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Bis(s) in den Tod

von

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Rowen

Ein Mensch nimmt täglich Informationen auf. Es ist ein gängiger Vorgang. Aufnahme, Bearbeitung, Interpretation. Besonders Frauen bevorzugen es, immer das Falsche in ein Wort oder einen Satz hineinzuinterpretieren. Doch zuhören alleine macht noch keine Geschichte. Es geht um den Wert und die Gefühle, die der Erzähler versucht zu vermitteln.

Shana hörte eine Geschichte aus der Vergangenheit. Eine nicht gerade schöne Geschichte. Kein Märchen über Prinzen und gute Feen. Oh nein, es war kein Märchen. Es war Rowen’s Geschichte.
 

England/Oxford/1861
 

„Guten Tag Rowen.“, sagte das Mädchen freundlich, als Rowen den Lebensmittelladen betrat.

„Hallo Lilli.“

„Was kann ich dir geben?“

Rowen überlegte kurz. „Ich hätte gerne zwei Pfund Kartoffeln,…“

Rowen war für seine Mutter zum Einkaufen gegangen. Er kannte Lilli schon ewig. Sie war die Tochter der Ladenbesitzerin. Immerhin lebte seine Familie schon in Oxford seit er denken konnte.

Als Rowen seine Einkäufe getätigt hatte und sein Weidenkorb voll mit Lebensmitteln war, verließ er den Laden wieder. Beim Rausgehen hörte er, wie Lilli kicherte. Und das tat sie einzig und alleine seinetwegen. Doch sie war nicht die Einzige gewesen. Jeder der Rowen kannte, spottete über ihn. Doch wie kam das? Immerhin war Rowen eigentlich von unscheinbarer Natur gewesen. Seine langen blonden Haare trug er wie üblich zu einem Pferdeschwanz. Die klugen blauen Augen musste er hinter einer Brille verstecken. Von seiner Statur her war er groß und schlaksig. Und ein Tollpatsch vor dem Herrn. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Was Rowen in Oxford so einzigartig machte, war seine Familie und sein Familienerbe.

Die Familie Hayford bestand aus einer Reihe von Ärzten. Der erste männliche Hayford war Arzt gewesen und dieser Berufszweig wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Kein Hayford konnte sich dem verwehren. Auch der Vater von Rowen, Earl Hayford, war Arzt. Er hatte in dem Viertel, in dem die Hayfords lebten, großes Ansehen durch diesen Beruf erlangt. Immerhin war das Land von Tuberkulose und Cholera befallen und die Menschen brauchten Hilfe. Deswegen war Rowen’s Familie nicht arm gewesen.

Auch der ältere Bruder von Rowen, Eric, war Arzt. Soweit setzte sich die Tradition fort. Doch was war mit Rowen selbst? Er studierte zwar das Handwerk des Mediziners, doch seine Ausbildung schleppte sich dahin. Sein Bruder hätte ihm ein Vorbild sein müssen, da dieser seine Ausbildung in nur wenigen Jahren bestanden hatte. Doch nicht so Rowen. Er wollte nicht daran denken, wie lange er schon mit seinen Studien beschäftigt war. Er war schon 28 Jahre alt und noch immer hatte er sein vorbestimmtes Handwerk nicht erlernt. Musste man mehr sagen?

Doch es lag nicht daran, dass Rowen dumm gewesen war. Durch den Reichtum seines Vaters besuchte er eine der renommiertesten Internate in Oxford, welches er auch mit ausgezeichneten Noten absolvierte. Er war wahrlich klug, bemessen an dem Wissenstand dieser Zeit. Der Grund für seine Trödelei war einfach der, dass er kein Arzt werden wollte. Krankheiten und kranke Menschen machten ihm im Allgemeinen Angst und von Blut wurde ihm immer leicht übel. Doch sein Vater war ein strenger Mann gewesen. Er duldete keine Ausflüchte und zwang Rowen den Berufszweig des Arztes auf. Ein Hayford wurde Arzt. Das und nichts anderes. Das predigte er zumindest immer, wenn Rowen auch nur Ansatzweise äußerte, dass es auch noch andere Berufswege hab. Doch davon wollte sein Vater nichts wissen.

Und was wollte Rowen? Er wollte eine ganz andere Richtung einschlagen. Er wollte Historiker werden. Er interessierte sich schon damals für die Geschichte. Den Geschichtsunterricht im Internat verschlang er geradezu. Und seine Freizeit verbrachte er in der Bibliothek. Er liebe Bücher und empfand es als Hochgefühl, wenn er sich mit Länderkunde befasste. Und warum sollte er auch nicht den Beruf des Historikers gehen? Dieser Beruf hatte Zukunft. Denn Geschichte gab es immer.

Als Rowen einmal besonders mutig war und seinem Vater diese Idee unterbreitete, tobte dieser nur. Hayford bedeutete Arzt. Nicht Historiker, Verkäufer oder Bauer. Arzt und nichts anderes. Niedergeschlagen fügte Rowen sich mehr oder minder dem Willen seines Vaters. Doch das musste ja nicht heißen, dass er seinen Traum gänzlich aufgab. Er sparte Geld und kaufte sich davon historische Werke. In den Semesterferien unternahm er einige Exkursionen. Natürlich ohne das Wissen seines Vaters.

Einzig sein Bruder wusste von seinem Traum. Schließlich hatten Eric und Rowen schon immer ein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Und dabei waren sie so gegensätzlich. Eric war beliebt, hatte viele Freunde und war der Liebling seiner Eltern. Doch Gefühle wie Neid kamen deswegen bei Rowen nie auf. Im Gegenteil. Er bewunderte seinen Bruder für seine offene und herzliche Art. Rowen war schon immer schüchtern und zurückhaltend gewesen. Er ging Auseinandersetzungen aus dem Weg und gab eigentlich immer schnell nach. Und da seine Eltern sich ganz auf seinen vier Jahre älteren Bruder Eric konzentrierten, konnte Rowen sich ganz seinen Historikerstudien widmen.

Soviel zur Familiengeschichte Hayford.
 

Rowen ging gemütlichen Ganges nach Hause. Er machte noch einen kurzen Zwischenstopp im Buchladen und kaufe sich ein Historienwerk, auf das er schon längere Zeit gewartet hatte. Glücklich über seine neue Errungenschaft, kam er auch bald zu Hause an. Das Anwesen der Hayfords war groß. Den armen Menschen in der Stadt erging es schlecht. Die waren abgemagert, krank und konnten sich nicht mal einen anständigen Schlafplatz leisten. Das war anscheinend Grund genug für Earl Hayford, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Aber er tat es nur den anderen Reichen in der Stadt nach. Rowen brauchte kein Haus mit drei Schlafzimmern, vier Gästezimmern, zwei Lesezimmern, sechs Badezimmern und diversen Empfangshallen. Alles einfach viel zu protzig.

Er ging durch den Dienstboteneingang herein und übergab einer Küchenmagd den Einkauf. Natürlich hätten die Angestellten des Hauses einkaufen gehen müssen, aber Rowen tat es ab und zu recht gern. Außerdem kam er so in den Semesterferien mal raus aus dem Haus. Nachdem er sich noch einen Apfel aus der Obstschale genommen hatte, ging er die breite Holztreppe hinauf in sein Zimmer. Hier hatte er alles immer recht schlicht gehalten. Ein ganz normales Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und zwei Bücherregale befanden sich in seinem kleinen Reich. Er brauchte keine Accessoires, wie Vasen, Bilder oder weitere Tische, auf denen Modelle oder Figuren standen. Er ging auf die Rechte Seite von seinem Bett und hob eine lose Diele hoch. Dort bewahrte er seine Schätze auf. Sein Vater wäre rasend vor Wut geworden, hätte er in den Bücherregalen von Rowen ein Buch über die Geschichte des alten Ägyptens gefunden. Deswegen versteckte er solche Bücher im Boden. Behutsam legte er sein neustes Buch zu den anderen geschichtlichen Meisterwerken und verdeckte das Loch wieder mit der Diele. Er würde nach dem Abendessen ein wenig in seinem neuen Buch lesen.
 

