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Amerikanischer Traum

Yami x Yugi
von

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Verloren

1. Verloren
 

Der Wind heult.

Zerrt an den Ästen der Bäume, wirbelt braunes feuchtes Laub durch die Luft.

Eine tröstende Hand liegt auf meiner Schulter, während ich mit tränennassem Blick auf die haselnussbraunen Särge in den schwarzen Löchern vor mir hinab sehe.

Ein leises Murmeln dringt an mein Ohr, doch ich kann nicht genau sagen, ob es der stürmische Wind ist, oder ob jemand bei mir ist, der mir tröstende Worte zuflüstert.

Seit einer Woche fühle ich mich wie in Watte gepackt.

Nehme so gut wie nichts um mich herum wahr.

Mein Leben hat alle Farbe verloren, ist nur noch trist und grau.

Ich sehe auf meine zitternde Hand, die sich von alleine erhoben hat, sehe auf die dunkelrote Rose, die ich in eines der offenen Gräber werfe.

Sehe dem dunklen Rot nach, wie es langsam von der schwarzen Leere verschlungen wird.

Um mich herum sind schwarze Gestalten.

Nicht nur ihre Kleidung ist schwarz, ihre Gesichter sind für mich ebenfalls nicht zu erkennen.

An der Stelle, an der ihr Kopf sitzen sollte, sehe ich nur hautfarbene Fleischklumpen mit schwarzen Höhlen.

Es ist wie in einem Alptraum.

Warum werde ich nicht wach?

Warum bin ich nicht auch dort?

Warum war ich nicht da, als sie mich gebraucht hätten?

Warum konnte ich nicht den tiefen Schmerz in mir herausschreien, als ich es erfuhr?

Warum sehe ich auf die Särge herab und nicht sie?

Warum werde ich nicht wach?

Ein Alptraum!

Ich fühle mich so einsam, so leer, so hohl.

So gefühllos.

Ist mein Herz noch da?

Klafft dort nicht eine schwarze Wunde, ein blutendes Loch?

Und trotzdem kann ich die Tränen auf meinen Wangen spüren.

Mein Herz fühlt sich stumpf an, aber dennoch, als würde es in tausend Stücke zerrissen.

Ich werde in zwei gebrochen.

Mir ist kalt, so unendlich kalt.

Und niemand, der mich umarmt, der mir Wärme gibt.

Die Menschen, die das vermocht hatten, liegen vor mir in der Kälte.

Nachdenklich betrachte ich den Grabstein, der genauso schwarz und kalt ist, wie mein Innerstes.

Und ebenso schwer.

Verloren.

Ich habe sie verloren.

Ich bin verloren.

Verloren in der Unendlichkeit der Schwärze.

Schwärze um mich, Schwärze in mir.

Abschied

2. Abschied
 

Ich schließe die Tür zu unserer Wohnung auf.

Sehe im fahlen Licht die grauen gepackten Umzugkartons.

Die fein säuberlich mit breitem Tesastreifen verschlossen sind.

Ein letztes Mal betrete ich diese Wohnung.

Zeit, um Abschied zu nehmen, wird mir kaum bleiben.

Zunächst schließe ich die Tür wieder, schließe das weiße Licht der Straßenlaternen aus.

Ich mag die Dunkelheit.

Seit sie weg sind.

Weil ich dann nicht ständig die Dinge sehen muss, die sie so geliebt haben.

Die ihnen wichtig waren.

Die einfach nur Gebrauchsgegenstände für sie waren.

Die sie jeden Tag angesehen oder berührt hatten.

Damit ich nicht ständig die Räume sehen musste, zwischen denen sie hin und her gewandert sind.

Auf der Suche nach irgendetwas.

Weil sie genau wussten, was sie brauchten.

Ich lausche.

Aber ihre Schritte sind nicht mehr zu hören.

Ihre Stimmen sind nicht mehr zu hören.

Alles in Dunkelheit.

Alles Vergangenheit.

Erinnerung.

Aber nie vergessen.

Nein, ich werde sie nie vergessen.

Nie.

Langsam tastet sich meine Hand über die rauen Fasern der Tapete, von der ich weiß, dass sie, sobald Licht darauf fallen wird, in einem sanften Beigeton erstrahlen wird.

Schließlich finde ich, was ich gesucht habe.

Schon nach kurzer Zeit.

Denn hier bin ich aufgewachsen, hier kenne ich mich aus.

Langsam betätige ich den Lichtschalter.

Ich schließe meine Augen.

Eigentlich will ich alleine sein.

Ich weiß, sobald das Licht eingeschaltet ist, kommen sie wieder.

Die Geister.

Die Geister der Erinnerung.

Dann kann ich sie wieder sehen.

Meine Mutter, die vom Wohnzimmer in die Küche eilt, weil ihr eingefallen ist, dass noch etwas auf dem Herd steht.

Meinen Vater, der hektisch in der ganzen Wohnung nach seiner Lesebrille sucht.

Großvater, der gemütlich in seinem Schaukelstuhl sitzt und ein gutes Buch liest.

Und schließlich Yura, die das Bad blockiert, weil sie sich noch schminken muss.

Ein wehmütiges Lächeln umspielt meine Lippen, als ich schließlich die Augen öffne.

Langsam und vorsichtig, um die Erinnerung gefangen zu halten.

Vor mir schälen sich Gestalten aus dem Nebel meiner Gedanken.

Nein, es sind nicht die Geister der Erinnerung.

Nein, es sind auch nicht die gestapelten Umzugkartons.

Es sind reale Menschen.

Menschen, die mich einen großen Teil meines Lebens begleitet haben.

Meine Freunde.

Ich sehe sie mit großen Augen an.

Weshalb sind sie hier?

Wie sind sie hier herein gekommen?

Weshalb lächeln mich alle an?

Der große Blonde räuspert sich. „Wir wissen ja, dass dir zwei Wochen nach der Beerdigung nicht nach Feiern zumute ist, Yugi. Aber wir wollen dir trotzdem eine kleine Abschiedsfete geben. Immerhin ziehst du weg! Und Amerika ist verdammt weit weg!“

„Ja, genau!“ ergreift nun das einzige Mädchen der Runde das Wort. „Deshalb hab ich dir auch einen kleinen Kuchen gebacken! Der wird ja wohl noch ins Handgepäck gehen, als Reiseproviant natürlich!“

Ich sehe die Brünette an. „Danke, Anzu! Und euch, Katsuya, Hiroto und Ryou, natürlich auch!“

Ich versuche, ein Lächeln zustande zu bringen, merke aber selbst, dass mir das gründlich misslingt.

Stattdessen spüre ich, dass mir wieder Tränen in die Augen steigen.

Ich will nicht die einzigen Menschen, die ich noch habe, verlassen!

