Zum Inhalt der Seite

Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Schnapps und Teufel

Meine Idee Mary-Ann zu befreien war leicht gesagt, mehr aber auch nicht.

Ich verbrachte die Nacht sitzend und grübelnd, doch auf eine Idee kam ich nicht einmal annähernd. Pitt hatte mich allein gelassen, den Brei jedoch neben mir hin gestellt. Ich rührte keinen Bissen an. Als der Morgen kam, wollte er mich erneut zum Essen bewegen, jedoch ignorierte ich jeden seiner Versuche. Ich fand es seltsam, dass der Zuchtmeister nicht erneut zu mir kam, nun, wo ich wach war. Dass ich im Tollzimmer untergebracht wurde, war ebenso merkwürdig. Und wieso wollte der Zuchtmeister unbedingt, dass ich von dort verschwand?

Es musste bedeuten, dass ich ihm außerhalb dieses Gebäudes weniger gefährlich werden könnte. Also musste sein Geheimnis hier sein, irgendwo, gut versteckt.

Sie stellten Mary-Ann ruhig. Ich vermutete, in ihrem Essen war von nun an eine höhere Dosis von dem Beruhigungsmittel. Ich schaffte es nicht mehr annähernd, zu ihr durchzudringen. Sie saß nur da und starrte leer vor sich hin, nicht einmal mehr eine Melodie gab sie von sich. Ich nahm mir fest vor, hier her zurück zu kehren, sobald ich frei gesprochen worden war. Man musste sie retten, ehe sie verbrennt wurde. Unbedingt!

Dann war es so weit, meine Anhörung. Der Zuchtmeister persönlich holte mich aus dem Zimmer, schweigend wie eh und je. Er war unfreundlich, schob und zog mich und sagte kein einziges Wort. Es schien fast so, als wäre nie etwas passiert, als hätte es nie eine Auseinandersetzung gegeben und als wäre ich ein normaler Insasse. Interessanterweise wurde er stets von zwei Wachmännern begleitet, was mir Nachfragen nicht möglich machte. Ich beschloss kühl zu wirken. Nicht umsonst hatte ich Wochen, fast drei Monate, Zeit gehabt, um mir mein Verhalten genaustens zu überlegen. Ich wollte stolz sein und stark wirken, aber dennoch irgendwie unschuldig. Logisch und intelligent. Ich wollte, dass, wenn ich anfing zu reden, sie mir einfach alles glaubten. Es musste einfach stimmen, was ich sagte, denn ich war schließlich nicht dumm. Diese Wirkung auf Menschen zu haben war schwer, besonders bei einem Richter - aber es war sicherlich nicht unmöglich.

Ich wurde auf den Hof gebracht und dort sollte ich mich ausziehen, was ich tat, ohne zu murren. Sie übergossen mich mit Wasser, um den beißenden Gestank des Tollzimmers los zu werden und gaben mir ein neues Leinenhemd und eine alte Hose. Das Hemd erkannte ich wieder. Die Hausmutter hatte es einem der Insassen abgenommen und ohne Frage war auch die Hose Eigentum eines Gefangenen. Man band meine Hände vor meinem Bauch zusammen und so warteten wir. Um mich herum waren vier Rotröcke postiert. Scheinbar war ich nicht der einzige, der angehört werden sollte. Ich ignorierte die gehässigen Blicke der Hausmutter und auch das düstere Gesicht des Zuchtmeisters. Viel mehr sah ich mir das alte Gebäude genaustens an. Ich inspizierte von Weiten die Fenster, die Simse darunter und auch die Wände. Ich hatte nicht viel Zeit, bald würde man Mary-Ann sicherlich abholen. Vorher musste ich einen Weg ins Tollzimmer finden – und wieder hinaus. Das zweite war ohne Frage das schwerste Unterfangen.

Eine Gruppe aus acht Gefangenen wurde zu uns eskortiert. An ihrer Spitze war Robert McGohonnay. Ich musste unwahrscheinlich lachen, als ich ihn erkannte und ließ es mir nicht nehmen, zu rufen:

„Na, Robert?! Hat wohl nix gebracht, den Katholiken das Deck zu schrubben, was?!“

Denn tatsächlich war er einer der vielen gewesen, die einen Vertrag bei O’Hagan unterschrieben hatten, um ihren Kopf zu retten. Robert schnaubte vor Wut und wollte auf mich losgehen. Man hielt ihn fest und ich lachte nur umso mehr.

