hatte, ihn in den Arm zu nehmen, ihm über den Kopf zu streichen. Diese kleinen liebevollen Gesten der Zuneigung hatten Mokuba oft darüber hinweg trösten können, dass der Ältere mehr Zeit in der Firma verbrachte als daheim. Jetzt, wo er diese Zuwendungen ganz eingestellt hatte, sah Mokuba kaum noch Grund darin, zuhause zu sitzen und auf Setos Heimkehr zu warten. Vielleicht war das ja ein ganz normaler Prozess, den alle Teenager durchmachten, aber ein Stück Bitterkeit blieb doch. Vor allem wenn Mokuba bedachte, wie Rebecca sich ihrem Großvater gegenüber verhielt und wie er sich gegen sie benahm. Jedem Außenstehenden wurde sofort klar, dass Opa und Enkelin sich tief verbunden waren, dass eine ehrliche, ungebrochene und kaum zu zertrennende Liebe zwischen ihnen bestand, um die man sie nur beneiden konnte, was Mokuba auch heftig tat, sich fragend, was passiert war, dass er und sein Bruder sich so fremd geworden waren.

‚Ich wünschte, es wäre anders...’, dachte der Schwarzhaarige, als er die Tür endgültig hinter sich schloss.
 

Als er sich umdrehte, staunte er nicht schlecht, denn er fand sich direkt dem Gegenstand seiner Überlegungen gegenüber. Erschrocken machte Mokuba einen Schritt rückwärts, weil er wirklich nicht damit gerechnet hatte, seinen Bruder heute noch mal zu sehen. Diese Reaktion brachte Seto zum Schmunzeln. Etwas, was in letzter Zeit sehr selten vorgekommen war.

„Bin ich so angsteinflößend?“, wollte er daher belustigt wissen.

Überrascht nickte Mokuba nur. Er musste sich erstmal wieder sammeln, bevor er sicher war, dass mehr als Gestammel aus seinem Mund kommen würde. Zu seiner Freude wartete Seto darauf tatsächlich. Es dauerte zwar einen ganzen Moment, aber schließlich fand Mokuba die Sprache wieder.

„Nur, wenn du einen schlechten Tag hattest, wildfremde Mädchen mit heimbringst und mich dann Babysitter spielen lässt.“, witzelte der Teenager.

Seto zog eine Augenbraue hoch, verlor aber erstmal kein Wort darüber. Stattdessen fragte er sich, seit wann sein kleiner Bruder sarkastisch war.

‚Mir erscheint es, als sei es erst gestern gewesen, dass er in die Schule kam.’, ging es ihm durch den Kopf. Bedauern mischte sich in diesen Gedanken hinein, was Seto ziemlich erstaunte. Schließlich hatte er früher gewünscht, Mokuba möge recht schnell selbstständig werden, so dass man ihn allein lassen konnte, ohne dass er vor Einsamkeit einging. Scheinbar hatte sich Setos Wunsch erfüllt und dennoch war er nicht glücklich über diese Entwicklung.

‚Vielleicht, weil mir dadurch die Kontrolle über ihn entgleitet...’

Zähneknirschend musste der Firmenchef sich eingestehen, dass diese Vermutung ziemlich genau ins Schwarze traf. Er liebte es nun mal, alles im Überblick zu haben, überall die Zügel in Händen zu halten, kurzum, sein gesamtes Umfeld zu kontrollieren. Diese Eigenschaft hatte er wohl von seinem grausamen Stiefvater übernommen. Zwar war Gozaburo bestimmt nicht das gewesen, was man einen Heiligen nannte, aber er war nicht nur Schurke gewesen. Es hatte eben gute und schlechte Tage gegeben. Die hatte er, Seto, ja auch.

„Seto? Alles okay?“, riss Mokuba den Brünetten aus seinen Gedanken.

„Was?“, erwiderte dieser ziemlich desorientiert, „Ja, sicher.“

Mokuba zog eine Augenbraue hoch, ihn skeptisch musternd, stellte die Äußerung seines älteren Bruders allerdings nicht in Frage. Er würde ohnehin nicht mit Mokuba über das sprechen, was ihm auf der Seele lag. Seto Kaiba beging niemals Seelenstriptease. Nicht einmal seinem kleinen Bruder gegenüber. Früher einmal wäre Mokuba gern in die Sorgen und Nöte Setos einbezogen worden, mittlerweile aber kratzte ihn das nur noch selten. Er hatte sein eigenes Leben, mit dem er irgendwie klarkommen musste. Und das war weiß Gott nicht einfach. Deshalb akzeptierte er Setos Stillschweigen, nahm es hin, wie es nun mal war, da er ohnehin nichts daran ändern konnte.

„Danke, Mokuba.“, durchbrach Seto die Stille, die geherrscht hatte.

Er räusperte sich leicht.

Erstaunt ruckte Mokuba mit dem Kopf.

„Wofür?“, wollte er dann neugierig wissen, seinen Bruder gespannt beäugend.

„Dass du dich um Kate gekümmert hast. Du weißt ja, ich bin nicht gut im Umgang mit... nun ja, Kindern.“

Verlegen kratzte Seto sich an der Wange, aber immerhin sah er Mokuba direkt an, was schon mal viel wert war. Jetzt musste der Schwarzhaarige grinsen.

„Ach so. Kein Problem, hab ich gern gemacht.“

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder kam Mokuba nämlich ziemlich gut klar mit Kindern. Er hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, Kindergärtner zu werden, auch wenn Rebecca ihn dann aufzog, dass er schwul sein müsse, wenn er diese Karriere wirklich ernsthaft in Betracht zog.

Seto legte seinem kleinen Bruder eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm herunter. Seine blauen Augen bohrten sich ernst in die grauen Mokubas.

„Wirklich, ich bin dir verdammt dankbar dafür. Du weißt nicht, wie sehr du mir damit hilfst.“, begann er, hob die Hand, als Mokuba den Mund aufklappte, um etwas zu sagen und fuhr dann fort: „Dieses Mädchen ist aus meiner Klasse. Sie heißt Kate Thompson und wegen ihr musste ich mal Nachsitzen. Ich kann sie nicht leiden und sie mich auch nicht, aber so wie sie jetzt ist kann ich sie nicht aus dem Haus werfen. Wenn ihr etwas zustieße, wäre es meine Schuld und das möchte ich nicht. Bis wir wissen, was los ist mit ihr müsstest du dich um sie kümmern. Es sei denn, sie wird wieder normal und kann uns selbst Rede und Antwort stehen. Verstehst du?“

Langsam nickte Mokuba. Ihm schwirrte etwas der Kopf, aber was auch immer Seto vorhatte, er würde ihn unterstützen, wie er es sonst auch immer getan hatte.

„Danke. Du ahnst ja nicht, was für eine große Hilfe du mir bist.“

Und dann geschah etwas, was schon sehr lange nicht mehr stattgefunden hatte.

Seto umarmte Mokuba fest, hielt ihn eine Weile in dieser Umklammerung, strich über seinen schwarzen Schopf und sagte leise ‚Ich hab dich lieb’. Dann entließ er den Jüngeren aus seinen Armen und wandte sich zum Gehen.

„Gute Nacht.“

Verwundert sah Mokuba ihm nach, ein Lächeln auf den Zügen.

„Gute Nacht, Seto...“
 

Kalt und grau brach der Sonntagmorgen an. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben der Villa Kaiba. Noch lag das Haus in tiefem Schlummer. Die Vorhänge waren zugezogen, als wollten sie das trübe Wetter aussperren, was man den Bewohnern des Hauses nicht verübeln konnte. In einem der Zimmer regte sich schließlich Leben. Ein verwuschelter Rotschopf rieb sich den Schlaf aus den Augen, kullerte aus dem Bett und sah sich ziemlich verwirrt um. Dann tapste das Mädchen auf die Tür zu, noch recht wacklig auf den Beinen, wie man es von jemandem, der eben erst erwacht war nicht anders erwartet hätte. Langsam bewegte sich die Rothaarige über den Flur, öffnete jede einzelne Tür und schloss sie enttäuscht wieder, da sie offensichtlich nicht das gefunden hatte, was sie gesucht hatte. Am Ende des Korridors aber wurde sie endlich fündig. Das Zimmer lag noch völlig im Dunkeln. Vorsichtig tastete sich das Mädchen zum Bett hin, darauf bedacht, nirgends anzustoßen un sich wehzutun. Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht, kletterte etwas mühselig auf das weiche Bett und schlüpfte zu dem nichts ahnenden Schläfer unter die Decke. Dann schmiegte sie sich an den warmen, muskulösen und großen Körper. Mit einem zufriedenen Geräusch schlossen sich die grünen Augen des Mädchens und kurz darauf lag es wieder in tiefem Schlummer, ohne den jungen Mann geweckt zu haben.

