White cube
Sooo...
Hallo!
Es ist wohl an der Zeit, endlich ein paar neue Leser zu begrüßen: ein herzliches Willkommen an Starlett, catgirl222 und Kazuha92!
So- nun also Kapitel fünf. Wie die meisten von euch wohl schon ganz richtig vermutet haben, spielt Shinichi in diesem Kapitel wieder eine größere Rolle- und ja; er hat das Gegengift bekommen; die Frage wär in diesem Kap ohnehin beantwortet worden. :)
Ach ja, Ai- die ich im letzten Kapitel ja ziemlich viel sagen ließ- nun; ich finde, auch Ai hat irgendwo ein Herz, und sie ist nicht blöd. Sie weiß, der Moment ist gekommen, endlich mal die Klappe aufzumachen, alles andere wäre unfair gegenüber Ran, und auch gegenüber Shinichi, von dem Ran ja ansonsten eine völlig falsche Meinung gekriegt hätte.
Ai ist auch nur ein Mensch.
Ansonsten wünsche ich euch viel Vergnügen beim Lesen!
MfG, Leira
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Shinichi schaute sich um. Langsam war die Erschöpfung gewichen und jetzt stand er da… und schaute sich eben um. Viel gab es allerdings nicht zu sehen.
Die Zelle war weiß, der Boden und die Wände gefliest, die Decke gestrichen. Eine Neonröhre tauchte alles in kühles, unwirkliches Licht. Keine Möbel, kein Teppich.
Nichts.
Nichts, nichts, nichts…
Alles weiß und farblos, glatt und sauber.
Er seufzte, versuchte Ordnung in das Gedankenchaos in seinem Kopf zu bringen.
Warum hatten sie ihm das Gegengift gegeben? Hatten sie etwa Skrupel, einen kleinen Jungen zu… töten?
Gedankenverloren zerrte er an seinen schwarzen Klamotten. In den Sachen bildete er einen krassen Kontrast zu dem weißen Raum, der ihn umgab.
Er fühlte sich unwohl in den Kleidungsstücken.
Sehr unwohl.
Er drehte sich einmal um die eigene Achse, langsam, um sicherzugehen, dass er auch wirklich nichts übersah, aber seine erste Analyse war durchaus richtig gewesen… der Raum war mit Ausnahme von ihm selber, völlig leer.
Er seufzte erneut, ging dann zur Tür, hämmerte dagegen, schrie und brüllte, griff nach dem Türgriff, rüttelte daran. Natürlich rührte sich die Tür keinen Millimeter. Wahrscheinlich war der Raum sogar schalldicht.
Er holte aus und trat dann mit voller Kraft gegen die Tür, eine Aktion, die er umgehend bereute, als sich ein pochender Schmerz in seinen Zehen einstellte.
Shinichi fluchte, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür, streifte den Schuh ab, zog die Socke aus und massierte vorsichtig seine malträtierten Zehen.
Es ging hier wirklich nicht raus, er saß fest.
Keine Fenster, kein Lüftungsschacht, keine verborgenen Falltüren oder Deckenluken, keine Wände, die zur Seite glitten und mysteriöse Geheimgänge freigaben… und eine Tür, die sich nicht nur als ordnungsgemäß verschlossen, sondern zudem als äußerst solide erwiesen hatte.
Er seufzte schwer, bückte sich nach Socke und Schuh und zog beides wieder an.
Besonders warm war es hier auch nicht.
Alles andere als heimelig.
Er grinste sarkastisch.
Nicht eben gemütlich hier…
Shinichi ging zur Rückwand seiner Zelle und ließ sich auf den Boden sinken, die Tür nicht aus den Augen lassend.
So wie’s aussah, musste er das hier wohl aussitzen. Abwarten, was kam.
Er fragte sich, wie es Ran wohl ging. Nach… nach allem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte. Und wie Ai und die anderen auf sein Verschwinden reagiert hatten.
Er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, dem Professor die Mail zu schicken, es war alles viel zu schnell gegangen. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht.
Etwas, was er in letzter Zeit anscheinend häufig nicht tat – denken.
