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Gefühlschaos

von

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Kapitel 3: Gefährliche Dunkelheit

Nachdem Raven im Hauptquartier der Dark Creatures angekommen war, hatte sie sich sogleich um Jinx’ Verletzungen gekümmert. Die Brüche und offenen Wunden konnte sie heilen, doch der verstauchte Ellenbogen ließ sich nicht so einfach wiederherstellen. Sie musste ihn wohl oder übel auf natürlichem Wege heilen lassen. Die junge Hexe war anschließend in den Raum gebracht worden, in dem auch Raven damals aufgewacht war. Wie ihr wurde auch Jinx ein Pariumhalsband angelegt, das ihre Kräfte blockierte.

Als sie aufwache, war sie vollkommen verängstigt. Sie konnte sich nur schemenhaft an die Ereignisse in jener Nacht erinnern. Gizmo wollte in dem Laden wertvolles Computerzubehör stehlen, um sein Ansehen innerhalb der H.I.V.E.-Organisation zu verbessern. Mammoth und Jinx waren ihm wie immer gefolgt. Kurz nachdem sie den Laden betreten hatten, war Jinx angegriffen worden. Der Angreifer war ein schattenhaftes Etwas, das sich zu schnell bewegte, als das sie es hätte erkennen können. Es hatte regelrecht mit ihr gespielt, wie eine Katze mit einer erbeuteten Maus, und hatte sie immer wieder dazu aufgefordert, aufzustehen und sich zu wehren. Als es dem Angreifer langweilig wurde, rammte er ihren Kopf gegen eine Wand, wodurch sie das Bewusstsein verlor. Eigentlich hatte sie nicht erwartet, je wieder aufzuwachen.
 

Wesentlich schlimmer als die Schläge ihres Gegner hatte sie jedoch die Enttäuschung über das Verhalten ihrer sogenannten Freunde getroffen: Sie waren einfach geflohen und hatten Jinx mit dem brutalen Angreifer zurückgelassen. Gizmo und Mammoth hatten nicht einmal versucht, ihr zu helfen. Dieses Monster hätte sie beinahe umgebracht und ihre Freunde hatten nichts unternommen, um sie zu beschützen.
 

Jinx’ Seele war viel schwerer verletzt worden als ihr Körper. Sonst war die Hexe zwar ein hinterhältiges und bösartiges, aber paradoxerweise auch fröhliches Mädchen gewesen. Nun saß sie nur noch in der Grube, die sie sich geschaffen hatte, indem sie das Bett von der Wand ihrer Zelle weggeschoben hatte, und weinte die meiste Zeit. Wenn Janus mit ihr sprechen wollte, wehrte sie ihn ab und wenn sie redete, versuchte sie immer nur, ihre Schmerzen in Worte zu fassen. Sie fühlte sich einsam. Ständig sagte sie, dass sie ganz allein wäre und niemanden auf der Welt hatte, der sich um sie kümmerte, und dass ihr ganzes Leben keinen Sinn mehr hätte.
 

Jinx war bei H.I.V.E. gewesen, solange sie denken konnte. An ihr Leben davor und an ihre Familie hatte sie keine Erinnerungen. Praktisch war sie mit dem Verbrechen aufgewachsen.

Das Diebeshandwerk war immer wie ein Spiel für sie gewesen, auch wenn sie nicht immer freiwillig mitgemacht hatte. Es war niemals einfach gewesen und das einzige, was ihr wirklich etwas bedeutet hatte, waren ihre Freunde gewesen. Nun war eine Welt für sie zusammengebrochen. Alles, was ihr Leben bisher bestimmt hatte, war nun sinnlos für sie geworden. Ihre einstigen Freunde hatten sie in höchster Gefahr einfach im Stich gelassen und H.I.V.E. hatte sie erst in diese Situation gebracht. Aus dem Spiel war tödlicher Ernst geworden. Jinx war bewusst geworden, wie gefährlich ihr Leben war, und dass sie niemandem Vertrauen konnte und somit allein gegen alle Gefahren dieser Welt stand. Ein kleines Mädchen, ganz allein in einer kalten und grausamen Welt.
 

Nachdem er ihre körperlichen Kräfte als ungefährlich eingestuft hatte, wollte Janus ihr die Kette abnehmen, doch sie ließ ihn nicht an sich heran; vermutlich aus Angst, er würde ihr wehtun.
 

Als ob der Zustand der jungen Hexe ihm nicht schon genug Sorgen bereiten würde, hatte Janus am Morgen nach der Rückkehr eine Nachricht von Psykid erhalten, in der stand, dass er die Dark Creatures verlassen und sich nach einem neuen Ausbilder umsehen würde. Tatsächlich war der Hypnotisör spurlos verschwunden.
 

Hinzu kam auch noch die Gefahr durch Nightshade. Er fürchtete, wieder eine Mitteilung über einen Angriff, womöglich sogar auf einen seiner Schützlinge zu erhalten. Nightshade war ein gefährliches Phantom, das Jagd auf Wesen mit Superkräften machte, um sich mit ihnen im Kampf zu messen. Meist waren diese Kämpfe kurz und sehr brutal. Nightshade war sehr stark, schnell und nahezu unmöglich zu erwischen. Ein teuflischer Schatten ohne Skrupel, Respekt oder gar Mitleid für seine Opfer, getrieben von einer unstillbaren Gier nach Kampf und Überlegenheit. Doch Janus kannte das Gesicht des Phantoms und er würde nicht zulassen, dass noch jemand so verletzt werden würde wie Jinx.
 


 

Am späten Nachmittag des dritten Tages nach ihrer Ankunft war Raven allein im Meditationsraum des Dark Creatures-HQ. Sie schwebte in Meditationshaltung etwa einen Meter über dem Boden. Die düstere Magierin fühlte die Stille, die um sie herum und in ihr selbst herrschte. Absolute Dunkelheit. Etwas bedrückend zwar, aber so ruhig, wie kein Ort auf Erden sein könnte. Sie fühlte, wie ihre Seele in vollkommener Ruhe schlummerte. In ihr war nichts mehr, bis auf ihren unzerbrechlichen Willen. Sie hatte es geschafft; endlich gehorchten ihr ihre Gefühle wieder.
 

Doch das bedeutete auch, dass sie Janus nun verlassen und zu den Teen Titans zurückkehren würde. Der Gedanke daran bereitete ihr Schmerzen. Sie wollte nicht weg von ihm. Er war der einzige Mensch auf dieser Welt, der Liebe für sie empfand. Er hatte ihr ermöglicht, ihren Gefühlen zum ersten mal in ihrem Leben freien Lauf zu lassen. Und ohne die Wärme seines Herzens konnte, wollte sie nicht mehr leben. Sie liebte ihn, daran bestand kein Zweifel. Und es machte sie unendlich traurig, ihn verlassen zu müssen.
 

„Nein, hör auf damit!“ ermahnte sich Raven selbst. „Ich muss stark bleiben! Ich DARF nichts fühlen! Gefühle führen in die Verdammnis. Ach, verdammt!!!“
 

Sie gab ihren Gefühlen nach. Ihre Traurigkeit verlangte Tränen von ihr und es fühlte sich so gut an, diesem Wunsch nachzukommen. Raven weinte.

Sie gab ihre Meditationshaltung auf und verkroch sich in eine Nische des Raumes. Dort rollte sie sich zusammen und deckte sich mit ihrem Umhang zu.
 

„Das ist so unfair! Warum nur darf ich nicht wie jeder andere Mensch traurig sein, Liebe und Freude empfinden?! Ich hasse mein Leben!“
 

Nach einer Weile spürte Raven, wie ihr jemand seine Hand auf die Schulter legte; und sie wusste, wer es war. Sie fiel Janus in die Arme.

Er war immer in ihrer Nähe, wenn sie traurig war; immer bereit, sie zu trösten. Janus fühlte, was sie fühlte und wusste daher auch immer, wann Raven ihn brauchte.
 

„Ich kann das nicht.“ wimmerte sie. „Ich kann nicht mehr ohne Gefühle leben. Und vor allem, nicht ohne dich.“
 

Janus drückte sie fest an sich und streichelte sie. „Armes, kleines Wesen.“ dachte er. Raven war so klein und zierlich im Vergleich zu ihm; ein kleines Mädchen eben. Etwas, das man vor Schaden, Schmerz und Traurigkeit bewahren sollte. Janus’ starker Beschützerinstinkt gebot ihm, jedem leidenden Mädchen zu Helfen; ihnen Liebe, Wärme und eine Zuflucht zu geben. Für Raven empfand er jedoch mehr. Das Schicksal verlangte etwas unmögliches von ihr: Sie sollte ein Leben ohne Gefühle führen und außerdem einen Kampf um das Schicksal der ganzen Welt austragen, bei dem ihr schlimmster Gegner sie selbst war. Er hatte Mitleid mit ihr, mehr als mit jedem seiner anderen Schützlinge.
 