Gegen halb Zehn wankte Mokuba ins Bad. Er hatte zwar gut geschlafen, war aber trotzdem noch müde. Kinder hüten war wohl doch anstrengender als er gedacht hatte. Verschlafen stellte er sich unter die Dusche, das Wasser auf kalt eingestellt, um seine Lebensgeister zu wecken. Ihm blieb die Luft weg, aber er ließ es über sich ergehen. Nachdem er erstmal vernünftig aus seinen Augen gucken konnte, stellte er das Wasser auf lauwarm um. Er wollte sich schließlich keinen Pips frieren. Als er mit duschen fertig war, putzte er seine Zähne, ging wieder in sein Zimmer zurück, zog sich an und trat dann den Weg nach unten in die Küche an, wo er vorhatte den Tisch zu decken. Er und Seto hatten schon viel zu lange kein ausgiebiges Sonntagsfrühstück mehr gehabt. Es wurde also Zeit, eines nachzuholen. Während er Kaffee aufsetzte und Lebensmittel aus dem immensen Kühlschrank holte, schaltete er das Radio ein, wo ein aktueller Hit aus den Charts lief, den Mokuba gut gelaunt mitsummte. Das Wetter machte ihm in diesem Moment rein gar nichts aus. Er war viel zu zufrieden, um sich daran zu stoßen. Außerdem war ein Regentag kein Weltuntergang.

Endlich war das gute Werk vollendet. Stolz auf sich betrachtete Mokuba den gedeckten Tisch einen Moment lang, beschloss dann aber, seinen Bruder aus den Federn zu werfen. Dazu fiel ihm auch ein geeignetes Mittel ein. Allerdings hatte der Schwarzhaarige schon halb verdrängt, dass sie momentan ja zu dritt waren, weswegen er ziemlich erschrocken schaute, als er etwas Rothaariges neben Seto im Bett liegen sah. Sanft schnarchend hatte Kate sich an den Hausherren geschmiegt, ein seliges Lächeln auf ihren entspannten Zügen. Auch Seto hatte im Schlaf kaum Ähnlichkeit mit dem gestrengen Firmenchef, der er sonst war. Er wirkte viel weniger gestresst, befreiter, relaxter, ruhiger. Eher wie ein junger Mann von 18 Jahren. Mokuba betrachtet lächelnd das Bild, das sich ihm bot. Er hatte nie zuvor eine Frau in Setos Bett schlafen sehen und auch im Moment verspürte er kaum Eifersucht. Eher fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, als er selbst noch zu seinem Bruder ins Bett gekrochen war. Genau daran erinnerte ihn diese Szenerie nämlich. Am Liebsten hätte er sich dazu gekuschelt, auf Setos andere Seite. Breit genug war sein Bett zumindest.

‚Aber dann wird der Kaffee kalt und wenn Seto eines hasst, dann ist es kalter Kaffee.’, dachte Mokuba wehmütig.

Er wollte diesen Anblick noch nicht zerstören, indem er Kate und seinen Bruder aufweckte. Zu gern hätte er dieses Bild für immer festgehalten. Kaum eine Sekunde später dämmerte ihm, dass er das tatsächlich konnte. Eilig verließ er das Schlafzimmer seines Bruders, kam aber kurz darauf mit seiner Kamera zurück. Er würde ganz einfach ein Foto von den beiden machen. Gesagt, getan. Es dauerte gar nicht lange, da hatte er mehrere Bilder geknipst. Zufrieden mit sich stahl Mokuba sich aus dem Zimmer, brachte die Kamera zurück an ihren Ort und konnt es nun angehen, Seto und das Mädchen zu wecken.
 

Leider war Seto gar nicht erfreut über die Ruhestörung. Er brauchte eine Weile, ehe er wach genug war, um Mokuba anzuknurren, dass er ihn gefälligst in Ruhe lassen sollte, was dieser aber nicht tat. Er kannte seinen morgenmuffligen Bruder zur Genüge, weswegen er auch wusste, womit man ihn ködern konnte, den großen Seto Kaiba.

„Ich hab unten frischen Kaffee. Willst du den echt kalt werden lassen?“, neckte Mokuba den Älteren.

„Du Quälgeist!“, fluchte Seto, erhob sich aber halb, so dass er in eine sitzende Position kam.

Erst da bemerkte er den Eindringling in seinem Bett.

„Was zum...?“, entfuhr es ihm erschrocken.

Er sah zu Mokuba, dann wieder zu Kate und zurück zu Mokuba.

„Was macht SIE hier in meinem Bett?“, wollte er dann knurrend wissen.

„Frag mich nicht, frag lieber sie, ich hab nämlich keine Ahnung!“, gab Mokuba zurück, allerdings weniger bissig.

Seto seufzte.

„Dieses Weib bringt mich noch um den Verstand!“, grummelte er, schlug die Decke zurück und kletterte vorsichtig über sie, um sie nicht aufzuwecken.

„Komm erst mal runter frühstücken. Danach sieht die Welt schon viel freundlicher aus.“, erwiderte Mokuba, der sich ein Grinsen nur mühsam verkneifen konnte. Schließlich geschah es nicht alle Tage, dass sein älterer Bruder ein Mädchen neben sich im Bett fand und dann auch noch versuchte, sie ja nicht aufzuwecken, obwohl er sie nicht mochte.

„Du hast Recht.“, stimmte Seto Mokuba zu.

Die Gebrüder Kaiba verließen das Schlafzimmer, die Tür allerdings nur anlehnend, falls der ungebetene Gast aufwachen sollte. Sie wollten nicht noch eine böse Überraschung erleben.

Kurz darauf war die Sache schon halb in Vergessenheit geraten. Die Brüder saßen beim Frühstück, scherzten miteinander und diskutierten, wie lange nicht mehr. Sie merkten, wie sehr ihnen diese Runden gefehlt hatten und beschlossen jeder für sich, Sorge dafür zu tragen, dass sie wieder öfter zustande kamen. Kate war für sie nicht existent, sollte sich aber bald schon erneut in ihr Leben mengen und ein paar kleinere oder auch größere Geheimnisse zu Tage fördern, die zumindest Seto Hören und Sehen vergehen lassen sollten.
 

Nach dem ausgiebigen Frühstück ging Seto zurück in sein Zimmer, ließ den Rollladen hochfahren und begann, sich umziehen. Auf Kate achtete er gar nicht, da sie noch in aller Seelenruhe sein Bett besetzte und schlief. Wenigstens hatte sie das getan, als der Herr des Hauses das Zimmer betrat. Während er aber vor dem Spiegel stand und sich eilig anzog, blinzelte der Rotschopf in die plötzliche Helligkeit, ausgelöst durch das Heben der Rollläden. Sie reckte und streckte sich genüßlich, spürte alle ihre Knochen wieder an den richtigen Platz zurückkehren und schlug schließlich vollends ihre grünen Katzenaugen auf. Da war sie aber auch mit einem Schlag wach. Erschrocken sah sie sich um. Sie erkannte ihre Umgebung nicht, was schlecht war. Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie Ryous Haus verlassen hatte, durch die Straßen im strömenden Regen getrottet war. Dann nichts mehr. Aber irgendwie musste sie hierher gekommen sein. Wenn sie denn wenigstens gewusst hätte, wo genau hier war. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an die Helligkeit, so dass sie mehr erkennen konnte. Sie befand sich in einem ziemlich luxuriösen Schlafzimmer. Eine Wand, die gegenüber vom Fenster, wurde eingenommen von einem Schrank, einen breiten Plasmafernseher konnte Kate ebenso entdecken, wie einen Schreibtisch aus Mahagoni, auf dem ein Laptop lag. Außerdem war alles extrem ordentlich und sauber. Kein Staubkörnchen zu entdecken. Sie selbst befand sich in einem Kingsizebett mit Himmel und Vorhängen, bezogen mit schwarzem Satin.

‚Okay... bin ich verkauft worden?’, ging es ihr durch den Kopf.

Sie kniff sich, um festzustellen, ob sie wach war oder noch träumte. Einen solchen Luxus hatte sie ihr Lebtag noch nicht gesehen, außer im Fernsehen, aber das zählte nicht.

‚Wem gehört dieses Zimmer?’, fragte sie sich weiter, ließ ihre Augen aufmerksam durch den Raum schweifen und blieb schließlich an einer hochgewachsenen, brünetten Person hängen, die vor dem Spiegel stand und sich kämmte. Zu ihrem maßlosen Entsetzen zeigte das Spiegelbild ihr Seto Kaiba.

„Was machst DU denn hier?“, entfuhr es ihr perplex und angewidert zugleich.

Seto, der zu beschäftigt gewesen war mit sich selbst, fuhr abrupt herum und starrte sie an wie eine Erscheinung.

„Entschuldige mal, ICH wohne hier!“, gab er empört zurück, „Die Frage ist doch wohl eher, was du in meinem Schlafzimmer treibst!“

Ihr klappte die Kinnlade runter. Das konnte unmöglich sein Ernst sein! Und doch, dieser Luxus passte zu ihm. Außerdem gab es für Kaiba keinen Grund sie anzulügen, wie sie feststellen musste. Er konnte demnach also nur die Wahrheit sagen, was wiederum bedeutete, dass sie ziemlich in der Klemme steckte.

