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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Ich erwachte am nächsten Morgen, als die Sonne noch kaum aufgegangen war. Ein rötliches Licht lag schwer auf meinen Augenlidern und ein warmes Gefühl ließ mich leicht schwitzen. Mein Arm hatte schon seit langem jegliches Gefühl verloren, ebenso wie die linke Seite meiner Brust. Ich wusste dann, wie es sich anfühlte, eine Nacht lang als Kissen gebraucht zu werden.
 

Holmes schlief immer noch und auch wenn es noch früh war und ich weit weniger Schlaf bekommen hatte, als ich gehofft hatte, wusste ich, dass es in dieser Nacht keinen mehr für mich geben würde. Der gestrige war ein Tag, der sich für immer in meine Erinnerung gebrannt haben würde. Ich hoffte, dass dieser Tag die Bürde des letzten etwas erleichtern würde.
 

Ich ließ meinen Freund dort, wo er lag und kroch in meine eigene Kammer, in der ich angeblich meine Nacht verbracht haben sollte. Ich hörte unter mir das Klappern und Plaudern von Menschen, sodass ich wusste, dass ich nicht als Erster aufgestanden war, aber aus Mycrofts Zimmer drang kein Laut, also vermutete ich, dass er nichts wusste, als das, was er glauben sollte. Das Haus selbst war kühl und friedlich, scheinbar ahnungslos, dass es heute einen Toten beherbergen sollte. Ihm fehlten die langen Schatten und die dunklen Ecken des Abends, die es so viel mehr verwunschen wirken ließen. Doch mit dem Wissen über seine Geschichte, das ich nun besaß, schien es mir seltsam, dass es nicht verwunschener wirkte als zuvor.
 

Als erstes bemerkte ich in meinem Zimmer, dass mein schwarzer Anzug aus Kammgarnstoff auf das Bett gelegt worden war. Da ich nicht einmal meine eigene Tasche gepackt hatte, (Holmes hatte das für mich übernommen), war mir auch noch nicht der Gedanke gekommen, dass ich, wenn ich es selbst getan hätte, mit meinem grauen Reiseanzug aus Tweedstoff auf einem Begräbnis recht fehl am Platz gewirkt hätte. Ich lächelte gegen meinen Willen, während ich mir ein Bad einließ. Ich war mir nicht sicher, was genau ich tun sollte. Mich selbst im siedenden Wasser zu schrubben, schien ein Anfang, aber weiter konnte ich nicht denken. Ich hatte so viel über das nachzudenken, was ich nun wusste und über die vielen Dinge, die ich immer noch nicht wusste. Der Morgen war ein Paradoxon.
 

Ich hatte vermutet, dass Haus würde in den frühen Rot- und Orangetönen des kornischen Morgens anders aussehen. Obwohl es Oktober und in London der Winter bereits hereingebrochen war, schien der Morgen hier eher wie Frühherbst. Die Luft war klar und rein, der Wind pfiff über die Heide und meine immer noch feuchte Haut. Die Moorgräser wiegten sich in der Brise und ich konnte sogar die reizbaren Rufe der Kornischen Krähe hören. Alles hätte ich leicht als neu und unbefleckt empfinden können, wenn ich es mir nur gestattet hätte.
 

Nicht ganz sicher, wohin ich gehen sollte, aber in dem Gefühl, so viel von diesem Morgen einsaugen zu wollen, wie nur möglich, begann ich den von Ulmen gesäumten Pfad genau rechtzeitig hinunter zu gehen, um eine Stimme hinter mir zu hören.
 

„Hallo, Dr. Watson!“
 

Zu meiner Überraschung war es Mycroft Holmes. Seine massige Gestalt schloss für einen so großen Mann recht schnell zu mir auf und ich versuchte mich von meiner Überraschung zu erholen, ihn aus dem Bett und dem Haus und bei so etwas Ähnlichem wie körperlicher Ertüchtigung zu sehen. Seinem Bruder zufolge waren ihm solche Prinzipien aufs Höchste zuwider. Aber ohne irgendwelche Fragen wünschte ich ihm einen guten Morgen und hielt an, um auf ihn zu warten.
 

