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Herr der Diebe II

Rückkehr der Jugend
von

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Die Rückkehr

Kapitel 1: Die Rückkehr
 


 

Es war kalt. Lausig kalt. Die Stadt des Mondes war komplett mit Schnee überdeckt, als wäre eine riesige Puderdose direkt über ihr explodiert, um die Erinnerungen des vergangenen Sommers auszulöschen und den Beginn des Winters einzuläuten. Dennoch drängten sich die Leute auf den Straßen, sie schubsten und schoben und liefen mit vollbepackten Einkaufstüten herum, die letzten Drückeberger im Weihnachtsstress.

Ein junger Mann schob sich geschickt an ihnen vorbei, den Hut tief ins Gesicht gezogen, den Blick am Boden, als wolle er verhindern, dass jemand sein Gesicht sah.

Ein halbes Jahr war es nun her, dass Victor sich letztendlich doch bereit erklärt hatte, den Namen des jungen Mannes auf dem Türschild unter seinen eigenen zu setzen und ihn damit offiziell zu seinem Assistenten machte. Vor einem Jahr war aus dem Jungen Scipio Massimo der Mann geworden, der er nun war, und dessen Namen in kleinen, goldenen Buchstaben auf Victors Türschild stand: Scipio Fortunato, der vom Glück Begünstigte.
 

Scipio drängelte sich zwischen zwei dicken Frauen hindurch, welche ihm fürchterlich empört hinterher schimpften. „Scusi!“ murmelte er und zwängte sich in eine Gasse, um dem bunten Treiben auf dem Markusplatz zu entkommen. Erleichtert zog er sich den Hut vom Kopf und fuhr sich durch das schwarze Haar. Das Leben war nicht gerade einfach, wenn man seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, eigentlich erst vierzehn Jahre alt sein sollte und als vermisst galt. Doch Scipio wollte dieses Leben nie wieder gegen sein altes eintauschen. Durch den Ritt auf dem Karussell der barmherzigen Schwestern war er erwachsen geworden, unabhängig, frei. Und in Victors kleiner Wohnung fühlte er sich hundertmal wohler als in dem riesigen Haus seines Vaters, das einen Jungen wie ihn verschluckte und das so einsam war, dass man von Glück sagen konnte, wenn man seine eigenen Schritte durch die riesigen Säle hallen hörte. O nein, Scipio würde nie wieder dorthin zurückkehren. Nie, nie wieder.
 

Als er zu frieren begann, steckte Scipio die Hände tief in die Manteltaschen und schlug seinen Kragen hoch, um gegen den eisigen Wind geschützt zu sein. Er folgte der kleinen Gasse weiter. Es machte ihm Spaß, einfach mal ziellos durch Venedig zu schlendern, nur um Zeit totzuschlagen. Genauso hatte er es auch früher immer gemacht, wenn er noch nicht nach Hause wollte. Früher, als er noch der Herr der Diebe gewesen war. Scipio musste lächeln. Er schob sich an ein paar Kisten vorbei, die beinahe die ganze Gasse blockierten, und wollte seinen Weg fortsetzen, als er hinter sich eine Stimme hörte: „Du bist das also!“

Er drehte sich um. Hinter den Kisten saß ein Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt, mit blonden Haaren, ansonsten komplett in schwarz gekleidet.

„Ich bin was?“ fragte Scipio.

Das Mädchen lächelte und sagte nichts. Scipio zog gleichgültig die Schultern hoch und ging weiter.

„Du siehst deinem Vater wirklich ähnlich.“ fuhr das Mädchen fort.

Scipio zuckte zusammen und fuhr herum. „Was...“

„Mach dir nichts vor, Herr der Diebe. Du magst noch so erwachsen tun, du kannst nicht verstecken, dass du erst dreizehn oder vierzehn Jahre alt bist.“

Als das Mädchen „Herr der Diebe“ sagte, fuhr Scipio ein weiteres Mal zusammen.

„Wer bist du?“ fragte er. Seine Stimme klang schrill, fast ein bisschen hysterisch.

Das Mädchen stand auf, kletterte die Kisten hinauf und hangelte sich aufs Dach.