„Ich weiß ja nicht mal, wie ich überhaupt in dein Haus gekommen bin, geschweige denn dein Bett!“, kam es nicht minder empört von Kate, die jetzt eilig aufstand, sich in der Bettdecke verhedderte und hart mit dem Kinn auf dem Fußboden aufschlug. Kaiba derweil zog nur eine Augenbraue in die Höhe, sie skeptisch betrachtend.

„Ach ja? Ich behaupte jetzt mal, dass du gestern Nacht hier rein gekommen sein musst, nachdem Mokuba und ich schliefen. Was sollte eigentlich diese bescheuerte Kleinkindnummer?“

Bei diesen Worten klappte Kate glatt die Kinnlade runter. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Rasch setzte sie sich auf.

„Kleinkindnummer?“, hakte sie vorsichtshalber nach.

„Ja, oder bist du taub?“, knurrte Kaiba.

Jetzt hatte Kate Gewissheit. Ihr Klassenkamerad musste Ai begegnet sein und diese hatte ihn wohl schier zum Wahnsinn getrieben, was sie ihm nicht verübeln konnte. Ein vierjähriges Kleinkind konnte wirklich anstrengend sein.

„Wie komm ich denn nun zu der Ehre, Gast in deinem Haus zu sein?“, bohrte Kate nach.

Kaibas Augenbraue wanderte noch höher.

„Tu nicht so scheinheilig, das weißt du ganz genau, Thompson!“, keifte der Brünette, der sich ziemlich verarscht vorkam, was man ihm nicht verübeln konnte.

„Nein, ehrlich nicht! Ich hab keinen blassen Schimmer.“, wehrte Kate sich energisch, „Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich im Regen heim gelaufen bin.“

Das klang wenig glaubhaft, selbst Kate musste das einsehen. Dennoch, etwas in ihren Augen schien Kaiba davon zu überzeugen, dass sie die Wahrheit sprach, denn er ließ von Vorwürfen ab. Stattdessen erzählte er ihr haarklein, was für eine Show sie abgezogen hatte. Während der Erzählung wurde Kate immer kleiner und kleiner. Nervosität brandete in ihr auf, sogar Angst. Wenn Kaiba sie weiter ausfragte, gewiss würde er den wahren Grund wissen wollen, würde sie ihr Geheimnis offenbaren müssen.

„So und wie du dir sicher denken kannst, erwarte ich ein paar Erklärungen. Du kannst mir nämlich nicht erzählen, dass du nicht ein ernsthaftes Problem hast.“

Langsam wurde Seto wütend. In diesem Fall brüllte er nicht oder wurde gar laut, nein, ganz im Gegenteil. Sein Blick wurde dann eisig, seine Stimme gefährlich leise und vor allem bekam sie einen drohenden Unterton, der niemandem entging. Nicht einmal einem Ignoranten wie Joey Wheeler. Kate ließ sich zwar auch nicht gerade die Butter vom Brot nehmen, aber so einschüchternd wie Seto gerade war, verspürte sie tatsächlich Furcht. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass er die Antworten, die er haben wollte, zur Not aus ihr herauspressen würde.
 

Nervös knetete Kate ihre in ihrem Schoß liegenden Hände. Den Kopf hielt sie gesenkt. Sie wollte Setos eisigem Blick nicht begegnen. Zwar war sie ihm durchaus zu Dankbarkeit verpflichtet, immerhin hatte er sie im strömenden Regen in den düsteren Straßen Dominos aufgegabelt, aber seine kaum verhohlene, eisige Wut machte ihr angst. Mit Kura konnte sie umgehen. Na ja, viel mehr Cleo konnte es, an Kaiba allerdings biss sie sich die Zähne aus. Er war so ein massiver Eisblock, dass nicht einmal Cleos Heißsporn oder ihr eigenes Feuer ihn schmelzen lassen konnte.

„Ich warte, Thompson.“, durchbrach Seto die bis dato herrschende Stille.

Kate biss auf ihre Unterlippe. In ihr sträubte sich alles gegen die Vorstellung ihr schreckliches Geheimnis preiszugeben. Und dann auch noch ausgerechnet ihm, der sie so gering schätzte, um nicht zu sagen, sie verabscheute. Aber sie hatte keine andere Wahl, sie wusste es genau. So wie sie ihn kannte, würde er nicht locker lassen.

„Durch dein Schweigen machst du es nur schlimmer. Verrate mir lieber gleich, was mit dir nicht stimmt, bevor ich bereuen muss, dich vor einer Lungenetzündung bewahrt zu haben.“, drängte Seto weiter.

Er gab es ja nur ungern zu, aber er war extrem neugierig. Als er sie gestern mitgenommen hatte, war sie völlig verängstigt gewesen. Haare und Kleider hatten an ihrem Körper geklebt, von weiblichen Rundungen war nichts zu bemerken gewesen, ihr Wortschatz war der eines Kleinkindes gewesen und sie hatte sich selbst Ai genannt. Vorhin war ein Ruck durch sie gegangen, sie hatte einen Moment lang heftig geblinzelt. Die Kleider, die an ihr gehangen hatten, wie ein formloser Sack, passten jetzt besser. In ihren grünen Augen blitzte Verwirrung auf, auch Angst. Sie hatte den Mund geöffnet, hatte ihn mit Fragen bombardiert. Schon da war ihm gedämmert, dass mit Kate Thompson etwas absolut nicht in Ordnung war. Nun, da sie wieder sie selbst zu sein schien, verlangte er eine Erklärung von ihr, weswegen sie auf der Bettkante hockte und er vor dem Fenster auf und abschritt wie ein Feldherr.

„Also gut...“

Seto sah auf und begegnete Kates grünen Augen, in denen normalerweise der Schalk blitzt. Jetzt aber konnte er nur nackte Angst darin erkennen, vermischt mit unendlicher Scham. Unwillkürlich zog er eine Augenbraue hoch. Er blieb vor ihr stehen, verschränkte die Arme vor der Brust. Kate holte tief Luft. Es fiel ihr schwer, seinem durchdringenden Blick standzuhalten, gelang ihr letztendlich aber doch.

„Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, es geheimzuhalten und es hat auch knapp zwei Jahre funktioniert. Irgendwann musste es ja rauskommen.“

Kate machte eine Pause. Sie kratzte all ihren Mut zusammen. Fast schon stolz, zumindest aber trotzig, reckte sie ihr Kinn.

„Ich habe DIS, dissoziative Identitätsstörung.“

Als Seto sie mehr als verständnislos anschaute, dämmerte ihr, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie da sprach.

„Man nennt es auch multiple Persönlichkeitsstörung.“, fügte sie erklärend hinzu.

Jetzt machte es Klick. Setos blaue Augen weiteten sich vor Schrecken und Überraschung. Er hatte ja mit Vielem gerechnet, aber nicht damit. Er schluckte. Worte fand er keine. Sein Blick war Antwort genug. Kate zog abrupt ihre Knie an, umschlang sie mit ihren Armen und bettete ihren Kopf darauf. Erst, als sie heftig zuckte, erkannte Seto, dass sie weinte. Er kam sich noch hilfloser vor als ohnehin schon. Auch wenn Mokuba Kummer hatte und Tränen aus seinen grauen Augen stürzten, wusste Seto nicht recht, was er tun sollte.

„Multiple Persönlichkeitsstörung also, ja?“, hakte er nach.

Von Kate kam ein leises Schluchzen. Langsam hob sich der rote Haarschopf und ihr bleiches, vom Weinen an den Wangen gerötetes, Gesicht kam zu Vorschein.

„Ja.“, heulte sie, „Und du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie schlimm das ist! Ständig musst du Angst haben, dass jemand anderer deinen Körper übernimmt und wer weiß was damit anstellt. Du hast keinerlei Kontrolle, schlimmer noch, du kannst dir selbst nicht mehr vertrauen, geschweige denn anderen Menschen. Aber was ich am meisten hasse, ist die Tatsache, dass es keine, aber auch gar keine Chance auf Heilung gibt.“

Betroffen hörte Seto ihre Klage an. So wie sie es schilderte, musste es wirklich ziemlich übel sein. Gleichzeitig aber überwog auch die Neugier, wie man daran erkranken konnte.
 

Nachdem Kate sich ein wenig beruhigt hatte, rückte er mit seiner Frage heraus. Das rothaarige Mädchen zuckte zusammen, als habe er es geschlagen. Sie erstickte fast an den Worten.

„Durch Traumata wie Vernachlässigung und...“

Ihr brach die Stimme weg.

„Und?“, hakte Seto unnachgiebig nach.

Kate zitterte heftig, nein, sie schüttelte sich geradezu vor Abscheu. Allerdings handelte es sich herbei mehr um Selbstekel, was Seto erst erkannte, als sie mit leiser Stimme flüsterte: „Missbrauch.“

...und dreckig!