„Sie sind zeitiger auf, als ich es erwartete hätte“, sagte der Mann, als er mich erreicht hatte. „Ich schließe also, dass Sie meinem Rat gefolgt sind und meinen Bruder überzeugt haben, Ihnen von ihm und unserer Mutter zu erzählen.“
 

„Oh…ja…ziemlich. Woher wussten Sie das?“
 

Mycroft lächelte. Es war ein sehr vertrauter Gesichtsausdruck. „Kommen Sie, gehen Sie ein Stückchen mit mir, Doktor.“ Er deutete den Weg hinunter und klopfte mir heftig auf den Rücken. „Er muss offensichtlich zurückgekommen sein, wie ich es Ihnen versichert hatten, denn ansonsten hätten Sie mich augenblicklich gebeten, Ihnen bei der Suche nach ihm zu helfen. Was hat Sherlock Ihnen erzählt?“
 

„Die Wahrheit“, sagte ich, ohne wirklich darüber nachzudenken, was das bedeutete. War es die Wahrheit? Wenn Mycroft es mir erzählt hätte, hätte es dann denselben Effekt gehabt? Oder war es ersonnen, um mein Mitgefühl zu erschleichen…besonders angesichts der Tatsache, dass er mein Mitgefühl zu jener Zeit sicherlich gebraucht hatte? Aber auch wenn ich fürchtete, dass ich immer noch dabei war, herauszufinden, wozu er fähig war – sowohl im Guten wie im Schlechten – musste ich mir eingestehen, dass sicherlich keine solche Kindheit erdichten würde. „Ich kann nun verstehen, warum ihm der Tod euerer Mutter keinen Schmerz bereitete. Warum niemand einschritt, um sie aufzuhalten, kann ich allerdings nicht verstehen.“
 

Mycroft schnaubte. „Ich sehe nun, dass genau das eingetreten ist, was ich vorhergesehen habe. Manipulation war schon immer die größte Stärke meines Bruders.“
 

Ich blieb augenblicklich stehen. „Wie bitte?“, sagte ich zu ihm. „Wollen Sie damit andeuten, dass er mich manipuliert? Ich sage Ihnen, dass das wirklich ungerecht von Ihnen ist!“
 

„Oh, kommen Sie, Dr. Watson! Sie mögen denken, dass Sie das Monopol auf meinen Bruder besitzen, aber Sie dürfen niemals vergessen, dass ich ihn schon weit länger kenne! Ich weiß, dass seine Lebensart – in allen Bereichen seines Lebens – sehr narzisstisch ist. Er vergisst, dass es noch andere gibt, die Bedürfnisse haben, andere die dieser Welt dienen, sogar andere, die leiden!“
 

„Ich würde sagen, Sir, dass egal welchen Schmerz Sie über den Tod eurer Mutter empfinden, dieser nicht einmal annähernde an den Schmerz heranreicht, den er momentan empfindet und seit dem Tag empfunden hat, als er geboren wurde!“
 

Sein Gesicht begann jene Farbe anzunehmen, an der ich mich noch vor wenigen Momenten erfreut hatte. „Und ich will, dass Sie wissen, Sir, dass es, auch wenn ich das Verhalten meiner Mutter meinem Bruder gegenüber nicht billige oder ich den gewaltigen Schmerz unterschlagen will, den Philippas Tod erzeugte, völlig ungerecht ist, dass Sie auch nur andeuten, er wäre der Einzige, der darunter leidet!“
 