„Du hast lange genug den Erwachsenen gespielt, Scipio Massimo. Es wird Zeit, dass du einsiehst, wer du wirklich bist. Das Alter ist nichts, was man nach Belieben manipulieren kann. Jedes Jahr, das du übersprungen hast, ist ein verlorenes Jahr. Verlorene Kindheit. Verlorene Zeit. Gestohlene Zeit. Ich werde dafür sorgen, dass du dich an den Scipio erinnerst, den du zurückgelassen hast, den du vergessen hast. Ihre Fassade bröckelt, Signor Fortunato.“ Damit drehte sie sich um und stieg über die Dächer davon.

„Warte!“ rief Scipio ihr hinterher, doch sie ging geradewegs weiter, ohne sich umzudrehen.

Wer war dieses Mädchen? Woher kannte sie seine Geschichte? Und was meinte sie damit, seine Fassade bröckele?

Scipio begann erneut zu frieren. Er verließ schnellen Schrittes die Gasse und versuchte, das Mädchen zu vergessen und sich keine Sorgen zu machen. Er war jetzt erwachsen. Er musste sich keine Sorgen mehr machen. Dennoch blickte er sich noch einmal unsicher um, bevor er sich den Hut wieder tief ins Gesicht zog, und seinen Weg Richtung Canal Grande fortsetzte.
 

Scipio merkte, dass seine Schritte schwerer wurden. Als das Mädchen ihn Herr der Diebe genannt hatte, hatte er sich an etwas erinnert. Eine Zeit, die zwar voller Sorgen und Einsamkeit war, aber auch voller Glück. Die Erinnerung an diese Zeit tat weh. Manchmal, wenn er nachts in seinem Bett lag, dann dachte er daran, wie viel Spaß sie damals im alten STELLA gehabt hatten, und er wurde ein bisschen wehmütig. Riccio, Mosca, Wespe, Prosper und Bo. Und er selbst. Der Herr der Diebe. Beschützer der Waisenkinder. Alles war so perfekt gelaufen, bis Victor aufgetaucht war, der Bo an seine Tante ausliefern sollte. Er kam dahinter, dass Scipio keineswegs der war, für den er sich ausgegeben hatte. Als sein Vater auch noch herausfand, dass ein paar Straßenkinder in seinem alten Kino hausten, ging erst Recht alles kaputt. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Die fröhlichen Stunden im alten, spärlich beleuchteten Kinosaal, während sie Moscas Spaghetti aßen und Scipios „Beute“ betrachteten, Bos Kätzchen ihnen um die Füße schlichen und der alte blaue Sternenvorhang prächtig und schwer Geschichten von einer anderen Zeit erzählte, diese Stunden vermisste Scipio, selbst, wenn er danach immer wieder in sein großes, einsames Elternhaus zurückkehren musste.

Scipio seufzte. Er fasste einen Entschluss und machte einen kleinen Schlenker, ging nicht zum Canal Grande, sondern bog in eine andere Straße ein: die Calle del Paradiso.

Mit den Fingern fuhr er an der Mauer des STELLA entlang, Steine, die er schon lange nicht mehr betastet hatte. Er war seit er erwachsen war nicht mehr hier gewesen. Sein Vater würde bald mit dem Abriss beginnen, es würden sich also nicht mehr viele Gelegenheiten ergeben, sein altes Sternenversteck zu besuchen. Der Anblick des zugenagelten Nebeneingangs, an dem Riccio früher immer die Parolen abgefragt hatte, versetzte Scipio einen kleinen Stich ins Herz. Er sah sich einmal um, dann packte er eines der Bretter mit beiden Händen und zog mit einem Ruck daran, sodass das Holz mit einem lauten Knacken in zwei Teile zersplitterte. Scipio zog sich dabei ein paar Splitter zu, doch er entfernte auf diese Weise alle Bretter, die den Eingang verschlossen hielten. Seine Hände schmerzten, als er mit einem letzten, ruckartigen Stoß die Tür öffnete.
 