Seto blinzelte kräftig. Er hatte sie verstanden, gewiss, obwohl sie nur geflüstert hatte. An der Lautstärke lag es gar nicht. Vielmehr war sein Hirn nicht in der Lage, dieses Wort zu fassen; es ergab keinen Sinn. Kate hingegen blickte ihn abwartend an. Ja, sie kauerte geradezu vor ihm, als erwarte sie, er könne im nächsten Moment zur Furie werden, auf sie losgehen oder dergleichen.

„Missbrauch?“, brachte Seto schließlich mühsam hervor.

Er musste schlucken. So langsam gewann er die Fassung zurück, flossen die Gedanken wieder rascher und effizienter durch seine Hirnwindungen. Es fiel ihm schwer, das zu kapieren, aber irgendwie musste es gehen. Zwar las man immer wieder davon in der Zeitung und auch im Fernsehen war es ab und an ein Thema, jedoch hätte Seto niemals geglaubt, dass er einmal damit konfrontiert würde. Schon gar nicht von einer Klassenkameradin, einem Mädchen, das er nicht einmal leiden konnte. Doch so wie sie jetzt gerade vor ihm hockte, ein einziges Häuflein Elend, kam er nicht umhin, Empörung, ja sogar Wut, zu empfinden. Egal, wie nervig und ungehobelt und dumm jemand war, so verdiente er es doch nicht, so geschunden zu werden.

„Missbrauch.“, wiederholte Kate, ihren Blick fest auf Seto geheftet.

„Aber wie...?“

Er brach ab. Im Grunde genommen ging ihn das überhaupt nichts an. Außerdem erzählte man so was nicht jedem Beliebigen. Nicht einmal engen Freunden gegenüber verlor man ein Wort darüber. Zumindest würde er das nicht tun, wenn es ihm so ergangen wäre, bloß mit dem Unterschied, dass er keine Freunde hatte, denen er es hätte erzählen können.

„Ich war ein Kind, verstehst du? Ein Kind!“

Ihre Stimme wurde schrill. Sie war aufgesprungen, sah ihn hektisch an, als ob sie gehetzt würde vom Teufel persönlich. Dann ging sie in die Hocke, presste ihre Hände auf den Kopf und schluchzte erneut. Seto kam sich noch hilfloser vor als ohnehin schon. Deswegen hielt er lieber gleich den Mund, nicht, dass er etwas Falsches sagte.
 

Eine ganze Weile herrschte Stille, nur unterbrochen von Kates abgehackten Schluchzern. Schließlich aber brachen auch diese ab. Für einen Augenblick war es komplett leise, dann hob das Mädchen den Kopf. Sie wischte sich die Tränenspuren von den Wangen, zog sich an der Bettkante hoch und trat an das hohe Fenster, welches den Blick freigab auf einen prächtigen Garten. Regen prasselte noch immer auf Domino nieder. Kate umschlang ihren Brustkorb mit ihren Armen. Sie seufzte. Seto blieb an Ort und Stelle, wagte nicht, sich vom Fleck zu rühren. Er betrachtete ihr langes rotes Haar, welches ihr bis zu den Hüften reichte, glitt tiefer über ihre Beine, die vom vielen Sport wohlproportioniert waren zu ihren erstaunlich kleinen Füßen, die sie in den Teppich grub, den er unter seinem Bett liegen hatte und dessen Ausläufer am Fenster endeten.

„Als ich knapp zwei Jahre alt war kamen meine Eltern bei einem Unfall ums Leben. Ich kann mich nicht mal mehr an ihr Aussehen erinnern. Danach brachte man mich zu meinem Onkel mütterlicherseits und seiner Frau. Sie selbst hatten keine Kinder und wollten auch keine, aber weil sie meine einzigen noch lebenden Verwandten waren, nahmen sie mich auf.“, durchbrach Kates Stimme die herrschende Stille. Ihre Stimme zitterte kaum merklich. Seto horchte auf. Er hatte ehrlich gesagt überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie auspacken würde. Zumindest nicht ihm gegenüber. Irgendwo fühlte er sich ziemlich geschmeichelt und in seiner Eitelkeit bestärkt. Immerhin war es kein großes Geheimnis, dass er Kate verabscheute.

„An die ersten paar Jahre erinnere ich mich kaum, es ist alles verschwommen und bruchstückhaft. Jedenfalls weiß ich, dass ich, solange ich in den Kindergarten ging, meine Ruhe hatte. Meine Tante ignorierte mich gern, vergaß auch häufiger, mich abzuholen und meinen Onkel bekam ich ohnehin kaum zu Gesicht, da er viel arbeitete. Um es kurz zu sagen: sie haben sich nicht gerade bemüht, mir eine schöne Kindheit zu bescheren. Als ich in die Grundschule kam, ließen mein Onkel und meine Tante sich scheiden. Ich glaube, der Grund dafür war ich. Schon die ganze Zeit hatte meine Tante versucht, mich loszuwerden. Sie wollte meinen Onkel dazu überreden, mich in ein Kinderheim zu geben, damit sie beide wieder ihre Ruhe hatten. Allerdings ließ mein Onkel sich nie darauf ein. Im Endeffekt wäre ich definitiv besser dran gewesen, wenn er ihr zugestimmt hätte. Dann müsste ich jetzt nicht immer noch unter ihm leiden, müsste mich nicht vor mir selbst ekeln...“

Kate brach ab. Sie straffte ihre Schultern, umklammerte ihren Brustkorb kräftiger.

„Zusätzlich zu der Vernachlässigung kamen noch die Schläge. Meiner Tante ist recht oft die Hand ausgerutscht, schon bei Kleinigkeiten, weswegen ich versuchte, ihr so gut es eben ging aus dem Weg zu gehen... Aber ich schweife ab.“

Sie räusperte sich, dann drehte sie sich zu Seto um, der in ihrem Gesicht brennende Scham, aber gleichzeitig auch flammenden Zorn erkennen konnte. Ihn schauderte es bei diesem Anblick.

„Ich war kaum ein Vierteljahr in der Schule, als mein Onkel begann, mich anzufassen.“

Wieder brach sie ab. Sie schüttelte sich vor Ekel und Abscheu.

„Zuerst waren es nur zufällige Berührungen, zumal ich ein Kind war. Keine Rundungen und dergleichen. Seitdem meine Tante weg war, ging es mir um Einiges besser. Ich wurde nicht mehr ständig ignoriert, selten bis nie geschlagen und bekam sogar eine Katze. Ein kleines weißes Baby, das ich Flocke taufte.“

Seto zog eine Augenbraue hoch. Das kam ihm bekannt vor. Hatte nicht Kate gestern erst im Krankenhaus dieser Schwester von einer solchen Katze erzählt?

Kate hob die Schultern. Es fiel ihr sichtlich schwer, diese Geschichte zu erzählen, aber irgendwann musste sie sich auch mal überwinden und reinen Tisch machen, einer neutralen Person von ihrer wenig schönen Vergangenheit berichten. Nicht, um etwa Mitleid zu erregen, nein, das wollte sie nicht; viel mehr ging es ihr darum, sich selbst diese Last zu erleichtern. Es machte ihre Geheimnis nur halb so schlimm, wenn sie gleich alles preisgab. Von nichts kam schließlich nichts.

Kate holte tief Luft, um mit ihrer Erzählung fortfahren zu können. Es kostete sie eine Menge Überwindung, wie Seto erkennen konnte. Immer noch hatte sie ihren Brustkorb umklammert, als klaffe darin ein Loch, welches es zu verdecken galt. Obwohl sie noch nicht viel über ihren Onkel und dessen Machenschaften gesagt hatte, war Seto empört. Nicht, dass er ein Kinderliebhaber gewesen wäre, aber Gewalt gegenüber Personen, die nicht in der Lage waren, sich zu wehren, verurteilte er absolut. Vielleicht weil auch er als Junge seinem Stiefvater hilflos ausgeliefert gewesen war. Keine schöne Situation, wie er sehr wohl wusste.
 

„Wo war ich stehen geblieben?“, fragte sie halb sich, halb ihren Zuhörer.

Gerade öffnete Seto den Mund, um ihr zu antworten, als sie es schon selbst tat.

„Ah ja, richtig, die Grundschule.“

Wieder machte Kate eine Pause, die jedoch nicht lange währte.

„Die Berührungen häuften sich, aber ich wusste ja nicht, was man da mit mir tat. Also wehrte ich mich auch nicht. Warum auch? Es war zwar unangenehm und tat ein bisschen weh, aber ich bekam Belohungen dafür, dass ich meinen Onkel gewähren ließ. Das ging auch eine ganze Weile so, bis er von mir verlangte, dass ich ihn auch berühren sollte.“

An dieser Stelle schüttelte Kate sich voller Ekel und Abscheu.

