Im Krankenhaus
Stetiges Ruckeln, welches ihr den Schmerz wieder ins Bewusstsein rief, ließ Marron auffahren. Ein Stöhnen entfuhr ihr. Sie blickte in zwei besorgte, violette Augen.
„Miyako?“ War sie nicht eben noch bei Alcatraz gewesen? Miyakos zu blasses Gesicht und der pochende Schmerz, der ihren ganzen Körper zu beherrschen schien, passten da einfach nicht ins Bild. Sie konnte sich nicht aufrichten, da sie fixiert war. Wo befand sie sich überhaupt?
Sie blickte sich um. Ein weiteres Ruckeln, was sich wie ein Schlag anfühlte, ließ Marrons Sicht verschwimmen, trotzdem erkannte sie die andere, in weiß und rot gekleidete Person, die etwas in die Höhe hielt.
Eine Sanitäterin? Irritiert sah sie zu Miyako und nahm wahr, dass sie sich in einem Rettungswagen befand. Das erklärte das unsägliche Rütteln.
„Was ist hier los?“ Miyako rang um Fassung.
„Alcatraz hat dich über den Haufen gerannt. Erinnerst du dich nicht?“
Erneut stöhnte Marron. Sie hatte gehofft es sei ein Albtraum gewesen.
Miyakos warme Hand auf ihrem linken, fast tauben Arm ließ sie zusammenfahren. Die Sanitäterin drückte Marron sanft zurück auf die Liege.
„In wenigen Minuten sind wir im Krankenhaus. Dann wird alles gut.“
Nichts war gut. Nach dieser Aktion würde man ihr verbieten mit dem Wallach zu arbeiten. Womöglich war das sogar das Todesurteil für Alcatraz. Marron hätte heulen mögen. Sie dachte an den Vorfall zurück. Es war alles so gut gelaufen. Wieso war er nur plötzlich ausgerastet? Kurz zuvor, war er ihr doch so nahe gewesen.
Dann durchzuckte sie eine weitere Erinnerung. Chiaki, der ihren Namen rief, auf sie einredete und jemanden fortschickte. Woher war er auf einmal gekommen? Hatte er vielleicht etwas mit Alcatraz Verhalten zu tun?
Sie hatte ihn nicht gefragt. Zu viel war um sie herum passiert. Sie hatte sich Sorgen um das Pferd gemacht und die Schmerzen hatten ihr den Verstand geraubt. Dass sie diese jetzt kaum spürte, lag mit Sicherheit an irgendwelchen Schmerzmitteln.
Doch was war passiert, bevor sie ohnmächtig geworden war? Irgendetwas in ihr, wollte ihr etwas sagen. Da war etwas gewesen, doch was.
Quietschende Bremsen und gleißendes Sonnenlicht, als die Türen des Wagens aufgerissen wurden, holten sie in die Wirklichkeit zurück.
„ Die linke Schulter ist gebrochen, aber ansonsten hat sie nur eine leichte Gehirnerschütterungen und einige Prellungen. Sie hat verdammtes Glück gehabt.“
Scheinbar gedankenverloren starrte Chiaki aus dem Fenster des dritten Stockes des Krankenhauses. Er befand sich mit Miyako, der Direktorin und Herrn Shikaido in einem Warteraum und hatte jedes Wort des Arztes vernommen, auch wenn er keine Miene verzog. Alle atmeten hörbar auf und Miyako, die die letzte Stunde unruhig umhergetigert war, setzte sich zum ersten Mal hin. Sie schloss die Augen und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn glätteten sich. Chiaki achtete darauf nicht, auch veränderte sich seine Haltung nicht.
Erst als der Arzt Miss Harouno beiseite nahm um ungestört mit ihr zu sprechen, wurde Chiaki hellhörig. Was auch immer der Arzt sagte, Miss Harouno sah nicht überrascht aus, nickte sogar gelegentlich und holte dann Miyako hinzu, die dem Doktor irgendetwas erklärte, während dieser sich leicht zu hier herunterbeugte.
Da der Arzt von Natur aus ein verkniffenes Gesicht hatte, konnte Chiaki nicht erraten, worum es ging. Aber der Arzt hatte sie sicher überall untersuchen müssen.
Chiaki unterdrückte ein Stöhnen und legte die heiße Stirn gegen die Fensterscheibe. Er wünschte sich mehr als einmal heute, nicht im Stall gewesen zu sein. Und das aus den verschiedensten Gründen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, doch Chiaki wollte nicht reagieren.
„Geht’s dir gut, Chiaki?“
Herr Shikaido drückte freundlich zu, als wolle er Trost spenden. Wahrscheinlich sah er, Chiaki, so aus, als müsse er sich jeden Augenblick übergeben. Es war nah an der Wahrheit.
„Danke Sensei, es geht schon.“
„Gut, dass du da gewesen bist. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, den Notarzt zu rufen.“
Chiaki schluckte schwer.
„Wäre ich nicht da gewesen, wäre nichts passiert. Wir haben Alcatraz erschreckt.“
Der Sensei schwieg und sah ebenfalls aus dem Fenster. Es hatte angefangen zu regnen, ein frischer Frühlingsregen.
„Ich wusste, dass sie es schaffen würde. Ich habe es immer gewusst.“
Shikaidos weicher Ton und diese Vertrautheit ließen Chiaki aufhorchen. Wovon sprach der Sensei und wieso bekam er so ein komisches Gefühl. Wer war Marron Kusakabe eigentlich?
Das beschäftigte in nun schon, seit dem Unfall im Stall. Und es würde ihn nicht loslassen, solange er die Wahrheit nicht kannte.
Miyakos Puls verlangsamte und das Rauschen in ihrem Kopf verflüchtigte sich. Sie hatte ja solche Angst gehabt. Miss Harouno hatte sie sofort geholt, kurz nachdem ihre Nichte ihr von dem Unfall berichtet und sie den Notarzt gerufen hatte. Miyako hatte das Gefühl gehabt, als wäre alles um sie herum unwirklich. Sie hatte auf nichts und niemanden mehr geachtet, als sie durch den Park zu den Stallungen gerannt war. Auf Miss Harouno und Herrn Shikaido, der gerade von den Volieren kam, hatte sie nicht mehr gewartet.
Warum hatte sie Marron nur in der letzten Zeit so wenig Beachtung geschenkt. Sie hätte niemals zugelassen, dass Marron alleine mit Alcatraz arbeitet. Sie kannte die Geschichte des Tieres von ihrem Vater und hatte sehr großen Respekt vor der Unberechenbarkeit des Fuchses. Nur Wut und Verachtung für sich selbst hatte sie verspürt. Andere Gefühle hatten bei ihr keinen Platz gefunden, als sie den Weg entlang raste.
Doch als sie Marron da liegen sah, in den Armen von Chiaki, mit geschlossenen Augen, dreckig und leichenblass, war in ihrem Herzen etwas gerissen. Sie hatte nur ein Stöhnen zustande gebracht und sich an die andere Seite ihrer Freundin hingeworfen.
Marron hatte auf nichts reagiert, sodass Miyako nah an der Panik war, aber Chiaki hatte ihr versichert, dass ihr Puls kräftig schlug und sie nur ohnmächtig geworden war.
Chiaki war sehr blass gewesen, während seine Augen seltsam leuchteten und seine Mund streng verkniffen wirkte.
Miyako hatte sich darauf nicht konzentrieren können, zu sehr war sie erfüllt von der Sorge um Marron. Doch nun fiel ihr auf, dass Chiaki schon seit Stunden am Fenster stand und mit nichts und niemanden sprach. Er wirkte wie erstarrt und mit seinen Gedanken sonst wo. Selbst als der Arzt ein wenig Entwarnung gegeben hatte, war keine Reaktion von Chiaki gekommen. Was war nur los mit ihm? Sie wusste, dass irgendetwas bei den Beiden nicht stimmte, aber er hatte bei Marron ausgeharrt und darauf bestanden mit ins Krankenhaus zu fahren.
Hatte er womöglich einen Schock?
Chiaki vernahm eine Bewegung zu seiner Linken und erspähte Miyako. Sie stellte sich neben ihn und sah ihn einfach nur an, als warte sie auf etwas. Chiaki unterdrückte einen Seufzer.
„Kann ich etwas für dich tun, Miyako?“
Miyako verzog keine Miene.
„Die Frage sollte ich eigentlich dir stellen.“
Chiaki schnaubte und wandte sich ab. Es war eindeutig, dass er nicht mit ihr sprechen wollte. Doch Miyako wäre nicht Miyako, wenn sie ihn jetzt alleine ließ.
„Was ist geschehen?“
Ärgerlich verzog Chiaki das Gesicht.
„Ich bin mit Mia dort gewesen und wir haben Alcatraz erschreckt. Falsches Timing, sonst nichts.“
Miyako schüttelte bestimmt den Kopf.
„Nein, Chiaki. Das meine ich nicht.“
„Miyako, was willst du von mir?“
Chiaki wurde nervös und unruhig. Miyakos Gespür hatte sie nicht im Stich gelassen.
„Ich möchte wissen, was dich so aus der Fassung gebracht hat.“
Ein gehetzter Ausdruck trat in die Augen des Jungen ihr gegenüber. Er wollte definitiv nicht mit ihr sprechen. Nicht hier. Nie. Energisch packte sie ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. Er protestierte so laut, dass sie sich einen tadelnden Blick von Miss Harouno einfingen.
„Wir kommen gleich zurück um Marron einen kleinen Besuch abzustatten.“
Hilflos wehrte sich Chiaki, doch gegen Miyako hatte er keine Chance. Nicht wenn ihr mütterlicher Instinkt durchkam und den hasste Chiaki mehr als alles andere auf der Welt.
„Miyako, jetzt hör mir mal bitte einen Moment zu!“
Sie waren auf dem Parkplatz des Krankenhauses angekommen und weit und breit war keiner zu sehen. Miyako fuhr herum und stemmte ihre Fäuste in die Hüfte.
„Chiaki Nagoya! Ich kenne dich lange genug um zu wissen, dass etwas vorgefallen ist. Und mein Gespür sagt mir, dass es mit Marron zu tun hat. Deshalb wirst du mir sofort sagen, was los ist.“
„Nein!“
„Wie bitte?“
„Ich weiß nicht, was du dir einbildest. Dein Polizeiwahnsinn macht dich schon irre. Du siehst Dinge die nicht sind.“ So souverän es sich anhörte, Chiaki wurden die Knie weich bei Miyakos wütenden Blick. Wenn er eins gelernt hatte, dann Miyako Toudaji niemals…nein, niemals zu unterschätzen.
„Es muss doch ganz schön aus der Fassung gebracht haben, wenn du mit mir so sprichst.“
Anstatt auszurasten, sah sie ihn nur durchdringend an. Er hatte keine Chance, sie verließ sich ganz auf ihren Instinkt.
„Und was, wenn es so wäre?“
Sie hatte ihn.
„Miyako, es gibt Dinge über die man nicht sprechen möchte. Die zu…..“, hilflos hob er die Arme,“….schwierig sind. Es geht nicht!“
Miyako runzelte die Stirn und ihr Blick kehrte sich nach innen.
„Miyako, ich habe es nicht böse gemeint.“ Er benahm sich wie ein Weichei! „Ich möchte nicht wegen mir mit niemanden darüber sprechen, sondern wegen Marron.“
Miyakos Kopf schnellte hoch, ihre Augen waren zusammengekniffen und haderten den Worten, die kommen mussten. Chiakis Herz setzte aus. Wieso hatte er nur dieses unsäglich Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
„Chiaki! Hast du Marron erste Hilfe geleistet?“ Chiaki atmete erleichtert aus. Ein weniger delikates Thema.
„Natürlich!“
Drohend baute sie sich über ihm auf du musste zugeben, dass sie etwas Einschüchterndes an sich hatte.
„Hast du sie untersucht? Nach Verletzungen?“
Irgendetwas stimmte nicht.
„J..Ja!“
„Verdammt Chiaki! Hast du ihren Bauch und ihren Rücken gesehen?“
Chiaki schluckte. Myiako wurde schlecht.
Ungläubig starrte Marron auf den riesigen Gips, der ihren ganzen Arm einhüllte. Sie war nun so wendig und geschickt mit diesem Ding wie ein Elefant. Entsetzt sah sie Herrn Shikaido an, der sie übers Fußende des Bettes angrinste.
„Und die sagen, ich habe Glück gehabt. Ich sehe aus, als wäre meiner linken Seite ein Geschwülst entwachsen.“
Der Sensei lachte, wurde dann aber ein wenig ernster.
„Du hattest wirklich Glück, Marron. Alcatraz hätte dich noch viel ernster verletzen können.“
„Sensei, Alcatraz hatte keine Schuld.“ Das wusste sie nun, auch wenn ihr einiges noch ein Rätsel aufgab. Sie konnte sich einfach nicht mehr an alles erinnern.
„Ich weiß, Marron. Ich konnte auch Miss Harouno davon überzeugen.“ Marron atmete auf.
„Aber trotzdem, darfst du nie wieder alleine mit ihm arbeiten. Wäre Chiaki nicht da gewesen, hätte es viel schlimmer ausgesehen.“
Marron grummelte vor sich hin. Schließlich war Chiaki und eine seiner Gespielinnen- Marron war sich nun sicher, dass dort ein Mädchen gewesen war- Schuld an dem Desaster.
„Wie geht es dem Pferd?“ Das beschäftigte sie schon seit Stunden.
„Ich konnte ihn in seinen Stall treiben, bevor ich hierher kam. Es geht ihm gut. Er hat es besser verkraftet als du.“ Bedeutungsvoll blickte er auf den monströsen Gips. Marron kicherte.
„Danke, Sensei. Sie sind so gut zu mir.“
Ein wehmütiger Ausdruck trat in seine Augen.
Es klopfte laut und Marron musste sich von ihrem Sensei abwenden.
Ohne abzuwarten schwang die Tür auf und dort stand…Noyn.
Chiaki hatte nicht mehr viel sagen müssen und das hatte Miyako auch nicht mehr von ihm erwartet. Noch einer, der von Marrons Geheimnis wusste und das eher unfreiwillig. Aber hatte das nicht irgendwann kommen müssen, fragte Miyako sich.
Chiaki wollte darüber jedenfalls nichts wissen. Zumindest hatte er ihr keine Fragen gestellt, sondern war genauso still gewesen wie vorher auch.
Sie waren nun auf dem Weg zu Marron und Miyako hatte ein wenig Angst vor der Begegnung der Beiden. Wusste Marron vielleicht von seiner Entdeckung? Sie hatte aber nichts gesagt.
„Sprich sie bitte nicht sofort auf das Geschehene an, Chiaki.“
„Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Sie wird nicht erfahren, dass ich es gesehen habe.“
Irritiert sah Miyako sich um. Hatte sie etwa so etwas wie Resignation in seinen Worten gehört.
„Sie konnte es dir nicht erzählen. Niemand wusste es, auch ich nicht.“
Chiaki schüttelte den Kopf.
„Das ist in Ordnung. Sie sollte nur denen zeigen und erklären was passiert ist, die für sie wichtig sind, denen sie vertraut.“
„Willst du gar nicht wissen, wie das passiert ist?“ Ihre Stimme war eher verwundert.
„Nicht so. Sie muss es mir erzählen wollen.“
Miyako blieb abrupt stehen.
„Seit wann bist du in sie verliebt?“
Chiaki ging einfach weiter.