Er stöhnte frustriert.
Kudô, du bist ein Vollidiot.
Seine Augen wanderten durch den Raum.
Obwohl sich nichts hier drin befand, war ihm mehr als nur unbehaglich.
Er kam sich seltsam exponiert vor, wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. Langsam erschloss sich ihm auch der Begriff „white cube“, den ihr Kunstlehrer damals immer in den Mund genommen hatte, wenn er von Ausstellungen sprach.
Gemeint war ein möglichst weißer Raum, oft viereckig, würfelartig eben, in dem Kunstwerke präsentiert wurden. Der Klassiker, um Ausstellungen zu gestalten. Weiße Wände lenkten nicht vom Ausstellungsstück ab.
Der Raum war so konzipiert, dass es optimal zur Geltung kam.
So kam er sich gerade vor. Wie ein Ausstellungsgegenstand…
Ausgestellt, vorgeführt.
Ausgeliefert.
Und trotz dieses Gefühls von Schutzlosigkeit, Ausgesetztheit, glaubte er zu merken, wie die Wände auf ihn zukamen…
Er schluckte.
Eigentlich war er nicht klaustrophobisch.
Wahrscheinlich bildete er das sich nur ein. Dieses eintönige Weiß, einzig und allein durchbrochen von der verchromten Türklinke und den hellgrauen Fugen zwischen den Fliesen spielte seinen Augen einen Streich, hielt seine räumliche Wahrnehmung zum Narren.
Aber… auch wenn er hier vielleicht getäuscht wurde…
Einer Sache war er sich ziemlich sicher.
Egal was ihn hier noch erwartete… es würde wohl nichts Gutes sein.
Als ob das Schicksal ihn in seinem Glauben bestätigen wollte, hörte er im nächsten Moment den Schlüssel im Schloss klicken und die Tür schwang auf.
Shinichi fuhr ruckartig hoch.
Es war Chianti, die die Zelle betrat.
„So siehst du also aus, wenn du mal nicht als Grundschüler rumrennst.”
Shinichi verdrehte die Augen.
„Ahh, das muss frustrierend sein, nicht war? Hier festzusitzen, eingesperrt zu sein… nun, andererseits solltest du dich doch langsam dran gewöhnt haben? Ans Eingesperrtsein? Eingesperrt zu sein in einem kleinen Raum dürfte sich doch vom Gefangensein in einem zu kleinen Körper nicht allzu sehr unterscheiden… oder?”
Sie grinste böse.
Shinichi starrte sie feindselig an.
„Was willst du?”
Er machte sich nicht die Mühe, sie zu siezen; es war ihm scheißegal.
„Nun, ich wollte mir mal diesen faszinierenden jungen Mann ansehen, der so schlau ist, so klug und so wagemutig, sowie so unglaublich dumm, zu glauben, es mit unserer Organisation eigenhändig aufnehmen zu können. Ein hübsches Kerlchen bist du. Langsam kann ich Vermouths Schwäche für dich verstehen.”
Sie näherte sich ihm und fuhr mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand seine Schläfe entlang nach unten. Er drehte widerwillig seinen Kopf weg und sie verstärkte den Druck ihres Fingers, hinterließ mit ihrem scharfen Fingernagel einen langen, blutigen Kratzer auf seiner Wange.
„Was zur Hölle wollen Sie von mir, ich…”, begann Shinichi, aber die Killerin schnitt ihm das Wort ab.
„Das weißt du ganz genau.“
„Ich habe keine Ahnung.”, antwortete Shinichi patzig.
„Oh, aber selbstverständlich hast du die...“
Im nächsten Moment spürte er die Mündung eines Revolvers zwischen den Rippen.
Ein Gefühl, das in ihm unglaubliches Unbehagen auslöste. Er atmete scharf ein.
„Und ob du die hast...“
Sie berührte erneut mit ihren Fingern sein Gesicht, packte dann seine Haare ruckartig am Hinterkopf, zwang seinen Kopf zurück, als er ihr ausweichen wollte.