„Zu dem Zeitpunkt war ich allerdings schon etwas älter, 8 glaube ich. Jedenfalls habe ich mich geweigert und dieses Widersetzen bitter gebüßt. Wenn es eins gab, das mein Onkel hasste, dann waren es Widerworte. Von da an setzte es wieder regelmäßig Schläge. Irgendwann war es sogar so schlimm, dass ich das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, waren zwei Tage vergangen. Ich wusste nicht recht, wo ich mich befand, geschweige denn wie ich an diesen Ort gekommen war. Alles, was ich noch wusste, war, wie mein Onkel auf mich eingedroschen hatte. um nur ja keinen Ärger zu bekommen, ging ich so schnell ich konnte heim. Ab diesem Zeitpunkt bin ich ungefähr an DIS erkrankt. Allerdings wurde es sehr viel später erst entdeckt.“

Wieder brach Kate ab. Sie wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte ohnehin keinen Blick für den Garten draußen. Zu sehr war sie in ihren schmerzhaften Erinnerungen versunken. Seto, der bis dato eigentlich nur zugehört hatte, konnte nicht leugnen, dass er ziemlich schockiert war von dem, was er soeben erfahren hatte. Ihm brannten ein paar Fragen unter den Nägeln, die er ihr aber nicht stellen wollte, weil sie ziemlich privater Natur waren. Zudem hatte Kate ihm schon mehr erzählt, als er eigentlich zu erfahren verdient hatte. dennoch, er musste unbedingt wissen, ob der Gerechtigkeit Genüge getan worden war oder ob dieses pädophile Schwein sich einer Freiheit erfreute, die ihm nicht zustand.

„Er ist aber vor Gericht gekommen oder?“, hakte Seto schärfer nach, als beabsichtigt.

Als Kate heftig zusammenzuckte, bereute er seinen harschen Ton sofort. Entschuldigend hob er eine Hand, sagte aber nichts. Zuerst blieb das Mädchen eine Antwort schuldig, dann nickte sie bedächtig.

„Oh ja, man hat ihn angeklagt und verurteilt. Er büßt seine Strafe immer noch ab.“, erwiderte sie leise.

Einen Augenblick herrschte Stille. Diese wurde abermals von Kate unterbrochen. Sie war noch nicht fertig mit ihrem Bericht. Schließlich bestand ihr Leben aus mehr als nur ihrer grauenvollen Kindheit.

„Man hat mich dann in eine Psychiatrie gesteckt, mir eine Diagnose gestellt und erklärt, was DIS eigentlich ist. Ich wurde zweieinhalb Jahre lang therapiert- stationär. Dann befand man mich für stabil genug, um ambulant weiterbehandelt zu werden. Man wies mir einen sehr guten Psychiater zu, Doktor Lyman Banner, bei dem ich mittlerweile nur noch einmal pro Woche antanzen muss. Das heißt, nach diesem Vorfall am Samstag wird sich das wieder ändern.“

Kates Stimme zitterte. Sie war den Tränen nahe. Wenn es eins gab, das sie ganz und gar nicht wollte, dann war es, wieder eine stationäre Therapie machen zu müssen. Ihre gesamte Zukunft hing davon ab, ob sie sich zusammenreißen und die drei anderen Mädchen im Griff behalten konnte.
 

„Du hast nur Cleo und Ai kennengelernt, glaube ich. Mit Sue hattest du noch nicht das Vergnügen.“, begann Kate.

Irritiert zog Kaiba eine Augenbraue hoch.

„Diese... Persönlichkeiten haben eigene Namen?“, hakte er nach.

„Na klar! Ich meine, es sind schließlich so gesehen eigenständige Personen. Und du hast ja auch einen Namen, oder nicht?“

„Verstehe...“, murmelte Seto, der ausnahmsweise einmal gar verstand.

Das hätte er allerdings um keinen Preis zugegeben. Schließlich hatte er auch seinen Stolz. Kate aber schien diese Masche zu durchschauen. Sie lächelte schwach.

„Mach dir keinen Kopf. Es reicht, wenn du weißt, wie sie heißen und wie du mit ihnen umzugehen hast, wenn sie dir begegnen sollten. Cleo ist die Kämpferin, ihre Aufgabe ist es, den Körper zu schützen und dafür zu sorgen, dass ihm in brenzligen Situationen nichts zustößt. Sie ist ziemlich gewandt in Kampfkünsten, ansonsten aber extrem aggressiv und gewaltbereit.“

An dieser Stelle unterbrach Seto Kate mit einem lauten Schnauben.

„Nach der Nummer mit der Salzsäure kann ich das nur bestätigen.“, knurrte er verstimmt. Er war deswegen immer noch ziemlich sauer. Immerhin hatte er nachsitzen müssen und somit war ihm wichtige Arbeitszeit verloren gegangen.

„Ai kennst du auch schon. Sie ist ungefähr 4 Jahre al, ein Kleinkind also und benimmt sich dementsprechend. Sie hasst Dunkelheit und Lärm. Sollte sie deinen Weg nochmals kreuzen, achte darauf, dass du nicht laut wirst oder sie sonst wie erschreckst. Zum Glück lässt der Scherbensammler Ai nur sehr selten Kontrolle übernehmen, so dass die Wahrscheinlichkeit, ihr zu begegnen relativ gering ist.“

Kate biss sich auf die Lippe. Diese Analysen abzuliefern fiel ihr nicht gerade leicht. Vielleicht lag es daran, dass sie ungern so offen über sich und ihre Krankheit sprach. Vertrauen in andere Menschen war nicht gerade Kates Stärke, aber angesichts der Umstände war es durchaus verständlich, dass sie so ihre Probleme damit hatte.

„Tja, die letzte im Bunde ist Sue, etwa 15-jährig. Sie hasst Männer oder eher gesagt, sie hat panische Angst vor ihnen. Außerdem ist sie musisch sehr begabt, spielt Geige und Klavier und hat einen astreinen Sopran.“

Während Kate dies sagte, zuckte Seto leicht zusammen. Sie hatte Unrecht. Er war Sue schon einmal kurz begegnet. Damals im Musikunterricht, als Kate vom Alt zum Sopran geschickt worden war. Wo er sie hatte singen hören. Jeder Ton hatte gestimmt, hatte süß geklungen in seinem verwöhnten Ohr und war dann abgelöst worden von dem schiefen Gejaule Kates, als sie wieder Kontrolle über ihren Körper gehabt hatte.

„Was ist?“, fragte die Rothaarige, der nicht entgangen war, wie Seto zusammengezuckt war.

Einen Moment lang sah er sie einfach nur an.

„Ist das nicht schlimm für dich?“, wollte er wissen, „Ich meine, du nimmst es ziemlich locker, wenn man mal bedenkt, wie schlecht dein Leben war und wie sehr du gelitten hast und immer noch leidest.“

Kate wandte den Blick ab. Sie biss auf ihre Lippe, spürte sich verkrampfen.

„Weißt du, diese wilde, freche Art ist eigentlich nur ein Schutz für mich. Ich wollte niemals jemandem von meiner Vergangenheit erzählen müssen, niemand hätte es je erfahren sollen. Das ist zwar jetzt geschehen, aber das heißt nicht, dass ich mein Verhalten verändern werde. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich werde ich noch burschikoser und jungenhafter, damit ja nie wieder ein Mensch auf die Idee kommt, mein Vertrauen erlangen zu wollen. Mein Leben ist nun mal mein Leben. Daran kann ich nichts ändern und eigentlich habe ich mich an die Einsamkeit gewöhnt, aber manchmal... Manchmal, da habe ich es so furchtbar satt!“

Zu Anfang war sie noch leise gewesen. Mit Fortschreiten ihrer Worte hatte sich die Lautstärke allerdings gesteigert. Als sie diesen letzten Satz hervorbrachte, schrie sie fast schon. Seto, der damit nicht wirklich gerechnet hatte, zeigte sich überrasch. Offensichtlich hatte er Kate Thompson in mehr als nur einer Hinsicht unterschätzt. Er kam nicht umhin, sie zu bedauern. Gleichzeitig aber spürte er einen unumstößlichen Entschluss in sich reifen, der sicherlich niemals in seinem Hirn aufgetaucht wäre, wenn Kate ihm nicht von ihrer Krankheit und deren Herkunft berichtet hätte. Sie tat ihm furchtbar Leid. Er empfand es als höchst ungerecht, dass es für sie niemals eine Heilung geben würde. Das hatte sie nicht verdient. Kein Mensch, und sei er noch so schlecht, tat das. Irgendwie wollte er ihr helfen. Zwar mochte er nichts an ihrem Zustand ändern könne, aber es gab etwas, was er tun konnte. es war vielleicht nur indirekte Hilfe, besser als Nichtstun war es jedoch allemal.

‚Auch Kate sollte eine Chance auf Leben haben. Auf ein richtiges, echtes Leben, das nur ihr gehört.’, schoss es ihm durch den Kopf.
 

Eine halbe Stunde später sah man Seto und Kate die Treppen ins Erdgeschoß runtergehen. Im ausladenden Flur der Villa drückte er der Rothaarigen schließlich ein Telefon in die Hand.

Mit den Worten ‚Ruf deinen Therapeuten an’ verschwand Seto im Wohnzimmer, eine perplexe Kate zurücklassend, die ihr Glück kaum fassen konnte, dass sie mit heiler Haut aus dieser Sache herausgekommen war.