Nicht einmal auf Insomnia lastete so viel. Obwohl sie vielleicht sogar gefährlicher als Raven war, spürte sie einen Großteil der Last nicht. Ihre Schmerzen hatten sie großteils ihren Verstand gekostet, weshalb sie besser fühlen, als logisch denken konnte. Insomnia war zwar unberechenbar in ihrer Stimmung, aber keineswegs dumm oder verrückt, Sie dachte einfach nur mit den Herzen und ließ sich von ihren Gefühlen leiten, denn sie hatte gelernt, dass ihr Verstand sie noch mehr leiden ließ. Ihre Seele hatte sozusagen den Verstand abgestoßen. Indem es ihr nicht mehr bewusst war, welche Gefahren sie in sich barg, verringerte sie ihren Schmerz ein wenig.
 

Tribal Tigeress fürchtete sich ebenso wie Raven vor ihrer dunklen Seite. Sie war ohne eigene Schuld in ein Wesen halb Mensch, halb dämonische Bestie verwandelt worden. Zwar konnte sie den Dämon einigermaßen kontrollieren, indem sie von Zeit zu Zeit ihren animalischen Instinkten nachgab. Sie wusste aber, dass sie schon lange kein Mensch mehr war und klammerte sich verzweifelt an den Rest ihrer Menschlichkeit. Sie lebte in ständiger Angst, eines Tages zu einem Volldämon zu werden und nur indem sie ihren Blick stets auf das Gute und Schöne in ihrem Leben richtete, konnte sie verhindern, in Depression zu versinken. Sie war das genaue Gegenteil von Raven und ihr dabei dabei doch so ähnlich.
 

Arachnia hatte sich aus Versehen in ein ebenso mächtiges, wie abstoßendes Wesen verwandelt. Heute wusste sie, dass Magie kein Spiel war, und obwohl sie sich so albern benahm wie eh und je, versuchte sie durch ihr kindliches Verhalten hauptsächlich ihre Sorgen zu überdecken. Arachnia war eine geborene Stimmungskanone, ähnlich wie Beast Boy, und es widersprach ihrer Natur, sich in Trauer und Selbstmitleid zu ertränken. Dennoch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder ein normales Mädchen zu sein.
 

Drei Mädchen, denen Janus helfen wollte, ihr schweres Schicksal zu tragen. Doch bei Raven war es mehr, als nur der Wunsch zu helfen. Er empfand mehr als nur Mitleid für sie. Immer wenn Raven in seinen Armen lag, spürte er, dass sie ebenfalls etwas für ihn empfand. Er spürte eine ähnliche Wärme, wie er sie selbst ausstrahlte.

Janus Angel hatte noch nie wahre Liebe für ein Mädchen empfunden, doch er war sich sicher, dass Raven ihn liebte. Oft wünschte er sich, ihr seine ganze Liebe geben zu können. Er träumte davon, mit dem reinigenden Licht der Liebe Ravens dämonische Seite auszutreiben und für immer mit ihr zusammen glücklich zu sein. Janus wusste selbst, dass dieser Gedanke eher lächerlich als romantisch war. Ebenso wusste er, dass er nicht seine ganze Liebe einem einzigen Wesen geben konnte. Seine Liebe gehörte allen traurigen Mädchen dieser Welt und besonders denen, welchen er sich persönlich angenommen hatte. So sehr er Raven auch liebte, er konnte die anderen nicht zu ihren Gunsten vernachlässigen. Tigeress, Insomnia und Arachnia brauchten ebenso Liebe und Wärme. Und mittlerweile hatte er noch ein Sorgenkind mehr: Jinx hatte sich zwar dank Ravens Heilkräften von ihren körperlichen Verletzungen erholt, doch seelisch war sie ein absolutes Wrack. Er bezweifelte, dass er jemals vergeben konnte, was Nightshade mit ihr gemacht hatte. Er musste dem ein Ende setzen.
 

„Janus,“ unterbrach Raven seine Gedanken, „glaubst du, dass ich mich je wieder unter Kontrolle kriege?“
 

„Du bist stark, Raven.“ antwortete er. „Schon früher hast du bewiesen, dass du über deine dunkle Seite triumphieren kannst. Es gibt nicht viele Menschen, die stark genug sind, sich selbst zu besiegen. Aber du besitzt die Stärke dazu. Du kannst deine Gefühle zurückhalten, wenn du nur willst.“
 

„Genau das ist das Problem: Ich will nicht. Ich will lachen können, wenn ich glücklich bin. Ich will weinen, wenn ich traurig bin. Und vor allem will ich dich nicht verlieren.“
 

„Ich werde immer für dich da sein. Egal wie weit wir von einander entfernt sind; du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben. Und wann immer du willst, kannst du zu mir kommen. In mir hast du jemanden, der dich versteht, mit dem du lachen kannst und der dich tröstet, wenn du traurig bist und weinst. Selbst wenn du deine Gefühle unterdrückst, kannst du immer zu mir kommen, wenn du sie wieder freilassen möchtest. Ich bin für dich da; jetzt und für alle Zeit.“
 

Raven wollte ihm antworten, brachte aber vor lauter schluchzen kein Wort heraus. Sie fühlte sich geradezu überladen mit Emotionen als sich Liebe und Trauer in ihr verbanden und als gemischte Gefühle aus ihr herausdrängten. Scheinbar war sie doch noch nicht soweit, ihre Gefühle wieder zu unterdrücken.
 

Sie kuschelte sich eng an Janus und ließ sich von ihm trösten. Raven kuschelte oft mit ihm; nicht nur, wenn sie traurig war, sonder eigentlich bei jeder Gelegenheit. Selbst im Traum lag sie in seinen Armen und hoffte beim Aufwachen stets, dass es doch kein Traum war. Könnte es sein, dass sie süchtig nach Liebe war? Süchtig nach ihm?
 

„Janus…“ sagte das Mädchen mit zitternder Stimme und schaute ihm so tief in die Augen, wie es der Tränenschleier vor ihren eigenen zuließ. „Ich liebe dich.“

Dann schlang sie ihre Arme um ihn. Janus erwiderte ihre Umarmung, indem er einen Arm um ihre Schultern legte und mit der andern Hand zärtlich ihre Wange streichelte und ihr dabei einige Tränen abwischte.
 

Langsam bewegte Raven ihr Gesicht auf das seine zu. Eine Zeit lang schauten sie sich an. Dann schloss Raven ihre Augen, in der Hoffnung, im nächsten Moment seine Lippen auf ihren zu fühlen.

Doch stattdessen neigte er seinen Kopf zur Seite und drückte ihren sanft an seine Schulter. Ein wenig enttäuscht schmiegte sie sich an ihn.
 

„Meine süße, kleine Raven.“ sagte er. „Ich liebe dich auch. Aber im Moment brauchst du einen Tröster und Beschützer, keinen Lover. Heute muss es genügen, dass ich dich im Arm halte.“
 

Er streichelte liebvoll die Haare des Mädchens. „Die Liebe hat viele Gesichter. Sie wird sich zeigen, wenn die Zeit reif dafür ist. Aber ich weiß schon jetzt, dass ich mehr als nur Mitleid für dich empfinde. Du bist wunderschön und hast ein gutes und empfindsames Herz. Ich möchte verhindern, dass dir jemals wieder jemand wehtut, dich für immer beschützen und am liebsten jeden Morgen mit dir in meinen Armen aufwachen. Du bist mein kleines Mädchen, Raven. Ich liebe dich.“

Er küsste sie auf die Stirn und drückte sie dann wieder fest an sich.
 

„Danke.“

Mehr brachte Raven nicht hervor.
 


 

Raven und Janus hatten noch lange eng aneinander gekuschelt dagesessen. Als sich Raven ausgeweint und wieder beruhigt hatte, verließen sie beide den Meditationsraum. Eigentlich war dieser Raum nicht nur zum Meditieren, sondern auch allgemein ideal für Ruhe und Entspannung eingerichtet. Er war klein, aber nicht eng, sondern sehr gemütlich. Der Boden war mit einem weichen Teppich ausgelegt. Psi-reaktive Leuchtkristalle, deren Leuchtkraft sich durch Gedanken steuern ließ, tauchten den Raum in ein gemütliches Halbdunkel. Die Wände waren im Grunde gar keine Wände, sondern eine Aneinanderreihung von Nischen in Nischen, in denen weiche Kissen lagen. Eigentlich waren es Sitzkissen, doch das hielt Tribal Tigeress nicht davon ab, sich daraus ein Lager zu bauen und darauf zu schlafen. Überhaupt schien das Katzenmädchen immer und überall schlafen zu können. Vielleicht war das ihre Art, zu meditieren. Ansonsten benutzte nur Insomnia den Raum und sie machte keine Anstallten, zu erzählen, was sie darin eigentlich tat.
 