Ein muffiger Geruch stieß ihm entgegen, als er sich durch den kleinen Gang zum Kinosaal schob. In der Tür blieb er stehen. Der blaue Sternenvorhang war heruntergerissen und achtlos auf den Boden geworfen worden, alles war verstaubt und dreckig, ein paar Mäuse huschten erschrocken davon, als sie jemanden durch die Tür kommen hörten. Der Anblick tat weh. Scipio ging langsam in den hinteren Teil des Kinos, wo seine Schützlinge geschlafen hatten. Hier lagen noch einige Dinge, die sie bei der Flucht nicht mitnehmen konnten: Matratzen, ein paar Zettel, ein angebrochener Farbeimer, etwas Vogelfutter, eine alte Wolldecke. An die Wand hatten Kinderhände kleine Kunstwerke gemalt, Sterne und Blumen und alles mögliche andere. Einen großen Stern hatte Scipio selbst gepinselt. Etwas ungelenk sah er aus und brachte ihn zum Lächeln. Er blickte sich weiter um und fand er an der Wand Victors Versprechen, den Hartliebs nichts zu verraten, hastig in dessen krakeliger Erwachsenenschrift hingeschmiert. Als Scipio den Sternenvorhang hochhob, ergriffen noch ein paar weitere Mäuse die Flucht. Der alte, schwere Stoff war von Motten und Mäusen zerfressen, er war staubig und ausgebleicht. Ärgerlich warf Scipio ihn wieder auf den Boden, als er das Loch entdeckte. Ein großes, viereckiges Loch. Hier hatte Victor für Bo ein Erinnerungsstück ausgeschnitten, welches jetzt über dessen Bett in Idas Haus hing. Scipio bemerkte seine Tränen erst, als sie sein Kinn erreichten. ‚Verdammt!’ dachte er und setzte sich auf den Boden, während er die Tränen hastig wegwischte. Er hätte nicht gedacht, dass die Erinnerung so wehtun würde. Doch sie tat es. Sie schmerzte mehr als die Splitter in seiner Hand und mehr als der eisige Wind draußen, der ihm ins Gesicht peitschte. Es war kaputt. Es würde nie mehr so sein wie früher. Der Herr der Diebe existierte nicht mehr und das STELLA war nur noch ein altes, baufälliges Kino. Man spürte nichts mehr von dem Leben, das hier einmal drin gesteckt hatte, obwohl es schon geschlossen gewesen war. Das Leben von fünf Waisenkindern, die hier ihre Tage und Nächte verbracht hatten, und von ihm, Scipio, dem sie vertraut hatten und der sie enttäuscht hatte. Er war so in Gedanken versunken, dass er die Schritte hinter sich nicht bemerkte.
 

„Ich wusste, dass du kommst!“ sagte eine Mädchenstimme hinter ihm.

Scipio fuhr herum. „Du schon wieder!“

„Im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen hast du nicht vergessen, wie es war ein Kind zu sein!“

„Lass mich in Ruhe! Was willst du von mir?“ schrie Scipio.

„Erwachsene vergessen ihre Kindheit.“ Sagte das Mädchen traurig. „Ich will, dass du noch ein wenig Zeit hast, deine Erinnerungen aufzufrischen!“

„Wovon redest du? Warum verfolgst du mich?“

Scipios Stimme wurde schrill und hoch, wenn er sich aufregte, und für einen kurzen Augenblick kam ihm der schreckliche Abend nach dem Ausflug zur Isola Segreta in den Sinn, als er nach Hause kam, die Polizei war dort, und Wespe...der Abend, an dem das Sternenversteck aufgeflogen und Wespe im Waisenhaus gelandet war und Bo zu seiner Tante musste. Der Abend, an dem Scipio seinem Vater seine ganze Wut entgegengeschleudert und dieser ihn trotzdem weiter ignoriert hatte. An diesem Abend war Scipio genauso vor seiner Stimme erschrocken.

„Genau davon!“ erwiderte das Mädchen.

„Von dem Kind, das immer noch in dir steckt und das du nicht verbergen kannst!“

Das Mädchen fuhr plötzlich herum und rannte aus dem Saal. Scipio stand auf und stolperte ihr hinterher, doch er konnte sie trotz seiner langen Beine nicht einholen. Als er aus der Tür heraus war, war nichts mehr von ihr zu sehen.