‚Vielleicht kann sich mein Leben doch wieder bessern.’, überlegte sie mit dem Anflug eines Lächelns, tippte Banners Nummer ein und wartete, dass das Freizeichen ertönte.

Krisensitzung bei Kaiba

Das Telefonat war schneller erledigt, als Kate für möglich gehalten hätte. Banner war natürlich schon halb informiert gewesen. Entsprechend seiner bedächtigen Art, hatte er mit Vorwürfen hinterm Berg gehalten, sich nur danach erkundigt, wo Kate sich im Moment befand, wie es ihr ging und ob die drei Mädchen noch mal Probleme gemacht hatten. Danach schlug er vor, zu Kaibas Villa zu kommen, um eine kleine Krisensitzung abzuhalten. Immerhin gab es jetzt Mitwisser in Kates prekärem Krankheitsfall und Banner hatte so seine eigenen kleinen Pläne, was Seto Kaiba anging. Diese behielt er natürlich wohlweislich für sich, da er sich an einer Hand abzählen konnte, wie empört und ablehnend Kate auf sein Ansinnen reagieren würde. Auch was die Reaktion Kaibas anbelangte, wollte Banner sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Er ließ also Kate ein Treffen mit dem Geschäftsmann arrangieren, das praktischerweise bei den Kaibas daheim stattfinden sollte, damit man Seto nicht zusammen mit Kate in der Öffentlichkeit sah, woran beiden Parteien nur gelegen sein konnte. Nach allem was Banner wusste, hassten die Schüler sich bis aufs Mark. Das war zwar seinen Plänen ein wenig abträglich, aber nichts, was er nicht geradezubiegen wusste. Alles, was der Psychiater dafür benötigte, war ein bisschen Zeit und starke Nerven. Die hatte er allerdings sowieso, weil sie in seinem Beruf einfach unabdingbar waren. Man einigte sie schließlich auf drei Uhr nachmittags als geeignete Zeit für eine Krisensitzung, an der auch der jüngere Kaiba- Bruder würde teilnehmen dürfen. Der Kleine hatte ohnehin bemerkt, dass etwas ganz und gar nicht mit Kate stimmte, daher war es nur gerecht, wenn er eingeweiht wurde, zumal man ihn später noch als Babysitter für Ai einsetzen konnte, so denn Banners Plan aufging. Und das würde er. Dafür würde Lyman Banner alle Hebel in Bewegung setzen.

 

Bis zu dem geplanten Treffen lagen noch einige Stunden vor den Beteiligten. Seto brachte es sogar über sich, seine Nachforschungen DIS betreffend zu unterbrechen, um Kate das Haus zu zeigen. Er ging davon aus, dass, solange nichts Anderes verabredet wurde, seine Mitschülerin unter seinem Dach leben würde, auch wenn er damit nur halb einverstanden war. Andererseits kannte er nun ihre Geschichte und es verbot sich fast von selbst, grausam zu ihr zu sein. Deswegen biss Seto in den sauren Apfel und zeigte sich von seiner Schokoladenseite, was seinen Gast mehr als nur verwirrte. Aber das ahnte der junge Geschäftsmann nicht im Geringsten. Ohnehin hätte es ihn mehr amüsiert, als alles andere.

„Hier ist das Bad. Du hast es für dich alleine. Mokuba und ich benutzen jeweils ein anderes.“, informierte er die Rothaarige, „Wenn du etwas brauchst, dann läute nach dem Mädchen.“

Kate nickte, überwältigt von allem, was sie bislang zu Gesicht bekommen hatte. So viel Luxus, Pracht und doch Geschmack waren ihr nie zuvor untergekommen. Sie war ganz durcheinander, weswegen sie darauf brannte, sich zurückziehen zu dürfen, um zu duschen, sich frisch zu machen und wenigstens einen Teil der Schrecken zu vergessen, den ihre Erzählung heraufbeschworen hatte.

„In deinem Zimmer ist ein gut gefüllter Kleiderschrank. Bedien dich einfach.“, sagte Seto abschließend, schon an der Tür stehend.

Langsam nickte Kate.

„Danke.“, fügte sie ehrlich hinzu. Sie lächelte ihn, ganz entgegen ihrer normalen Art, schüchtern an.

Einen Moment lang war Seto ziemlich perplex, hatte sich aber rasch wieder in der Gewalt. Es ging doch nicht an, dass er wegen eines kleinen, harmlosen Lächelns aus dem Gleichgewicht geriet. Hastig nickte er Kate noch einmal zu. Dann machte er, dass er davon kam. Ihm war überhaupt nicht wohl in seiner Haut.

‚Ach was, das liegt nur daran, dass sie ausnahmsweise mal wie ein echtes Mädchen ausgesehen hat.’, versuchte er, sich weiß zu machen. Mit Erfolg sogar.

Kurz darauf nämlich war er wieder in seine Nachforschungen vertieft. Er hatte Kate fast vergessen.

 

Derweil ließ Kate warmes Wasser über ihren schlanken, sportlichen Körper rinnen, hielt ihr Gesicht in den wohltuend warmen Strahl und genoss einfach die Erleichterung, die so eine Dusche mit sich brachte. Gegen den Reinigungszwang war sie machtlos. Keine Therapie konnte sie völlig davon befreien. Allerdings war es schon sehr viel besser geworden damit, wie sie zugeben musste. Ganz entgegen ihrer ursprünglichen Erwartungen.

‚Und Kaiba ist gar nicht so ein schlimmes Ekel, wie ich dachte. Er war echt völlig anders als sonst.’, dachte sie, schon wieder ein Lächeln auf den fein geschwungenen Lippen.

Sie hatte ja mit allem gerechnet, aber bestimmt nicht damit, dass er sie so zuvorkommend, ja, höflich, behandeln würde. Viel mehr hatte sie geglaubt, er würde sie auf der Stelle aus dem Haus werfen und überall von ihrer Krankheit erzählen, bis sogar ihr einziger Freund, Ryou nämlich, sie verabscheute und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Wie viel dankbarer und erleichterter war Kate nun, da ihre Befürchtungen sich nicht bewahrheitet hatten. Sie konnte fast schon vergnügt sein. Nicht einmal das Gespräch mit Doktor Banner, welches ihr noch bevorstand, war in der Lage, ihr Angst oder Unbehagen einzuflößen. Irgendwie würde schon alles in Ordnung kommen. Davon war sie fest überzeugt. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren schien ihr ihre Zukunft wieder einigermaßen rosig. Vielleicht konnte sie dich ihr Abitur machen und Sport studieren. Vielleicht fand Kaiba eine Möglichkeit, die Forschung zu unterstützen. Und wenn kein Heilmittel dabei rumkam, so doch hoffentlich ein Medikament, das einem ein halbwegs normales Leben ermöglichte. Mehr wünschte Kate sich gar nicht. Einfach nur leben. Das war schon alles.

'Es wäre toll, wenn ich nicht immer Angst haben müsste, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren.', dachte sie, während sie sich abtrocknete und dann in dem Schrank nach Klamotten wühlte. Sie wurde rot, als sie Spitzenunterwäsche zutage förderte. So etwas hatte sie noch nie zuvor in ihrem Leben getragen. Aber bekanntermaßen gab es ja für alles ein erste Mal. Warum also sich zieren? Zumal ohnehin niemand ihre Unterwäsche zu Gesicht bekommen würde. Es gab also keinerlei Grund, sich anzustellen. Allerdings fiel es Kate dann doch deutlich schwerer, aus den restlichen Kleidern etwas auszuwählen, was ihr gefiel. Normalerweise kleidete sie sich recht jungenhaft. Am Liebsten Jeans und T-Shirt und ein Paar Sneakers. Cleo zog schon mal gern knappe, verführerische Kleider an, die ihre Umwelt von ihrer eigentlichen Stärke ablenken sollten. Ai mochte am Liebsten Kleidchen, während Sue konservative Bleistiftröcke und verhüllende Kleider bevorzugte. Von all dem fand sich in Kaibas Schrank ein bisschen was, ausgenommen Kinderkleidung. Schließlich entschied Kate sich für eine dunkle Röhrenjeans und eine weiße, ärmellose Bluse mit für Kates Verhältnisse recht tiefem Ausschnitt und Verzierungen aus Straß. Das Oberteil zuzuknöpfen nahm einige Zeit in Anspruch, da sich eine Unmenge an Knöpfen daran befanden und Kate nichts von solcher Fisselarbeit hielt. Socken waren leichter auszuwählen. Hier blieb es bei ganz normalen, dunkelgrauen Exemplaren. Insgesamt war Kate ziemlich überrascht, als sie sich im Spiegel betrachtete. Die figurbetonten Kleider standen ihr um Einiges besser, als sie erwartet hatte. Kate musste sogar lächeln. Dann betrat sie noch einmal das Bad, putzte ihre Zähne, föhnte ihr Haar und beschloss dann, es ausnahmsweise mal zu einem Zopf zu binden, was sie normalerweise nur tat, wenn im Chemieunterricht ein Experiment angesagt war. Aber seitdem Ryou ihr gesagt hatte, dass ein Zopf ihr stand, konnte sie das ruhig auch mal so tragen, fand sie. Lang genug waren ihre Haare ja. Und Kaibas ziemlich edles Shampoo hatte einen ihr bis dato unbekannten Glanz in das Rot hineingezaubert. Fast schon ein wenig eitel betrachtete Kate sich erneut im Spiegel. Sie vergaß völlig, dass ihr Geheimnis nun offenbart war und sie wahrscheinlich bald schon in der Klinik leben musste. Viel zu fasziniert war sie von dem Mädchen, welches sich ihr im Spiegel präsentierte.
 