Er versuchte den Wunsch zu unterdrücken, sie wegzustoßen, ihr wehzutun. Ihr so auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, machte ihn unruhig. Er spürte, wie sie ihre Waffe stärker gegen seinen Brustkorb drückte, hörte das sanfte, klickende Geräusch, als sie die Pistole entsicherte…
Was sie gerade machte, fühlte sich ganz und gar nicht gut an. Er wollte, dass sie aufhörte und wagte es dennoch nicht, nach ihr zu treten, sie anzuschreien. Er wusste, das würde Konsequenzen haben. Und er konnte sich nicht leisten, etwas zu tun, was sie möglicherweise auf Rache sinnen ließ. Er wusste, sie kannte seine Verbindung mit den Môris- und damit auch seine Beziehung zu Ran. Seine einzige Hoffnung war nur, dass sie sie nicht ernst nahm.
Zum wiederholten Male fragte er sich, was er sich dabei gedacht hatte, als er diese Email abgeschickt hatte.
Gar nichts, wie es schien.
Ich korrigiere- Kudô, du bist ein hirnverbrannter Vollidiot…
Hätte er nur eine halbe Stunde oder so gewartet, bis er wieder einigermaßen bei klarem Verstand war und sich etwas beruhigt hatte, dann wären ihm doch diese ganzen Bedenken gekommen- dass seine Aktion nicht nur Ai in Gefahr brachte.
Indem er sich stellte, hatte er sich erpressbar gemacht.
Und dadurch… dadurch hatte er alle, die er kannte, die ihm in seinem Leben wichtig waren, in Gefahr gebracht.
In Lebensgefahr.
„Sag mir, wo sie ist...“, flüsterte sie. Ihr Kopf war so nah an seinem Gesicht, dass er ihren Atem auf seiner Haut spüren konnte, riechen konnte, dass er nach Zigarettenrauch stank.
„Wo wer ist?“, knurrte er.
„Sherry…“
Er keuchte, als sie ihm ihren Revolver noch fester zwischen die Rippen drückte, stieß mit dem Rücken an die Wand.
„Sag mir, wo sie ist! Diese dreckige, kleine Verräterin…“
Er schluckte.
„Nein…!“
Chianti sog scharf die Luft ein. Dann zog sie seinen Kopf ruckartig noch weiter nach hinten und schlug ihm mit ihrer Waffe ins Gesicht.
Er schrie kurz auf, prallte erneut gegen die gekachelte Wand, presste seine Handflächen dagegen um nicht zu stürzen und starrte sie schwer atmend an.
Sie starrte zurück, mit zornfunkelnden Augen und sehr rot im Gesicht.
Was hab ich mir da eingebrockt…?
„Wenn du wirklich so schlau bist, wie du tust, dann solltest du besser überlegen, welche Antworten du mir gibst, Rotzbengel. Du solltest tun, was ich dir sage, und du wirst es auch. Wenn ich Antworten von dir will, wirst du mir die geben. Mit Sicherheit wirst du das, oder es wird nicht nur für dich Folgen haben... du verstehst mich.”
Der junge Detektiv schnitt eine Grimasse, stöhnte innerlich auf. Bitte… fing das jetzt schon an? Er wollte sich nicht entscheiden müssen, zwischen Ran und Shiho.
Er liebte Ran, er würde sein Leben für sie opfern, aber… er wollte doch nicht jemand anderen dafür ans Messer liefern.
Das wäre, wie wenn er sie selber umbringen würde… Blut an seinen Händen.
Und es garantierte ihm ja keiner, dass er Ran durch den Verrat an Ai retten würde.
Allerdings… konnte er doch Ran auch nicht tatenlos sterben lassen…
Wenn Ran was passierte… nein, soweit durfte er es nicht kommen lassen.
„Also? Wo ist Sherry, diese kleine, dreckige Verräterin?“
Shinichi biss sich auf die Lippen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, hatte absolut keine Ahnung, was er tun sollte…
Seine Hände wurden kalt, begannen zu zittern, er war kaum mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Verrate ich ihr nichts, tötet sie Ran. Sage ich es ihr, tötet sie Shiho- und unter Umständen Ran. Was soll ich machen, was?