Es vergingen drei Stunden, als eine Dienstmagd zum Abendessen läutete. Die Familie fand sich im Esszimmer an der langen Tafel aus Eiche zusammen. Sein Vater saß an der Stirnseite, links neben ihn seine Frau und zu seiner rechten Rowen. Das Abendessen begann mit einer leichten Gemüsesuppe. Während des ersten Ganges berichtete Earl ein wenig von seiner Arbeit und Rowen’s Mutter, Viktoria, teilte den neusten Klatsch und Tratsch aus. Rowen hörte nur mit halbem Ohr zu. Es interessierte ihn nicht wirklich, wie krank die Menschen waren oder wer wen aus welchen Gründen geheiratet hatte.

Als dann der Hauptgang, Lamm mit Kartoffeln und Bohnen, aufgetischt wurde, schlug Earl plötzlich aus den Tisch. Rowen zuckte zusammen.

„Rowen!“, sagte sein Vater barsch.

„Ja, Vater?“

„Ich bin nicht zufrieden mit dir!“

Rowen wusste was er meinte. Es war ja nicht nur sein langwieriges Studium, was die Familie Hayford in Misskredit brachte. Auch Rowen’s geplatzte Verlobung war Grund genug, dass sein Vater wütend war. Seine Verlobung war schon beschlossene Sache gewesen. Sie hieß Rose, war freundlich, hübsch und durch Rowen’s Vater und ihrem einander versprochen gewesen. Doch Rose konnte es anscheinend nicht ertragen, dass ihr Zukünftiger so ein Versager war und löste die Verlobung. Earl war sehr wütend gewesen und Viktoria dachte nur an den Klatsch, der dadurch verbreitet wurde. Rowen war das relativ egal gewesen. Er mochte Rose eh nicht besonders und sie war im geheimen nur auf das Geld der Hayfords aus. Auf so eine Verlobte konnte er verzichten.

„Verzeih mir Vater.“, sagte Rowen reumütig.

„Ich dulde keine Versager in meiner Familie! Was ist nur los mit dir?“, donnerte sein Vater. „Es scheint, als versuchtest du dich mit allen Mitteln deiner Bestimmung zu verwehren.“

Rowen musste leicht lächeln. Wie Recht sein Vater mit dieser Vermutung doch hatte. Doch sollte er seinem Vater jetzt die Wahrheit sagen? Er dachte an die vielen Bücher, die er in seinem Zimmer versteckt hielt. Er dachte an die vielen nächtlichen Stunden, in denen er heimlich und mit Vorsicht darin las. Seine Entscheidung war denkbar einfach. „Ich lege keinen Wert darauf Arzt zu werden.“

Sein Vater ließ die Gabel in seiner rechten Hand auf den Porzellanteller fallen.

„Wie bitte?“, fragte er mit erhobener und erzürnter Stimme.

„Du weißt, dass ich niemals Arzt werden wollte. Ich will Historiker werden.“

„Das erlaube ich dir nicht!“

„Es ist mein Wunsch und mein Traum, also erlaube es bitte Vater.“

„Ein Hayford wird Arzt!“, donnerte sein Vater wieder.

Da war es wieder. Das Familienmotto. „Ich weigere mich, dieses Familienerbe anzutreten.“, sprach Rowen schon eine Spur wütender aus. Sein Vater lief schon puterrot an und sah nicht sehr gesund aus.

„Dann verlasse auf der Stelle mein Haus und wage es nicht dich noch einmal hier blicken zu lassen.“, stieß sein Vater zornig hervor.

Rowen sah ihn entsetzt an. Er hatte ja mit viel Widerstand gerechnet, aber an Rausschmiss hatte er dabei wirklich nicht gedacht. Doch wenn er so darüber nachdachte, war dies die einzige Möglichkeit, um seinen Traum verwirklichen zu können. In diesem Haus würde er nicht weiterkommen und auch niemals glücklich werden.

„Wie du es wünschst Vater.“

Rowen faltete seine Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann stand er auf und ging in sein Zimmer. Schnell hatte er zwei Reisekoffer gepackt. In dem einen befand sich Kleidung und in dem anderen waren seine wertvollen Bücher. Während er die Treppen wieder nach unten ging, hörte er, wie seine Mutter versuchte seinen Vater umzustimmen. Sie erinnerte ihn an das Gerede das entstehen würde, wenn er Rowen Rausschmiss. Rowen konnte über diese Argumentation nur lächeln. Das war seine Mutter wie sie leib und lebte. Doch sein Vater blieb hart. Rowen ging zu seinen Eltern um sich zu verabschieden.

„Lebt wohl.“, sagte er ein wenig wehmütig. Auch wenn sie sich falsch verhielten, waren sie doch trotzdem noch seine Eltern.

„Wage es nicht je wieder einen Fuß über diese Schwelle zu setzten!“, wütete sein Vater.

„Sehr wohl Vater.“

Rowen ging. Und eins war gewiss. Er würde nie wieder kommen. Doch es sollte aus ganz anderen Gründen geschehen, als aus den Nahe liegenden.
 

Es dämmerte bereits, als Rowen nach draußen trat. Er entschied, dass er sich noch von seinem Bruder verabschieden sollte, bevor er Oxford gänzlich verließ, um in der Welt herumzureisen. Da er noch genügend Geld hatte, nahm er sich eine Kutsche, die ihn in einen der Vororte von Oxford brachte.

In den Vororten herrschten noch schlechtere Lebensbedingungen, als in der Stadt. Und genau dahin verschlug es Rowen’s Bruder Eric. Hier gab es noch mehr Kranke und viel zu tun. Nach seiner Ausbildung hatte Eric geheiratet und mit seiner Frau Mary zwei Kinder gezeugt. Es war bereits dunkel, als Rowen vor dem mittelständischen Haus stand und an der Tür klopfte. Es dauerte etwas, bis sich die Tür öffnete und Mary in sein Blickfeld geriet. Es wunderte ihn, dass sie ihm persönlich die Tür öffnete. Anscheinend war ihre Bedienstete heute nicht zugegen. Mary war so schön wie immer. Langes, braunes, wallendes Haar, welches ihr bis zur Hüfte reichte und eine schlanke Figur. Als Mary Rowen erkannte, verdunkelten sich ihre braunen Augen. Sie mochte ihn nicht. Aus genau den gleichen Gründen wie seine Ex- Verlobte. In ihren Augen war Rowen einfach ein Versager gewesen. Doch Rowen war schon immer freundlicher Natur gewesen und ignorierte ihre offene Missbilligung einfach.

„Guten Abend Mary.“

„Rowen.“, sagte sie kühl. „Was willst du zu so später Stunde hier?“

„Ich wollte meinen Bruder besuchen.“

Ihr Blick fiel auf die beiden Koffer und anscheinend konnte sie eins und eins zusammenzählen, denn ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Eric ist nicht da.“, entfuhr es ihr hastig. Doch bevor sie Rowen die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, trat Eric plötzlich an ihre Seite.

„Was ist denn hier los, Mary?“, fragte er freundlich. Dann erblickte er seinen Bruder. „Rowen.“ Er lächelte.

„Guten Abend Eric.“

„Warum stehst du denn hier draußen? Komm rein, komm rein.“ Er schob seine Frau beiseite und zog seinen Bruder ins Haus. Sie gingen in das Arbeitszimmer von Eric und er bat seine Frau, ihnen Tee zu reichen. Sie war nicht wirklich begeistert davon, tat aber was ihr Mann verlangte.

Das Arbeitszimmer war mit deckenhohen Bücherregalen ausgestattet, die gefüllt waren mit diversen gebundenen Niederschriften. Am Fenster stand ein Schreibtisch aus Buche. Der zentrale Punkt des Zimmers war die Sitzecke mit Tisch und vier Sesseln. Sie ließen sich dort nieder.

„Wo sind die Kinder?“

„Sie schlafen leider schon. Soll ich sie wecken?“

„Nein, nein. Lass sie bitte schlafen.“

Die Tür öffnete sich und Mary brachte Tee und etwas Gebäck auf einem Tablett herein. Eric bedankte sich und sie verließ mit wutverzerrter Miene das Arbeitszimmer wieder.

„Was führt dich her Ro?“, fragte Eric, nachdem er ihnen beiden Tee eingegossen hatte. Rowen druckste ein wenig herum.

„Nun ja.“, begann er und erzählte stockend, was zu Hause vorgefallen war. Eric war nicht sauer, sondern lächelte nur. Anscheinend hatte er gewusst, dass es irgendwann so kommen musste.