„Wovon in Gottes Namen sprechen Sie überhaupt?“
 

Er hielt inne und sah mir mich mit einem Blick an, der auf misstönende Art unerträglich war. „Es war nicht meine Absicht, dies zu meiner Geschichte zu machen“, sagte er in einer langsamen Art der Rede, die sehr un-holmesisch war. „Denn egal welches Vertrauen mein Bruder entwickelt haben mag…nun, das soll keine Beleidigung sein, ich kenne Sie als einen Gentleman, dem man Vertrauen gegenüber bringen kann, aber das ist nicht meine Art. Seit so langer Zeit hängen mein Leben und meine Karriere von Diskretion ab. Aber Jane…liebe, süße Jane…niemand konnte es wissen…“
 

Die herrliche Rose stand rein und vollkommen vor ihm. Mycroft wusste, dass es angesichts seiner selbst mit siebzehn und ihr mit sechzehn noch mehrere Jahre bis zur Hochzeit dauern würde. Er würde zuerst auf die Universität gehen, die Welt durch die Straßen von London kennen lernen und dann würde er entweder nach Cornwall zurückkehren und Grundbesitzer werden oder ein anderes ruhiges Leben aufnehmen. Er und Jane würden mehrere Kinder großziehen und er würde ein Leben ohne Unterbrechungen führen können. Er hatte immer schon angenommen, dass seine Berufung in der Regierung lag – ein niederer Posten zuerst, aber später das Parlament. Sein Verstand war dafür geschaffen.
 

Aber nun nicht mehr. Ihre sanfte Stimme und lilienweiße Haut…er sah sein Leben vor sich ausgebreitet. Es war herrlich.
 

Ein heftiger Stoß in seine Rippen ließ Mycroft zusammenzucken und er drehte sich langsam zurück zum Vikar, wobei er der die raubvogelartige Allwissenheit seiner Mutter zu meiden suchte. In der Kirchenbank der Davies lenkte eine ähnliche Geste die Aufmerksamkeit von Jane Davies ebenfalls zurück auf die Predigt. Mycroft schluckte schwer, aber es war ihm sowohl körperlich als auch geistig unmöglich sich auf das weitschweifige Gerede über Römer, das, so schien es, kein Ende nehmen wollte. Die wunderschöne Gestalt der Einzigen, die er jemals lieben würde, hörte nicht auf, vor seinem geistigen Augen zu erscheinen.
 

Es war unvorstellbar. Mycroft Holmes verliebt? Ich konnte ihn mir nicht einmal als jungen Mann vorstellen und schon gar nicht als einen von der gewöhnlichen lüsternen Sorte. „Ich muss zugeben, dass ich die Verbindung nicht sehen kann“, sagte ich zu ihm. „Was hatte der Tod eurer Schwester…“
 

„Jane war die Schwester von James Davies“, unterbrach er mich. „Dem Ehemann meiner Schwester. Als Philippa starb, beschuldigte meine Mutter…nun, sowohl sie als auch mein Vater gaben Davies die Schuld an ihrem Tod, auch wenn die Unvernunft daran natürlich offensichtlich ist. Es wurde mir verboten, Jane jemals wieder zu sehen oder ich würde alle Familienbande verlieren…das ist etwas, was man mit siebzehn kaum erwägen kann. Wäre ich heute der derselbe…“, er hielt inne und wir setzten unseren Spaziergang fort, dieses Mal in Schweigen, zurück zum Anwesen. Ich hatte das Gefühl, als sollte ich ihm mein Beileid aussprechen, aber ich wusste, dass es, wenn ich es täte, abgedroschen und herablassend klingen würde und so sagte ich nichts. Ebenso wenig wie Mycroft, der mittlerweile ein oder zwei Schritte zurückgefallen schien, zumindest bis wir den Innenhof zwischen den beiden Flügeln erreichten. Plötzlich packte er mich am Arm und streckt die Hand aus.
 

„Sehen sie nach Norden, Doktor. Sehen Sie diesen Erdhügel in der Ferne? Sie können ihn wirklich kaum übersehen, gleich hinter der Heide?“
 

„Ja“—
 

„Er wird Brown Willy genannt. Er ist 1377 Fuß hoch, der höchste Punkt in ganz Cornwall. Als wir noch Kinder waren, erzählte er mir einmal, dass er hinaufsteigen und dort leben wollte, wenn er erwachsen wäre. Er sage immer, dass er zu hohen Orten wollte…wahrscheinlich, um die Welt von oben zu betrachten. Die Ironie dabei ist, dass er es ist, der alle anderen auf Podeste stellt. Alle einschließlich sich selbst. Ich sorge mich bis zum heutigen Tag, wie seine Beurteilung wohl ausfallen wird.“ Er blickte mich ernst an und einen Moment lang fühlte ich mich zurück in der Schule mit einem strengen Meister. „Vergessen Sie das nicht, Sir.“
 

„Sorgen Sie sich über seine Beurteilung über sich selbst oder über Sie?“
 

Mycroft lachte leise, obwohl ich darin nichts Amüsantes erkennen konnte. „Ich sehe die Welt auf eine gänzlich andere Art, als mein Bruder. Die Menschen sind schwarz und weiß, bestehen aus Statistiken und Daten. Sie existieren nur in der Ferne. So überlebe ich. Aber Sherlock ist anders und ist es auch schon immer gewesen. Unglücklicherweise für meinen Bruder sieht er die Menschheit nicht in Grautönen sondern im ganzen Spektrum. Ich schätze, es kann nicht leicht sein, die Welt auf diese Art zu sehen, von Dämonen umgeben – sowohl äußeren als auch inneren. Deshalb ist es wichtig, dass er Sie hat…einen Gefährten, der diese Bürde mit ihm teilt.“
 

„Ja…ich weiß.“
 

„Sie werden darauf Acht geben, dass Sherlock heute Morgen erscheint? Ich zähle auf Sie, Doktor.“
 

„Natürlich.“
 

„Dann muss ich noch Vorbereitungen treffen…danke, dass sie mir zugehört haben, Dr. Watson. Ich will, dass Sie wissen…“, er hielt mit gerunzelter Stirn inne, solche Erklärungen waren diesem Mann ganz offensichtlich nicht sehr vertraut. „Dass ich von Ihnen als einem großartigem Mann denke. Und außerdem, sollten Sie jemals das Bedürfnis haben, das zu erfahren, von dem ich fürchte, dass Sherlock es Ihnen niemals erzählen wird, dann würde ich Ihnen vorschlagen, dass Sie einen gewissen George Lestrade von Scotland Yard aufzusuchen.“
 

„Was…Lestrade! Was meinen Sie damit?“
 

„Nur dass es einen Fall gibt, denn meine Bruder niemals aufnehmen wird…und deshalb denke ich, dass wenn sie mit diesem Lestrade sprechen würden, er Ihnen von gewissem Nutzen sein könnte.“ Er beuge leicht den Kopf und machte sich zum linken Flügel des Anwesens auf. Er schien der Meinung, er hätte etwas aufgeklärt, anstatt alles noch verwirrender zu machen.
 

Der Hochzeitstag war etwas, von dem selbst der zehnjährige Sherlock nicht erwartete hätte, es mit anzusehen. Es geschah im Heim der Braut, wofür er dankbar war. Er glaubte nicht, dass es ihm in einem fremden Haus gelungen wäre, verschiedenen Verwandten auszuweichen.
 

Er würde sich in seinem Zimmer eingeschlossen haben oder noch besser in der Heide mit seinen eigenen Gedanken verschwunden sein, wäre es ihm gestattet worden, aber Gertrude hätte so etwas niemals akzeptiert. Philly hatte sich gewünscht, dass er an der Zeremonie selbst teilnehmen würde, dass er mit ihr als ihr Page den Mittelgang entlanggehen und ihre Schleppe halten würde, aber er hatte sich geweigert. Ihren Verlust von einem harten Holzstuhl aus zu erleiden, war eine Sache, aber selbst and der Gräueltat mitzuwirken, eine ganz andere. Jane Davies stand neben ihr und Mycroft war trotz seiner siebzehn Jahre bereits Trauzeuge.
 

Sie war so wunderschön. An jenem Tag so wunderschön. In einem Kleid aus weißem Organdy und mehreren Yard weißer Spitze; ihre Schleppe zog sich Meilen und Meilen hin und ein dünner Schleier bedeckte ihr Gesicht. In ihren Händen hielt sie ein Bouquet aus orangen Blüten, der einzige Farbklecks auf einer ansonsten schneeweißen, jungfräulichen Göttin. Aber wenn sie eine Göttin war, dann war es keine wunderschöne weiße, die Sherlock sah. Sie war wie Artemis. Die Schutzherrin der Wälder und der Kinder, eine Jägerin mit silbernen Pfeilen. Das war seine Schwester.
 

Sie wiederholten die Schwüre, die sie verbinden würden, solange sie beide lebten und Sherlock wurde mit einem Male übel. Aber er wusste es besser, als mitten in der Zeremonie hinauszustürzen. Der Zorn seiner Mutter würde angesichts einer solchen Beleidigung gewaltig sein, also saß er völlig ruhig auf seinem Stuhl, erstickte äußerlich in seinem Samtanzug und innerlich ebenso. Genauso wie wenn er im Raucherzimmer seines Vaters war. Wenn er sich nur genauso verstecken konnte.
 

Philippa und James waren nun damit fertig, einander ihre Leben zu verschwören und ihr Schleier wurde gelüftet. Der Vikar rief das Paar aus und James lehnte sich mit einem leichten Lächeln zu ihrem Mund.
 

Er konnte es sich nicht vorstellen. Alle Gäste hatten sich erhoben, um Reis auf das neue Paar zu werfen, als sie die Kapelle verließen. Philippa war nicht ganz so glücklich, wie sie aussah. Ihre Handschuhe waren verdreht und ihr Lächeln war nicht aufrichtig. Auch wenn sie eigentlich nicht zu ihrer Familie sehen durfte, während sie und ihr Ehemann das Gebäude verließen, warf sie einen verstohlenen Blick in seine Richtung. [1] Er wusste, dass sie an diesem Morgen abgelenkt gewesen war. Er redete sich selbst ein, dass er nicht wusste, was sie abgelenkt hatte, aber es war eine Lüge. Er wusste, dass sie sich über ihn ärgerte.
 

Es war spät an jenem Nachmittag nach der Zeremonie[2], nach dem Tanzen und dem Essen, als Philippa hinauf ins Zimmer ihres Bruders kam. Mr. und Mrs. James Davies würden sich bald zu ihrem neuen Heim im Osten von London aufmachen, nachdem sie zwei Wochen im Süden von Frankreich verbracht haben würden. Wie die Holmes’ waren die Davies’ nicht vermögend, hatten aber genügend Geld, um gut zu leben. Und es schien, dass ihr einziger Sohn und die einzige Tochter der Holmes’ ein wundervolles Paar sein würden. Nicht einmal Gertrude konnte an jenem Tag Widerspruch einlegen. Keiner würde es wagen, die Zukunft des glücklichen Paares anzufechten. Keiner außer Sherlock.
 

Sie trug immer noch das Kleid. Aber der Junge hatte seinen grässlichen Samtanzug bei der ersten passenden Gelegenheit ausgezogen. Er wollte sie nicht sehen. Das war, was er sich selbst einredete. Aber er wusste, dass sie kommen würde. Es war die offensichtlichste Sache auf der ganzen Welt.
 

„Du hast mich gemieden“, sagte sie, nachdem sie sich wortlos neben ihm auf das Bett gesetzt hatte. „Wir haben seit Tagen nicht mehr gesprochen…oder ist es schon länger? Seit die Verlobung bekannt gegeben wurde? Ich kann mich kaum noch erinnern.“
 

„Du übertreibst. Wir haben miteinander gesprochen.“
 

„Nicht so wie früher…bitte, Sherlock.“
 

„Nein!“ Er sprang auf die Füße und floh ans Fenster. Sie würde seinen Ärger dazu bringen, zu verfliegen. Und er wollte nicht, dass sein Ärger verflog. Er hielt ihn am Laufen. Er würde ihn während dieser Katastrophe aufrecht halten.
 

„Liebling…“
 

„Nein! Ich verstehe schon.“ Das tat er natürlich nicht, aber es war eine einfache Lüge. „Es ist das, was von dir erwartet wird, nicht wahr? Zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ich weiß, dass das die Aufgabe einer Frau ist. Und…du bist nun eine Frau…also wird von dir erwartet, dass du heiratest. Es ist absolut logisch.“
 

Ihre Hand war nun auf seiner Schulter. Sie bewegte sich lautlos, so wie er. Er hatte sie bis zu dieser Sekunde wirklich nicht bemerkt. Es war das erste Mal, dass der Junge darüber nachdachte, wie ähnlich sich die beiden waren. Im Stillen verglich er oft sich selbst mit Mycroft. Das machte irgendwie mehr Sinn. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass seine Schwester – ein Mädchen – irgendetwas mit ihm gemeinsam haben würde. „Nur weil etwas logisch ist, musst du es nicht tun, Liebling. Es ist in Ordnung, wenn du traurig bist.“
 

„Blödsinn!“
 

„Sherlock!“
 

Er konnte sich nicht umdrehen, denn er hatte Angst, dass er, wenn sie weinen sollte, alle vorgegebene Logik direkt aus dem Fenster werfen würde. Die eigenen Gefühle zu beherrschen, war lebenswichtig, um erfolgreich zu sein. John Locke hatte gesagt, dass die Vernunft bei allem der Führer sein musste. Gefühle führten zu Verrat und Verrat führte zu dem, war er in eben jenem Moment fühlte.
 

„Lass mich einfach in Ruhe, Philly“, sagte Sherlock schließlich. „Verschwinde mit Davies, und schöne Erlösung.“
 

„Du meinst das nicht so. Ich weiß, dass du das nicht so meinst.“
 

„Das tue ich sehr wohl!“ Er starrte sie finster an, aber konnte das Blei fühlen, das in seinen Magen kroch. „Ich bin kein kleines Kind mehr! Ich brauche dich nicht! Du kannst verschwinden und deinen eigenen Kinder haben!“
 

„Mein kleiner Liebling…“ Sie versuchte ihn zu umarmen, aber es war vorbei. Das würde es nicht mehr geben. Nie wieder. Vielleicht würde er sich entschuldigen oder vielleicht würde sie es tun, dafür, dass sie ihn verlassen hatte. Aber Sherlock wusste, dass sie niemals mehr die Gleichen sein würden. Sowohl Bruder als auch Schwester wussten es.
 

„Ich hoffe, du wirst nach London kommen und mich besuchen, Sherlock“, sagte Philippa mit einer Stimme, die nicht ihre eigene war. „Wir werden schon in zwei Wochen zurück sein, aber ich werde begierig sein, dich zu sehen.“
 

„Vielleicht.“
 

Sie ging leise zur Tür. „Auf Wiedersehen, Liebling.“ Sie schloss sich hinter ihr.
 

Und zum ersten der zwei Male in seinem Leben brach Sherlock völlig zusammen.
 


 

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[1] Eine Tradition bezüglich Pech aus dem viktorianischen England.
 

[2] Vom Gesetz her musste bis 1880 Hochzeiten in England vor zwölf Uhr Mittag geschlossen werden. Ein Beispiel davon finden wir in Ein Skandal in Böhmen mit Irene Adler und Godfrey Norton.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2007-03-30T18:12:59+00:00 30.03.2007 20:12
Hi ich wollte nur sagen, wieder ein wunderbares Kapitel. Hm der arme Holmes, jetzt verliert er auch noch seine Schwester. Hm hoffentlich geht es bald weiter. glg Sarah-sama


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