„Wer sind Sie?“ fragte eine ihm bekannte Stimme. Scipio lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er wandte sich ab und versuchte, seinem Vater nicht ins Gesicht zu sehen.

„Das hier ist Privatbesitz!“ sagte Dottor Massimo. „Sie haben kein Recht, in diesem Gebäude herumzuschnüffeln. Wollten Sie vielleicht etwas stehlen? Hier gibt es nichts zu holen, also verschwinden Sie! Auf der Stelle!“ Scipio murmelte eine unverständliche Entschuldigung und machte sich davon. Wie sehr er diesen Tonfall bei seinem Vater hasste. Wie sehr er ihn hasste. Und wie viel Glück er hatte, dass sein Vater sich viel zu wenig für andere Menschen interessierte, als dass er sich das Gesicht des geheimnisvollen Einbrechers genauer ansehen würde.

„Das Kino wird sowieso bald abgerissen!“ sagte der dottore zu seinem Begleiter, der ein wenig tatenlos in der Kälte herumgestanden hatte, noch bevor Scipio hinter der nächsten Ecke verschwunden war.
 

Mit immer noch klopfendem Herzen erreichte Scipio Victors Wohnung. Er sah sich immer wieder um, malte sich alle möglichen Dinge aus, die passieren würden, wenn sein Vater ihn erkannt hätte. Vor Aufregung bekam er kaum den Schlüssel ins Schloss. Flink wie ein Wiesel sprang er die steile Treppe hinauf und blieb wie immer kurz vor dem Türschild stehen. Scipio Fortunato. Er fuhr mit den Fingern über die kleinen, eingravierten Goldbuchstaben. Er hatte sich immer noch nicht ganz an seinen neuen Nachnamen gewöhnt. Scipio seufzte, schloss die Wohnungstür aus und warf seinen Mantel einfach über einen Stuhl, obwohl er wusste, dass Victor das überhaupt nicht mochte. Dann setzte er sich einen Kaffee auf. Er hockte sich vor die beiden Schildkröten, und als sie ihm gierig ihre kleinen, faltigen Köpfe entgegenstreckten, brachte er ihnen gnädig ein paar Salatblätter. Erschöpft ließ er sich mit seiner Tasse Kaffee in einen Sessel sinken und sah sich um. Das hier war sein Zuhause, und sonst nichts. In dieser Wohnung, die kleiner war als das Arbeitszimmer seines Vaters, in der es keine Bediensteten gab und keine fünfgängigen Mahlzeiten, sondern nur zwei kleine Schildkröten und billigen Kaffee, hier hatte Scipio sein Glück gefunden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Staubengel
2006-11-24T16:24:35+00:00 24.11.2006 17:24
Jippiiiiiie, endlich mal eine FF in der Scipio und Prosper nicht schwul sind XD
Ich hab dir ja schon gesagt, dass ich deinen Stil liebe und ich finde auch, dass du die Charaktere sehr gut umsetzt.
Connie wäre stolz auf dich XD

WE WILL STOCK YOOOOOOOOOOOOOOOOU ^^
Von:  Seranita
2006-11-24T15:15:12+00:00 24.11.2006 16:15
Eine Fortsetzung zum Herrn der Diebe!
Vielen Dank *g* Auf so etwas habe ich gewartet. Okay, ernsthaft, die Geschichte gefällt mir sehr. Ich finde, du hast die Charaktere sehr treffend eingefangen und auch dein Schreibstil gefällt mir. Ich bin gespannt, was das mysteriöse Mädchen angeht, das so viel über Scipio zu wissen scheint. *lach* Ich glaube, er lässt sich wirklich viel zu leicht von forschen Mädchen aus der Fassung bringen.

Auf jeden Fall finde ich es toll, wie du dich an die Buchvorlage gehalten hast. Man kann sich sehr leicht in die Geschichte einfinden, auch wenn man das Buch schon lange nicht mehr gelesen hat. Du stellst genau die richtige Atmosphäre her. (Auch wenn mir der Dialog, wie Riccio gefasst wurde, doch sehr~ bekannt vorkam^^)

Ich bin gespannt, was weiter passieren wird und insbesondere, wie Scipio weiter damit umgehen wird, wie er nun ist.^^

Bye, Seranita


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