Kate war sogar so versunken in die Betrachtung ihrer selbst, dass sie das Klingeln an der Haustür nicht mitbekam. Auch, dass an ihre Zimmertür geklopft wurde, bemerkte sie nicht. Nachdem er Banner ins Wohnzimmer geführt und Mokuba überlassen hatte, war Kaiba die Treppe hochgestiegen, um seinen unfreiwilligen Gast abzuholen, denn offensichtlich hatte Kate die Klingel nicht gehört. Andernfalls wäre sie sicherlich längst aufgetaucht. Also musste Seto sie wohl oder übel selbst herunterholen.

'Hoffentlich hat sie sich mittlerweile was angezogen.', dachte er bei sich, sich an die Aktion vom Vortag erinnernd, als er sie auskleiden musste, nachdem ihre Kleider ja vom Regen durchnässt worden waren. Nun stand er also vor Kates Zimmertür und wartete, dass sie ihn hereinbat oder die Tür selbst öffnete. Weder das eine noch das andere geschah, was Seto denn doch stutzen ließ. Aus diesem Grund erlaubte er es sich, die Klinke herunterzudrücken und die Tür aufschwingen zu lassen. Lautlos natürlich. Im Hause Kaiba gab es keine quietschenden Türen. Die wurden alle perfekt in Schuss gehalten. Dafür bezahlte Seto schließlich das Personal.

Der Geschäftsmann staunte nicht schlecht, als er Kate erblickte, die immer noch versunken war in ihr eigenes Abbild. Er hatte sie nie zuvor solche schmeichelhafte Kleider tragen sehen. Das war auch kein Wunder, denn meistens sah er sie nur in der Schule und dort trugen sie diese unglaublich hässliche Uniform. Im Sport war es ähnlich. Aber jetzt erkannte Seto die Klassenkameradin kaum wieder. Die Bluse umschmeichelte ihre weiblichen Rundungen, die enge Jeans schmiegte sich an die wohlproportionierten und trainierten Beine wie eine zweite Haut. Auch farblich gab es an der Kombination absolut nichts auszusetzen, vor allem, da es wunderbar zu Kates langen, roten Haar passte. Ausnahmsweise trug sie sie zu einem Zopf hochgebunden, was Seto nur ein paar Mal in Chemie und Sport gesehen hatte. Normalerweise war diese Haarpracht ungezähmt und wurde von Kate offen getragen. Eine anständige Frisur ließ sie um Einiges ernsthafter und erwachsener wirken. Seto musste schlucken. Er hatte nicht damit gerechnet, mit einem so attraktiven Mädchen konfrontiert zu werden. Einen ziemlich langen Augenblick starrte er sie einfach nur an, dann räusperte er sich allerdings laut. Daraufhin zuckte Kate zusammen und wandte ihm ihren Blick zu.

„Dein Arzt ist da.“, verkündete Seto steif, sich abrupt mit dem Rücken zu ihr drehend.

Kaum, dass Kate das vernahm, riss sie sich von ihrem Spiegelbild los und kam mit eiligen Schritten auf Seto zugeeilt.

„Wo ist er?“, wollte sie beinahe atemlos wissen.

„Unten im Wohnzimmer zusammen mit Mokuba.“, erwiderte Seto, als Kate schon an ihm vorbei rauschte, der Treppe zu. Ganz unwillkürlich blieb der Blick des jungen Mannes an ihrem wohlgeformten, straffen Hinterteil hängen. Wieder musste Seto schlucken. Er war eben auch ein Mann und manchmal gegen die Hormone machtlos. In diesen Fällen konnte er sich leicht Abhilfe beschaffen, aber das ging momentan nicht. Bevor er sich endgültig in gewagten Gedanken verlieren konnte, sah er zu, dass er ebenfalls im Wohnzimmer landete. Immerhin stand ihm noch ein ernstes Gespräch bevor.
 

Lyman Banner war sofort in Alarmbereitschaft gewesen, nachdem sein Kollege ihn informiert hatte. Auch Kates Anruf hatte nur dazu beigetragen, diese noch zu vergrößern. Allerdings hoffte der Psychiater, dass es ihm gelingen würde, eine halbwegs gute Lösung zu finden. Jetzt saß er im Wohnzimmer von Seto Kaiba, während der jüngere Bruder des Geschäftsmannes nervös vor sich hin plapperte, um keine drückende Stille aufkommen zu lassen, während sie auf Kaiba und Kate warteten. Mehrere Minuten musste Banner sich denn doch gedulden, die er jedoch mit stoischer Gelassenheit ertrug. Er hoffte, dass es Kate den Umständen entsprechen gut ging und sie nicht völlig panisch war, weil sie Angst hatte, wieder in stationäre Behandlung zu müssen. Wenn es eins gab, was der Arzt nicht wollte, dann war es, dass Kate ihren Traum vom Sportstudium aufgeben musste. Wie die anderen jungen Menschen, die Banner betreute, hatte auch sie bereits genug durchgemacht im Leben, weswegen er arg hoffte, ihr irgendwie helfen zu können.

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss Banner aus seiner Überlegung. Kate betrat den Raum. Banner stutzte. War das tatsächlich seine Patientin? Nachdem er die junge Frau einer eingehenden Musterung unterzogen hatte, die kaum eine Minute in Anspruch nahm, war er sicher, Kate vor Augen zu haben. Allerdings war es das erste Mal, dass er sie in so weiblicher Kleidung zu Gesicht bekam. Noch dazu trug sie ihr langes, rotes Haare nicht offen, wie üblich. Banner musste zugeben, dass ihr der Look außerordentlich gut stand.

'Das sollte sie öfter tragen.', dachte er bei sich, während er ihr ein Lächeln schenkte.

Schüchtern erwiderte Kate dieses Lächeln, ehe sie sich gegenüber von Banner und Mokuba niederließ. Kaum eine Minute später trat auch Kaiba auf den Plan. Er nahm neben Kate Platz, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre. Wieder herrschte einen Moment Schweigen, ehe Seto beschloss, dass es an der Zeit war, Nägel mit Köpfen zu machen. Er räusperte sich kurz, um sich des Gehörs aller Anwesenden zu versichern, dann aber sagte er: „Also, Doktor, ich nehme an, dass Kate Ihnen bereits erzählt hat, was vorgefallen ist. Wie sieht das Ganze Ihrer Meinung nach aus? Kann man irgendwie helfen?“

Banner zog eine Augenbraue hoch. Dass Kaiba geradeheraus war, überraschte ihn nicht. Aber dass er gleich so mit der Tür ins Haus fiel?
 

Es war gar nich so einfach, Kaibas Frage auf Anhieb zu beantworten, weswegen Banner auch mehrere Minuten lang schwieg. Eben so lange, bis er eine geeignete Antwort gefunden hatte, die ihm seine schönen Pläne nicht kaputt machte, sondern hoffentlich zu deren Erfüllung beitrug.

„Ja, Kate hat mir ausführlich Bericht erstattet, so dass ich über die Geschehnisse bestens im Bilde bin.“, begann Banner, der seine Brille zurechtrückte. Wie immer, wenn er nervös war. Diesen Tick kannte allerdings nur Kate von ihm und sie war die Letzte, die ihren Arzt bloß stellen würde.

„Was die momentane Situation anbetrifft... nun, ich bin nicht ganz sicher,ob es so klug wäre, Kate wieder im Wohnheim abzuliefern. Mrs McKenna ist zwar eine herzensgute Frau,aber sie hat genug mit den anderen Bewohnern zu tun, die zweifelsohne deutlich anstrengender sind als Kate es je sein könnte.“

Das war nur die Einleitung, ein Köder, und Banner war gespannt, wie Kaiba darauf reagieren würde. Zunächst einmal sagte der Firmenchef nichts. Er zog nur eine Augenbraue hoch, während er Banner kritisch musterte.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir darum, dass Kate ein wenig Zuwendung erfährt und die bekommt sie im Heim nicht. Ich weiß nicht, inwieweit Sie Bescheid wissen über die Vergangenheit meiner Patientin...“

„Ich bin über alles informiert, danke.“, unterbrach Kaiba kühl, den es nervte, wenn Menschen um den heißen Brei herumredeten. Das war unnötige Verzögerung und so was konnte er nicht leiden.