Guter Gott, was hab ich angestellt… was soll ich machen?
Was, was, was?
Dann ging die Tür erneut auf.
„Chianti! What the hell are you doing in here?”
In der Tür stand Vermouth, ihre Augen funkelten vor Zorn, ihre Hände hatte sie fest in die Hüfte gestemmt.
„Das hätte ich mir denken können, dass du deinen Schatz nicht lang alleine lässt…“
Chianti lächelte; ein Lächeln, das ihrem Gesicht beinahe diabolische Züge verlieh.
„Mach, dass du hier rauskommst.“, wisperte Vermouth drohend.
„Ich hab ihn was gefragt, und ich warte auf seine Antwort.“
Chianti fixierte ihre Gegnerin mit ihren überschminkten Augen, aber er konnte sehen, dass sie unsicher war.
„Er wird dir keine Antworten geben, du bist unter seinem Niveau.“
Vermouth zog ihren Revolver, spielte mit dem Sicherungshebel.
„Und jetzt raus hier.“
Die Stimme der blondgelockten Frau klang kalt wie Eis.
Chianti ging ihr ein paar Schritte entgegen, warf Shinichi noch einen kurzen Blick zu, ehe sie sich Vermouth wieder zuwandte.
„Wie du meinst. Aber lass dir gesagt sein, du wirst nicht ewig der Liebling vom Boss sein. Die Freiheiten, die du dir herausnimmst, wirst du sehr bald schon nicht mehr haben, also gewöhn dir diesen kommandierenden Tonfall ab, Süße…“
Damit verschwand sie.
Vermouth schaute ihn abwartend, abschätzend an. Er starrte zurück, einen schwer zu deutenden Ausdruck auf dem Gesicht.
„Du hast dich gut gehalten, Sharon.“, wisperte er dann.
Mehr sagte er nicht. Es gab nichts, was er ihr zu sagen hätte.
Sie blinzelte. Kurz meinte er, Erschrecken über ihr Gesicht huschen zu sehen, dann war es glatt, jugendlich und ausdruckslos wie vorher auch.
Er zuckte unwillkürlich zusammen, als die Tür zuknallte. Sie war gegangen.
Die Detective Boys, Heiji, Ran, der Professor und Kogorô Môri standen in Inspektor Megurés Büro.
Der schlafende Meisterdetektiv war außer sich vor Wut, als er nun endlich erfahren hatte, wen er da all die Zeit beherbergt hatte.
„Dieser kleine, dreckige Bastard-“
„Paps!“
Ran war den Tränen nahe.
Die Kinder schauten entsetzt zu dem Erwachsenen hoch. Alle, bis auf Ai, die Beleidigungen und Schimpfwörter dieser Art schon lange nicht mehr schockierten.
„Was… was hat er dir eigentlich getan? Warum hasst du ihn so? Nur weil er erfolgreicher ist als du? Du solltest doch in all der Zeit mitbekommen haben, dass er in Ordnung ist, ein…“
„Wie kannst du diesen Mistkerl verteidigen, er hat dich doch genauso angelogen, Mause…“
„WEIL ER MICH BESCHÜTZEN WOLLTE! Er hat gelogen, damit mir nichts passiert…“
Ran schrie. Sie starrte ihren Vater zornig an. Wie sie so dastand, kreidebleich im Gesicht, ihre Augen rot und verheult, ein paar ihre Haare wirr ins Gesicht hängend, die Hände in die Hüften gestemmt und schwer atmend, sah sie durchaus Furcht erregend aus.
„Ich will jetzt einen Grund, warum du ihn so hasst…“
Kogorô schwieg. Er kannte dieses Verhalten. Ran benahm sich in diesem Augenblick genauso wie Eri, wenn sie wütend war.
„Ich will eine Antwort, Paps!“
Kogorô seufzte. Er wusste, die Schlacht war geschlagen; seine Tochter würde nicht eher aufhören, bis sie hatte, wonach sie verlangte, daran bestand kein Zweifel.
„Weil er dich mir wegnimmt.“
Ran blinzelte.