„Da hast du ja was angerichtet.“, kommentierte er die Geschichte. Rowen lächelte. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. „Und was hast du jetzt vor? Nach Hause zu gehen kommt im Moment wohl nicht in Frage.“

„Das stimmt. Ich habe vor die Welt zu bereisen. Aber dafür benötige ich Geld. Ich werde nach London gehen, um welches zu verdienen.“

„Wirklich? Nach London? Willst du nicht doch lieber hier bleiben? Ich meine, London ist weit weg und recht groß. Schaffst du das überhaupt?“ Es war nicht so, dass Eric Rowen nichts zutraute, doch er kannte seinen kleinen Bruder von allen am besten. Er wusste, was für ein Tollpatsch Rowen war. Und seine Gutmütigkeit würde ihn in einer Stadt wie London wahrlich nicht weit bringen.

Rowen wusste das. „Es ist nett, dass du dir Sorgen machst. Und auch dein Angebot ehrt mich, aber Mary wird es wohl nicht so gut finden, wenn ich bei euch verweile.“

„Meinst du?“ Eric war in diesem Punkt schon immer etwas naiv gewesen.

„Ja, meine ich. Es ist wirklich besser so. Aber ich möchte dich trotzdem um einen Gefallen bitten. Dann werde ich auch gehen.“

„Gewiss. Ich erfülle dir, was immer du wünschst.“

„Könntest du mir ein Pferd geben? Zu Fuß wird die Reise gewiss noch beschwerlicher.“

„Selbstverständlich.“, stimmte Eric lächelnd zu. Er war eben eine gute Seele.

Rowen trank seinen Tee aus und stand auf. „Jetzt sofort?“, fragte Eric erstaunt. „Es ist schon dunkel draußen. Bleib doch über Nacht hier und reise morgen früh los.“

„Das ist nett von dir, aber ich möchte schnell soviel Abstand zwischen Vater und mich bringen wie nur möglich.“

„Verstehe.“, lenkte Eric ein und seufzte leise. Er stand ebenfalls auf und geleitete Rowen nach draußen.

Er sattelte ihm zwei Pferde. Das eine sollte Rowen zum reiten nutzen und auf dem anderen sollte er sein Gepäck transportieren. Natürlich wäre eine kleine Kutsche einfacher gewesen, aber Mary verbot dies. Allein schon, dass Eric Rowen zwei Pferde gab, empfand sie als zu großzügig.

Als Mary sich erbost zu Bett begab, steckte Eric ihm ein wenig Geld zu und gab ihm Proviant. „Leb wohl Eric.“

„Auf bald Rowen. Und komme mich bald wieder besuchen. Du bist hier immer willkommen.“

„Danke. Wir sehen uns bald wieder.“ Sie lächelten sich an.

Das war das letzte Mal, dass die beiden sich sahen.
 

Zwar konnte Rowen auf ebenen Boden keinen Fuß vor den anderen setzten ohne zu stolpern oder gar hinzufallen, aber reiten konnte er. Einige der wenigen Sachen, die er wirklich beherrschte. Natürlich war es unvernünftig nachts zu reisen. Sobald die Sonne unterging, lauerten viele Diebe, Mörder und Räuberbanden auf den Straßen und Wegen- und trotzdem. Rowen hatte schon viel zu viel Zeit vergeudet. Er wollte jetzt endlich das Glück beim Schopfe packen. Doch seine Reise sollte schneller enden, als ihm lieb war.
 

Er war vielleicht zwei Stunden unterwegs gewesen. Sein erstes Ziel war das kleine Dorf Horspath gewesen. Dort konnte er sicher für ein paar Schillinge ein Nachtlager finden. Als er in die Nähe von Horspath kam, kamen ihm mehrere Leute entgegen. Zu Fuß, zu Kutsche oder auch zu Pferd. Panik und Entsetzen stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Rowen trieb seine Pferde an und als er die Allee nach Horspath passiert hatte, sah er den Grund, warum die Menschen flüchteten. Das Dorf brannte lichterloh. Dicke Rauchschwaden wabberten zum Himmel empor. Menschen schrieen, liefen panisch herum und flüchteten. Rowen war entsetzt. Was war nur passiert? Warum löschten die Menschen das Feuer nicht, sondern flüchteten? Er überlegte, was jetzt zu tun war. Natürlich hätte er gerne irgendwie geholfen, doch die Menschen legten keinen Wert darauf. Sie hatten ihr Dorf bereits aufgegeben und wollten nur noch weg. Auch schien niemand ernstlich verletzt, soweit er es überblicken konnte.

Doch gerade, als er sich wieder auf den Weg machen wollte, kam eine Frau mit einem Jungen aus dem brennenden Dorf. Der Junge stützte die Frau. Doch mit einem Mal knickten ihr die Beine weg und sie sackte zusammen. Rowen ritt aus sie zu und stieg von seinem Pferd.

„Kann ich ihnen helfen, Miss? Tut ihnen etwas weh?“, fragte er fachmännisch.

„Mein… Arm…“, presste sie hervor. Ihre Stimme zitterte und klang durch den Rauch kratzig und rau. Rowen besah sich ihren rechten Arm. Er blutete und sah nicht gut aus. Auch wenn er nicht Arzt werden wollte, hatte er das Handwerk doch geringfügig erlernt. Und in weiser Voraussicht führte er einige Arztutensilien mit sich. Diese holte er aus der Satteltasche des Pferdes. Er gab er Frau und dem Jungen eine seiner Wasserflaschen, während er sich um den Arm kümmerte.

Vorsichtig schnitt er die nekrotische Haut ab und schmierte großzügig eine Salbe auf die Wunde. Die Frau hielt still. „Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte er, während er den Arm verband.

„Es war schrecklich.“, sagte sie. „Erst war es nur einer… dann waren sie… überall!“

„Wer?“

„Vampire-“ Sie zitterte und ihre Stimme brach. Rowen sah zu dem Jungen, sein Blick bestätigte ihm, dass die Frau es ernst meinte.

Als Rowen den Arm versorgt hatte, stützte die Frau sich wieder auf den Jungen und ging davon. Rowen sah ihnen nach. Vampire? So was Absurdes. Sie hatte wahrscheinlich eine Rauchvergiftung und redete deswegen wirr. Er hatte schon diverse Geschichten über Vampire gehört und auch einige Bücher darüber gelesen, doch nichts basierte auf Tatsachen. Trotzdem lief ihm ein Schauer über den Rücken, als er darüber nachdachte. Schnell packte er seine Sachen zusammen und stieg wieder auf sein Pferd. Er hätte bestimmt noch einigen Menschen helfen können, doch er hatte Angst, dass man ihm dann die Pferde stehlen würde, wenn er noch länger hier verweilte. Und das wollte er auf keinen Fall riskieren. Außerdem waren die Dorfbewohner mehr mit ihrer Flucht, als mit ihren Verletzungen beschäftigt. Und da er sich sicher war, dass hier kein Nachtlager mehr finden würde, ritt er weiter.
 

Er folgte der Allee, bis diese in einen Wald mündete. Das bereitete Rowen Unbehagen. Natürlich hätte er um den Wald herumreiten können, doch das hätte ihn wertvolle Stunden gekostet. Durch den Wald zu reiten, brachte ihm weniger Umstand.

Rowen schluckte, als er in die dunklen Tiefen des Waldes eindrang. Immer wieder überprüfte er seine Laterne. Es war Neumond gewesen und im Wald herrschte finsterste Nacht.

Er ritt ungefähr eine halbe Stunde und war schon fast aus dem Wald raus, als er jemanden an einem Baum gelehnt sitzen sah. Er hob seine Laterne und bei näherer Betrachtung erkannte er, dass es ein kleines Mädchen war. Sie war vielleicht zehn Jahre alt gewesen. Sie trug ein weißes schlichtes Kleid und ihre langen braunen Haare umrandeten ihr Engelsgesicht. Was machte dieses Kind so ganz alleine in diesem Wald?

Ohne nachzudenken sprang er vom Pferd und ging auf sie zu. Bei ihr angekommen kniete er sich hin und hielt die Laterne seitlich, damit er sie sehen konnte.