Blaze war nicht der Typ, der zusätzliche Entspannung benötigt hätte. Seine Plasmaflammen waren nicht mit seinen Gefühlen verbunden. Und überhaupt war er für einen Feuermagier erstaunlich ruhig und ausgeglichen. Um seine Kräfte unter Kontrolle zu kriegen ging er in den Trainingsraum, der extra für ihn feuersicher gemacht worden war.
 

Arachnia war meistens in ihrem Zimmer. Sie war zwar überhaupt nicht so verschlossen wie Raven, dennoch betrat niemand gern diesen Raum. Raven war einmal in darin gewesen und hatte sofort verstanden, warum sich niemand hineintraute: Arachnia teilte sich ihr Zimmer mit einer stattlichen Spinnenpopulation. Nicht das Raven Angst vor den Tieren gehabt hätte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, in einem Raum zu leben, in dem fast alles mit Spinnennetzen zugesponnen war und wo ständig irgendetwas umherkrabbelte. Nur das Bett und der Schreibtisch, auf dem jede Menge Gläser und Kolben standen, waren spinnenfrei.

Arachnia war trotz ihres kindlichen Charakters sehr intelligent und ein kleines, exzentrisches Genie auf den Gebieten der Alchemie und Zauberei. Ihr erklärtes Ziel war es, ein Heilmittel zu finden, dass sie in ein normales Mädchen zurückverwandeln würde.
 

„Jeder hier hat seine Probleme.“ dachte Raven als sie gerade an der Tür zu Arachnias Zimmer vorbeiging. Vor Psykids Tür blieb sie kurz stehen. Sein Zimmer hatte sie noch nie gesehen. Nach dem, was Janus ihr erzählt hatte, war darin auch nichts besonderes gewesen, außer einer unübersichtlichen Sammlung von Zeitungen und Wissenschaftsmagazinen. Nun stand es ohnehin leer. Raven hatte keine Ahnung, warum und wohin Psykid verschwunden sein könnte. Es interessierte sie nicht sonderlich und im Grunde war sie froh, ihn nicht ständig in der Nähe haben zu müssen. Der junge Hypnotisör war zwar nicht so penetrant wie Beast Boy, dafür konnte er anderen gezielt und besonders intensiv auf die Nerven gehen.
 

„Mir ist egal, wo er ist,“ hörte Raven eine Stimme sagen, „solange er nicht wiederkommt.“

Tribal Tigeress hatte den Gang betreten und kam auf Raven zu.
 

„Machst du dir deswegen wirklich keine Sorgen?“ fragte Raven sie.
 

„Sorgen mach’ ich mir schon. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich diese Nervensäge vermisse oder ihn sogar zurück haben will.“ antwortete Tigeress. „Glaub’ mir, es ist besser, wenn er weg ist. Irgendwann währe hier seinetwegen sicher ein Unglück geschehen.“
 

„Wie meinst du dass?“
 

„Du hattest nicht die Gelegenheit, ihn näher kennen zu lernen; was im Prinzip auch gut so ist.“ meinte sie. „Er hielt sich schon immer für etwas besseres als uns und dachte, dass es seiner “Kariere“ nützen würde, wenn er uns behindert. Nach seiner Überzeugung ist es grundsätzlich zum eigenen Vorteil, andern zu schaden.“

Tigeress schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Stell’ dir mal vor, deine Kräfte würden wieder funktionieren und es wäre eigentlich alles in Ordnung. Psykid würde in diesem Fall wahrscheinlich versuchen, dich so zu reizen, das du die Kontrolle wieder verlierst. Er denkt, wenn du einen Fehler machst, steht er selbst dadurch besser da.

Du kannst dir ja nicht vorstellen wie es in den Monaten, die er hier war, zugegangen ist. Er hat uns bei jeder Gelegenheit sabotiert und ständig versucht, Unruhe zu stiften. Für Insomnia war es am schlimmsten. Sie leidet auch schon mehr als genug, ohne jemanden der sie dauernd beleidigt und schikaniert. Uns anderen ging’s auch nicht viel besser.

Apropos Insomnia: Wärst du so nett, mal kurz nach ihr zu sehen. Sie hat sich heute den ganzen Tag noch nicht blicken lassen und das macht mir Sorgen. Ich hab’ etwas in der Stadt zu erledigen; etwas… na ja, sehr dringendes. Könntest du bitte zu ihr gehen und sie fragen, ob sie nicht zu uns hochkommen oder wenigstens etwas essen will?“
 

„Glaub’ mir, ich weiß, wie wichtig es für Leute wie sie und mich ist, ab und zu allein zu sein. Es gibt Tage, an denen ich mein Zimmer auch nicht verlasse.“ antwortete Raven.
 

„Ich weiß selbst, wie wichtig Privatsphäre ist.“ meinte Tigeress darauf. „Aber sie ist praktisch eine Raven²: Sie verlässt so gut wie nie ihr Zimmer. Das Essen lässt sie sich meistens bringen, aber mehr als ein paar Bissen am Tag nimmt sie nie an. Und an Treffen des Teams nimmt sie nur teil, wenn es unbedingt nötig ist und Janus sie persönlich darum bittet. Außerdem muss ab und zu jemand nach ihr sehen, sonst vereinsamt sie doch total. Bitte Raven, tu es für Insomnia. So sehr sie sich auch zurückzieht; soviel Einsamkeit ist nicht gut für sie. Bitte.“
 

Raven überlegte kurz. Tigeress hatte recht: man konnte Insomnia nicht einfach allein in ihrem Zimmer lassen. Sie war genau wie sie selbst eine Empathin und daher spürte sie jede Emotion, ganz gleich ob ihre eigenen oder die anderer, sehr intensiv. Hinzu kam, das sie sich bei negativer Stimmung mit Dunkler Energie auflud. Zwar trug sie stets ein Pariumhalsband, das die Energie eindämmte, doch je mehr sie sich auflud, um so schlimmer wurden ihre Schmerzen. Raven hatte vor kurzem am eigenen Leib erfahren, wie schmerzhaft eine emotionale und eine energetische Überladung zur gleichen Zeit war.
 

„Na gut: Ich gehe zu ihr.“ sagte Raven. Wenn sie konnte, wollte sie die Qualen des Mädchens lindern oder zumindest verhindern, dass sie sich verstärkten. „Du musst mir nur noch sagen, wo ich sie finde.“
 

„Ihr Zimmer liegt ein Stockwerk tiefer, im Keller. “Das Verließ“, wie Psykid es immer genannt hat. Es hört sich fies an, aber diese Beschreibung passt wirklich.“ antwortete das Katzenmädchen. Gleich darauf wandte sie sich in Richtung Ausgang.

Raven fiel auf, das sie ziemlich nervös und aufgeregt sein musste. Doch was auch immer Tribal Tigeress so dringend zu erledigen hatte, im Moment galt es für sie, Insomnia aufzusuchen.
 


 

Raven öffnete die Tür zum 2. Untergeschoss. Vorsichtshalber nahm sie eine Kristalllampe mit, da es dort unten kein Licht gab. Es war stockfinster.
 

Raven öffnete eine Tür am Ende eines dunklen Ganges. Als sie sah, was dahinter war, erschrak sie: Dies war bereits Insomnias Zimmer.

Der Raum sah jedoch eher wie ein mittelalterlicher Kerker aus. An den Wänden und von der Decke hingen Ketten, die scheinbar eine Art bizarre Dekoration sein sollten. Einige rotleuchtende Kristallfackeln warfen ein schwaches Licht, das von mehreren zerbrochenen Spiegeln reflektiert wurde. In der Mitte des Raumes kauerte etwas auf dem Boden, das auf den ersten Blich wie ein Haufen schwarzer Lumpen aussah.

„Verswinde!“ fauchte Insomnia. Sie trug ihre Maske nicht und hielt sich stattdessen die Hände vors Gesicht. „Niemand darf mein Gesicht sehen! Wie kannst du es wagen, mein Gesicht sehen zu wollen!“
 

„Ich wollte dich nicht stören.“ entschuldigte Raven sich. „Ich wollte nur nach dir sehen, weil…“

„Niemand darf mich so sehen! Niemand!!“ schrie Insomnia dazwischen. Ihre Aura verstärkte sich rasend schnell. Wie eine Welle puren Hasses rollte sie auf Raven zu. Der Kristall in ihrer Hand begann blutrot zu leuchten und zersprang dann in unzählige Splitter. So schnell sie konnte rannte sie aus den Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und sie atmete schwer, als sei sie gerade tausend Meter in dreißig Sekunden gerannt. Sie hatte Angst, panische Angst.
 

Raven hatte den Schreck noch nicht richtig verarbeitet, als sie hinter der Tür ein leises Schluchzen hörte. Auf der anderen Seite saß Insomnia auf dem Boden und weinte.
 

„Es tut mir leid.“ wimmerte sie. „Ich will dir nicht wehtun, Raven. Aber ich kann nicht anders. Ich hasse mich so sehr!“
 

Ravens Angst schlug in Mitgefühl um. Am liebsten hätte sie die Tür wieder geöffnet und Insomnia getröstet. Doch sie wusste, dass sie dann angegriffen worden wäre.

„Kann ich etwas für dich tun?“ fragte sie.

„Nein.“ antwortete das weinende Mädchen. „Niemand kann mir helfen. Es tut so weh!“

Ein lauter, herzzerreißender Schmerzensschrei folgte. „Du kannst nichts für mich tun. Bitte geh’ weg.“
 

Obwohl es ihr unangenehm war, Insomnia in diesem Zustand allein zu lassen, wusste sie, dass sie ihr nicht helfen konnte. Betrübt tastete sie sich einen Weg zurück nach oben. Als sie die Tür öffnete, stand Arachnia vor ihr.
 

„Du hast sie gesehen, oder?“ fragte das Mädchen.
 

„Ich habe ihr Gesicht nicht gesehen,“ antwortete Raven wahrheitsgemäß, „aber ich habe ihren Schmerz gespürt.“
 

„Glaub’ mir, sie ist nicht immer so drauf. Aber soviel Selbsthass kann sie nicht ewig unterdrücken. Du weist ja, wie das ist.“

Raven nickte nur.
 

„Ich war schon oft bei ihr. Aus irgendeinem Grund scheint sie mir zu vertrauen.

Ihr Zimmer ist echt gruselig. Ich weiß; das sagt die richtige. Aber bei ihr spürt man, dass jedes Staubkorn mit ihrem Schmerz aufgeladen ist. Weist du, wofür die Ketten da sind? Damit ihr Zimmer wie das Gefängnis aussieht, in das sie ihrer Meinung nach gehört. Sie glaubt, dass man sie dafür bestrafen sollte, was sie fühlt: Leid mit noch mehr Leid beantworten.“

Arachnia seufzte, bevor sie fortfuhr: „Insomnia hat keinen Verstand mehr und ihre Seele besteht

nur noch Schmerzen. Manchmal glaube ich, es wäre das Beste, wenn man sie erlösen würde.“
 

„Du möchtest, dass sie stirbt?“ fragte Raven entsetzt.
 

„Nein, natürlich möchte ich das nicht. Aber schau sie dir doch an. Das ist doch kein Leben mehr, oder? Insomnia ist innerlich tot. Nur ihr Schmerz erhält sie am Leben. Sie tut mir so leid. Ich möchte, dass sie Frieden findet; egal wie.“
 

„Das möchte ich auch.“ antwortete Raven. „Und nicht nur für Insomnia, auch für dich, mich selbst und für alle anderen hier. Aber man muss doch nicht sterben, um glücklich zu werden. Ich hab’ selbst oft darüber nachgedacht, ob mich der Tod von meinem Fluch erlösen würde. Aber solange ich lebe, besteht noch Hoffnung. Der Tod ist kein echter Frieden, sondern eine Kapitulation vor dem eigenen Schicksal.“
 

Arachnia lächelte und umarmte Raven freundschaftlich. „Du bist unglaublich, weist du das?“
 

„Wofür war das jetzt?“ fragte Raven peinlich berührt.

„Dafür, dass du so eine liebe Freundin bist.“ antwortete sie. „Komm mit. Ich glaube, auf den Schreck brauchst du erst mal einen Tee. Du magst doch Tee, oder?“

„Solange keine Viecher darin rumschwimmen.“
 

„Wow, Du hast ja sogar Humor!“ rief Arachnia lachend.

Raven lächelte zurück. „Manchmal.“ antwortete sie.
 

Raven wartete im Wohnzimmer, während Arachnia in der Küche den Tee zubereitete.

Dieses hier war mit dem Wohnzimmer im Titans Tower nicht zu vergleichen. Es war viel kleiner, der Fernseher hatte normale Ausmaße und vor allem gab es kein Fenster. Nicht wirklich ungewöhnlich, wenn man drei Meter unter der Erde wohnte. Ohne eine Uhr hätte man hier unten nicht einmal die Tageszeit erkennen können. Die Leuchtkristalle sorgten zwar für ausreichend Licht, aber dieser Bunker war dennoch wesentlich düsterer als der Tower. Nicht dass die Dunkelheit sie gestört hätte.
 

„Hey Raven, hilf’ mir mal! Der Herd springt nicht an!“ rief Arachnia aus der Küche.

Noch bevor Raven aufstehen konnte hörte sie Blaze’ Stimme: „Warte, ich mach das schon.“

„Blaze, nein!“ schrie Arachnia entsetzt.

Raven erreichte die Küche gerade rechtzeitig um zu sehen, wie Blaze mit einem kleinen Feuerball den Herd entzündete. Arachnia, die sich in Erwartung einer Explosion hinter einen kleinen Tisch gekauert hatte, spähte aus ihrer Deckung.

„Is’ alles noch heil?“ fragte sie mit einer Mischung aus Sorge und unsicherer Verwunderung.

„Du dachtest wohl, dass ich wieder was in die Luft jagen würde?“ meinte Blaze und grinste Arachnia zu.

„Das findest du wohl komisch!?“

„Das war die Rache für den Wassereimer über der Tür. Übrigens; vielen Dank für die Gratulation zur Beherrschung meiner Kräfte.“
 

„Das will ich aber hoffen; dass du sie jetzt im Griff hast!“ Arachnia war sichtlich aufgebracht.

„Sonst hätte ich das ja nicht gemacht.“ erklärte er. „Mit kleinen Flammen geht’s. Nur an den großen hapert es noch.“
 

„Das war wirklich nicht komisch.“ mischte sich Raven ein.

„Okay, war ein blöder Scherz. Aber Arachnia hat’s verdient. Du willst gar nicht wissen, was sie schon alles angestellt hat.“
 

Zum Glück klärte sich die Situation wieder. Arachnia versuchte zwar, sich zu revanchieren, indem sie versuchte, Salz statt Zucker in Blaze’ Tee zu tun, doch Raven hielt sie davon ab.
 

Nach einer weile wurde es Raven langweilig. Arachnia hatte zwar den Fernseher eingeschaltet, doch Raven hatte kein Interesse daran. Ihre Freizeit verbrachte sie immer mit Lesen oder mit Meditation. Doch zum Lesen hatte sie keine Lust und zum Meditieren war sie zu unentspannt. Da kam ihre eine Idee: Warum schaute sie nicht einmal nach Jinx.

Wahrscheinlich lag sie gerade in ihrer Zelle und weinte. Wenn Raven Insomnia schon nicht trösten konnte, dann wenigstens sie. Aber wollte sie das überhaupt? Im Grunde war Jinx ihre Feindin. Sie hatte es doch gar nicht verdient, dass man nett zu ihr war. Und außerdem: Was fiel dieser kleinen Hexe überhaupt ein, Janus’ Mitgefühl zu beanspruchen.

„Reiß dich zusammen, Raven!“ dachte sie. „Du bist doch nicht wirklich eifersüchtig auf Jinx, oder?“

Ihr fiel ein, was Janus gesagt hatte. Auch wenn Jinx kein Unschuldslamm war: Sie war ein tief verletztes, junges Mädchen. Im Moment konnte sie niemandem gefährlich werden. Und wer weiß; vielleicht hatte sie auch eine gute Seite, die durch ihre Traurigkeit geweckt werden konnte.
 


 

Vor der Tür zu Jinx’ Zelle hielt Raven inne. Sie nahm ihr Amulett ab und teleportierte sich hinein.

In dem kleinen Raum war es sehr dunkel. Die Kristalllampe glühte nur schwach.

„Hallo.“ sagte Raven in die Dunkelheit hinein.
 

„Wer ist da?“ fragte eine ängstlich klingende Mädchenstimme hinter dem Bett. Sie ging darauf zu und sah zwischen dem Bett und der Wand eine kleine Gestalt, die in eine Decke gehüllt in einer Ecke des Raumes hockte. Eine Kette führte von der Wand dorthin, wo sie ihren Hals vermutete.

„Raven.“ antwortete sie. „Aber hab’ keine Angst. Ich werde dir nichts tun.“
 

“Warum bist du hergekommen? Um mich leiden zu sehen?“ fragte Jinx mit zitternder Stimme. Raven war sich nun sicher, dass sie weinte.

„Ich bin hier, weil ich mit dir reden möchte.“ antwortete sie. „Aber ich möchte mich nicht mit einem Wäscheknäuel unterhalten. Bitte zeig’ dich.“
 

Zögerlich streckte Jinx ihren Kopf unter der Bettdecke hervor. Sie sah schlimm aus. Ihre sonst kunstvoll geschwungenen Haare hingen herab und waren zerzaust. In ihrer Lage dachte sie natürlich nicht an Hairstyling. Unter ihren Augen hatten sich Ringe gebildet, als hätte sie schon lange nicht mehr richtig geschlafen; und das obwohl sie erst seit gestern Abend hier war. Ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus ohnmächtiger Wut und tiefer Traurigkeit.

Raven empfand ehrliches Mitgefühl für sie: Vor allem, weil sie wusste, wie Jinx sich fühlte.

Janus hatte recht. Im Moment war sie keine Verbrecherin, sondern ein trauriges, hilfloses, kleines Mädchen.
 

„Gefällt dir wohl, mich so zu sehen.“ sagte sie, während ein paar Tränen über ihr blasses Gesicht liefen.

„Nein,“ antwortete Raven wahrheitsgemäß, „du tust mir sogar leid.“
 

„Ich tue dir leid? Pah! Hast du vergessen, wer ich bin?“ meinte sie in sarkastischem Ton. “Ich bin Jinx, die Verkörperung des Unglücks und eine deiner schlimmsten Feindinnen. Weist du noch, wie wir dich und deine Freunde aus dem Tower geworfen haben. Da hab’ ich dein Zimmer durchsucht und gesehen, dass du einen echt abartigen Geschmack hast, was deine Klamotten angeht. Und das ist noch längst nicht alles.“ Sie versuchte, ein gemeines Grinsen aufzusetzen. „Du hasst mich; schon vergessen?“
 

„Dummes Mädchen.“ sagte Raven ruhig und setzte sich auf das Bett. „Da müsste schon etwas viel schlimmeres passieren, dass ich dich hassen könnte. Ich mag dich zwar nicht, aber so leicht hasse ich auch niemanden. Und es macht mich nicht glücklich, dich leiden zu sehen. Im Gegenteil; ich möchte dir helfen.“
 

„Was hast du denn geschluckt?“ fragte Jinx verwundert. Dann sah sie das Amulett. „Aha, er hält dich also auch gefangen.“
 

„Janus hält mich nicht gefangen.“ antwortete Raven. „Ich lasse meine Kräfte freiwillig blockieren, damit ich mich etwas erholen kann. Und was dich betrifft: Du solltest froh sein, dass Janus sich um dich kümmert. Wir hätten dich auch der Polizei übergeben oder einfach in dem Laden verbluten lassen können. Wo ich gerade dabei bin: Was glaubst du, wer deine Wunden versorgt hat?“
 

Jinx schaute sie verunsichert an. „Das warst du?“ fragte sie zögerlich.

Raven nickte und versuchte, so freundlich zu lächeln, wie sie konnte. „Niemand hier will dir wehtun. Wir wollen dir helfen und außerdem verhindern, dass Nightshade noch jemanden so zurichtet.“

„Erinnere mich nicht daran.“ sagte sie, wobei sie wieder in Tränen ausbrach. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper.

„Ich kriege sie nicht mehr aus meinem Kopf.“ wimmerte sie, „diese Stimme; so kalt, so böse. Sie hat sich über jeden tropfen Blut gefreut, den ich verloren hab’. Über jeden Knochen, den sie mir gebrochen hat. Sie war so schnell, dass ich sie nicht einmal sehen konnte, bevor sie traf. So grausam. Immer wieder hat sie gesagt: ‚Steh’ auf. Ich will einen richtigen Gegner. Kämpfe, du schwächliches Ding!’“

Jinx’ Zittern wurde immer heftiger und ihr Atem immer schneller. Ohne lange zu überlegen drückte Raven den Knopf des Lautsprechers. „Janus, komm’ schnell! Jinx braucht Hilfe!“ rief sie.

Was für ein Monster musste Nightshade sein, wenn allein die Erinnerung an sie eine solche Panikattacke bei Jinx auslöste?
 

Kurz darauf öffnete sich die Tür. Janus trat herein und wollte Jinx in den Arm nehmen, um sie zu beruhigen. Doch das Mädchen wehrte sich, schrie und schlug in Panik um sich. Dafür, dass sie geschwächt und ihr rechter Arm verletzt war, war ihre Gegenwehr ziemlich heftig. Schließlich bekam Janus sie zu packen. Er hielt ihren Kopf fest und langsam wurde sie ruhiger. Die Kraft wich Zusehens aus ihrem Körper, bis sie ohnmächtig zusammensackte.
 

„Was hast du mit ihr gemacht?“ fragte Raven ihn.
 

„Das nennt man Jin Shin Jutsu; die Kunst, Energieströme zu lenken. Selbst ein normaler Mensch kann durch die Berührung bestimmter Punkte am Körper diese Ströme verändern und damit einen gewissen Einfluss auf Körperfunktionen und auch auf die Psyche nehmen. Ein Übersinnlich kann damit sogar noch mehr bewirken. Indem ich einen ihrer Energieströme unterbrochen habe, wurde ihr soviel Kraft entzogen, dass sie auf der Stelle eingeschlafen ist.“ erklärte Janus, während er Jinx auf das Bett hob. „Mit dir hab’ ich das auch einmal machen müssen.“ fügte er hinzu.
 

„Ja. Ich glaube, daran erinnere ich mich.“ antwortete sie. Raven erinnerte sich noch lebhaft an ihr erstes Treffen mit ihm. Sie hatte ähnlich reagiert wie Jinx; einfach, weil sie Angst vor ihm gehabt hatte.

Sie versuchte, die Erinnerung an diese Nacht zu verscheuchen, denn es war ihr unangenehm, daran zu denken, dass sie Angst vor Janus gehabt und ihn deswegen sogar angegriffen hatte.
 

„Es ist zwar nicht gefährlich, aber trotzdem tue ich es nicht gerne. Ein gewaltsamer Eingriff in die Aura.“ murmelte er, während er die Kette von Jinx’ Halsband löste.

„Früher oder später hätte ich das ohnehin tun müssen. Ich hatte nicht vor, sie länger als eine Nacht in diesem Raum zu lassen. Schließlich hätte sie hier nicht einmal Zugang zum Bad.“ meinte er weiter. „Und es wäre einfach grausam gewesen, sie an dieser Kette vor sich hinvegetieren zu lassen. Was sollte ich den tun, wenn sie sich nicht helfen lässt?“
 

Für Raven klang es, als ob sich Janus bei sich selbst entschuldigte. Sie spürte, dass es ihm innerlich wehtat, dass er sie “mit Gewalt“ beruhigen musste, obwohl er ihr im Grunde nicht wehgetan hatte.
 

Sie sah sich Jinx’ Gesicht an. Schlafend wirkte sie so sanft und harmlos, beinahe niedlich. „Wenigstens hat sie jetzt keine Schmerzen.“ sagte sie, um Janus zu beruhigen.
 

Nun sah er sie an. „Was machst du eigentlich hier drinnen?“ fragte er.
 

„Ich dachte, dass ich vielleicht mit ihr reden könnte, um sie zu beruhigen und mehr über den Angreifer zu erfahren. Wir sind zwar nicht gerade Freunde, aber wenigsten kennt sie mich. Und in der Tat habe ich etwas möglicherweise nützliches herausgefunden: Jinx sagte, Nigthshade sei eine ’Sie’.“
 

Janus seufzte. „Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.“
 


 

Raven folgte Janus in einen Raum, der wohl eine Art Büro für ihn war. Der Raum war länglich und an den Seitenwänden standen Reihen von Regalen und Vitrinen, in denen seltsame Gegenstände lagen. Sie spürte, das jedes dieser Stücke in irgendeiner Form magisch sein musste. Vielleicht sammelte er solche Artefakte oder er verwahrte sie, weil sie gefährlich waren.
 

Janus ging zu einem großen Schreibtisch mit einem Computer darauf, der im hinteren Teil des Raumes stand und setzte sich daran. Er nahm ein Foto, welches in einem schwarzen Rahmen auf dem Tisch stand und sah es sich an. Sein Blick wurde traurig.

Dieser Anblick war für Raven ebenso unangenehm wie ungewohnt. Sie kannte Janus als vielleicht etwas hart und verschlossen wirkenden, aber dennoch herzensguten und liebevollen Jungen. Er war ein Beschützer der gequälten Seelen und damit auch ihrer. Ein Großer Bruder, bester Freund und Liebender in einer Person. Ihn so traurig zu sehen weckte in ihr ebenfalls Unbehagen.

Raven trat näher, um sich das Foto anzusehen. Es zeigte ein junges Mädchen mit langen, schwarzen Haaren. Sie trug eine Art Karateanzug und saß an einen Großen Felsen gelehnt da. Auf ihrem Gesicht waren Schweißperlen zu erkennen und sie wirkte erschöpft, aber glücklich.
 

„Das ist Sheila, meine kleine Schwester.“ erzählte Janus ihr. „Damals war ich mit ihr in den Bergen, wo ich ihr beim Training Gesellschaft geleistet habe. Sie war erst dreizehn, aber schon stärker, als ein normaler Mensch überhaupt werden kann. Es ist das letzte Foto, das von ihr gemacht wurde.“
 

„Was ist denn mit ihr passiert?“ fragte Raven, wobei sie bereits eine unheilvolle Vorahnung hatte.
 

„Nightshade ist ihr passiert.“ antwortete er. Es fiel ihm dabei sichtbar schwer, Ruhe zu bewahren.
 