Am Flughafen

3. Am Flughafen
 

Ich steige aus dem Taxi und schwinge mir den Rucksack über die Schulter.

Während ich warte, dass der Fahrer mir netterweise dabei hilft, meinen Koffer aus dem Kofferraum zu hieven, werfe ich einen letzten Blick auf die Stadt, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, in der ich so viel Zeit meines Lebens verbracht habe, die Stadt, die mir so viel bedeutet.

Nachdem ich den Mann bezahlt habe, betrete ich alleine das Flughafengebäude.

Es ist schmerzlich, dass niemand hier ist, der mich verabschiedet.

Meine Freunde wären gerne bei mir gewesen, doch sie sitzen jetzt in der Schule.

Sie wollten sich extra dafür frei nehmen, doch man hatte es ihnen nicht erlaubt und dass sie deswegen blau machten, dass hatte ich nicht gewollt.

Dann hätten sie wegen mir riesigen Ärger bekommen und ich ein schlechtes Gewissen.

Resignierend seufzend gebe ich dem Mann am Schalter meinen Ausweis und die Flugpapiere und stemme mit aller Kraft den Koffer auf das Laufband.

Der Herr kennzeichnet meinen Koffer und weist mir meinen endgültigen Sitzplatz zu.

Ich nehme die Papiere wieder entgegen und wende mich ab.

Dann gehe ich über den glatten Steinboden zu einer Schiebetür, hinter der ich meinen Rucksack auf ein Band lege, damit dieser auf Gefahrengut durchleuchtet wird und gehe selbst durch den Metalldetektor.

Obwohl das Gerät keinen Ton von sich gibt, werde ich danach aufgefordert, meine Arme auszubreiten und mich mit einem Handgerät elektronisch abtasten zu lassen.

Momentan geht es mir nicht so gut.

Es ist, als würde die Luft schwer auf meine Schultern drücken, gleichzeitig fühle ich mich innerlich ganz leer.

Alles, was ich tue, geschieht automatisch, wie ferngesteuert.

Die Menschen um mich herum scheinen ganz weit weg zu sein, in einer anderen Daseinsebene.

Langsam schlurfe ich auf die nächste Glastür zu, über der in großen Lettern USA steht.

Dort werde ich schließlich die nächsten Jahre meines Lebens verbringen.

Angekommen merke ich schnell, dass mein Handgepäck und meine Kleidung erneut durchleuchtet werden, denn die Amerikaner sind seit ein paar Jahren sehr gründlich, weshalb ich es vermieden habe, eine Flasche mit Flüssigkeit einzustecken, nicht dass noch jemand glaubt, ich hätte Flüssigsprengstoff in meinem Gepäck.

Während ich das alles teilnahmslos über mich ergehen lasse, fühle ich plötzlich Frust in mir hochsteigen.

Diese ganzen Sicherheitsvorkehrungen bringen doch nichts.

Selbst wenn die Transportmittel sicher sind, sind noch immer menschliche Fehler möglich.

Oder der Körper eines Menschen versagt, was Auswirkungen auf das Transportmittel haben kann.

Ich lasse mich auf einen der nichts sagend trist grauen Plastikschalen, die als Sitze dienen, nieder.

Plötzlich fühle ich einen schweren Druck auf meiner Brust.

Es ist, als würde jemand meinen Brustkorb zusammenpressen.

Eine Welle heißen Schmerzes durchfährt mich.

Ich könnte schreien.

Doch ich weiß genau, was das ist.

Aber wieso muss die Trauer jetzt so unerwartet über mich hereinbrechen?

Hätte sie nicht noch auf sich warten lassen können?

Die ganze Zeit war ich einfach nur betäubt gewesen, habe gar nichts fühlen können.

Umso schlimmer trifft es mich nun.

Unvorbereitet.

Mit voller Wucht.

Ich krümme mich unter Schmerzen zusammen.

Für mich sind diese Schmerzen real, körperlich.

Immerhin habe ich meine komplette Familie auf einen Schlag verloren.

Und im Grunde verliere ich, sobald ich das Flugzeug betrete, auch meine Freunde und letztendlich auch meine Heimat.

Mein zu Hause war meine Familie, das habe ich mit ihnen verloren.

Doch Japan ist mein Heimatland.

Ich weiß nicht, was mich in Amerika erwarten wird.

Meine Ungewissheit ist grenzenlos.

Heiße Tränen rinnen mir immer wieder über die Wangen, laute Schluchzer entreißen sich meiner Kehle, obwohl ich es gar nicht will, nicht hier, nicht in der Öffentlichkeit, doch ich bin machtlos.

Mein Herz rast, mein Körper zittert unkontrolliert, mein Gesicht ist ganz heiß.

Schnell schlage ich mir meine Hände vors Gesicht, will meinen erbärmlichen Zustand verbergen.

Denn niemand der Leute um mich herum würde mich verstehen, kann nur annähernd nachvollziehen, was ich in den letzten Wochen durchgemacht habe.

Und nun brechen alle aufgestauten Gefühle über mich herein, ausgerechnet an einem solchen Ort, der eigentlich Fröhlichkeit ausstrahlen sollte, da jeder sich auf seinen wohlverdienten Urlaub freut.

Doch niemand weiß was in mir vorgeht.

Langsam hebe ich meinen Kopf und versuche, durch den Tränenschleier die nächsten Toiletten ausfindig zu machen, um mich dorthin zurückzuziehen.

Ich bin einfach nur fertig und als ich mich hochstemmen will, will mir mein Körper nicht gehorchen.

Stattdessen sackt er noch weiter in den Sitz hinein.

Meine Beine zittern so stark, dass sie mich wahrscheinlich sowieso nicht gehalten hätten, vermutlich sollte ich über den Streik meines Körpers noch dankbar sein.

Aber irgendwas muss ich doch tun können, um mein Elend zu verbergen.

Auch meine Hände wollen mir nicht mehr so recht gehorchen, aber immerhin noch soweit, dass ich endlich ein Taschentuch aus meinem Rucksack herausfischen kann.

Mit bebenden Händen wische ich mir schnell über das Gesicht und komme, nun mit klarem Blick, nicht umhin festzustellen, dass ich einige neugierige, manche aber auch desinteressierte Blicke der anderen meist amerikanischen Reisenden auf mir kleben habe.

Ich hoffe, dass dieser Gefühlsausbruch der einzige zumindest für diese Reise sein würde, doch ich merke schon, wie sich mein Körper und mein Geist langsam beruhigen.

Der Flug

4. Der Flug
 

Betrübt sehe ich aus dem Fenster des Flugzeuges.

Das Wetter unterhalb unserer Flughöhe ist genauso, wie ich mich fühle.

Graue Wolken. Vereinzelte Blitze.

Und jede Menge Regen.

Mein Kinn habe ich auf meiner Hand abgestützt.

Wir sind jetzt schon zwei Stunden unterwegs.

Anzus Kuchen schmeckt echt gut.

Habe schon einen Großteil davon verdrückt.

Das war vielleicht ein Akt, den mit an Bord nehmen zu können!

Schon mal was von Lebensmittelbombe gehört?

Dass ich nicht lache!

Aber selbst wenn, dass wäre doch jetzt auch egal.

Ohne meine Familie.

Ohne meine Freunde, von denen mich künftig Meilen trennen werden.

Doch was hatte Hiroto gesagt?

„Dank E-Mail sind wir nur eine Sekunde von dir entfernt!“

In einer Sekunde kann so vieles geschehen.

In einer Sekunde kann das Leben vorbei sein.

In einer Sekunde könnte die Welt untergegangen sein.

Ich schüttele den Kopf, merke, dass ich wieder in trüben Gedanken versinke.

Unser Haus ist schon verkauft.

Genauso, wie der Spielladen.

Ob der noch existiert, wenn ich zurückkomme?

Ich habe feierlich geschworen, zurückzukehren, wenn ich volljährig bin.

Was in Amerika leider ein Jahr länger dauert, als in Japan.

Dennoch bin ich fest entschlossen.

Wenn ich diesen Flug überlebe, bei dem Wetter da unten.

Aber bis zur Landung sind es noch ein paar Stunden.

Ryuji hat mir geschrieben, dass sie mich abholen würden.

Sie waren zur Beerdigung extra angereist, aber sie konnten mich nicht gleich mit zu sich nehmen, da noch einige Formalitäten geklärt werden mussten.

Bis dahin hatte mich die Sozialfürsorge betreut.

Einen 16jährigen, wenn ich auch weiß, dass viele Leute mich jünger schätzen.

Mein Cousin hat auch geschrieben, dass wir in die gleiche Klasse gehen werden.

Genauso, wie er schrieb, dass ich froh sein soll, dass sie in der Stadt wohnen, denn die ‚Landeier’, wie er sie nennt, bräuchten mitunter zwei Stunden, um ihre Schule überhaupt zu erreichen.

Ich soll mich in jedem Fall für eine der nachmittäglichen Schulaktivitäten anmelden.

Es würde Eindruck auf die Lehrer machen, wenn man noch einen freiwilligen Kurs machen würde.

Vor allem Sportkurse wären der Renner.

Doch ich habe mich noch nie für irgendeine Sportart interessiert, bin absolut unsportlich.

Nur auf Anfrage hat er mir auch die anderen Kurse gemailt.

Aber es kam mir so vor, als wären andere Kurse verpönt.

Jedoch will ich mir lieber den Kunstkurs ansehen, denn Zeichnen ist meine Leidenschaft.

In Japan konnte ich das halbwegs frei ausüben, aber ich habe das Gefühl, dass in Amerika alles anders laufen wird, dass alles darauf hinauslaufen wird, dass die Mitschüler auch das richtige Bild von jemandem haben und dass dieses Bild möglichst keinen einzigen Kratzer bekommt.

Ich sehe zu meinem Sitznachbarn hinüber.

Wenn ich doch auch nur schlafen könnte.

Dann wäre der Flug schneller vorüber.

Obwohl ich dann meistens die schlimmsten Alpträume durchstehen muss, in denen ich schwarze Schatten sehe.

Oder ich sehe meine Familie, die sauer auf mich ist, dass ich noch lebe und sie nicht.

Dass ich nicht bei ihnen gewesen bin, als es passierte.

Als ihr Leben ausgelöscht wurde.

Dann rufen sie nach mir, wollen mich zu sich in die schwarze Finsternis ziehen.

Manchmal verwandeln sich die schwarzen Schatten in sie, manchmal verwandeln sie sich in die schwarzen Schatten, manchmal kommt es mir so vor, als wären die schwarzen Schatten auch um mich herum, wenn ich wach bin.

So auch diesmal, denn es scheint, als würde einer dieser schwarzen Schatten neben mir sitzen und mich mit glühend roten Augen ansehen.

Und mich mit sich nehmen wollen.

Doch plötzlich bemerke ich, dass zwar die roten Augen durchaus echt sind, doch der schwarze Schatten ist es nicht.

Denn es ist mein Sitznachbar, der mich so erschreckt hat und dieses Trugbild in mir geweckt hat.

Er schläft also gar nicht. Oder nicht mehr.

Seine stechend roten Augen sehen mich an.

Hastig wende ich mich ab und bete, dass er nicht mein Zusammenzucken bemerkt hat, als hätte ich Angst vor ihm.

Vielleicht habe ich tatsächlich etwas Angst, denn rote Augen verfolgen mich nun seit Wochen.

Allerdings sind das Dämonen.

Vielleicht ist er ja ein Dämonenjunge, der gekommen ist, um mich abzuholen?

Um mich aus dem Leben zu reißen und zu meiner Familie zu bringen?

Ich wüsste nicht, ob ich mich wehren würde.

Aber würden meine Eltern wirklich wollen, dass ich zu ihnen komme? Dass ich sterbe?

Ich atme ganz tief durch, um mich zu beruhigen.

Schließe dabei die Augen, um meine Umgebung auszublenden, um den Jungen neben mir für ein paar Sekunden zu vergessen.

„Ist dir nicht gut?“ kann ich plötzlich eine dunkle, warme, doch recht angenehme Stimme neben mir vernehmen.

Unwillkürlich öffne ich die Augen und drehe mich zu ihm um.

Ich sehe ihm in die Augen und zucke abermals zusammen.

Seine Augenfarbe war also keine Einbildung gewesen.

Sie sind tatsächlich rot.

Doch sie mustern mich besorgt und ich schäme mich sofort, dass ich mich ihm gegenüber so verhalte.

„Nein“, presse ich schließlich mit leicht zitternder Stimme hervor.

Mir ist tatsächlich überhaupt nicht gut.

Die ganzen Alpträume, die mich nicht schlafen lassen, dazu noch die Halluzinationen, die mich gelegentlich heimsuchen – das alles ist mir einfach zu viel.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“ erkundigt er sich weiter, doch ich zucke nur hilflos mit den Schultern.

Erst jetzt fällt mir mehr an dem Jungen auf, als seine Augenfarbe.

Ich sehe mit einigem Unbehagen, dass er eine ähnliche Frisur hat, wie ich.

Und diese ist schließlich mehr als selten, die schwarzen Haare mit den pinken Spitzen und blonden Strähnen.

Was hat es zu bedeuten, dass er aussieht, wie ein Spiegelbild von mir?

Ist er doch ein Dämon?

Ein Teufel?