„Geht es dir gut?“, fragte er sanft. Ihr Gesicht war leichenblass und dreckig. So wie auch ihr Kleid. Vermutlich gehörte sie ebenfalls zu den Flüchtlingen aus dem Dorf und war hier vor Erschöpfung zusammengebrochen.

„Durst.“, presste sie schwach hervor. Ihr Atem hing stoßweise und ihre dunkelbraunen Augen sahen ihn flehend an.

„Warte. Ich gebe dir Wasser.“ Rowen wollte zu seinem Pferd zurück um seine Wasserflasche zu holen, als er plötzlich spürte, wie sich ihre Hand um sein Handgelenk schloss. Bei dieser Berührung zuckte er zusammen. Ihre Hand war eiskalt. Rowen blickte wieder in ihr Gesicht. Doch etwas war anders. Waren ihre Augen nicht braun gewesen? Denn jetzt schimmerten sie plötzlich in einem unnatürlichen grün.

„Es tut mir leid.“, sagte sie schwach und mit glockenheller Stimme. Von einem Moment auf den anderen spürte er einen stechenden Schmerz seitlich an seinem Hals. Sie bewegte sich so schnell, dass er gar nicht sah, wie sie sich vorbeugte und ihre Zähne in seinen Hals rammte. Rowen riss die Augen weit auf und keuchte schmerzlich auf. Vor Schreck ließ er die Laterne fallen. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und er spürte seinen schnellen Pulsschlag. Er merkte, wie sie ihm das Blut aussaugte.

Ein Vampir, ging es ihm durch den Kopf.

Plötzlich schrie er auf, als er unerträgliche Schmerzen an seinem Hals verspürte. Der Schmerz breitete sich schnell in seinem Körper aus. Es fühlte sich, als ob er von innen verbrennen würde. So fühlt sich also der Tod an, dachte Rowen bitter. Als der Schmerz ein wenig abklang, wurden seine Augenlider schwer. Er dachte an seine Eltern und an seinen Bruder. An die Worte, die er an sie richten wollte und die nun doch unausgesprochen blieben.

Das Vampirmädchen schien hungrig zu sein, denn sie trank immer noch. So sollte seine Reise also enden. Zumindest diente sein Tod einem guten Zweck. Er lächelte leicht und legte dem Mädchen seine linke Hand auf den Kopf. Sanft streichelte er ihr durchs Haar. Der kleine Vampir schien irritiert über diese plötzliche Zuneigung, denn sie ließ von ihm ab und sah ihn an.

„Warum… hörst du… auf?“, fragte Rowen leicht benommen. Lange würde er nicht mehr bei Bewusstsein bleiben können.

„Was soll das?“, zischte sie erbost. Ihr Mund und ihr Kleid waren blutverschmiert.

„Trink ruhig… lass bitte… nichts übrig…“, sagte Rowen freundlich.

„Was?“

„Du bist… durstig… ich gebe… gebe dir… was du… verlangst…“

Sie schien immer noch überrascht. Sie merkte, dass Rowen wollte, dass sie von ihm trank. Sie lächelte. „Deine Selbstlosigkeit soll belohnt werden.“ Sie hatte ihren Durst gestillt. Mehr Blut brauchte sie nicht. Sie führte ihren linken Arm zum Mund und biss hinein. Blut floss ihren blassen Arm herab. Sie hielt ihm die blutende Wunde hin. „Trink“, sagte sie freundlich.

„Nein… danke… nicht… durstig…“ Zu ganzen Sätzen war Rowen schon nicht mehr fähig.

„Trink!“, herrschte sie ihn mit zorniger Stimme an. Ihr Blut tropfte auf seine Kleidung, weil sie ihren Arm immer noch ausgestreckt hielt. Rowen lächelte nur über ihren Befehl, weigerte sich aber dennoch.

„Trink endlich!“

Rowen wusste nicht, warum er es tat, aber er öffnete seinen Mund und ließ die warme Flüssigkeit seine Kehle herunter rinnen. Zuerst überkam ihm Übelkeit, als seine Geschmacksknospen den salzigen und eisenhaltigen Geschmack wahrnahmen. Doch er kam auf den Geschmack. Als er merkte, dass das Feuer in seinem Inneren durch das Blut gelöscht wurde, biss er zu und saugte gierig an ihrer Wunde. Mit beiden Händen hatte er ihren Arm fest umklammert. Um nichts in der Welt würde er diesen Arm loslassen. Doch bald reichte es dem Mädchen und sie entriss ihm ihren Arm.

Rowen sah noch, wie sie grinste, dann wurde er ohnmächtig.
 

Rowen wachte auf.

Doch das Aufwachen war nicht wie sonst gewesen. Es war nicht, wie es normalerweise war. Wenn er sonst aufwachte, verspürte er ein leichtes Schwindelgefühl und sein Kopf fühlte sich dumpf an. Doch jetzt war es anders. Er war merkwürdigerweise klar im Kopf. Kein Nebel, der seine Sinne verschleierte.

Er hörte Geräusche. Das Tropfen von Wasser, das Atmen von Tieren und eine Art Surren. Doch noch nie hatte er Geräusche so intensiv wahrgenommen. Es fühlte sich merkwürdig an. Als ob die Geräusche greifbar wären.

Langsam schlug er die Augen auf. Im ersten Moment sah er nichts. Es war dunkel gewesen. Dunkelheit bekam für ihn hier eine ganz neue Bedeutung. So eine tiefe Schwärze hatte er noch nie erlebt. Vorsichtig hob er seine rechte Hand vor seine Augen, um das genaue Ausmaß dieser Dunkelheit bestimmen zu können. Doch als er das tat, runzelte er plötzlich die Stirn. Er konnte seine Hand klar und deutlich erkennen. Mehr noch, er sah die vielen kleinen Hautzellen, die seine Hand überzogen. Er konnte sogar erkennen, dass er Dreck unter seinen Fingernägeln hatte. Doch wie war so eine klar Sicht möglich, bei so einer Dunkelheit?

Er setzte sich auf. Der Schwindel, der sich normalerweise jetzt immer verstärkte, setzte nicht ein. Er fühlte sich sogar eigenartig kraftvoll.

Rowen sah sich um. Er sah, als ob es gerade dämmern würde. Farben waren zwar nicht so deutlich wie bei Tageslicht, doch er konnte trotzdem alles genau erkennen. Er sah Steinwände, die rau waren und sich um die Decke wölbten und Fledermäuse die kopfüber dort hingen. Er musste sich in einer Höhle befinden. Doch wie kam er hierher? Was war passiert?

Dunkel drangen seine Erinnerungen an die Oberfläche. Der Streit mit seinen Eltern, Eric, das brennende Dorf, das Mädchen. Natürlich! Das Mädchen war ein Vampir und hatte ihn gebissen. Wie konnte er das so schnell vergessen? Doch was passierte dann? Panisch tastete er seinen Hals ab, doch er konnte nichts fühlen.

„In so einem Fall hinterlässt ein Biss keine Spuren.“, hörte er jemanden sagen. Rowen drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Da saß das Mädchen. Sie lehnte an der Felswand und sah ihn direkt an. Sie lächelte ein wenig belustigt. „Wie heißt du?“, fragte sie mit ihrer Engelsstimme.

Rowen dachte kurz darüber nach, ehe er antwortete: „Mein Name ist Rowen Hayford.“ Seine Stimme klang eigenartig. Bevor er gebissen wurde, war sie ein wenig unsicher und piepsig. Doch jetzt hatte sie einen kräftigen und weichen Klang gehabt. Er lächelte. Anscheinend hatte sich so einiges verändert. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich heiße Elisabeth Brown. Du kannst aber Beth zu mir sagen.“

„Freut mich deine Bekanntschaft zu machen, Beth.“ Er ging auf sie zu. Selbst sein Gang war anders. Seine Beine bewegten sich elegant. Er schwebte geradezu über den feuchten Boden. Von seinem unsicheren und tollpatschigen Gang war nichts mehr übrig. Mit einer flüssigen und für ihn normalerweise untypischen Bewegung, setzte er sich ihr gegenüber. „Wo sind wir hier?“ Er blickte sie fragend an.