„Hat Nightshade sie getötet?“ fragte sie vorsichtig.
 

„Das behauptet sie zwar oft, aber die Wahrheit ist viel schlimmer.“ Janus hielt seine Augen geschlossen, sodass Raven erwartete, jeden Moment Tränen fließen zu sehen.

„Dieses Mädchen…“ sagte er, wobei es schien, als weigerten sich die Worte, seine Lippen zu verlassen. „Dieses unschuldige kleine Wesen IST Nightshade.“
 

Diese Antwort kam unerwartet und traf Raven wie ein Schlag in die Magengrube. Vielleicht war es auch Janus’ Schmerz, den sie körperlich spürte.

Sie sah sich das Bild noch einmal genau an. Obwohl sie die Muskulatur des Mädchens unter ihrem Anzug nur erahnen konnte, strahlte allein ihr Anblick schon eine übermenschliche Kraft aus. Raven hatte noch nie erlebt, dass eine Aura sogar durch ein Foto wahrgenommen werden konnte, aber sie konnte sie deutlich spüren. Sheilas Aura fühlte sich an wie ein Wasserfall: Stark, unaufhaltsam, aber dennoch friedlich, etwas verspielt und von einer Reinheit und Schönheit, die Ihresgleichen sucht.

Dieses Mädchen hatte eine starke und reine Seele.

Obwohl Raven es, rein vom Faktor der Kraft ausgehend, durchaus für möglich hielt, dass sie Jinx ohne Probleme verprügeln konnte, weigerte sich ein Teil ihres Verstandes aber, zu akzeptieren, dass ein so freundlich wirkendes Wesen zu derartiger Brutalität fähig sei.
 

„Ich weiß, es ist schwer zu glauben.“ sagte Janus. „Ich würde es ja selbst nicht glauben, wenn ich nicht dabei gewesen wäre. Aber das Schlimmste ist, dass ich daran schuld bin, dass sie der Dunklen Seite verfallen ist. Ich habe als ihr Bruder und als Beschützer versagt.“
 

Raven legte tröstlich ihre Hand auf seine Schulter. Zwar interessierte es sie, wie Sheila zu Nightshade geworden war, aber sie wollte kein Salz in Janus’ Wunden streuen, indem sie danach fragte. Das war auch nicht nötig, denn er begann von sich aus, zu erzählen.
 

„Wir beide stammen von einer langen Linie mächtiger Zauberer ab. Nicht wenige von ihnen beherrschten sogar die schwarze Magie, so wie du. Ich dagegen bin kräftemäßig ein schwarzes Schaf. Außer Gedanken- und Gefühlsübertragung beherrsche ich kaum etwas. Und abgesehen von meinem bescheidenen Wissen über Nahkampftechniken bin ich zum Kampf nicht zu gebrauchen. Ich bin eben ein Seher und Heiler, kein Krieger. Aber Sheila hat das nie gestört. Obwohl sie immer schon viel stärker als ich war, hat sie mich als ihren Beschützer angesehen. Nicht dass sie nicht gewusst hätte, wie stark sie war; es schien ihr einfach egal zu sein. Obwohl ich so ein Schwächling bin hat sie bei mir Schutz, Trost und Geborgenheit gesucht. Es hat mich sehr glücklich gemacht, für sie da sein zu können. Wir waren unzertrennlich.

Doch Sheila war auch schon immer sehr stolz und selbstbewusst gewesen. Manchmal sogar übermütig; wie an jenem Tag, als das Unglück seinen Anfang nahm.

Sie hatte sich mit mehreren Gegnern auf einmal angelegt. Nichts besonderes; nur ein Haufen Straßenschläger. Sie ist spielend mit den meisten von ihnen fertig geworden. Doch dann wurde sie hinterrücks mit einer Art Elektroschocker getroffen. Sie verlor das Bewusstsein und wurde von der Bande entführt. Ich wusste nicht, was sie mit ihr vorhatten. Jedenfalls habe ich noch versucht, ihr zu helfen. Aber ohne Superkräfte und angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit hatte ich keine Chance.“
 

„Und was ist dann passiert?“ fragte Raven vorsichtig. Sie wusste, das Janus die Erinnerung daran wehtat, doch es würde auch nichts ändern, wenn er ihr den Rest verschwieg.
 

„Ich tat das, was ein normaler Mensch in so einem Fall tun würde: Ich habe die Polizei zur Hilfe gerufen. Wenn ich versucht hätte, sie allein zu retten, wäre ich nur wieder gescheitert. Jedenfalls fand die Polizei noch am selben Tag das Versteck der Bande; und Sheila, mehr tot als lebendig. Der Anführer der Schläger gab zu, sie nur zum Spaß gequält zu haben. Er prahlte sogar noch damit.

Zwar erholte sie sich von ihren Verletzungen, aber sowohl auf ihrem Körper, als auch auf ihrer Seele blieben Narben zurück. Als sie schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sie nicht mehr das Mädchen, das ich bis dahin gekannt habe. Sie wurde sehr still und distanzierte sich von mir, ebenso wie von allen anderen Menschen. Dafür trainierte sie nun wie besessen. Vermutlich hatte sie erkannt, dass ich sie nicht beschützen konnte und wollte noch stärker werden, damit sie niemand je wieder so misshandeln könnte. Sie hatte nicht nur in mich, sondern in alles und jeden das Vertrauen verloren, außer in ihre eigene Kraft. Und sowohl ihre körperlichen, als auch ihre magischen Kräfte verstärkten sich rapide. Gleichermaßen verschlechterte sich jedoch ihr Charakter. Sie wurde einzelgängerisch und stur, dann überheblich und schließlich grausam. Sie nutzte jede Gelegenheit um ihre Macht zu demonstrieren und nahm keinerlei Rücksicht auf ihre Gegner. Sie verlor jeglichen Respekt, verspottete jeden als Schwächling, der sie nicht besiegen konnte; und es gab wirklich niemanden, der ihrer Kraft gewachsen war. Sie wurde immer stärker und immer bösartiger. Letztendlich hatte sie auch ihren Respekt vor dem Leben verloren. Zwar hat sie bisher niemanden getötet, aber es interessiert sie auch nicht, ob jemand im Kampf mit ihr verletzt wird oder gar stirbt; nicht mal sie selbst.

Sie hatte sich in Nightshade umbenannt, weil sie die Fähigkeit hat, ihre Aura in ein zeitverzerrendes Feld zu verwandeln. In diesem kann sie sich so schnell bewegen, dass man sie mit bloßem Auge nicht mehr wahrnimmt. Sie ist wie ein Schatten: unverwundbar, unantastbar, und mit einem Herzen so schwarz wie die Nacht. Aus meiner süßen kleinen Schwester war eine Maschine geworden, die nur noch für den Kampf existiert. Sie tut das alles, weil sie nichts anderes mehr kann. Da positive Emotionen ihrer Meinung nach schwach sind, hat sie es verlernt, sie zu empfinden. Nur bei einem Sieg im Kampf fühlt sie noch so etwas wie eine Illusion von Freude. Außerdem kann sie nie mit sich zufrieden sein, weil ihre Machtgier sie dazu antreibt, immer weiter zu machen und noch stärker zu werden. Es kommt mir vor, als würde sich ihre Macht gegen sich selbst richten, wenn sie kein anderes Ziel hätte.

Obwohl sie sich als die mächtigste Magierein und Kämpferin der Welt sieht, ist sie in Wahrheit nur eine verletzte Seele in einem Körper, der zu mächtig ist, als dass sie damit umgehen könnte. Ihre Entwicklung hat sie in eine Sackgasse geführt. Vielleicht weiß sie das in ihrem tiefsten Inneren selbst, aber umzukehren hieße, einen Fehler, eine Niederlage gegen sie selbst und einen Sieg der Schwäche über die Stärke einzugestehen. Und das kann sie nicht.“
 

Plötzlich ertönte ein Piepsen aus dem Computer. Janus schaltete den Bildschirm ein. Eine Meldung erschien: „Sie haben eine E-Mail erhalten.“
 

Janus öffnete die Nachricht und las. Dabei verzogen sich sein Gesicht, wie damals, als er den Zettel bei Jinx gefunden hatte. „Nein! Das hast du nicht getan!“ schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Raven erschrak. Janus stand sofort auf, wobei er den Stuhl umwarf.
 

„Was ist passiert?“ fragte sie besorgt, doch Janus schien sie nicht zu hören. Er eilte aus dem Zimmer. Raven sah auf den Bildschirm: Die geöffnete Nachricht und ein Ausschnitt von einem Stadtplan waren zu sehen. Sie überflog die Zeilen und erschrak nochmals. „Warte, ich komme mit!“ rief sie und lief Janus hinterher.
 