Bei seinem Tonfall zuckte Kate neben ihm empfindlich zusammen, doch Seto gab vor, es nicht zu bemerken. Mokuba war weiterhin stumm wie ein Fisch. Er fühlte sich ziemlich fehl am Platze, was man ihm auch anmerkte. Nun war es an Banner die Augenbraue hochzuziehen. Prüfend warf er Kate einen Blick zu, den diese jedoch erwiderte. Es wunderte den Arzt ziemlich, dass sein Schützling Kaiba eingeweiht hatte. Aber andererseits hatte sie wohl kaum eine andere Wahl gehabt. Ein leiser Seufzer entfuhr Banner.

„Nun, dann wissen Sie also, dass Kate keine Eltern mehr hat und auch sonst niemanden, der sich um sie kümmern kann. Zumindest niemand, den Blutsbande mit Kate verbinden. Insofern ist es schwierig für die nötige menschliche Zuwendung zu sorgen, derer das Mädchen definitiv bedarf. Ich bin nun schon seit einigen Jahren ihr Therapeut und darf wohl von mir behaupten, sie gut zu kennen, daher bin ich in der Lage, diese Sache zu beurteilen.“

Das war eine kleine, unverhohlene Warnung an Kaiba, den Bogen nicht zu überspannen. Banner mochte es ganz und gar nicht, wenn man seine Kompetenz in Frage stellte. Und das tat Kaiba mit jeder Geste, jedem Blick und jedem Wort, welches er bislang gesprochen hatte.

„Und was schlagen Sie vor?“, wollte Seto fast schon gelangweilt wissen.

„Sie braucht eine andere Bleibe als das Heim und jemanden, der sich um sie kümmert.“

Jetzt legte Banner die Karten offen auf den Tisch. Mal sehen, wie der arrogante Klotz ihm gegenüber das interpretierte.

„Ist eine stationäre Therapie nötig?“, wich Kaiba geschickt aus.

Es war ja nicht das erste Mal, dass er ein haariges Gespräch führte. Und er würde gewiss keinen Zoll von seinem bereits beschlossenen zukünftigen Tun abweichen. Das merkte auch Banner, der fast schon salbungsvoll lächelte. Dieser Schlagabtausch mit dem grünen Bengel erwies sich als außerordentlich interessant. Er war gespannt, wie sich das Gespräch weiter entwickeln würde. Zunächst einmal aber schüttelte er auf Kaibas Frage hin den Kopf.

„Nein, das ist wirklich nicht notwendig. Es sei denn, es findet sich niemand, bei dem Kate leben kann.“, fügte Banner hinzu.

Kate zuckte leicht zusammen. Wollte ihr Arzt damit andeuten, dass sie bei Kaiba leben sollte? Bei dem Typen, den sie am meisten auf der Welt hasste? Na ja, fast am meisten. Ihren Onkel hasste sie definitiv mehr. Um Einiges mehr. Außerdem war Kaiba ja erstaunlich nett zu ihr gewesen, von daher...



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (15)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2010-06-28T19:12:43+00:00 28.06.2010 21:12
Oh Mann, jetzt wo es so spannend wird, musst du abbrechen T_T
Mach so schnell wie möglich weiter! Die Story hat gerade einen Knick nach oben gemacht. Bin schon wahnsinnig gespannt, wie es weitergeht und ob Kaiba Kate jetzt überhaupt noch sehen will. Immerhin ist sie ja für seine Verhältnisse "gestört" und extrem belastend.
Ein Crossover in der Psychiatrie wäre doch lustig :-D Magersucht - Manie - Milleniumsring. Das volle Programm :-D

LG
Von: abgemeldet
2010-06-28T18:05:11+00:00 28.06.2010 20:05
O_O Oh Gott, jetzt wird es aber richtig spannend. Dass sie so schnell mit der Wahrheit rausrückt, hätte ich nicht gedacht! Bin jetzt echt baff....
Von: abgemeldet
2010-06-28T16:21:40+00:00 28.06.2010 18:21
So, da bin ich wieder ^^
Ich fasse mich kurz, da noch zwei weitere Kapitel auf mich warten :-)
Musste mich nach so langer Zeit wieder etwas einlesen, aber jetzt bin ich wieder "geupdated" und muss sagen, dass mir die Story nachwievor gut gefällt. Mokuba kommt mir jedoch erwachsener vor, als in der Serie ;-) Ist natürlich nicht schlimm, ich finde es passt auch besser zu ihm.
Nachwievor kann ich nur den Daumen nach oben halten.

Bis nachher!
Von: abgemeldet
2010-05-09T10:38:27+00:00 09.05.2010 12:38
Jetzt fehlt noch, dass er sie wickeln muss :-D
Bin mal gespannt, ob Kate Seto irgendwann mal beichten wird, was ihr eigentliches Problem ist. Und dann ist da noch Kura, der vor allem um die Gunst von Cleo buhlt. Ich seh da ne Menge Drama auf mich zukommen :-D
Ansonsten gibts vom fleißigen Bienchen nichts zu beanstanden. Das Kapitel hat mir gut gefallen :-)!!!!!!!

LG
Mani
Von: abgemeldet
2010-04-25T18:31:29+00:00 25.04.2010 20:31
Endlich bin ich zum Lesen gekommen.
Musste mich aber noch durch die vorherigen Kapitel kämpfen, weil der ganze Schulstoff alle Erinnerungen aus meinem Kopf verbannt hat.
Das geht ja schnell, dass Kura sich von Cleo beeindrucken lässt. Demnach müsste demnächst ein Überflieger-Kapitel kommen. Seto wird bestimmt auch noch eine zentrale Rolle spielen, aber wenn das losgeht, fangen die Probleme wohl erst richtig an. Bin mal gespannt, was du dir einfallen lässt ^^
So long.

Mani
Von: abgemeldet
2010-03-04T19:14:20+00:00 04.03.2010 20:14
ahh, wie cool :-D Kura und Cleo werden echt dicke Freunde :-D!!!! Oder auch ein Paar? ;-)
Hab mich schlapp gelacht, als ich gelesen habe, was Ryou sich alles an TV-Müll reinzieht. Kann ich mir gut vorstellen, wie er vor der Röhre sitzt und bei kitschigen Filmen ein Taschentuch nach dem anderen vernichtet :-D.
Kaiba ist zwar noch immer der Arsch der Welt, aber diesmal kam er mir etwas zuuuu freundlich vor. Ob er dadurch irgendwas bezwecken will? Na, das wird sich schon noch herausstellen.

Super Kapitel :-D Und auch die Länge ist einfach optimal! Du hast eine hohe Erzähldichte und es wäre schade, wenn du das mit so wenig Worten ausformulierst. Aber über 4000 Wörter = einfach perfekt.

LG
Mani
Von: abgemeldet
2010-02-25T20:37:08+00:00 25.02.2010 21:37
Mann, Mann, ist Ryou aber neugierig ^^. Aber es gefällt mir. Bin mal gespannt, wie er wirklich reagiert, wenn Kate ihm erzählt, dass sie ein ernsthaftes Problem hat :-D Ich glaube, das würde ihm sogar gefallen. Denn immerhin hat er dann jemanden, der sein Kura-Problem nachvollziehen kann ^^

Tolles Kapitel, wie immer. Nur leider wieder soooo kurz T_T

LG
Mani
Von: abgemeldet
2010-02-17T20:28:50+00:00 17.02.2010 21:28
Entschuldige, dass ich erst so spät dazu komme dir ein Kommentar zu hinterlassen, aber ich war die letzten Tage ganz schön auf Achse (nein, ich bin kein Alkohol-Fansching-Opfer :-D!!).

Ich finds schön, dass man zu Beginn schon etwas über Kates eher trauriges Leben erfährt. Beleuchtest du Kaibas Privatleben auch mal? Er ist schließlich auch alleine und steht mit einem Bein im Teufelskreis der Vereinsamung. Sein großes Ego lässt kein Platz für andere in seinem Leben.
Hach, die Story gefällt mir echt sehr gut! Was kann ich da schon groß kritisieren? Vielleicht die Länge der Kapitel? ;-P Da muss mehr rein! Mehr Input, bitte :-D Dann hab ich genug, woran ich mich erfreuen kann.

LG
Mani
Von:  Mercurybot
2010-02-17T17:43:07+00:00 17.02.2010 18:43
Oh ich liebe deine Story *-*
Wirklich sehr spannend! Ich find auch nichts was man kritisieren könnte=)
Dein Schreibstil ist echt gut, ich könnte das nicht so^^
Auch ne coole Idee Banner mit einzubauen ^.-
Freu mich schon aufs nächste Kapi=)
Von: abgemeldet
2010-02-07T11:44:53+00:00 07.02.2010 12:44
Wow, mal wieder ein gelungenes Kapitel ^^ Mann, dein Schreibstil ist um längen besser als meiner :-(! Du beschreibst die Dinge viel ausführlicher und nicht so abgehackt wie ich.....
Also ich glaube, dass sich da was mit Ryou anbahnt :-D Yami Bakura wird sich bestimmt hervorrangend mit Cleo verstehen ^^
Bin mal gespannt, wann Ai so richtig in den Vordergrund tritt und nach einer Gutenachtgeschichte jammert :-D

LG
Mani


Zurück