„In einer Höhle im Wald. Ich musste dich vor der Sonne schützen.“

„Vor der Sonne?“

„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“, begann sie und schaute dann zu Boden. Rowen wartete geduldig, bis sie wieder sprach. „Du bist zu einem Vampir geworden und es ist meine Schuld.“ Noch immer blickte sie nicht auf, während sie leise seufzte. „Ich weiß, dass du mir gewiss nicht zu glauben vermagst, aber ich spreche die Wahrheit.“

„Ich muss zugeben, es hört sich schon ein wenig befremdlich an.“ Beth hob ein wenig den Kopf. Er sah sie leicht lächeln.

„Da hast du wohl Recht.“

„Wie ist das alles passiert?“ Rowen war gefasst. Damit hatte Beth anscheinend nicht gerechnet. Trotzdem verwehrte sie ihm einen Blick auf ihr Gesicht, denn sie senkte den Kopf wieder. „Ich erzähle dir die Geschichte am besten von Anfang an.“

„Sehr gerne.“

Es entstand eine weitere Pause. Anscheinend dachte sie darüber nach, wie sie beginnen sollte.

„Geboren wurde ich 1820. Ich kam aus einer gewöhnlichen Bauernfamilie. Es war mein 11. Geburtstag gewesen, als mein Leben endete. Wir hatten nie viel Geld gehabt, aber es reichte uns zum leben. An meinem Ehrentag führte Vater uns im Dorf zum Essen aus. Doch als wir gerade unsere Suppe gegessen hatten, kam ein Mann in den Pub und schrie, dass das Dorf überfallen wurde. Wir rannten raus, so wie viele andere Gäste, um Schutz zu suchen. Doch das Dorf brannte bereits. Ungefähr so, wie Horspath. Wir liefen den Räubern direkt in die Arme. Bis zu diesem Zeitpunkt dachten wir zumindest, dass es Räuber waren. Wer hätte auch mit etwas anderem gerechnet.

Meine Eltern und mein Bruder wurden getötet. Von Vampiren.“

Beth machte eine Pause, damit Rowen das eben gehörte verdauen konnte. Sie holte ein paar Mal tief Luft und setzte ihre Geschichte fort. „Ich habe gesehen, wie sie ihnen das Blut aus dem Körper saugten. Ich hörte ihre Schreie und ihr Flehen. Und dann hörte ich plötzlich alle Geräusche verstummen. Ihre leblosen Körper sackten zu Boden. Ich weiß nicht warum, aber ich konnte nicht weinen. Selbst Schreien war mir in dem Augenblick nicht vergönnt. Vermutlich war es der Schock, der so untypische Reaktionen hervorrief. Ich stand einfach nur regungslos da und starrte auf die Leichen meiner Familie.

Einer der Vampire kam auf mich zu und fragte mich mit honigsüßer Stimme ob ich auch sterben wollte. Ich sah immer noch zu den Leichen. Meine Entscheidung viel mir in diesem Moment leicht. Ich bat den Vampir mich zu seinesgleichen zu machen. Ich wollte nicht sterben. Wollte nicht blutleer auf dem Weg liegen und in Vergessenheit geraten, so wie meine Familie. Anscheinend hatte ich Wohlwollen bei dem Vampir geweckt, denn er machte mich zu einem von ihnen. Als ich erwachte, war ich zu einem Vampir geworden und lebte unter ihren Reihen.

Der Clan bestand auf 15 Vampiren. Ich kann nicht genau beschreiben, wie meine Zeit mit ihnen war. Wir überfielen des Öfteren Dörfer und labten uns an dem Blut der Menschen. Zuerst empfand ich es als ekelhaft, dass Blut der Menschen zu trinken, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Denn schließlich brauchte ich das Blut zum überleben. Ich hätte mein Leben oder wie auch immer man es zu nennen vermag, noch viele weitere Jahre bei diesem Clan fristen sollen. Doch letzte Nacht ging etwas schief.

Wir kamen nach Horspath und überfielen es, wie jedes andere Dorf auch. Ich hatte schon längere Zeit nicht mehr getrunken und war durstig. Du musst wissen, ich trinke nur, wenn ich wirklich keine andere Wahl mehr habe. Ich hatte mir ein Opfer ausgesucht. Ein kleines Kind, kaum älter als ich zu meinen Lebzeiten. Doch als ich mich an seinem Blut laben wollte, ging es nicht. Das Kind sah mich mitleidig an und ich konnte ihm einfach nicht das Leben nehmen. Ich kenne den genauen Grund dieses Umstandes nicht. Vielleicht erinnerte es mich zu sehr an mich selbst.

Mein Vormund bei den Vampiren bekam mein Zögern mit und sagte, dass ich eine Schande für die Rasse der Vampire sei. Wenn ich nicht fähig war zu morden, hatte ich bei dem Clan nichts mehr zu suchen. Normalerweise hätte er mich töten müssen. Doch er mochte mich und verstieß mich stattdessen. Um nicht von den anderen Vampiren erwischt zu werden, floh ich in den Wald um mich zu verstecken. Denn sie hätten mich ohne weiteres ermordet. Doch der Durst hatte meinen Körper bereits so sehr geschwächt, dass ich an diesem Baum kraftlos zusammen sank.“

Wieder legte Beth eine Pause ein. Rowen musterte sie währenddessen interessiert. Dann holte sie erneut Luft und brachte ihre Geschichte zu Ende.

„Dann hast du mich gefunden. Ich war wirklich durstig gewesen. Ich musste dein Blut einfach haben. Es roch wahrlich verlockend. Ich hatte die Wahl. Selbst sterben oder dich töten. Mein Selbsterhaltungstrieb entschied für mich. Dein Blut war ein Festschmaus. Eigentlich wollte ich trinken, bis du blutleer warst, doch als du mich auch noch gebeten hattest dich bis auf den letzten Tropfen deines Blutes auszusaugen, hatte ich Mitleid mit dir. Deswegen entschied ich mich dich zu einem Vampir zu machen. Du hattest nur die Möglichkeit zu sterben, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Ich habe für dich einen anderen Weg entschieden. Es tut mir leid.“ Beth hob kurz den Kopf um ihn anzusehen, senkte ihn dann aber wieder schuldbewusst. Rowen jedoch lächelte nur und streichelte ihr über das Haar. Sie zuckte zurück und sah ihn erschreckt an. „Du bist nicht wütend?“

„Du hast eine Wahl für mich getroffen. Ich wäre doch sowieso bald gestorben. In deinen Ohren vermag es vielleicht merkwürdig klingen, aber ich bin nicht wütend. Ich habe mein behütetes Heim verlassen um mir meinen Traum zu erfüllen. Ich wusste, dass es ein Fehler war. Es gibt also keinen Ort mehr, an den ich zurückkehren kann. Deswegen verzeihe ich dir. Mein Leben hatte seit dem Tag meiner Geburt seinen Sinn verwirkt. Und durch dich hat es vielleicht einen neuen Sinn erhalten.“

Ein tiefes Knurren entwich ihrer Kehle. „Deine Haltung ist falsch. Dein Leben hat keinen Sinn mehr, denn ich habe es beendet! Du bist ein Wesen, das weder tot, noch lebendig ist. Es ist gar grausam, was ich dir angetan habe. Ein Vampir zu sein ist alles andere als einfach.“

Rowen spürte in jedem einzelnen Wort ihren Zorn. „Was genau beinhaltet es denn, ein Vampir zu sein? Ich kenne einige Geschichten zu diesem Thema, aber ich denke nicht, dass alle der Wahrheit entsprechen.“ Er war freundlich, als er dies aussprach.

Beth sah ihn erstaunt an. „Meinst du das ernst?“

„Gewiss.“

„Also gut.“, lenkte sie ein. „Vielleicht bedarf es bei dir ein wenig Schrecken.“ Sie grinste und Rowen sah eine Reihe perfekter Zähne.
 

Beth erzählte ungefähr drei Stunden lang über alles nur Erdenkliche. Und fast jeden Satz kommentierte Rowen mit einer Frage. Obwohl Beth ihm Angst machen wollte, genoss sie diese Unterhaltung. Es war angenehm, sich endlich mal wieder zivilisiert unterhalten zu können. Man sah es ihr an. Außerdem zeigte Rowen reges Interesse. Noch nie war ihr jemand begegnet, der so wissbegierig war.

„Vampire sind wirklich faszinierend.“, sagte Rowen dann schließlich, als Beth ihm alles erzählt hatte, was sie wusste.