 

Kurz zuvor:

Die Straßen von Gotham City waren bei Nacht einer der unheimlichsten Orte, die man sich vorstellen kann. In dieser Umgebung wurden die vergessenen Instinkte der Menschen wach. Hinter jeder Straßenecke und in jeder Gasse schien Gefahr zu lauern. Sogar die Dunkelheit der Nacht selbst schien einen zu beobachten, zu belauern. Und oftmals erwiesen sich solche düsteren Vorahnungen als zutreffend. Gotham war als Hochburg des Verbrechens bekannt und obwohl einer der größten Helden der Welt, Batman persönlich, über die Stadt wachte, war sie bei Nacht keineswegs ein sicherer Ort. Nicht nur die Instinkte, auch die dunklen Seiten der menschlichen Seele wurden hier leicht geweckt. Gotham City bei Nacht gab dem Begriff „Dschungel des Großstadt“ eine neue Bedeutung. Und Batman war nicht der einzige Jäger in diesem finsteren Revier.
 

Lautlos und schnell, als sei sie ein Teil der Dunkelheit selbst, huschte Tribal Tigeress durch die dunklen Seitenstraßen. Sie war bemüht, nicht aufzufallen, woran sie am Tag bei Leibe nicht dachte. Von Schatten zu Schatten springend, immer auf der Suche nach einem Winkel, indem ihr bizarrer Körper vor den Augen anderer verborgen blieb, bewegte sie sich vorwärts.
 

Doch Tigeress irrte keineswegs ziellos umher: Sie war auf der Jagd. Die dämonische Bestie in ihr trieb sie dazu an. Ein unmenschliches Verlangen zu schleichen, zu klettern, zu springen, sich anzupirschen und Beute zu reißen. In Nächten wie dieser befriedigte das katzenhafte Mädchen ihren Jagdtrieb. Würde sie ihn unterdrücken, würde der Dämon in ihr hervorbrechen und seine bestialischen Triebe von sich aus befriedigen; schlimmstenfalls mit dem Blut unschuldiger Menschen.

Um das zu verhindern ließ sich Tigeress von ihren Instinkten leiten; um nicht irgendwann von ihnen beherrscht zu werden.
 

Innerlich hasste sie diese Seite an sich und sie hasste es nicht weniger, sich wie ein Tier verhalten zu müssen, um nicht eines zu werden. Auch wenn sich ihr Körper verändert hatte, war ihre Seele immer noch die eines Menschenmädchens und sie hatte alle Gedanken, Gefühle und Sorgen eines solchen. Glücklicherweise verliehen ihr ihre Instinkte auch die Fähigkeit, sich zu verstecken und den Blicken der Menschen zu entgehen. Sie schämte sich unendlich ob ihres animalischen Verhaltens und war froh, das ihre Freunde sie nicht so sehen mussten.
 

Doch im Moment war ihr Jagdtrieb stärker als ihre Scham. Unter den Bürgern von Gotham City war sie den meisten nur als ein unheimliches Gerücht unter vielen bekannt. Obwohl das Mädchen mit der gestreiften Haut und den knappen Klamotten am Tag jedem sofort auffiel, - und das in einer Welt, in der es von seltsamen Wesen mit Superkräften nur so wimmelte, - hatten nur wenige bisher das dämonische Raubtier gesehen, zu dem sie in der Nacht wurde und das auf der Suche nach Beute durch die dunklen Straßen schlich.
 

„Etwas, dass nachts durch die Straßen schleicht und Ratten jagt.“ wiederholte sie in Gedanken, wobei sie sich ein fieses Grinsen nicht verkneifen konnte. Psykid hatte ja keine Ahnung, was sie auf ihren Streifzügen wirklich tat. „Die Ratten, die ich jage, haben zwei Beine, nichts gutes im Sinn und sind meistens bewaffnet.“
 

Eine bessere Lösung für ihr Problem, als ihre Kräfte und Instinkte dazu zu benutzen, gegen das Verbrechen zu kämpfen, gab es wohl nicht. Sie befriedigte die Bestie in ihr und diente gleichzeitig dem Allgemeinwohl.

Janus hatte Recht gehabt: Nicht ihr Aussehen oder ihre Kräfte, sondern ihr Handeln, Denken und Fühlen machte sie dem, was sie war: Eine exotische Teenage-Schönheit bei Tag und eine Heldin, welche mit der Macht eines Dämons gegen das Böse kämpfte, bei Nacht – auf jeden Fall aber kein unmenschliches Monster mehr.
 

Immer, wenn sie an Janus’ Worte dachte, vergaß sie schnell ihren Selbsthass. Vor fast einem Jahr hätte sie sich noch beinahe mit ihren eigenen Krallen die Kehle aufgerissen. Sie wollte nicht als Monster leben und dachte, dass der Tod die einzige Möglichkeit wäre, diesem Schicksal zu entgehen. Doch Janus hatte sie vor diesem schrecklichen Fehler bewahrt und sie sogar bei sich aufgenommen. Damals wohnte er noch in einer schäbigen, kleinen Zweizimmerwohnung und arbeitete als eine Art übersinnlicher Detektiv. Schon damals hatte er außergewöhnliche Beziehungen zur Polizei, zur städtischen Regierung und sogar zu einigen Superhelden. Doch erst nach dem Deal mit Prof. Cade, Psykids Vater, hatte er der Stadt diesen alten Bunker abgekauft und daraus das Hauptquartier der Dark Creatures gemacht. Nicht nur für sie, auch für ihre Freunde und nun für Raven, hatte er so viel getan. Er hatten Ausgestoßenen wie Arachnia und Insomnia eine Zuflucht geboten, hatte Sonderlingen wie Blaze und Psykid die Möglichkeit gegeben, gutes mit ihren im Grunde gefährlichen Fähigkeiten zu bewirken. Er hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben und sie alle trotz ihrer teilweise abstoßenden und bedrohlichen Eigenarten als Menschen und Freunde akzeptiert. Doch am meisten half er ihnen, indem er einfach für sie da war.

„Janus, du bist wirklich ein Engel.“ dachte Tigeress, als sie gerade an der Außenseite einer Feuerleite hochkletterte.
 

Auf einmal hielt sie Inne. Ein seltsames Gefühl überkam sie: Gefahr lag in der Luft. Sie konnte weder jemanden sehen, noch riechen oder hören. Es war, als würde etwas mit kalten Fingern nach ihrer Seele greifen. Tribal Tigeress spürte deutlich die Anwesenheit von etwas bösem, ganz in der Nähe.
 

„Na gut.“ dachte sie. „Da will jemand wohl Ärger mit mir haben. Wurde auch Zeit, dass was passiert.“
 

Sie zog ihre Arme angriffsbereit an den Körper, beugte ihren Oberkörper nach Vorne und lief los. Zum Sprint nahm sie immer diese seltsame Haltung ein: vermutlich eine weitere Eigenschaft ihrer tierischen Seite. Sie hatte dabei weniger Luftwiederstand und hielt mit ihrem Schwanz das Gleichgewicht.

Ohne auf die Deckung in den Schatten zu achten lief sie geradewegs auf die Quelle des Gefühls zu. Vorfreude überkam sie und ihr Mund verzog sich zu einem bedrohlichen, zähnestrotzenden Lächeln.
 

Die Beute war zum greifen nahe.
 


 

Tigeress betrat einen Hinterhof. Die Gebäude rings herum machten nicht gerade einen bewohnten, beziehungsweise bewohnbaren Eindruck. Bis auf den entfernten Lärm der Straßen war nichts zu hören. Aber genau hier musste es sein. Zwar konnte sie sich nicht erklären wie, doch sie spürte, dass jemand oder etwas in der Nähe war.
 

Auf einmal hörte sie etwas. Schritte. Jemand kam auf sie zu.
 

„Na also.“ hörte sie eine Stimme aus einer der dunklen Gassen sagen. „Genau der richtige Ort. Aber ob du hier richtig bist, musst du erst noch beweisen.“
 

„Wer bist du und was willst du von mir?“ rief Tigeress in die Dunkelheit hinein.
 

Ein verächtliches Lachen kam als Antwort. Dann sah sie eine dunkle Gestalt aus dem Schatten heraustreten. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es ein Mädchen war, etwa in ihrem Alter. Sie trug einen eng anliegenden, schwarzen Anzug, auf den dicke Lederplatten aufgenäht waren und der so an eine Art Rüstung erinnerte. Obwohl diese Mädchen nicht besonders groß war, schien sie dennoch sehr kräftig gebaut zu sein und ihre Haltung erweckte den Eindruck, als wären all ihre Muskeln ständig angespannt.

Ganz im Gegensatz dazu stand ihr Gesicht. Einzelne Strähnen ihrer langen, schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht, während sie an ihrem Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Ihre Haut war recht blass und ihre Gesichtszüge waren kindlich, beinahe puppenhaft. Sie sah Tigeress mit starrer Mine und aus zwei kalten, blauen Augen an.

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem bösen Lächeln als sie antwortete: „Ich bin Nightshade; und ich will mich amüsieren.“
 

Einen Augenblick später war sie verschwunden. Tigeress wusste nicht wie ihr geschah, als sie plötzlich einen heftigen Schmerz in der Magengegend spürte. Nur eine Sekunde nachdem sie verschwunden war tauchte Nightshade direkt vor ihr wieder auf und rammte ihr aus der Bewegung heraus das Knie in den Bauch. Tigeress krümmte sich vor Schmerzen, während ihre Gegnerin sofort wieder verschwand, nur um hinter ihr wieder aufzutauchen, ihr eine Tritt in die Kniekehle zu versetzen und sie im nächsten Augenblick von vorne mit einem Kinnhacken zu treffen, der die Halbdämonin zu Boden schickte.
 

„Was suchst du da unten?“ spottet Nightshade. „Hältst du nicht mehr aus?“
 

Tigeress richtete sich mühsam auf. Plötzlich sprang das eben noch angeschlagen wirkende Mädchen vor und zielte mit der Faust auf Nightshades Kopf, doch die löste sich sofort wieder in Luft auf. Der Schlag ging ins Leere. Noch bevor sich Tigeress versah traf sie Nightshades Ellenbogen zwischen den Schultern und sie ging wieder zu Boden.
 

„Dafür, dass du so schnell hierher gerannt bist, bewegst du dich jetzt aber ziemlich langsam.“ Meinte Nightshade mit gespielter Verwunderung.
 

„Ich bin nicht langsam.“ antwortete das Katzenmädchen gereizt. „Du bist aber verdammt schnell. Wie machst du das?“
 

„Ganz einfach: Innerhalb meiner Aura vergeht die Zeit so, wie ich es will. Ich kann mich schneller als der Schall bewegen und sehe dabei alles um mich herum wie in Zeitlupe.“ erklärte sie. „Aber jetzt verrätst du mir mal was: Du gibst nicht alles. Wenn du das volle Ausmaß deiner Kräfte nutzen würdest, hättest du vielleicht sogar eine Chance. Also, warum hältst du dich zurück?“
 

„Ich versteh’ nicht, was du meinst. Ich setze meine Kräfte so ein wie immer.“ antwortete Tigeress.

Nightshade lachte. „Glaubst du wirklich, ich kämpfe gegen ein Kätzchen, wenn ich stattdessen einen Tiger haben kann. In dir schlummert eine gewaltige Kraft.“ Tigeress ahnte, worauf sie hinauswollte. „Ich habe dich herausgefordert, weil ich gegen Chimera kämpfen will, nicht gegen dich.“
 

„Das kannst du vergessen!“ schrie sie.
 

„Du besitzt solche Macht, bist aber zu feige um sie einzusetzen. Ich fürchte mich vor nichts und niemandem und schon gar nicht vor mir selbst. Wenn du zu schwach bist, deine Kräfte in ihrem vollen Ausmaß einzusetzen, dann ist dein Schicksal besiegelt!“ Mit diesen Worten verschwand sie und tauchte vor Tigeress wieder auf. In Bruchteilen von Sekunden wechselte sie mehrmals die Position und deckte ihre Gegnerin dabei mit einem Hagel von Attacken ein. Zum Schluss versetzte sie Tigeress einen Tritt in den Bauch, so heftig, dass sie gegen die Wand eines der umstehenden Häuser geschleudert wurde.
 

Der ganze Körper des Mädchen schmerzte furchtbar und Tränen rannen aus ihren Augen. Als sie versuchte sich aufzurichten spuckte sie Blut.
 

Nightshade ging langsam auf sie zu. „Schade um dein Talent.“ sagte sie, während sie ihre verletzte Gegnerin mit einer Hand am Hals packte, sie hochhob und gegen einen Stromkasten an der Mauer drückte. „Noch irgendwelche letzten Worte?“
 

Tribal Tigeress wusste, das sie nicht mehr gewinnen konnte. Selbst wenn sie das Monster wecken würde, das in ihr schlummerte, wäre sie schon zu geschwächt, um sich noch wehren zu können. „So werde ich wenigstens als Mensch sterben.“ dachte sie, doch Nightshades Griff machte es ihr unmöglich, diese Worte auszusprechen.
 

Nightshade holte mit der freien Hand aus und platzierte ein gewaltigen Stoß mit den Handballen auf Tigeress Brust. Das Mädchen spürte, wie mehrere ihrer Rippen unter dem Aufprall brachen, bevor sie durch den Kasten direkt in die Stromleitung gedrückt wurde. Mit dem Strom fluteten entsetzliche Schmerzen durch ihren Körper. Sie stieß ein hohen Schrei aus, während Nightshade sie, scheinbar unberührt von dem Stromschlag, angrinste. Diese grausame, gefühllose Lächeln war das letzte, was Tribal Tigeress sah, bevor es schwarz um sie wurde. Als die Elektrizität abebbte, ließ Nightshade den Körper ihrer Gegnerin achtlos fallen. Zusätzlich zu ihren Kampfwunden hatte das Katzenmädchen nun auch eine schlimme Verbrennung am Rücken.

Nightshade wandte sich zum Gehen, zog dabei einen Pager aus einer Tasche an ihrem Gürtel und tippte eine Nachricht ein:
 

Hallo Bruderherz.
 

Zu meinem Bedauern muss ich dir sagen, dass deine kleines Kätzchen schlecht erzogen und noch schlechter trainiert ist. Sie hat sich mit einem großen Hund angelegt und sich dabei auch noch geweigert, den inneren Tiger rauszulassen. Ga~nz großer Fehler.

Ich schicke dir ein paar Koordinaten mit dieser Nachricht. Wenn du möchtest kannst du dort abholen was von ihr übrig ist.

Hoffentlich hält der Rest von deiner Truppe länger durch.
 

Nightshade

Noch immer unzufrieden und unbesiegt.
 


 

Nachwort zu Kapitel 3:

Die Geschichte um Raven und die Creatures neigt sich dem Ende zu und die Konfrontation mit Nightshade steht bevor. Wird es den Helden gelingen, sie zu besiegen oder werden sie alle so enden wie Jinx und Tigeress? Wird Raven ihre Kräfte rechtzeitig wieder unter Kontrolle bekommen, um sich gegen Janus’ gefallene Schwester zur Wehr zu setzen? Und wird die Liebe zwischen Janus und Raven dieser Bedrohung standhalten? Oder wird sie zerbrechen; und Raven mit ihr? Das vierte Kapitel von „Gefühlschaos“ wird euch die Antwort darauf bringen.

Eigentlich hatte ich vor, das 3. und das 4. Kapitel als eines zu schreiben. Aber ich wollte vermeiden, dass es wieder so lang wird wie das 2., daher habe ich es aufgeteilt.

Übrigens, bevor jemand danach fragt: Jin Shin Jutsu hat nichts mit Ninjutsu und schon gar nichts mit Naruto zu tun. Es gehört ähnlich wie Akupunktur und Shiatsu zur fernöstlichen Heilkunst.

Hoffentlich krieg’ ich das 4. Kapitel bald fertig. Bis dahin.
 

Euer Rokuro.
 

Empfehlung an den Hofhund. ^_^



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Ditsch
2008-09-28T10:47:16+00:00 28.09.2008 12:47
Interessant, interessant...
Mir gefällt besonders, wie du die einzelnen Charaktere ausgearbeitet und jedem eine ganz eine Persönlichkeit gegeben hast.
Allerdings war ich zwischendurch über die vergangene Zeit ein wenig verwirrt. Ich dachte, Raven und Jinx wären eine ganze Weile bei Janus gewesen, und dann hieß es auf einmal, es wäre nur ein Tag gewesen Ö.Ö

Ditsch
Von:  _Ayame_
2006-11-30T19:44:24+00:00 30.11.2006 20:44
Das vierte Kapitel wird schon das letzte sein? Eigentlich schade, dass die Geschichte schon ein Ende finden wird, auf jeden Fall hat sie mir bis hierher wirklich sehr gut gefallen. Mir gefallen vor allem die Konflikte der Dark Creatures, und auch die von Raven. (Nicht in sadistischer Weise, natürlich)
Bei Jin Shin Jutsu hab ich mich doch etwas gewundert, aber ich bin froh, dass es wirklich nichts mit der Ninja Serie zu tun hat!

Mit gemischten Gefühlen in Erwartung des letzten Kapitels:
Ayame
Von: abgemeldet
2006-11-24T13:43:26+00:00 24.11.2006 14:43
Wow...einfach nur wow...es war von allem was dabei...aw~ ich freu mich schon so auf das nächste Kappi..! (Vor allem, da du so schön und viel schreibst...)
Fettes Lob, Moorhuhn
Von: abgemeldet
2006-11-23T20:28:14+00:00 23.11.2006 21:28
^^ NICH SCHLECHT NUR ICH BIN AM MEISTEN AUF DEN KAMPF DER GESCHWISTER GESPANNT UND RAVEN MAL SEHEN WIE DER KAMPF VERLAUFEN WIRD^^


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