„Was?“
Sie glaubte, sich verhört zu haben.
„Ich hasse ihn nicht. Nicht direkt. Vielleicht bin ich neidisch, ja, das kann sein. Er ist viel erfolgreicher als ich, obwohl er ungleich jünger ist. Aber warum ich ihn nicht mag, ihn nicht sehen will, dir versuche zu verbieten, dass du mit ihm ausgehst, mit ihm Zeit verbringst, ist, weil ich fürchte, dass er derjenige sein wird, der dich mir wegnimmt.“
Ran schluckte.
„Aber warum…“
„Ja, glaubst du, ich hab nicht mitgekriegt, wie er dich jedes Mal angesehen hat, wenn er dich abgeholt hat?“
„Wie… wie hat er mich denn… angesehen?“, stotterte sie.
Kogorô starrte seine Tochter ungläubig an.
„Jetzt sag nicht, du hast nie mitgekriegt, dass der Junge in dich verschossen war...? Er hätte alles für dich getan, er hat dich geliebt, das sah man ihm an. Man erkannte es an seinen Blicken, die er dir zuwarf, die Art, wie er mit dir redete, wie er sich dir gegenüber benahm. Wenn er sich manchmal über dich lustig machte, war das nur seine Art, seine eigene Unsicherheit zu überspielen, er wollte sich nicht bloßstellen… aber er hat dich immer verteidigt, wenn dir jemand zu nahe kam oder sich auf deine Kosten einen Spaß erlaubte. Er unterstützte dich, stand dir bei...“
Ran schluckte. Warum hatten alle anderen mitgekriegt, was ihr entgangen war? Sogar ihr Vater, den sie bis jetzt als absoluten Grobmotoriker, was Gefühle und Emotionen betraf, eingestuft hatte, hatte gesehen, was ihr verborgen geblieben war.
„Und… selbst wenn… warum hast du dann Angst, er würde mich dir weg-…“, fing sie an.
„Weil du ihn auch liebst, nicht war?“, unterbrach sie ihr Vater.
„Ich wusste, sobald er irgendwann die Courage aufbringen würde, dir zu sagen, dass er dich liebt, würdest du mit ihm gehen…
Glaubst du, ich hab nicht mitgekriegt, dass du geweint hast, gelitten hast, dir schreckliche Sorgen gemacht hast, als wir glaubten, er wäre verschwunden? Glaubst du… ich habe nicht das Leuchten in deinen Augen gesehen, wenn er dich angerufen hat? Wenn er dich abgeholt hat, ihr verabredet wart…?“
Ran wischte sich die Tränen aus den Augen und umarmte ihren Vater.
„Nun, wenn wir noch lange hier stehen und Beziehungsprobleme besprechen, dann haben die beiden vielleicht nie mehr die Möglichkeit das Ganze auch zu testen, weil er dann nämlich tot ist. Wenn er es nicht schon ist.“
Ais Stimme klang sachlich wie immer. Und doch glaubte Ran, eine Spur von Neid in ihr mitschwingen zu hören. Und Angst.
Angst, Ai?
„Also schön.“, meinte Inspektor Meguré entschlossen. „Wo fangen wir an?“
„Ich würde sagen, am Riesenrad.“
Ran hatte es ausgesprochen, ohne dass sie es sagen wollte. Sie wusste nicht, woher sie die Idee hatte…
Nein doch, sie wusste es.
Er war dort verschwunden… da hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Und dort hatten sie ihn wahrscheinlich auch heute wieder erwischt.
Sato, die mit verschränkten Armen am Tisch lehnte, nickte.
„Nun, besser als nichts, nicht war? Also, los, auf was warten wir?“
In dem Augenblick ging die Tür auf.
Kommissar Chiba stand schwer atmend in im Türrahmen, klammerte sich am Türknauf fest.
„Ich konnte sie nicht aufhalten. Sie sagen, sie seien vom FBI…“
Hinter ihm erschienen Shuichi Akai und Jodie Saintemillion alias Jodie Starling.
Shinichi lief Kreise. Eine Bahn nach der anderen schritt er ab, immer wieder, rund herum… und genauso wie er sich in Kreisbahnen bewegte, drehten sich auch die Gedanken in seinem Kopf im Kreis.
Wie konnte er nur so blöd sein?!
Wie, wie, wie?
Nachdem Chianti und Vermouth gegangen waren, war er auf den Boden gesunken und hatte erst einmal gar nichts gemacht. Zu geschockt war er von den neuesten Ereignissen und Erkenntnissen.
Dann hatte er versucht, zu schätzen, wie viel Zeit vergangen war und war kläglich gescheitert. Er hatte keine Ahnung- sein Zeitgefühl war im Prinzip ja schon bei seiner Rückverwandlung Flöten gegangen.
Also hatte er beschlossen, sich irgendwie abzulenken, weil er ohnehin keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Was sich als einigermaßen schwere Aufgabe erwiesen hatte, in einem weißen, leeren Raum.
Als ihm nichts Besseres einfiel, hatte er damit begonnen, die Kacheln an den Wänden zu zählen.
Nachdem sich das als extrem nerviges Unterfangen herausstellte, weil durch die Reflexion des Neonröhrenlichts und den hellgrauen, fast weißen Fugen die Augen immer wieder in die Irre geführt wurden, hatte er nach etlichem Verzählen einen effizienteren Weg gewählt. Er war aufgestanden, hatte die Kacheln von oben nach unten und von links nach rechts gezählt und dann multipliziert. So hatte er es mit allen vier Wänden und dem Boden gemacht, die Ergebnisse addiert und war innerhalb kürzester Zeit zu einem Ergebnis gekommen:
528.
Es waren fünfhundertachtundzwanzig Fliesen.
Anschließend hatte er sich geärgert, weil er sich nun nicht mehr mit Kachelzählen ablenken konnte.
Woraufhin er mit dem im-Kreis-rumlaufen begonnen hatte. Und mit dem Nachdenken. Auch wenn er sich nach wie vor kaum konzentrieren konnte.
Wie hatte er sich nur zu einer so unglaublich dummen Kurzschlussreaktion hinreißen lassen können?
Mit seinem unüberlegten Handeln hatte er alle anderen in Gefahr gebracht.
Ran.
Ai.
Heiji und Kazuha…
Seine Eltern, Rans Eltern, den Professor-
Die Detective Boys. Himmel, das waren doch noch Kinder!
Unter Umständen sogar Meguré, Takagi und Sato…
Er ballte die Fäuste, blieb stehen.
Verdammt!
Und ganz sicher seins. Er hatte sein Leben verwirkt. Er war in sein Verderben gelaufen.
Er wankte zur Rückwand der Zelle und ließ sich nach unten gleiten, winkelte die Beine an, bettete seinen Kopf auf seine Knie und schlang seine Arme um seine Beine.
Er würde sterben hier drin. Er kam hier nicht mehr lebend raus.
Was zum Teufel hatte er eigentlich erwartet, als er diese Email geschrieben hatte?
Dass der Boss ihn höchstpersönlich am Riesenrad empfangen würde? Mit ihm ein Schwätzchen halten würde, oder was?
War er wirklich so dumm gewesen, das anzunehmen?
Dass man ihm eine Falle stellen würde, war doch offensichtlich...
Langsam gestand er sich ein, dass ihm zu dem Zeitpunkt, als er die Mail geschrieben hatte, eigentlich egal gewesen war, was aus ihm werden würde.
Er hatte es nur beenden wollen. Welches Ende es nehmen würde, daran hatte er nicht gedacht.
Er war deutlich zu weit gegangen in seinem Selbsthass. Seltsamerweise… war ihm das nie aufgefallen. War ihm sein eigenes Leben wirklich so egal geworden?
Wann war der Moment gewesen, an dem er die Hoffnung verloren hatte?
An dem er aufgegeben, kapituliert hatte?
Wann?
Wann?
Shinichi fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, krallte sie fest, presste die Augen zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren.
Er hatte doch noch nie aufgegeben, warum jetzt? Warum?
Warum hatte er das Kämpfen aufgegeben?
Eigentlich… eigentlich war er doch noch nicht bereit zu sterben. Er hatte doch noch so viel vor. Sich bei Ran entschuldigen, zum Beispiel, auch wenn sie ihm vielleicht nie verzeihen konnte.
Ran…
Er würde sie wohl nie wieder sehen. Er würde sie nie um Verzeihung bitten können.
Shinichi schluckte.
Er kam hier nicht mehr raus... erst, wenn er tot war.
Wenn er sein Leben verloren hatte.
Mein Leben…
Das Leben verlieren…
Shinichi lächelte zynisch.
Welcher Scherzkeks war denn auf diesen Ausdruck gekommen? Das war doch Ironie pur- ging man doch bei dem Wort „verlieren“ davon aus, dass man das Verlorene eventuell wieder finden konnte. Es war doch potentiell möglich, dass man wieder bekommen konnte, was verloren gegangen war. Für sowas gab es sogar Fundbüros, wo verlorene Dinge abgegeben und wieder geholt werden konnten.
Das traf auf alles zu… nur nicht auf das Leben.
Verlor man das Leben, bekam man es nicht wieder.
Und er war nicht bereit dafür, er wollte nicht sterben. Er wollte nicht.
Wollte nicht.
Leider kam diese Erkenntnis reichlich spät. Darüber hätte er sich mal vorher Gedanken machen sollen.
Bereit zu sterben war er nur ein einziges Mal gewesen, nur ein Mal.
Damals an seinem achtzehnten Geburtstag im Beika Zentrum.
Als Ran in der Lobby mit der Bombe festsaß und er auf der anderen Seite der Tür gewesen war, um ihr beim Entschärfen des Sprengsatzes zu helfen.
Als nur noch ein paar Sekunden übrig waren und Ran sich zwischen zwei Drähten entscheiden musste.
Rot und blau.
Da war er bereit gewesen, zu sterben. Mit ihr zusammen.
Aber es war ihnen ja erspart geblieben- sie hatten überlebt, dank ihrer Intuition. Oder… war es Schicksal?
Er lächelte bei ihrer Antwort, als er sie fragte, warum sie den blauen Draht durchgeschnitten hatte, nicht den roten.
Sie hatte geantwortet, dass sie den roten Faden, der sie mit Shinichi, mit ihm, verband, nicht zerschneiden hatte wollen.
Gedankenverloren betrachtete er den kleinen Finger seiner rechten Hand.
Ob es solche roten Fäden gab?
Ach was, sei nicht albern.
Shinichi seufzte.
Fakt war, roter Faden hin oder her, ja, er hatte es beenden wollen, diese Sache mit der Organisation und Conan.
Und wenn er dafür sterben musste, dann musste es wohl so sein. Unter anderen Umständen hätte er es wohl in Kauf genommen. Was sein muss, musste sein, seinem Schicksal konnte man nicht entkommen.
Aber jetzt- jetzt wollte er nicht sterben.
Nicht so. Und erst Recht nicht hier.
Nicht, ohne irgendetwas bewirkt zu haben.
Nicht, ohne diese Organisation hochgenommen zu haben.
Nicht, solange er nicht bestimmt wusste, dass Ran in Sicherheit war.
Denn so, wie er die Organisation kannte- würden sie nicht von seinen Freunden und seiner Familie ablassen, nur weil er nicht mehr war. Sich dieser Hoffnung zu ergeben wäre absurd- lächerlich. Sie würden sie bestimmt nicht verschonen, nur weil er tot war. Die sannen doch genauso auf Rache wie er… er hatte ihnen schließlich oft genug einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Also… durfte er nicht sterben.
Er musste leben, um sie zu beschützen.
So leicht gab er sich nicht geschlagen.
Wie er das genau anstellen sollte, wusste er allerdings auch noch nicht.
Er seufzte. Warten auf eine günstige Gelegenheit war die einzige Option.
Spontaneität ist alles...
Dann hörte er Schritte, die sich zügig näherten und stand auf.
Und Ring frei für Runde zwei...