Aber nicht nur er war reingelegt worden. Auch vier weitere Verräter waren dabei. Zudem ein dritter Matrose und Mathew Hullingtan Black. Der Alte Seebär war mürrisch und sichtlich mies gelaunt, großartig verändert hatte er sich im Laufe der Wochen aber nicht. Er hinkte auf seiner Krücke am Ende der kleinen Gruppe, seinen Dreispitz auf dem Kopf und mit gestutztem Bart. Ich fragte mich, wie er es angestellt hatte, in einem Gefängnis seinen Bart zu schneiden. Es war ein interessanter Anblick. Den roten Mantel hatte man ihm abgenommen, ebenso die Musketen, Messer und seinen Säbel. Dennoch wirkte er imposant und herrisch. Sein weißes Hemd war verdreckt, seine Hose voller Staub und Schlamm. Als er mich erkannte, grinste er und zwinkerte mir mit seinem Glasauge zu. Ich grinste zurück.

Die Soldaten waren mit ihm völlig überfordert. Erst wollten sie seine Hände auf den Rücken binden, dann nach vorn, dann seine Beine zusammen und immer wieder erinnerte Black sie freundlich an sein Holzbein oder seine Krücke. „Aye…“; brummte er und warf ein kurzes, amüsiertes Lächeln zu mir herüber. „Wenn die Herren so nett wären, zu beachten, dass ich den Arm zum Laufen brauche?“

Die zwei Rotröcke tauschten unsichere Blicke aus. Irgendwie mussten sie ihn schließlich fesseln. Einer von ihnen schien eine Idee zu haben und wollte die Schlaufe um Blacks Bauch binden, jedoch war dieser viel zu dick. „Bei der Jungfrau Maria – wenn es sie denn gibt!“, lachte der alte Pirat dabei. „Wollt Ihr mich umbringen? Ich ersticke!“, ich konnte mir ein Grinsen kaum mehr verkneifen und sah unschuldig zu Boden. Wie hatte ich den alten Seebären vermisst! Der nächste grandiose Plan war, die Schlaufe um Blacks Hals zu legen. „Gewöhnung für den Galgen.“, nannte Black das. Aber die Seillänge war so geringe, dass er gebeugt laufen müsste, würde man ihn am nächsten Gefangenen festbinden. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie ihn nur um das Handgelenk fesselten, an einem Arm und so beließen sie es dann auch. Mehrmals sahen die Rotröcke unsicher nach allen Seiten. Scheinbar hatten sie Angst, erwischt zu werden.

Als alle gefesselt waren, kam wieder jener Mann von unserer Ankunft. Der dicke Kerl mit den roten Kleidern, die viel zu eng waren. Wie auch beim ersten Mal war sein Kopf puterrot. Er befahl den Soldaten Stellung zu nehmen, dann griff er eine Liste hervor und begann zu notieren. Er kritzelte unsere Namen und irgendwelche unlesbaren Dinge auf sein Pergament. Black musterte währenddessen das Werk seines Fesselkünstlers, als würde er ein Kunststück betrachten. Er drehte seine Hand und mit einem Mal war die Schlaufe schon ab. Freundlich sprach er den Rotrock darauf an und dieser band ihn wieder fest.

Ich hielt die Luft an, um nicht zu lachen, denn schon nach wenigen Sekunden war Black bereits wieder los. Der Alte beschloss, es aufzugeben. Die Soldaten waren ohne Frage zu nichts zu gebrauchen. Er seufzte, schüttelte den Kopf und nahm das Seil einfach in die Hand.

Als der Dicke fertig war, ließ er seinen Blick kreisen, um sicher zu gehen, dass er niemanden vergessen hatte und dass alle wirklich gesichert waren. Ihm fiel Blacks kleiner Unfall nicht auf, was uns nur umso mehr amüsierte. Und schon gingen wir los.

Ich war enttäuscht, als ich merkte, dass wir diesmal nicht gefahren wurden. Wir marschierten quer durch die Stadt, stets die Augen der Rotröcke im Nacken. Mehrmals kam mir in den Sinn, einfach los zu rennen, aber sicherlich hätte ein schneller Hieb mit dem Degen mich binnen weniger Augenblicke nieder gestreckt. Auch wenn ich die wage Vermutung hatte, sie würden es erst nach einigen Sekunden registrieren, dass ich überhaupt weg war, doch ich wollte nichts riskieren.