Der mich verwirren soll, um es leichter zu machen, mich in die Unterwelt zu bringen?

Oder ist er nur eine Halluzination?

Zeigt er mein inneres Ich, das mir irgendetwas sagen will?

Leicht ungläubig schüttele ich den Kopf.

Solche Gedanken sind doch Schwachsinn, oder?

„Bist du dir sicher?“ hakt er sofort nach.

Er hat mein Kopfschütteln wohl so interpretiert, dass ich ihm auf seine Frage geantwortet habe.

Ich zucke mit den Schultern. „Ich wüsste nicht, wie du mir helfen solltest. Es sei denn, du kannst Tote wieder auferstehen lassen.“

Wenn er tatsächlich ein Dämon ist, dann müsste er mir jetzt doch ein Angebot im Tausch mit meiner Seele unterbreiten, oder?

Er mustert mich stumm mit leicht geneigtem Kopf. „Erzählst du mir, was passiert ist?“

Ich wende meinen Blick von ihm ab.

Seine Augen scheinen mich zu durchbohren und aufzuspießen.

Gruselig.

Aber ein Dämon würde doch nicht nachfragen, der wüsste alles, wenn er im Auftrag des Teufels mich holen wollte.

Vielleicht war er ja auch ein guter Dämon?

Ein guter Dämon mit roten Augen?

Nein, rote Augen waren immer böse!

Ich schüttele abermals den Kopf.

Ich habe zu viele Fantasy- Manga und -Bücher gelesen.

Eindeutig!

Es gibt weder gute, noch böse Dämonen.

Jedenfalls keine Dämonen im eigentlichen Sinn.

Natürlich gibt es Menschen, die sich dämonenhaft benehmen, vor allem im Bezug auf Geld und Macht.

Trotz der roten Augen ist er ein Mensch.

„Meine gesamte Familie ist tot“, erkläre ich schließlich leise, ohne ihn dabei anzusehen. „Ich habe an einem Tag meine Mutter, meinen Vater, meine Schwester und Großvater verloren.“

Ich weiß nicht, warum ich es ihm erzähle.

Vielleicht nur, weil er gefragt hat?

Weil er der Einzige ist, der sich dafür interessiert?

„Das tut mir Leid“, antwortet er sofort, doch ich spüre, dass er es ehrlich meint.

Obwohl ich im Moment keine sonderlich große Lust verspüre, mit übertriebenem Mitleid übergossen zu werden.

Das hatte ich in den letzten Wochen wahrlich genug gehabt.

„Darf ich dich etwas fragen?“ unterbricht er nach einer Weile das Schweigen.

Ich nicke nur abwesend, bin noch zu sehr mit der Frage beschäftigt, warum ich ihm das überhaupt erzählt habe, ihm, einem vollkommen fremden.

„Wieso bist du zusammengezuckt, als du mich angesehen hast?“ fragt er unwillkürlich und frei heraus.

Ich schlucke hart.

So viel also zu meiner Hoffnung, dass er nichts bemerkt hat.

„Deine Augen“, flüstere ich heißer nach einer kurzen Zeit des Zögerns, ohne ihn anzusehen. „Sie sind rot.“

„Ja“, erwidert er nur und ich kann seine musternden Blicke auf mir spüren.

Ich schlucke abermals und fühle mich sehr unbehaglich.

Wartet er darauf, dass ich weiter rede?

Dass ich ihm von den schwarzen Schatten und Dämonen erzähle?

Soll ich?

„Seit dem Tod meiner Familie sehe ich manchmal schwarze Schatten und Dämonen“, erkläre ich schließlich leise. „Und die haben nun mal … rote Augen.“

Plötzlich ist die Armlehne zwischen unseren Sitzen verschwunden und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich dorthin gekommen bin, oder von wem von uns beiden das ausgegangen ist, doch ich finde mich in seinen Armen wieder und weine mir erneut den Schmerz von der Seele, schluchze auch gelegentlich.

Ich kann seine beruhigenden Hände auf meinem Rücken spüren, die mich streicheln, seine ebenso beruhigende Wärme, der angenehme Duft, der von ihm ausgeht.

Geborgenheit.

Wie komme ich überhaupt dazu, mich bei einem Fremden auszuheulen, mich so gehen zu lassen?

Erbärmlich!

Aber ich kann einfach nicht aufhören.

Meine Schultern beben und mein Körper zittert.

Ich bin so schwach!

Nach dem Zusammenbruch auf dem Flughafen hatte ich eigentlich gedacht, dass es mir etwas besser gehen würde, doch Pustekuchen.

Stattdessen liege ich nun in den Armen eines jungen Mannes, der vielleicht nur geringfügig älter ist als ich und von dem ich noch nicht einmal den Namen weiß.

Nach einiger Zeit löse ich mich wieder von ihm, ziemlich verlegen.

Ich sehe ihn kurz an. „Tut mir Leid.“

Er winkt nur ab und lächelt sanft. „Geht es dir denn jetzt besser?“

„Ja, etwas“, erkläre ich, was erstaunlicherweise auch der Wahrheit entspricht.

Vielleicht hat es mir einfach gefehlt, von jemandem richtig in den Arm genommen zu werden.

Das hatte zuvor nur meine Mutter getan.

Ich bin etwas nah am Wasser gebaut, das war schon immer so.

Selbst Yura hat mich gelegentlich als Heulsuse betitelt.

Die Erinnerung daran versetzt mir einen leichten Stich, doch ich werde schnell abgelenkt.

„Wie heißt du denn?“ erkundigt mein Nachbar sich schließlich.

„Yugi“, antworte ich ihm zugleich und sehe ihn leicht lächelnd an. „Und du?“

Der Rotäugige verzieht sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Yami. Passt ganz gut zu deiner Theorie, dass ich ein Dämon bin, nicht?“

Auch ich muss leicht lächeln.

Ich weiß nicht so recht, ob der Name ‚Finsternis’ tatsächlich zu ihm passt.

Im Moment ist er für mich ein winzig kleiner Lichtpunkt in der Dunkelheit.

Und das wird vermutlich nur von kurzer Dauer sein, denn nach der Landung werden wir uns voraussichtlich nicht wieder sehen.

Kurz darauf bringt die Stewardess das Mittagessen.
 

**
 

Aufrecht sitze ich in meinem Sessel.

Landungen habe ich noch nie gemocht.

Deshalb klammere ich mich in die Armlehnen des Sitzes.

Der Start war kein allzu großes Problem, der Flug an sich erst recht nicht, selbst wenn ich mir manchmal ganz gerne die Füße vertreten hätte.

Doch ein längerer Spaziergang, als zur Toilette, ist in einer solchen Sardinenbüchse leider nicht möglich.

Dafür ist ein Flugzeug zu eng.

Eng wie ein Sarg.

Immer wieder kommen mir solche Vergleiche in den Sinn.

Vergleiche, die mir früher fremd waren.

Das Wetter lässt sich nun allerdings nicht mehr mit meiner Stimmung vergleichen.

Die Sonne strahlt, laut Aussage des Piloten liegt die Temperatur an unserem Zielflughafen bei 25° Celsius.

Yami neben mir greift nach meiner Hand und drückt sie beruhigend.

Ich wende mich ihm zu und sehe das sanfte Lächeln auf seinen Gesichtszügen.

Es beruhigt mich und dankbar lächele ich ihn an.

Wir haben uns die restliche Zeit des Fluges unterhalten.

Meist über ihn, er hat wohl gespürt, dass ich lieber nicht über das reden wollte, was ich zurücklassen musste.

Er hat mir von der Schwierigkeit der Zusammenkunft der Kulturen von drei verschiedenen Kontinenten erzählt.

Schließlich ist er Halbjapaner und Halbägypter, der in Amerika lebt.

Es hat da schon einige Missverständnisse gegeben, über die er lacht.

Sein Lachen ist herrlich.

Richtig voll und ansteckend.

Mehrfach habe ich mich dabei ertappt, einfach mit ihm mitzulachen, obwohl ich seit dem Tod meiner Familie zuvor allenfalls ein müdes Lächeln zustande bekommen habe.

Aber mit ihm ist das anders.

Er ist so unbekümmert und lebensfroh.

Sein gutes Japanisch erstaunt mich und ich bin froh, dass ich es so noch eine Weile hören kann, solange er bei mir ist.

Die Landung verläuft auch ohne große Probleme.

Als wir das endlich hinter uns haben, atme ich erleichtert aus.

Ich öffne den Gurt um meine Hüften, bleibe aber sitzen.

Zunächst sollen sich die eiligen Urlauber durch den Gang und die Türen quetschen.

Ich habe Zeit.

Immerhin werde ich die nächsten fünf Jahre hier verbringen müssen.

Da kommt es auf ein paar Minuten echt nicht an.

Yami hat anscheinend auch Zeit, denn er sitzt am Fenster und ich auf dem Mittelplatz, also müsste er sich schon an mir vorbeiquetschen oder mich auffordern, endlich aufzustehen, was er aber beides nicht tut.

Gemeinsam sehen wir zu, wie die anderen aussteigen.

Es ist kurios, aber wir können auch gemeinsam schweigen, verstehen uns ohne Worte und das tut unglaublich gut.

So nahe habe ich mich schon lange keinem Menschen mehr gefühlt, selbst wenn wir uns noch immer kaum kennen und unsere gemeinsame Zeit nicht von Dauer sein wird.

Leider weht mir in diesem Moment frischer Schweißgeruch in die Nase, woraufhin ich diese auch sofort rümpfe.

Da hat wohl jemand noch nie von Deodorant gehört.

Nachdem die Touristen endlich hinausgeströmt sind, richte ich mich nun auch auf.

Ich verlasse die Sitzreihe und widme mich meinem Handgepäck, ziehe die Discmantasche unter dem Vordersitz hervor und den großen Rucksack aus der Gepäckablage über den Sitzen.

In einem langsamen Trottelschritt zuckele ich den letzten Nachzüglern hinterher und verabschiede mich, indem ich ein Lächeln versuche, dass sich ganz fremd auf meinem Gesicht anfühlt, da ich schon wochenlang nicht mehr richtig gelächelt habe, von den netten Stewardessen und dem großen Steward.

Nur mit Yami kann ich lachen.

Mein Abschiedsgruß wird gespielt freundlich erwidert, mussten sie doch schon dreihundert Leute vor mir verabschieden.

Auf der Gangway beschleunige ich nun doch meine Schritte, will den Anschluss an die anderen Passagiere und mein Gepäck nicht verpassen.

Immerhin habe ich nur einen großen Koffer, um die Umzugskisten hat sich die Frau von der Sozialfürsorge gekümmert.

Yami folgt mir auf den Fuß und ich genieße es noch eine Weile, jemanden wie ihn in meiner Nähe zu haben, denn irgendwie ist er mir aus unerfindlichen Gründen vertraut.

Schon bald erreichen wir das Gepäckband und mein knallroter Koffer erscheint, aber er muss erst noch ein Stück Weg hinter sich bringen, bevor er vor mir erscheint.

Mit beiden Händen greife ich danach.

Durch meine geringe Statur fällt es mir nie leicht, solche Gewichte zu stemmen.

Zu allem Überfluss erhalte ich nun auch noch einen kräftigen Stoß in die Seite.

Ich werfe einen Blick in diese Richtung, doch der Mann hat nur seinen Koffer kurz zur Seite gestellt und sieht mich nun grimmig an, als wolle er mir die Schuld geben.

Anstatt dass er mir hilft.

Er ist doch kräftig genug.

Aber nein, der würde auch noch zusehen, wenn ich mit dem Koffer Purzelbäume schlagen würde, weil er zu schwer für mich ist.

Stattdessen tauchen zwei andere Arme neben mir auf und greifen beherzt nach meinem Koffer.

Ich sehe zur Seite und sehe Yami wieder neben mir, der sich zuvor mit seinem eigenen Koffer beschäftigt hatte.

„Es gibt eben unhöfliche Menschen“, meint er laut zu mir auf Englisch, so dass es der Mann, den Yami offenbar dabei beobachtet hatte, dass er mich angerempelt hatte, ihn sehr wohl hören konnte.

Den scheint das allerdings nicht im Mindesten zu interessieren, doch mein Koffer steht nun neben mir.

„Ich muss noch etwas verzollen. Geh du doch schon mal vor, vielleicht sehen wir uns noch!“ erklärt er dann wieder auf Japanisch und winkt mir kurz zu, bevor er irgendwo in der Weitläufigkeit der Ankunftshalle verschwindet.

Ich packe meinen Koffer fester und stelle ihn auf die Rollen.

Dann ziehe ich den Griff heraus und ziehe ihn hinter mir her.

Zunächst suche ich verzweifelt ein Schild mit dem Wort Exit.

Mein Englisch ist leider nicht so das Wahre, so dass ich andere Wörter für den Ausgang wohl nicht erkennen würde.

Wenn ich es auch jetzt wohl oder übel werde lernen müssen.

Doch eigentlich habe ich gedacht, um aus dem Flughafen hinauszufinden, würde es reichen.

Da! Endlich! Exit.

Gemütlich rolle ich den Koffer darauf zu.

Ich weiß ja, wer mich hinter der Milchglastür erwartet.

Zuvor noch eine erneute Passkontrolle.

Dann passiere ich die Schiebetür endlich.

Fast sofort fällt mein Blick auf zwei Japaner, die hier etwas fehl am Platz wirken.

Es sind Ryuji und meine Tante.

Meine Tante strahlt, als sie mich erblickt.

Sie war schon immer eine herzliche Person.

Selbst jetzt, da es noch nicht so lange her ist, dass ein Großteil ihrer Familie verstorben ist.

Sie ist einfach nicht zu erschüttern.

„Wie war die Reise?“ erkundigt sie sich, während sie mich in eine feste Umarmung zieht.

Aua! Brich mir doch bitte nicht die Rippen!

Ich nicke als Antwort nur.

„Du bist wortkarg geworden“, stellt Tante Yumiko fest.

Von mir erntet sie nur ein Schulterzucken.

Was soll ich dazu sagen?

Sie ist nicht die Erste, die das behauptet.

„Ryuji, nimm Yugi doch bitte den Koffer ab!“ fordert sie von ihrem Sohn.

„Klar doch. Sobald wir zu Hause sind, zeig ich dir unsere komplette Villa“, grinst der Grünäugige scheinbar gut gelaunt.

Das Gebäude auf dem Foto, das sie mir kurz nach der Beerdigung gezeigt hatten, hatte wirklich wie eine Villa ausgesehen.

Obwohl es sicherlich keine ist.

Kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.

Sie werden kaum genug Geld haben, eine Villa zu umsorgen.

Ryuji rennt voraus, während meine Tante den Arm um mich legt.

Bitte! Ich habe keine sonderliche Lust auf Gefühlsduselei!

Ich habe einen anstrengenden Flug hinter mir.

Unauffällig versuche ich, mich aus ihrem Griff herauszuwinden, was mir auch gelingt.

Während sie mich zum Ausgang zieht, sehe ich mich hastig nach Yami um.

Doch der ist weit und breit nicht zu sehen.

Schade.

Ich hätte mich noch gerne ausführlicher von ihm verabschiedet.

Doch nun beansprucht Tante Yumiko wieder meine Aufmerksamkeit, in dem sie mich strahlend durch die Glastür ins Freie zieht.

Scheinbar soll ich beeindruckt sein von dem Anblick, der sich mir bietet.

Aber eigentlich ist es mir egal.

Stattdessen ärgere ich mich darüber, Yami nicht doch nach seiner Adresse, Telefonnummer oder Schule gefragt zu haben.

zu Hause?

5. Zu Hause?
 

„Ryuji ist froh, endlich jemand gleichaltrigen hier zu haben“, brabbelt Yumiko einfach drauf los.

Flüchtig frage ich mich, ob Ryuji denn keine Freunde hat, aber sicherlich meint sie die Zwillinge, die zehn Jahre jünger sind als wir.

Ryuji und ich haben uns erst auf der Beerdigung richtig kennen gelernt.

Zuvor hatten wir nur E-Mail-Kontakt.

Aber ich hatte den Eindruck, dass er seine beiden kleinen Schwestern abgöttisch liebt.

Genau so, wie ich Yura geliebt habe.

Natürlich hat sie mich manchmal genervt.

Doch im Grunde haben wir uns immer verstanden, haben zusammengehalten, wenn es drauf ankam.

Wie es bei Geschwistern nun mal üblich ist.

Obwohl ich auch Geschwisterpaare kenne, die sich spinnefeind sind, aber Ausnahmen bestätigen die Regel.

Ich lasse mich von Yumiko auf einen riesigen Jeep zuschieben.

So ein Riesenauto?

Mir rutscht das Herz in die Hose, als Yumiko mich auf die Rückbank schiebt, selbst aber auf dem Beifahrersitz Platz nimmt.

Ryuji soll uns allen Ernstes fahren?

OK, man kann in den USA mit 16 den Führerschein machen, aber ich bin da recht skeptisch.

Normalerweise sind die Leute in unserem Alter einfach zu verantwortungslos.

Meine Tante dreht ihren Kopf zu mir, so dass ihre schwarze Lockenmähne um ihren Kopf fliegt.

„Du kannst hier natürlich auch den Führerschein machen“, grinst sie mich an.

Gott bewahre!

Ryuji legt den Gang ein und es kommt wie erwartet: das Fahrzeug springt regelrecht über den Boden.

Ich weiß auch gar nicht, was das soll.

Wollen sie mir unbedingt beweisen, wie ‚toll’ er fahren kann?

Oder uns gleich in den nächsten Straßengraben setzen?

Schon zum zweiten Mal an diesem Tag kralle ich mich in meinem Sitz fest.

Ich schließe die Augen, als ein anderes Auto recht knapp vor uns rüber fährt und Ryuji keinerlei Anstalten macht, den Fuß vom Gas zu nehmen.

Ich will hier raus!

Lieber fahre ich mit dem Bus.

Aber ich habe Angst, den Mund zu öffnen.

Angst, dass sich dann mein gesamter Mageninhalt, samt Anzus leckerem Kuchen, den Weg nach oben bahnt und sich im ganzen Auto verteilt.
 


 

Nach einer halben Stunde Fahrt, die für mich der absolute Horror war, hält Ryuji schließlich.

Ich blinzele und sehe aus dem Fenster, um festzustellen, dass wir an der Villa angekommen sind.

OK, ich korrigiere mich: es ist tatsächlich eine Villa.

Oder zumindest hat es den Schein.

Mit wackeligen Knien verlasse ich endlich das Todesgefährt und will Ryuji schon den Koffer abholen, doch der weigert sich hartnäckig.

Eigentlich will ich nicht wie ein Gast behandelt werden, denn das bin ich nicht.

Leider.

Fünf Jahre hier auszuhalten wird ein hartes Stück Arbeit.

Aber ich muss mich wohl oder übel damit arrangieren.

Ich trotte Ryuji nach, der den Koffer keuchend über die breite Eingangstreppe schleppt.

Tja, mein Lieber, du wolltest ihn ja unbedingt tragen.

Und der Koffer ist verdammt schwer.

Wenn mein Cousin auch sicherlich sehr viel Sport und somit viel für seine Muskeln macht.

Ich habe alles in den Koffer hineingequetscht, was möglich war.

Vielleicht sollte ich doch froh sein, dass ich einen Kofferträger habe.

Immerhin muss ich mich noch um den Rucksack kümmern.

Ich folge ihm also über die helle Treppe und durch das breite Tor.

Innen ist es so dunkel, dass meine Augen sich erst daran gewöhnen müssen.

Es sieht alles hier drinnen sehr edel aus.

Oder zumindest würde es das, wenn es instand gesetzt würde.

So macht alles einen etwas nachlässigen Eindruck.

Aber das passt besser zu meinem Onkel und meiner Tante.

Sie sind auch eher lässig und nicht wirklich streng, was sowohl ihren Kleidungsstil als auch ihre Umgangsformen angeht.

Ryuji führt mich in den ersten Stock, während ich mich genau umsehe.

Dort, wo man normalerweise Ahnengalerien erwarten würde, hängen ganz normale neumodische Fotos der Familie, und zwar in allen Lebenslagen.

Wenn die Wände nicht gerade holzvertäfelt oder mit Blumenränken bemalt sind, ist die restliche Fläche regelrecht mit Fotos zugepflastert.

OK, zugepflastert trifft es nicht ganz, immerhin sind die Fotos eingerahmt und dazwischen schlängelt sich immer wieder aufgemaltes Grünzeug hindurch.

Jedoch ist es eine Fülle an Fotos.

Geburtstagspartys, Grillpartys, Urlaubsfotos.

Nur keine von dem Teil meiner Familie.

Ich wende mich von den Fotos ab und folge Ryuji, der den Gang gerade verlassen und eines der Zimmer betreten hat.

Im Zimmer sehe ich mich ebenfalls um.

Fast hätte ich schon ein Himmelbett erwartet.

Doch es steht nur ein kleines rustikales Bett an der kurzen Wand des Zimmers, darüber ein Moskitonetz an der Decke befestigt und auch ausgebreitet.

Wirkt wie ein Himmelbett für Arme.

Das Zimmer an sich ist recht groß, jedoch noch sehr leer, meine Umzugskartons werden wohl auch erst in frühestens einer Woche hier sein.

So etwas ist ja nicht gerade einfach.

Und so lange ich ein Bett habe, ist mir das auch relativ egal.

Sogar einen Balkon kann ich mein eigen nennen.

Ich stelle den Rucksack in eine Ecke, während Ryuji sich mir wieder zuwendet.

„Das ist das zweitschönste Zimmer im Haus. Nach meinem“, erklärt er augenzwinkernd. „Dafür ist die Aussicht ebenso fantastisch. Aber ich kann mir vorstellen, dass du dich erst von dem langen Flug erholen willst. Und vielleicht den Koffer auspacken. Mein Zimmer ist das direkt nebenan.“

Er deutet auf die von mir aus gesehen linke Wand meines Zimmers.

Ich nicke ihm zu und er verlässt das Zimmer mit dem Hinweis, dass er mir später eine Führung durch das gesamte Haus geben will.

Aber bevor er das Zimmer verlässt, erwähnt er noch, dass sich das Bad, das ich mit ihm teilen muss, direkt meinem Zimmer gegenüber befindet.

Zunächst trete ich auf den Balkon hinaus.

Ryuji hatte Recht, die Aussicht ist gut.

Aber zu weit, zu frei für mich.

Aus meiner heilen Welt gerissen, muss ich mir erst wieder etwas Neues aufbauen.

Will mich lieber in meine Gedankenwelt, in meine Erinnerungen zurückziehen, bevor mir alles über den Kopf wächst und ich doch noch anfange, alles aus mir herauszuschreien.

Geschwind drehe ich mich wieder um, gehe in mein neues Zimmer zurück, lege mich auf das Bett, dessen Matratze härter ist, als die zu Hause.

Ein zu Hause, das ich nicht mehr habe.

Müde schließe ich die Augen, will nur noch meine Ruhe haben.
 


 

Ich werde wach, als etwas Feuchtes meine Wange berührt.

Da das Zimmer sonnendurchflutet ist, muss ich zunächst blinzeln.

Dann sehe ich, dass die beiden sechsjährigen Zwillingsmädchen auf meinem Bett sitzen und mich angrinsen.

„Es gibt Abendessen“, erklärt diejenige, die näher an meinem Kopf sitzt, in schlechtem Japanisch auf meinen fragenden Blick hin.

Unterscheiden kann ich die Zwillinge nicht, ich weiß nur, dass sie Kazuko und Natsuki heißen.

Japanische Namen haben sie, aber nach dem bisschen Japanisch zu urteilen, sprechen sie es kaum.

Jedoch lächelt sie mich so stolz an, dass ich nur schmunzeln kann.

„OK, ich komme“, erwidere ich auf Englisch und will aufstehen, doch das zweite Mädchen hält mich erst einmal davon ab, indem sie sich auf mich stürzt.

„Auch“, meint sie nur und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

Nun muss ich annehmen, dass das Feuchte, das mich aufgeweckt hat, ein Kuss von ihrer Schwester war.

Was hab ich an mir, dass die beiden mich scheinbar schon auf Anhieb so mögen, dass sie mich verküssen, obwohl wir uns fast nicht kennen?

Oder ist das in Amerika so üblich?

Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass sie noch so jung sind.

Hilfe! Ich wollte eigentlich nie wieder so kleine Kinder als Geschwister!

Immerhin haben mich meine Tante und mein Onkel adoptiert.

Zwangsläufig.

Nun darf ich endlich aufstehen, habe aber schon im nächsten Moment jeweils eine kleine Hand in meinen Händen.

Jetzt wollen sie mich auch noch entführen.

Ohne mich zu wehren, lasse ich mich von den beiden durch das halbe Haus ziehen, bevor wir endlich im Esszimmer ankommen.

Dort sitzt schon mein Onkel am Tisch, eine große Zeitung vor der Nase.

Ryuji ist gerade dabei, Bier und Cola einzuschenken.

„Wo soll ich mich hinsetzen?“ wende ich mich an die beiden Mädchen.

Bei uns zu Hause war es Tradition gewesen, dass jedes Familienmitglied seinen Stammplatz am Esstisch gehabt hatte.

Das hatten wir uns einfach ohne Absprache angewöhnt.

Aber eigentlich auch ohne Grund.

Dennoch hatten wir über Jahre daran festgehalten.

„Setz dich einfach irgendwohin, wo ein Glas Cola steht“, meint Ryuji.

Ich verziehe das Gesicht. „Und wenn ich keine Cola will?“

Ich trinke nicht oft Cola, mir ist die zu süß und zu klebrig.

„Willst du etwa Bier?“ hakt Ryuji überrascht nach.

„Nein, ich trinke keinen Alkohol. Ein Mineralwasser reicht völlig“, erwidere ich, während ich mich auf einen der freien Plätze setze.

„Mineralwasser haben wir keines da. Das Leitungswasser kann man hier nicht trinken“, klärt mich meine Tante auf, die gerade einen dampfenden Topf aus der Küche bringt.

Ryuji lässt die Cola-Flasche über meinem Glas schweben und sieht mich fragend an.

Ich nicke und gebe ihm somit das OK, auch mir dieses klebrige Zeug ins Glas zu schütten.

Dann muss meine liebe Tante eben beim nächsten Einkauf Mineralwasser besorgen, was ich ihr auch sogleich sage.

Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Teller lenke, ist dieser schon voll beladen.

Na toll, so viel bekomme ich doch gar nicht runter!

Ich beäuge das Essen skeptisch.

Fettes Schweinefleisch statt Fisch, Kartoffeln statt Reis.

Besteck statt Stäbchen.

„Schau nicht so, an das Essen wirst du dich schon noch gewöhnen!“ Yumiko grinst mir zu, als sie sich setzt.

„Das ist mir aber wahrscheinlich zu viel“, erkläre ich nur.

„Dann ist es ja kein Wunder, dass du so mager bist, Junge!“ erwidert sie und greift sich ihr Besteck.

Ich werfe einen Blick zu Ryuji, der schon kräftig am schaufeln ist.

Wenn der wirklich alles isst, was auf seinem Teller liegt, muss er mit seiner schlanken Figur einen atemberaubenden Stoffwechsel haben.

Ich greife nach meinem Besteck, bin aber schon nach der Hälfte des Tellers so pappsatt, dass ich Messer und Gabel schnell bei Seite lege, denn ich kriege keinen Krümel mehr in den Magen.

Natürlich ist es unhöflich, wenn ich die Hälfte liegen lasse, normalerweise mache ich das auch nicht, aber ich habe es wirklich versucht, mir alles reinzustopfen, habe so schon mehr gegessen, als ich benötigt hätte, aber wenn ich weitermachen würde, müsste ich alles wieder auskotzen und das will ich nicht.

Dennoch, auch wenn das Essen zu fettig und zu ungewohnt ist, es erscheint mir möglich, mich tatsächlich daran zu gewöhnen, denn ungenießbar schmeckt anders.

Schweigend sehe ich den anderen beim Essen zu.

Ryuji hat mittlerweile eine zweite Portion verdrückt, die Zwillinge sind schon fertig und fegen vergnügt um den Tisch.

„Willst du das nicht mehr?“ fragt mein Cousin schließlich und ich schüttele den Kopf.

Mit großen Augen sehe ich zu, wie er sich meinen Teller schnappt und meine Reste aufisst.

Mir wird schon vom hingucken schlecht, weshalb ich mich den Zwillingen zuwende, die das aber leider falsch interpretieren und mir ihren Ken in die Hand drücken.

Ich werfe der Plastikpuppe in meiner Hand einen skeptischen Blick zu.

Na ganz toll.

Ich setze ihn einfach auf den Tisch neben meinen Teller, was mir empörte Blicke der Schwestern einbringt.

Aber ich habe jetzt einfach keinen Nerv, heile Welt zu spielen.

Bleibe nur aus Höflichkeit sitzen, da Vielfraß Ryuji noch immer was auf meinem Teller hat.

„Wie erhält man sich die Figur, wenn man so viel frisst, wie du?“ frage ich ihn quer über den Tisch.

Der Schwarzhaarige lacht. „Ich bin im Basketballteam. Das heißt jeden Tag zwei Stunden Training und Samstags ein Spiel gegen eine andere Highschool.“

„Hast du dann überhaupt noch Freizeit?“ hake ich nach.

„Noch genug“, erklärt er schlicht.

Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass meine Tante und mein Onkel lächeln.

Ich wende mich stumm ab.

Ich weiß, dieses Gespräch war keine Glanzleistung, aber ansonsten habe ich den ganzen Tag mit kaum jemandem gesprochen, weshalb die beiden Erwachsenen sichtlich froh sind, dass ich wenigstens zwei belanglose Sätze zustande bekommen habe.

Nach dem Essen verziehe ich mich sofort wieder auf mein Zimmer, habe keine Lust auf Gesellschaft.

Stattdessen fange ich an, meinen Koffer auszuräumen und stelle Fotos meiner Familie im ganzen Zimmer auf.



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Kommentare zu dieser Fanfic (15)
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Von:  Lamello
2022-06-16T17:56:59+00:00 16.06.2022 19:56
Wirklich ein toller Anfang für eine FF, die echt hamnermäßig geworden wäre! Toller Schreibstil, echt! Schade, dass du nicht mehr reingefunden hast. Die ersten Kappis waren mega gut! ♥

VG
Lamello
Von:  Koala
2008-03-26T12:04:40+00:00 26.03.2008 13:04
wahnsinn~
wie cool diese ff is ^^
ich hab sie heute erst entdeckt und in einem zug dürchgelesen xDDD
ich finds toll das die Kappis inzwischen länger geworden sind^^

in welchen teil amerikas ist Yugi eigendlich gelandet?
ich kenn mich zwar nich ganz so gut aus aber wozu gibst inet xDDD

yugitut mir sooo~ leid TT.TT
ich hoffe er kommt bals drüber hinweg...
auch wenns sicher schwer für ihn wird...

in amerika soll das mobbing ja extrem sein..
das wird sicher auch ein schlimmer aspekt für yugi werden ..
ok aber jetzt genug geplappert^^
freu mich auf nächste kappi^^

lg Buki Akuma
Von:  Sathi
2008-03-20T10:56:59+00:00 20.03.2008 11:56
woow nich schlecht
mach so weidder
gefällt mia echt gut
Von:  Sathi
2008-03-20T10:55:11+00:00 20.03.2008 11:55
na da issa ja unser yami^^
also echt die spannung wächst wirklich schnell
ma sehn wies weidder geht
Von:  Sathi
2008-03-20T10:50:37+00:00 20.03.2008 11:50
hmm amerika nich schlecht
aba auch wieda traurig ich brauch noch mehr taschentücher...
Von:  Sathi
2008-03-20T10:49:53+00:00 20.03.2008 11:49
omg das iss ja beinahe trauriger als das davor
*schnief*

Von:  Shijin
2008-01-25T18:28:55+00:00 25.01.2008 19:28
Endlich taucht er auf!
Du machst es sehr spannend!
Sehen sich die beiden wieder? Wie? Wo? Wann?
Hoffe das wird im nächsten Pitel geklärt.
Mach weiter so
Von:  Shijin
2008-01-25T18:17:23+00:00 25.01.2008 19:17
traurig!
Was ist nur mit Yugis Familie passiert?


Von:  Shijin
2008-01-25T18:11:06+00:00 25.01.2008 19:11
Genauso so schön und traurig wie das erste Kapitel.
Die Stimmung von Yugi bringst du super ruber und die inneren Monologe schreibst du hervorragend.
Hut ab!

Ich kann nicht verstehen, warum hier keine Kommis sind. Die Kapitellänge ist für deine Verhältnisse recht kurz, aber ich finde hier muss es so kurz sein um die Stimmung nicht zu zerstören.
Von:  Sathi
2007-11-05T17:48:24+00:00 05.11.2007 18:48
oh gott hört sich das traurig an*schnief*
hört sich trotzdem schon ma spannend an^^ freu mich wenns weidder geht


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