„Faszinierend? Verspürst du denn keine Angst?“

„Ich weiß nicht recht. Mein Wissensdrang und meine Neugierde waren schon immer größer, als meine Angst.“

„Rowen! Dein Leben wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Ich habe dich zu einem bluttrinkenden Wesen der Nacht gemacht!“ Wieder war ihre Stimme von Zorn erfüllt. Er reagierte einfach nicht so, wie er es hätte tun sollen. „Du wirst nie wieder das Gefühl von Wärme erfahren. Vampire sind einsame Wesen. Ihr Herz hat seinen Dienst getan. Du kannst nicht mehr empfinden.“

„Ich denke, du irrst dich.“

„Wie bitte?“

„Ich denke nicht, dass deine Gefühle vollständig erkalten. Du empfindest Reue mir gegenüber, weil du mich zu einem Vampir gemacht hast. Wenn dein Herz vollständig erkaltet wäre, dann hättest du nicht >Es tut mir leid< gesagt.“

Beth runzelte die Stirn. Ihre Haut war so glatt, dass sich kaum Falten auf dieser bildeten. „Vielleicht hast du mit deiner Vermutung ja Recht. Unter den Vampiren, bei denen ich bis vor kurzem noch gelebt habe, war es zumindest so gewesen. Sie teilten nichts von ihrem Besitz und Nettigkeiten empfanden sie als überflüssig.“

„Was gedenkst du jetzt zu tun? So wie es scheint, kannst du bis auf absehbare Zeit nicht zu deinem Clan zurückkehren.“

„Ich weiß es nicht.“, seufzte sie und ließ den Kopf hängen. Rowen wollte sie nicht niedergeschlagen sehen und nahm tröstend ihre Hand. „Also ich für meinen Teil möchte immer noch ferne Länder bereisen. Ich will die Geschichte erforschen und meinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Und ich hätte nichts dagegen, wenn mich eine bezaubernde Lady, wie du es bist, begleiten würde. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, da ich noch keine Erfahrung mit dem Dasein als Vampir sammeln konnte. Lasst mich euer Schüler sein, Lady Beth.“

Beth sah ihn mit großen Augen an. Die Schönheit ihres Gesichtes entfaltete sich in vollen Zügen, als sie lächelte und ihn freudig umarmte. „Natürlich werde ich deine Lehrerin.“
 

Da die Sonne bald aufging, verbrachten sie noch einen Tag in der Höhle. Als die Nacht hereinbrach, machten sie sich auf den Weg. Beth war begeistert von der Idee, nach London zu reisen. Sie wollte die Stadt schon immer mal besuchen. Die Pferde hatte Beth in weiser Voraussicht an einen Baum vor der Höhle gebunden. Als Rowen die Pferde sah, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Er fühlte die Wärme, die von den Tieren ausging. Er konnte das Blut hören, das ihnen durch die Adern rauschte. Er witterte den Blutgeruch. Der sonst so beherrschte Rowen wurde unkontrolliert. Etwas ging in ihm vor. Er spürte, wie seine Eckzähne länger wurden und sich verhärteten. Sein Blick verschleierte und der Drang diesen Tieren das Blut auszusagen wurde so groß, dass er sich auf sie stürzen wollte. Mit einem beherzten Sprung konnte Beth ihn gerade noch davon abhalten.

„Nein Rowen!“

„Lass mich!“ Seine Stimme war eisig.

„Es tut mir leid. Ich vergaß, dass du dich noch nicht beherrschen kannst. Du brauchst Blut, aber nicht das von den Pferden!“

Rowen knurrte, schloss dann aber die Augen und wehrte sich nicht mehr. Er sah zwar ein, dass er sich beherrschen musste, aber sein Blutdurst war übermenschlich. Er wusste nicht, wie lange er noch Kontrolle walten lassen konnte.

„So ist es gut.“, sagte Beth sanft. „Lass uns jagen gehen. Hier im Wald werden wir bestimmt ein Reh oder ein anderes Wildtier finden.“

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn von den Pferden weg. Es dauerte auch nicht lange, bis sie eine Gruppe von Rehen entdeckten. Beth ließ Rowen stehen und pirschte sich lautlos an das Rudel heran. Die Tiere blickten nicht mal auf, als sie sich nährte. Sie kauerte sich hin, wartete einen Moment und stürzte sich dann auf sie. Das Rudel trieb auseinander, doch Beth hatte längst was sie wollte. Sie hielt ein Reh an den Hinterläufen fest, sodass es nicht mehr fliehen konnte. Rowen staunte über ihre Schnelligkeit und Wendigkeit. Er hätte nie für möglich gehalten, dass sie eins dieser extrem scheuen Tiere zu fassen bekam. Es fühlte sich wunderbar an, als das Blut des Rehs seine Kehle herunter rann. Dass er das Tier getötet hatte, daran dachte er in diesem Moment nicht.

Als er gesättigt war, gingen sie zu den Pferden zurück. Kaum, dass er nicht mehr durstig war, verloren die Pferde an Reiz. Natürlich nahm er sie noch wahr. Das pulsierende Blut und dieser anziehende Duft, doch diesmal konnte er dem leichter widerstehen. Nachdem die Tiere mit Speis und Trank versorgt waren, machten sie sich auf den Weg.
 

Sie brauchten einen Monat für die Reise nach London. Sie ritten bei Nacht und schliefen am Tage. Rowen hatte noch erhebliche Probleme seinen Durst unter Kontrolle zu bringen. Vor allem, wenn er auf Menschen traf. Doch dann wurde ihm immer bewusst, dass er selbst einmal Mensch gewesen war und schämte sich für seine Gier. Es war moralisch falsch. Er wollte kein Monster sein. Deswegen lenkte er seinen Durst auf Tierblut. Es stillte ihn zwar nicht völlig, aber es reichte aus um nicht auf Menschen loszugehen. Es machte das Leben unter ihnen erträglicher. Beth hingegen labte sich an dem einen oder anderen Menschen. Sie war schwächer als Rowen und brauchte das volle Sättigungsgefühl.

Als sie London erreicht hatten, mietete Rowen von seinem restlichen Geld eine kleine Wohnung. Diese war wirklich erbärmlich gewesen. Die hatte einen großen Raum, eine Küche und ein kleines Bad. Doch auf Dauer würde er die Wohnung nicht halten können. Deswegen nahm er diverse Arbeiten an. An drei Abenden in der Woche lehrte er Geschichte an einer Abendschule. An den zwei anderen Abenden half er in der Bibliothek aus.

Das Leben in London erwies sich als schrecklich. Es war verschmutzt, überfüllt und krankheitsbelassen. Wie gut, dass einem Vampir Krankheiten nicht zu Leibe rücken konnten. Trotzdem wollte Rowen nicht zu lange verweilen. Doch dieser Vorsatz gelang ihm nur kläglich.

Sie lebten bereits seit fünf Jahren in London. Von seinem Einkommen konnte er sich bald eine Wohnung leisten, die drei Zimmer mit Küche und Bad hatte. In dieser Zeit brachte er Beth lesen, schreiben und auch rechnen bei. Durch ihr Leben bei den Vampiren, hatte sie diese Dinge nie erlernt. Und als sie die Grundkenntnisse beherrschte, bemerkte Rowen, dass sie ähnlich von Büchern begeistert war, wie er. Des Öfteren brachte er Bücher mit, die sie meist vor ihm ausgelesen hatte. Viel hatte sie auch nicht zu tun gehabt. Sie blieb immer im Haus. Es war nicht so, dass Rowen es ihr verbot, doch sie war schwächlich. Er hatte Sorge, dass sie irgendwo in den Straßen zusammenbrach. Deswegen erlaubte er ihr auch, Menschenblut zu sich zu nehmen. Er befürwortete es zwar nicht gerade, aber in ihrem Fall war es notwendig. Doch es waren so wenige Menschen, dass die daraus entstandenen Leichen kaum auffielen. Meist ernährte sie sich wie Rowen von Schweine- und Rinderblut. Es gab einen Schlachter in der Stadt, der das Blut immer in großen Containern im Hinterhof aufbewahrte. Dort schlich Rowen sich nachts immer hin und füllte das Blut in Flaschen ab. So war es nicht auffällig und da das Blut eh weg gegossen wurde, war es auch kein direkter Diebstahl. Rowen und Beth lebten mehr oder minder glücklich. Er hatte einiges an Geld angespart. Bald würde es reichen, um aufs Festland zu fahren um dort die Länder zu erforschen.

Das Verhältnis der beiden war innig. Sie waren schon längst nicht mehr Schüler und Meister gewesen. Es war eher ein Zusammenleben wie Bruder und Schwester. Sie stritten, versöhnten sich und lachten gemeinsam. Rowen hatte viel über die Vampire herausgefunden und hielt seine Ergebnisse in Form von Notizen fest. Beth sortierte diese mit Vorliebe und schrieb sie das ein oder andere Mal nach eigenem Ermessen um.

Doch ihr Glück sollte nicht lange wehren.
 

Eines Nachts, es war eine kalte Novembernacht, stand die Tür zu ihrer Wohnung offen, als er nach Hause kam. Er hatte seinen Dienst in der Bibliothek beendet und hatte sich auf dem Weg nach Hause an den Containern mit dem Blut bedient. Die Flaschen hielt er in einem Stoffbeutel in seiner linken Hand.

Die offene Tür machte ihn misstrauisch. Beth ging nie allein aus dem Haus. Wenn sie das Bedürfnis hatte nach draußen zu gehen, dann nur in Begleitung von Rowen. Selbst wenn sie auf Menschenjagd ging, war er dabei. Vorsichtig drückte er die Tür auf.

„Beth?“, rief er in den dunkeln Flur hinein. Als er keine Antwort bekam, betrat er die Wohnung. „Beth?“, rief er erneut. „Bist du da?“ Vorsichtig durchschritt er den kleinen Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Normalerweise saß sie in seinem Lesesessel aus Leder oder auf dem Teppich auf dem Fußboden und las ein Buch. Als er Einsicht in das Wohnzimmer hatte, saß sie auf seinem Lesesessel. Doch nicht wie sonst mit einem Buch in der Hand. Sie war gefesselt und geknebelt.

Vor Schreck ließ Rowen den Beutel mit dem Blut fallen. Die Flaschen zersprangen und das Blut verteilte sich auf dem dunklen Holzfußboden. „BETH!“, schrie Rowen. Er wollte zu ihr um sie zu befreien, doch plötzlich und wie aus dem Nichts tauchten zwei Männer auf und stellten sich vor Beth. Rowen blieb stehen. „Was wollt ihr?“, knurrte er. Das waren keine gewöhnlichen Männer, sondern Vampire. Er spürte den Hauch von Tod an ihnen haften. Und auch wie sie so plötzlich aufgetaucht waren, ließ nur diese Schlussfolgerung zu.

„Rowen, nehme ich an?“, sagte der Vampir zu Beth's Linken mit süffisantem Lächeln. Sein Tonfall war höflich. Die langen brauen Haare hatte er mit einem Band im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Rowen knurrte. Die grünen Augen des fremden Vampirs sahen Rowen eher belustigt, als wirklich verängstigt an. Das Knurren von Rowen wurde noch bedrohlicher. Auch seine Augenfarbe wechselte zu einem matten grün. Das Erkennungszeichen eines Vampirs. Er zog seine Oberlippe zurück und entblößte seine scharfen Zähne. „Das geht dich nichts an! Lass Beth sofort gehen!“, befahl Rowen mit tiefer und gefährlicher Stimme.

Der Mann blickte zu Beth und dann wieder zu Rowen. „Du nennst sie bei ihrer Namensverkürzung? Seit ihr schon so eine tiefe Bindung der Freundschaft eingegangen? Aber wie dem auch sei.“ Er schüttelte den Kopf, sodass sein Pferdeschwanz leicht mitschwang. „Ich kann sie dir nicht überlassen. Sie gehört zu mir und meinem Clan. Und ich als Oberhaupt werde ihren Verrat sühnen.“

Beth riss die Augen auf und wimmerte durch den Knebel. Man sah, dass sie Angst hatte.

„Man hat sie gehen lassen, also hast du kein Recht mehr Beth büßen zu lassen.“

Der Vampir ließ ein kehliges Lachen verlauten. „Ben!““; befahl er leise. Der Vampir, der rechts von Beth stand, trat einen Schritt vor. Er hatte aschgraues Haar und seine Kleidung war im Gegensatz zu seinem Anführer dreckig und zerschlissen. Auch seine Augen leuchteten grün. „Ja, Ian?“

„Ich denke, eine weitere Unterhaltung bedarf es nicht. Beth wird dafür büßen, dass sie mich hintergangen hat.“ Ian blickte hinunter zu Beth, deren Augen immer noch angsterfüllt waren. „Du hast richtig gehört, meine Liebe. Ich habe nicht vergessen, wie du jenes Haus in Horspath in Brand gesteckt hast, in welchem ich zugegen war. Du wolltest mich umbringen. Diese Tat soll nicht ungestraft bleiben. Ephraim hat dich ziehen lassen, wofür er seine Strafe schon erhalten hat.“ Ian grinste, holte aus und gab Beth eine Ohrfeige, die laut in der Dunkelheit hallte.

Das reichte Rowen. Er hatte genug gehört und gesehen. Er ging ein wenig in die Knie und stürzte sich auf Ian. Er hatte zwar wenig Kampferfahrung gehabt, doch er hoffte, dass es reichen würde. Leider erreichte er Ian nicht, da Ben sich ihm in den Weg stellte.
 

Was genau geschehen war, daran konnte Rowen sich nicht mehr erinnern. Es kam ihm wie Stunden vor, in denen er bewegungslos auf dem Boden gelegen hatte. Langsam und unter Schmerzen richtete er sich auf. Er lag in einer großen Lache Blut. Aber es war nicht nur seines, wie er bald feststellte. Ben lag zwei Meter neben ihm. Tot. Auch er lag in einer Blutlache. In der Mitte verbanden sich die roten Flüssigkeiten und beschrieben einen großen runden Fleck. Hatte Rowen ihn getötet? Er wusste es nicht genau, weil seine Erinnerung leicht verschwommen war. Wo war Ian? Er konnte ihn nicht ausmachen. Doch viel wichtiger. Was war mit Beth?

Hastig kam Rowen auf die Beine. Er schwankte, als er sich umsah. Er hatte wohl mehr Blut verloren, als er dachte. Er sah zu seinem Lesesessel. Beth war immer noch an diesem gefesselt. Ihre Arme waren vom Körper getrennt. Der linke lag auf ihrem Schoß und der rechte lag achtlos auf dem Boden. Ihr Brustkorb war offen. Die dort befindlichen Rippen waren teils gebrochen, teils ganz herausgerissen worden. Ihr Darm verteilte sich über ihren Beinen und auch auf dem Boden. Ihr Herz fehlte, doch es war nirgends zu erblicken. Vermutlich hatte Ian es als eine Art Trophäe mit sich genommen. Ihr Kopf saß auch nicht mehr auf ihren Schultern, sondern lag auf ihrem linken Arm auf ihrem Schoß.

Rowen schrie ihren Namen, als der das Ausmaß dieser Schandtat begriffen hatte. Doch Beth gab keine Antwort und würde es auch nie wieder tun. Als Vampir war es ihm versagt Tränen zu vergießen. Doch er hätte gerne geweint.

Zitternd kniete er sich vor Beth und nahm vorsichtig ihren Kopf in seine Hände. Behutsam schob er das blutverschmierte Haar aus ihrem Gesicht und blickte in ihre toten Augen. Sie waren trotz des milchigen Films, angsterfüllt und schmerzverzehrt. Achtsam umschlossen seine Arme ihren Kopf und er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. „Oh Beth!“, jaulte er.
 

Es verging Zeit. Eine Woche verstrich, in der Rowen die Wohnung nicht verließ. Er ging weder zur Arbeit, noch besorgte er sich Blut. Wenn man es genau nahm, hatte er sich seit dem Tod von Beth nicht mehr von der Stelle bewegt. Noch nicht mal geschlafen hatte er. Er stank, seine Haut war noch blasser als sonst und sah ungesund aus. Dunkle Ringe unter seinen Augen hatten sich tief in die Haut gebrannt. Die ganze Zeit hatte er den Kopf von Beth an seine Brust gedrückt und beteuerte, dass alles in Ordnung war. Das ein oder andere Mal schrie er vor Verzweiflung auf, dann wimmerte und jaulte er.

Die Leichen stanken bereits bestialisch und Maden und Fliegen hatten sich in dem verwesenden Fleisch eingenistet. Auch Ratten waren nicht fern geblieben und labten sich an dem Angebot toten Fleisches. Während dieser Zeit nutzte Rowen die wenigen klaren Momente zum nachdenken. Oft genug musste er dem Drang widerstehen Ian aufzusuchen um Vergeltung zu üben. Doch ihm war klar, dass er es niemals mit ihm aufnehmen konnte. Doch so wie es jetzt war, konnte es nicht weitergehen. Auch Beth hätte das sicher nicht gewollt. So begab es sich, dass er eines Nachts ihre Leiche begrub und mit dem wenigen Hab und Gut das er hatte, verschwand. Er beschloss, endlich seine Reise anzutreten. Er wollte nicht mehr in England verweilen. Keine Kraft der Welt konnte ihn mehr halten. Zu viele schmerzliche Erinnerungen waren an dieses düstere und neblige Land geknüpft. Er wollte seinen Traum verwirklichen. Nicht nur für sich, sondern auch für Beth. Das war er ihr schuldig gewesen. Er konnte sie nicht beschützen, deswegen musste er für sie leben und weitermachen.
 

Rowen machte sich auf den Weg nach Brighton. Von dort aus wollte er mit einem Schiff auf das Festland übersetzten. Über die Reise dorthin gab es nur wenig zu berichten. Er versuchte mit seinen Schuldgefühlen und mit seiner Trauer fertig zu werden. Und als er am Hafen von Brighton ankam, schien das Glück wieder auf seiner Seite. Ein Schiff stand bereits bereit. Er kaufte sich ein Ticket und suchte sich eine Koje in der Holzklasse. Im Morgengrauen legte das Schiff ab und Rowen verschlief den Tag.

Bald ging die Sonne unter und Rowen sah sich ein wenig auf dem Schiff um. Es gab die Holz-, Mittel- und Oberklasse. Die Klassen verteilten sich über drei Decks. Das vierte Deck war ausschließlich dem Kapitän vorbehalten. Hier und da wurde ausgelassen gefeiert, doch Rowen war nicht in Stimmung gewesen.

Er ging nach oben an Deck und trat in die kalte Dezemberluft. Da es ziemlich kalt war, befanden sich auch keine Passagiere dort. Es zog alle ins warme Schiffsinnere. Die Nacht war sternenklar und der Mond beschrieb eine schlanke Sichel. Doch als er zur Rehling ging, war dort noch eine weitere Person. Rowen trat mit ein wenig Abstand neben diese.

Es war ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren. Sein schwarzes kurzes Haar lag wild auf seinem Kopf. Trotz der Kälte trug er einfache Hosen und einen schwarzen Pullover. Er zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch in einer hellen Wolke aus seinem Mund. Rowen brauchte nicht lange um zu erkennen, dass dieser Junge kein gewöhnlicher Mann war. Diese blasse Gestalt war von gleicher Natur wie er selbst gewesen.

Als Rowen seine Arme auf die Rehling legte, nickte der Junge einmal in seine Richtung und starrte dann wieder gedankenverloren auf die dunkle See. Eine Weile schwiegen sie, bis Rowen die Stille brach. „Sie sind auch nicht gewöhnlicher Natur.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der junge Mann nickte.

„Eine schöne Nacht, nicht wahr?“

„Das Einzige, was unsereins noch geblieben ist.“ Seine Stimme war ein wenig rau, was vielleicht von der Meeresluft kam, aber ansonsten war auch sie glockenhell und wunderschön.

„Gewiss. Doch was für eine Bedeutung hat die Sonne für uns, wenn sie uns nicht mehr berührt, wie zu Lebzeiten?“

„Sie hatte etwas Tröstliches.“

„Das hatte sie. Doch wozu braucht man Trost, wenn einem Leid, Trauer und Verlust vorherbestimmt sind?“

Der junge Mann lächelte verbittert. „Mir scheint, wir sind uns ähnlicher, als wir wahrhaben wollen.“

Rowen lächelte ähnlich. „Da könntet ihr Recht haben.“

„Was ist es bei euch?“

„Der Verlust einer guten Freundin.“

„Bei mir ist es der Verlust einer Geliebten.“

„Es ist grotesk. Ich meine, dass unsere erkalteten Herzen solch warme Empfindungen verspüren können.“

„Ein Zeichen dafür, dass wir auf eine gewisse Art doch leben.“

„Leben…“, wiederholte Rowen nachdenklich.

„Ein recht erbärmliches Leben.“, fügte der junge Mann hinzu.

„Wohl wahr. Aber ich vergaß glaube ich, mich vorzustellen. Mein Name lautet Rowen Hayford.“ Nachdem der Junge nichts sagte, setzte Rowen erneut an. „Und wie lautet der eure?“

Der dunkelhaarige Junge nahm den letzten Zug seiner Zigarette und ließ den Stummel ins Wasser fallen. Er drehte sich zu Rowen und seine braunen Augen fixierten ihn kurz. „Man nennt mich Ethan. Gehabt euch wohl, Rowen.“ Damit drehte er sich um und ging wieder ins Innere des Schiffes. Rowen sah ihm lange nach.

Sie trafen sich fast jede Nacht während der ganzen Überfahrt wieder. Doch Ethan sprach kein einziges Wort mehr mit Rowen. Und irgendwann gab Rowen es auf, Konversation zu betreiben. Sie standen nur still da und schauten aufs Meer.

Als sie einige Tage später am Festland anlegten, gingen die Vampire auseinander ohne sich in irgendeiner Form von einander zu verabschieden.
 

Rowen kam viel herum während seiner Reisen. Er erlebte Frieden, Kriege, schlechte Zeiten und gute Zeiten. Doch egal wie sehr er auch mit seinen Studien beschäftigt war - Beth vergaß er nie.

Er vergingen knapp 90 Jahre, in denen Rowen die Länder bereiste, bis er im Jahre 1950 Ethan wieder traf. Und durch ein Angebot, welches Ethan nicht ablehnen konnte, waren sie von da an miteinander verbunden. Rowen hatte, seit er ein Vampir war, viel erlebt, was ihn geprägt hatte. Beth hatte immer bekundet, wie leid es ihr tat, dass sie ihn zu einem Vampir gemacht hatte, doch Rowen bereute es nicht einen einzigen Tag. Niemals würde er das, was sie getan hatte, vergessen und ihr bis zu seinem endgültigen Ende dankbar dafür sein.
 

And that’s all?
 

Also… wundert euch nicht über das Kapitel, es wird alles in Kapitel 7 erklärt. Das nächste Update ist dann erst an Weihnachten, wenn ich es bis dahin auf die Reihe krieg *smile* Vielen Dank wie immer an Eve-chan und an alle Leser, die diese Geschichte gerne verfolgen.

Bis denn dann
 

BabyG



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  P-Chi
2008-08-04T10:02:39+00:00 04.08.2008 12:02
Ooh,das Kapitel war echt traurig....T_T
Aber ich bleibe bei meinen Lielingen Ethan und Shana^^

*zum nächsten Kapitel husch* xDD
Von:  Maron-Kusakabe
2007-12-18T12:08:00+00:00 18.12.2007 13:08
es war wieder mal ein wunderschöner genuss deine FF zu lesen
Rowen hatte wirklich ein schweres "Leben"

freu mich aufs nächste Kapi ^^
Von: abgemeldet
2007-11-24T21:34:51+00:00 24.11.2007 22:34
ich hab mir erneut die gesammte FF durchgelesen und muss sagen das ich nach wievor begeistert bin ^^ rowen mag ich sehr er ist eine schöne figur geworden ^^
die story fesselt einen echt xD ich freu mich schon aufs nächste kapitel ^^
Von:  Tamatoshi
2007-11-19T18:53:09+00:00 19.11.2007 19:53
juhu!!! wiedermal ein supi kapi!^-^
und dazu noch ein sehr langes^^
gott, der arme rowen, der hat ja ganz schön was durchgemacht *sniff*
also ich finde, dass er der symphatischte aus seinem clan ist! ;)
freu mich schon aufs nächste pitel!!!

SCHRANK

PS: ich bon die erste!!!!! ;D



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