Die Bewohner der Stadt musterten uns und machten einen großen Bogen um die so schrecklichen und blutrünstigen Gefangenen. Einige Kinder liefen mit uns mit, andere wurden von ihren Eltern weg gezogen. Vorne an lief der Dicke, direkt hinter ihm Robert, dahinter fünf andere Matrosen deren Namen ich nicht kannte, drei weitere Männer, ich und zuletzt hinkte Black.

Wir alle schwiegen eine Zeit lang, aber ich wollte mit Black reden. Ihm ging es genau so, denn ich merkte, wie er versuchte schneller zu humpeln, um mich zu erreichen und so blieb ich stehen und stöhnte, während ich mir den linken Knöchel hielt: „Verdammt…!“

„Hey!“, einer der Rotröcke trat vor und sofort hielt die gesamte Gruppe an. „Was soll das?! Weiter!“

„Ja, ja.“, langsam richtete ich mich wieder auf und wollte weiter laufen, doch ich konnte nur humpelnd gehen. „Verflucht!“

„Was ist los?!“, fuhr mich der Rotrock an.

„Mein Fuß schmerzt, ich kann nicht so schnell!“

„Weiter, sage ich!“

„Ja doch!“

Die Gruppe ging weiter, etwas langsamer. Keiner der Rotröcke hatte großartige Lust, mich zu schleifen oder gar zu tragen. Black holte auf und stützte mich.

„Aye, Son, die Beine sind das Schlimmste, was?“, ich hörte ein Grinsen in seiner Stimme.

„Da sagt Ihr was.“

„Schon Angst vor dem Galgen?“, Blacks Grinsen stieg. Durch das schlechte Essen roch sein Atem mehr nach Verwesung als sonst und ich musste kurz warten, ehe ich Luft holen konnte. Ich schüttelte den Kopf und zischte: „Ich bin unschuldig, schon vergessen? Ich war nicht auf der Liste und habe den Kodex nicht unterschrieben.“

Einer der Rotröcke warf uns einen unsicheren Blick zu. „Hey. Hört auf damit, auseinander!“

Black klopfte mir auf die Schulter und während er mich wieder ließ flüsterte er: „Aye, der runde Robin geht um, Son. Und auf seiner Stirn steht sein Name.“

Erst verstand ich ihn nicht, doch dann sah ich Roberts Blick. Er hatte sich umgedreht und mich angegrinst. In seinen Augen flimmerte Wahnsinn und Hass. Er verfluchte mich und wünschte mir mehr als nur den Tod. Ich erstarrte. Er hatte mich verraten. Jemand hatte meinen Namen auf den roten Robin geschrieben und es war offensichtlich, wer das war.

Ich hörte Black ein Liedchen pfeifen, Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste. Er pfiff die Melodie und mich befiel die Gänsehaut. Ich schaffte es nicht, den Blick von Robert zu lösen und der Hass lähmte mich innerlich fast voll und ganz. Wie in Trance lief ich weiter, ich vergaß zu humpeln und die glotzenden Gesichter um uns herum waren nichts weiter, als lebendiger Hintergrund. Ich hatte verloren, ich kam an den Galgen, ich war auf der Liste der Meuterer. Und ich stand ganz oben drauf. Dieser Verräter, dieser Bastard…!

Dann begann Black zu singen:

„Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste,

Yohoho und 'ne Flasche voll Rum!

Schnaps stand stets auf der Höllenfahrtsliste

Yohoho und 'ne Flasche voll Rum!“

Und leise flüsterte ich:

„Schnaps und Teufel brachten alle um...“

Stück für Stück begann jeder der Gruppe mitzumachen und auch wenn die Wachen uns zum Schweigen aufforderten, wir sangen weiter. Nur Robert schwieg.

Es wirkte wie ein letzter Kampf, wie eine Art Siegeszug zur Niederlage. Die tiefen Männerstimmen hallten durch die Straßen und mit jedem Schritt fiel mir das Atmen schwerer. Ich fiel mit ein, um die Enge in meinem Innern los zu werden, um die Todesangst zu verdrängen. Ich stand auf dem Robin, ich stand oben drauf. Es war aus, vorbei. Wäre ich doch nur geflohen, als ich noch die Zeit dazu gehabt hatte…! Die Chance…! So sehr es ging, versuchte ich Stärke und Kraft in meine Stimme zu legen.

„Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste,

Yohoho und 'ne Flasche voll Rum!

Fünfzehn Mann schrieb der Teufel auf die Liste,

Schnaps und Teufel brachten alle um!“

Meine Knie wurden ein wenig weich, aber ich wollte das nicht. Ich wollte mir keine Schwäche eingestehen, ich wollte stark sein, irgendwie. Den Männern vor mir erging es ähnlich wie mir, nur wussten sie bereits seit längerer Zeit, dass ihr Ende nun gekommen war.

Jedes Mal, wenn wir am Ende des Liedes ankamen und es von neuem begannen, brach meine Stimme etwas bei der Zeile Schnaps und Teufel brachten alle um. Wir gingen quer über den Marktplatz und passierten den Galgen. Noch nie zuvor war er mir so riesig erschienen. Er stand bereits seit Uhrzeiten da, ich hatte den Marktplatz nie ohne ihn erblickt, aber an diesem Tag schien er mich bei Weitem zu überragen. Sein Querbalken war lang genug, um genau zehn Menschen in den seligen Tod zu stürzen. Ich schluckte schwer beim Anblick der Stricke und für einige Augenblicke verklang unser Lied. Dann sangen wir weiter, intensiver, überzeugter. Das war unser Weg, da führte nichts drum herum. Drei Männer waren gerade damit beschäftigt die vor uns Gehängten herunter zu holen und auf einen alten Holzkarren zu werfen. Beißender Geruch drang zu uns herüber und einige Krähen schreckten hoch. Sie flatterten hörbar auf, wie die Boten des Todes. Mein Blick heftete sich wie gebannt auf eine einzelne, schwarze Feder, die hinunter segelte und dann auf die Leichen. Sicherlich hatten sie gut eine Woche dort gehangen und im Wind umher gebaumelt. Aus einem von ihnen tropfte gelblich-weiße Suppe auf den Boden und die Schmeißfliegen waren so stark vertreten, dass man sie noch von weitem hörte. Ich roch das Salz und den Teer, wir waren in der Nähe des Hafens und zwischen den herunter gekommenen Häusern erkannte ich das Meer. Es glitzerte mir zu, als würde es mir die Freiheit zeigen wollen.

Dann erreichten wir das Richtergebäude. Wahrscheinlich war es das größte und einzige Haus, das in so guter Verfassung war – abgesehen von der Kirche und dem Kloster. Es war aus rotem Backstein mit hohen Fenstern und zwei riesigen Türen, fast einem Tor. Man musste eine winzige, abgerundete Treppe hinauf, die unten breiter war als oben und an deren Seiten große, dicke Geländer waren mit steinernen Kugeln an den Enden. Wir wurden hinein geführt. Ich starrte hinauf zu dem imposanten Steinwappen. Ein Stück Stein, bemalt und verziert. Es war blutrot mit einem schwarzen, eingravierten Pferd umgeben von weißen Sternen und wirkte fast wie neu. Seitlich an der Wand waren zwei Flaggen befestigt, ebenfalls jene mit dem Wappen St. Katherines und darunter war ein Schild:

„Gericht.“

Wir gelangten gerade erneut an die zweite und letzte Strophe und unser Gesang verwandelte sich in Flüstern, ehe er völlig verklang. „Und Schnaps und Teufel brachten alle um.“ Dieser Satz hallte lange in meinem Kopf nach. Während wir durch die riesigen, befliesten Flure gingen, matt beleuchtet durch die hohen Fenster und die reich wirkenden Lampen an den Wänden. In einigen Abständen standen Rotröcke bereit, stur geradeaus starrend und ich erkannte viele Türen und einige Treppen.

Dann erblickte ich ihn. Unsere Truppe hielt an und wartete, bis er an uns vorbei war. John Anderson O’Hagan. Jener Mann, den Black, ebenso der Esel der Teufel nannten.

Wie auch damals auf See trug er seinen roten Mantel, passend zu seinem Hut und eine weiße, stechend weiße, Perücke. Der Gouverneur blieb vor dem Dicken stehen. Er sah uns nicht an, im Gegenteil, wir schienen wie Luft für ihn. Er nahm dem Dicken lediglich das Schreiben ab und studierte mit kalten, eisblauen Augen das Gekrakelte. Anschließend reichte er es zurück und ging zum Richtersaal.

„Und der Teufel…“, flüsterte ich leise und schluckte schwer. „...brachte alle um...“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück