Zum Inhalt der Seite

Herr der Diebe II

Rückkehr der Jugend
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Riccios Fang

Kapitel 2: Riccios Fang
 


 

„Bo!“ Der kleine, blonde Junge sah auf.

„Du sollst keinen Schnee von der Straße essen!“ schimpfte Prosper, während er seinen kleinen Bruder am Arm packte und ihn auf die Füße zog. „Wer weiß, wie viele Leute da mit ihren schmutzigen Schuhen durchgelaufen sind!“

„Aber Riccio sagt, Dreck reinigt den Magen!“ protestierte Bo. „Und außerdem ist Schnee nicht schmutzig, sondern nur Wasser!“ Mit diesen Worten leckte er sich demonstrativ die Finger ab. Wespe kicherte und Prosper verdrehte die Augen. „Du sollst doch nicht immer alles glauben, was Riccio erzählt.“

Trotzig verschränkte Bo die Arme und lief voraus. Prosper seufzte. „Was brauchen wir noch?“

Wespe warf einen Blick auf den Einkaufszettel, den Ida ihnen geschrieben hatte. Sie runzelte die Stirn.

„Hier steht wir sollen Sekt besorgen!“

„Was?“ fragte Prosper und nahm ihr den Zettel aus der Hand. „Tatsächlich! Wie stellt sie sich das denn vor?“ Er fuhr sich durch die Haare, die nach seinem zwangsläufigem Igelschnitt wieder lang gewachsen waren. „Wer würde schon drei Kindern Sekt verkaufen?“

„Du weißt doch, wie zerstreut Ida in letzter Zeit ist!“ warf Wespe ein. „Lucia ist im Urlaub und sie hat uns wahrscheinlich den gleichen Einkaufszettel geschrieben, den sie ihr auch mitgegeben hätte. Wir versuchen es einfach, okay?“

Prosper nickte, aber er fühlte sich nicht ganz wohl dabei, Alkohol zu kaufen. Riccio würde das mit Leichtigkeit machen. Riccio kaufte ja auch Zigaretten, auch wenn er das noch nicht durfte.

„Sollen wir Riccio fragen, ob er uns hilft?“ fragte Wespe, als ob sie Prospers Gedanken gelesen hätte.

„Es wird sowieso mal wieder Zeit für einen Besuch, findest du nicht?“
 

Castello, wo Riccio und Mosca ihr Versteck hatten, lag ziemlich im Osten Venedigs und war zu Fuß eine ganze Weile weg. Bo schien das jedoch nichts auszumachen, wie ein Eichhörnchen sprang er vor Prosper und Wespe her und fing die Schneeflocken mit der Zunge auf.

Prosper kam es vor, als sei der Schnee hier viel schöner als irgendwo sonst auf der Welt. Dicke, weiße Flocken rieselten auf die Straßen und Plätze Venedigs nieder, und keine Autos, die ihn matschig fuhren oder ihn mit ihren Abgasen vergifteten. Er fing eine Flocke auf und sah zu, wie sie sich durch die Wärme seiner Hand auflöste.

Als die drei Kinder in die Straße einbogen, in der Riccios und Moscas Haus stand, hörte es auf zu schneien. Enttäuscht holte Bo seine Zunge in seinen Mund zurück und schüttelte die Schneeflocken aus seinen blonden Haaren. Von weitem konnte man schon das alte, verlassene Lagerhaus sehen, das nun zwei Waisenkindern als Versteck diente. Zwei Kinder, die ihre Freiheit brauchten und die die Casa Spavento als Zuhause dankend abgelehnt hatten.

Prosper klopfte zweimal heftig an die Holztür, doch niemand öffnete. Durch Rütteln bekam er sie ebenfalls nicht auf, Riccio und Mosca hatten ein kleines, rostiges Schloss angebracht.

„Und jetzt?“ fragte Wespe.

„Wolltet ihr zu uns?“ fragte eine ihnen bekannte Stimme. Als sie sich umdrehten, entdeckten sie Mosca, der mit seinem Boot den Kanal entlanggefahren kam. Er strahlte schadenfroh übers ganze Gesicht.

„Allerdings!“ erwiderte Prosper.

Geschickt sprang Mosca aus seinem Boot zurrte es an einem Pfeiler fest. Dann hievte er ein Netz heraus, das voll mit Fischen war. „Da staunt ihr, was?“

Mit großen Augen bestaunte Bo die vielen kleinen Fische, die im Netz vor sich hin zappelten. Wespe verzog das Gesicht. Sie mochte Fische nicht besonders, vor allem nicht, wenn sie noch lebten.

Mosca stellte das Netz neben der Tür ab und zog einen kleinen Eisenschlüssel aus der Hosentasche. Das Schloss sprang nur sehr wiederwillig auf. „Ich hab Riccio gesagt, wir sollten ein anderes Schloss nehmen!“ seufzte er. „Das hier ist so rostig, dass ich jedes Mal Angst habe, ich würde den Schlüssel nicht mehr herausbekommen! Aber davon will Riccio ja nichts hören, wo er dieses Schloss doch extra von einem alten Fahrradschuppen geklaut hat!“

Er stieß die Tür auf, nahm das Netz und bat die anderen drei herein. „Naja, ihr kennt unser Versteck ja! Das Schloss ist neu, aber sonst hat sich nicht viel verändert. Es ist immer noch groß, es ist immer noch fast möbellos und es ist immer noch dreckig!“ Er lachte.

Prosper sah sich um, als er sich an Mosca vorbeischob. Er hatte Recht gehabt. Hier hatte sich, seit sie das letzte Mal zu Besuch gewesen waren, nichts verändert. Hinten in der Ecke lagen zwei alte Matratzen mit Schlafsäcken, wobei der eine fast vor Stofftieren überquoll. Überall lagen Angelzubehör und zerfledderte Comics zerstreut, Moscas Bootsfarbe hatte den Boden an einigen Stellen rot gesprenkelt, und rechts an der Wand standen ein billiger Holztisch und zwei Hocker, ein kleiner Gaskocher, eine Pfanne und ein Topf.

„Wo ist Riccio?“ fragte Bo und sprang um Mosca herum.

„Der ist noch irgendwo draußen!“ antwortete Mosca. „Und hoffentlich zur Abwechslung mal nicht in Schwierigkeiten!“

Wespe seufzte. „Scipio lässt euch doch immer Geld hier. Und du verdienst auch was beim Lagunenfischen. Warum klaut Riccio nur trotzdem immer weiter?“

„Ach, na ja, du kennst ihn doch!“ antwortete Mosca, während er ein paar Fische zum Abendessen heraussuchte. „Es ist sein Hobby!“ Er holte noch einen letzten, besonders schönen Fisch für Bo heraus und schnürte das Netz wieder zu. „Er müsste aber bald kommen. Wollt ihr zum Essen bleiben?“
 

Riccio stand auf dem Markusplatz und starrte in den Himmel, als gäbe es nichts Interessanteres. Wie ein harmloser kleiner Junge wirken, das war einfach. Er bestaunte die geflügelten Löwen hoch oben auf den Säulen, während er in Wirklichkeit nach einem passenden Opfer suchte. Riccio hatte das Stehlen einfach nicht aufgeben können. Als Scipio noch der Herr der Diebe gewesen war, hatte er sogar Angst gehabt, er könnte es verlernen. Doch es lief genauso wie früher, als Mosca, Wespe und er noch in einem alten Keller gehaust hatten und Scipio sich noch nicht um sie gekümmert hatte.

Unauffällig schweiften seine Augen weiter über den Platz, bis sie an jemandem haften blieben. Ein kleiner, beleibter Mann mit Halbglatze und trüben Augen watschelte dort entlang, die Augen auf den Boden gerichtet, mit müdem Blick, als hätte er gerade etwas sehr Anstrengendes hinter sich. Ein wenig weiter vorne erklärte ein großer Mann einer japanischen Reisegruppe die Besonderheiten des Markusplatzes. Die Gruppe lief direkt auf den kleinen Mann zu. Riccio bewegte sich langsam hinter dem Mann her, immer noch in den Himmel starrend, als achte er nicht richtig auf seinen Weg.

Als der Mann der Reisegruppe ausweichen musste, rempelte Riccio ihn an.

„Pass doch auf!“ schimpfte dieser, doch Riccio hatte sich schon zwischen die Japaner gedrängelt und war nicht mehr zu sehen. Er ließ sich ein Stück von der Gruppe mittragen, dann verschwand er in einer Gasse. Als er hörte, wie der Mann den Verlust seiner Brieftasche bemerkte und herumschrie, begann Riccio zu laufen. Er hörte das Pflaster unter seinen Schuhen hallen, schlug ein paar Kurven ein und schlängelte sich durch die engen Gassen. Plötzlich packte ihn etwas an der Schulter.

„Hab ich dich, du kleiner, dreckiger Dieb!“ keuchte der Mann.

Riccio wurde panisch. Wie war der Mann mit seinen kurzen Beinen hinter ihm hergekommen?

„Da staunst du, was?“ fragte der Mann, immer noch außer Atem. „Tja, mein Lieber, ich kenne diese Stadt genauso gut wie du, vielleicht sogar besser!“

Riccio versuchte sich loszureißen, doch der Mann ließ nicht locker.

„Venedig wird immer krimineller!“ brummte er. „Eben noch, als ich mit Dottor Massimo das STELLA besichtigen will, erwischen wir doch glatt einen Einbrecher, und kaum bin ich auf dem Heimweg, klaut mir so ein kleiner Igelkopf meine Brieftasche!“

Riccio schluckte. Ein Einbrecher im STELLA? Und was wollte der Mann dort mit Scipios Vater?

Mit einem Ruck riss er sich los und lief so schnell er konnte. Alles, was ihm durch den Kopf ging war: Weg! Lass dich nicht noch mal erwischen! Riccio hielt auf dem ganze Nachhauseweg kein einziges Mal an.
 

Prosper und die anderen wollten gerade mit dem Essen anfangen, als es wie wild an ihre Tür hämmerte. Mosca sprang mit ein paar Sätzen nach vorne und öffnete sie, woraufhin Riccio völlig außer Atem hereinstolperte. „Verriegle die Tür!“ keuchte er.

Als Mosca von innen das Schloss angebracht hatte, war Riccio schon zum staubigen, kleinen Fenster gerannt und sah nervös hinaus. „Ich glaube, ich habe ihn abgehängt!“

„Wen? Hat dich wieder jemand erwischt?“ fragte Mosca, während er für Riccio noch einen Fisch in die Pfanne warf. „Das kannst du laut sagen!“ schnaufte Riccio und klaute Bo etwas von seinem Teller, woraufhin dieser ihn in die Seite boxte. „Und er hat was von einem Einbruch im STELLA erzählt und dass er mit Scipios Vater da gewesen sei!“

Wespe verschluckte sich vor Schreck an ihrem Fisch und bekam einen Hustanfall. Prosper klopfte ihr auf den Rücken. „Wer war das?“

In diesem Moment huschte ein Lächeln über Riccios Gesicht und entblößte seine schiefen Zähne. Er kramte in seiner Jackentasche herum und warf Prosper stolz eine Brieftasche vor die Nase. Mosca nahm diese und suchte darin herum. „Und?“ fragte Wespe ungeduldig.

„Ein bisschen Geld...“ murmelte Mosca. „Und das hier!“ Er warf den anderen einen Personalausweis und eine Visitenkarte auf den Tisch. Alle beugten sich ein wenig weiter vor.

„Der Mann heißt Giuseppe Armendola und besitzt ein Abrissunternehmen!“ sagte Wespe und runzelte die Stirn, während sie sich den Personalausweis genauer ansah. „Er ist in Rom geboren!“

„Ist doch egal!“ erwiderte Riccio ungeduldig. „Schau dir lieber die Visitenkarte an. Die ist von Scipios Vater! Könnt ihr euch vielleicht einen Zusammenhang vorstellen?“

Prosper schlug sich gegen die Stirn. „Das ist der Mann, der das STELLA abreißen will!“

Mosca nickte abwesend. Bo hatte von seinem Teller aufgeschaut. Ihm standen Tränen in den Augen.

„Jetzt ist es also endgültig soweit!“ flüsterte Wespe fast unhörbar. Auf einmal war die Stimmung in dem alten Lagerhaus beträchtlich gesunken. Als Bo anfing zu schluchzen, konnte auch sie ein paar Tränen nicht unterdrücken. Mosca kaute nervös auf seiner Unterlippe herum und Riccio verwandelte seine Trauer wieder einmal in Agressionen.

„Verdammt noch mal!“ brüllte er und trat gegen die Wand. „Was glauben die eigentlich, wer die sind? Das war unser Zuhause! Die haben sich doch nie einen Dreck darum geschert, und jetzt machen sie das einfach so platt!“ Er schlug gegen die Wand, bis ihm die Hände wehtaten, dann ließ er sich auf seine Matratze sinken. Bo weinte immer noch. Prosper versuchte ihn zu trösten, doch das war schwierig, wenn die Trauer einem selbst auch das Herz zerschnitt. Wespe wischte ihre Tränen weg, doch es kamen immer wieder neue nach. Mosca löste sich erst aus seiner Erstarrung, als er merkte, dass Riccios Fisch in der Pfanne anfing zu stinken. Hastig schabte er den misslungenen Rest heraus. Nein, Scipio war ganz sicher nicht der Einzige, der die Zeiten im alten STELLA-Kino niemals vergessen würde.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück