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Zerrissene Herzen

von

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Wie alles begann...

Zerrissene Herzen
 

~*~ Prolog ~*~
 

Schon wieder dieses Geschrei. Mittlerweile war es jeden Abend das Gleiche, jede Nacht die wütenden, lauten Stimmen. Jede Nacht, wenn sein Bruder und er im Bett lagen, fingen ihre Eltern an zu streiten.

/Ob das irgendwann noch einmal aufhört?/

Sein Vater schrie irgendetwas und Andre presste die Hände auf die Ohren. Er wollte das nicht hören, nicht, wie seine Eltern lautstark miteinander stritten, sich Anklagen an die Köpfe warfen. Er wollte nicht, dass sie sich vielleicht sogar scheiden ließen.

Mit seinen 15 Jahren hatte er schon von genügend Paaren gehört, die sich nach ein paar Jahren Ehe scheiden ließen, sodass er wusste, auch bei ihren Eltern bestand durchaus diese Gefahr.
 

Schnell stand er auf, knipste bei sich im Zimmer das Licht aus und huschte, nur in Shirt und Boxershorts, über den Flur zum Zimmer seines Bruders.

Leise klopfte er an und öffnete dann die Tür.

"Mark? Bist du noch wach?"

Schon immer war er zu seinem Bruder ins Zimmer gekommen. Früher, wenn er vor Gewittern oder Monstern im Schrank Angst hatte, und jetzt, wenn ihre Eltern sich stritten. Dann fühlte er sich nicht mehr so allein.
 

~*~
 

So, das war jetzt wohl die gute Vase gewesen.

Genervt starrte Mark an seine Zimmerdecke, während zum wiederholten Male der Film vor seinem inneren Auge ablief. Seine Mutter, weinend zusammengesunken auf dem Sofa und sein Vater, wie ein Verrückter brüllend daneben.

Das würde wohl nicht mehr lange gut gehen!

Eine Scheidung wäre wohl das Beste, vor allem für Andre, er konnte die ganzen Streitereien nicht länger durchstehen. Ihre Eltern streiten zu hören machte ihn völlig fertig.
 

Mark drehte sich auf die Seite und zog seine Beine an.

Es sollte wirklich ein Ende haben...

Mit aller Kraft versuchte er das Geschrei und die immer wiederkehrenden Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Gleich würde Andre kommen... gleich, er wusste es ganz genau.
 

Wieder wälzte er sich auf die andere Seite, beschloss dann aber doch aufzustehen. In diesem Haus konnte sowieso keiner mehr schlafen.

Er trat zum Fenster und ließ die kühle Nachtluft in sein Zimmer. Wo blieb Andre nur?

Mark schnappte sich seine Zigaretten, zündete sich eine an und setzte sich mit seinem Kopfkissen im Rücken auf die Fensterbank. In naher Zukunft würde sich hier vieles ändern, die Fassade einer glücklichen Familie konnten sie nicht länger aufrechterhalten.

Wenn ihre Eltern jetzt auch noch über sie Bescheid wüssten, wäre wahrscheinlich gar nichts mehr zu retten.

Das Ende ihrer Familie.
 

Mark zog einmal tief an seiner Zigarette, inhalierte den Rauch.

Er musste sich selber eingestehen, dass er gerne seinen Eltern die Schuld geben würde, aber das entspräche einfach nicht der Wahrheit. Mit jedem einzelnen Kuss zerstörten sie die Familie genauso wie jeder Streit ihrer Eltern, mit dem einzigen Unterschied, dass sie von den lautstarken Auseinandersetzungen wussten, ihre Eltern jedoch nichts von der Beziehung ihrer Söhne.

Wenn Andre das klar wäre, würde er vor lauter Gewissensbissen wohl keine Nacht mehr schlafen können. Aber es war ihm anscheinend noch nicht klar.
 

Mark lächelte, als er Andres Tür leise auf und wieder zugehen hörte.

Da war er ja endlich!

Er schnippte die Zigarette aus dem Fenster und wandte sich der aufgehenden Tür zu, hörte das leise Flüstern seines Bruders und antwortete mit einem "Hallo, Kätzchen!".
 

Schnell trat Andre ins Zimmer, schloss die Tür wieder hinter sich und flüchtete sich in die Arme seines Zwillingsbruders.

"Sie streiten sich schon wieder, Mark!" Unglücklich vergrub er das Gesicht in Marks Halsbeuge, presste sich trostsuchend an ihn.

Obwohl sie eigentlich eineiige Zwillinge waren und äußerlich fast kaum zu unterscheiden, so waren sie von Charakter her doch grundverschieden.
 

Beruhigend schloss Mark seinen Bruder in die Arme und streichelte über dessen Rücken. Wie konnte ein 15-Jähriger bloß noch so kindlich sein? So verträumt und naiv?

Mark verbiss sich eine gehässige Bemerkung, drückte Andre einfach auf sein Bett und kniete sich vor ihn.

Der Kleine war viel zu sensibel und naiv, um das langsame Zerbrechen ihrer Familie wirklich verstehen oder gar ertragen zu können. Er konnte ja noch nicht einmal alleine in seinem Bett schlafen, wenn sie sich stritten.

Andre musste beschützt und getröstet werden wie ein kleines Kind.
 

Aber Mark war eben nicht seine Mama!

Plötzlich breit grinsend berührte er leicht Andres Wange, fuhr langsam mit den Fingerspitzen über den Hals, das Schlüsselbein, strich dann über die vom T-Shirt verdeckte Brust, malte kleine Kreise und wanderte weiter nach unten bis zum Bund der Shorts.
 

Sofort, als Andre die beschützenden Arme seines Bruders spürte, fühlte er sich wieder wohler und geborgen. Wenn er bei ihm war, fühlte er sich immer besser.

Er realisierte kaum, wie Mark ihn auf das Bett drückte. Erst, als er die Hände auf seiner Brust spürte, die langsam tiefer wanderten, und das Grinsen sah, merkte er auf und blickte verstört hoch.

"Was...?"
 

"Du weißt doch, wie so was geht, Kätzchen. Das hast du doch schon tausendmal unter Beweis gestellt."
 

"Was meinst du?", fragte Andre verwirrt.

Der Stimmungsumschwung seines Bruders ging ihm irgendwie zu schnell. "Ich soll wissen wie was geht?"
 

"S.E.X!" Mark kam näher und flüsterte seinem Bruder das Wort buchstabierend ins Ohr. "Weißt du jetzt, was gemeint ist, oder brauchst du noch eine kleine private Sondervorstellung, damit dir endlich wieder einfällt, wovon ich rede?" Schnell zog er mit seinen Zähnen an Andres Ohr, neckte ihn und ließ seine Hände erneut unter sein T-Shirt gleiten.
 

Bei Marks Berührung lief Andre sofort ein Schauer über den Rücken und er lehnte sich unweigerlich weiter zurück.

"Sex? Aber ich wollte eigentlich...", doch ein lockender Kuss von Mark ließ ihn augenblicklich verstummen.
 

Schnell zog Mark Andre sein T-Shirt über den Kopf, schmiss es dann achtlos in eine Ecke. Vorsichtig streichelte er über den Bauch seines Bruders, während er zärtlich über Andres Hals küsste. Neckend biss er leicht hinein und ließ seine Hände immer wieder in Andres Shorts gleiten, zog sie aber sofort wieder zurück als er das Aufstöhnen seines Bruders vernahm.

So leicht würde er ihm nicht davon kommen! Mark ignorierte, dass Andre sich immer wieder mit seinem Becken gegen seine Hände drückte und küsste ihn stattdessen fordernd.
 

Andre seufzte und ließ sich fallen. Marks Berührungen machten ihn immer völlig willenlos und er genoss es, wie die Hände seines Bruders über seinen Körper strichen, ihm ein Kribbeln durch den Körper schickten.

"Glaubst du, sie werden sich wieder vertragen?", flüsterte er leise und schloss die Augen. Den Gedanken, seine Eltern könnten sich vielleicht trennen, konnte er einfach nicht aus seinem Kopf verbannen. Ihre gesamte Zukunft hing davon ab.
 

"Glaubst du nicht, dass es ein abnormales Verhalten ist, im Bett an seine Eltern zu denken? Oder macht dich das an?! Wenn es nämlich so ist, kannst du sofort wieder zurück gehen!" Sichtlich genervt ließ Mark wieder von seinem Bruder ab und legte sich neben ihn auf das Bett.

Heute war aber auch wirklich sein absoluter Glückstag! Es war ja klar, dass Andre nicht loslassen konnte. Er konnte anscheinend nicht einfach Sex haben, genießen und vergessen. Nein, vorher musste er ja noch die Eheprobleme seiner Eltern erläutern!
 

"Mark, es tut mir Leid." Schnell drehte er sich so, dass er sich über seinen Bruder beugen und ihm ins Gesicht sehen konnte. "Ich will doch gar nicht daran denken, aber... ich habe Angst, dass sie sich scheiden lassen... Aber das heißt doch nicht, dass ich nicht mit dir... also ich meine... Ich will hier bleiben!" Damit umarmte er Mark und drückte sich ganz fest an ihn. "Bei dir..."
 

Besorgt schaute Mark seinen Bruder an und strich ihm beruhigend über die Wange.

"Mach dir nicht so viele Sorgen, Kätzchen. Selbst wenn sie sich trennen werden, wirst du nie allein sein, versprochen!" Seine Wut war blitzartig wieder verraucht, schließlich hatte er nichts anderes von Andre erwartet. Er nahm sich eben alles zu Herzen. Jedes einzelne Wort, jede einzelne Geste.

Andre war der Ängstliche der beiden, er schrie geradezu nach Hilfe und Schutz.

Mark zog die Decke über sie und kuschelte sich wieder an seinen Bruder, nahm ihn einfach in seine Arme. Er würde immer für ihn da sein. Andre konnte ohne ihn doch gar nicht, und Mark nicht ohne Andre!
 

/Selbst wenn sie sich trennen... werde ich nie allein sein.../

Sofort fühlte sich Andre wieder besser.

Ganz zart strich er über Marks Brust, schaute ihm tief in die braunen Augen und hauchte ihm dann einen liebevollen Kuss auf den Mund.

"Ich liebe dich...", wisperte er und vertiefte dann den Kuss, ließ Mark jedoch nicht aus den Augen.

Wenn Mark sagte, er würde nie alleine sein, dann glaubte er ihm.
 

"Ich liebe dich auch, Kätzchen!" Mark genoss den Kuss und schaltete ab.

/Hätten wir das also auch geklärt.../

Vorsichtig drückte er Andre wieder an sich, versuchte aber diesmal langsamer vorzugehen. Andre schien heute doch wirklich sehr verstört. Wenn er sich auch noch im Klaren wäre, was er da tat, wäre es vermutlich ganz vorbei. Seinen eigenen Bruder zu lieben und auch noch mit ihm zu schlafen, würde vermutlich die meisten Familien zerstören. Wie gut, dass Andre anscheinend so weit nicht denken konnte.
 

Mit geschlossenen Augen küsste Mark ihn erneut und ließ langsam seine Hände hinunter zu Andres Po wandern, verharrte dort ein wenig und begann dann ganz leicht ihn zu massieren. Mark ließ den Kuss nicht enden, verwickelte seinen Bruder immer wieder in ein neues Spiel.
 

Genau, es würde wieder alles gut werden! Mark liebte ihn, er liebte Mark, und ihre Eltern würden sich auch wieder vertragen. Ganz bestimmt!

Leise aufstöhnend drückte Andre sich seinem Bruder entgegen und schlang ihm die Arme um den Hals, während ihre Zungen noch immer in ein heißes Duell verwickelt waren, und schob einfach die unschönen Gedanken so gut es ging beiseite.
 

~*~
 

Schwerfällig stapfte ihr Vater die Treppe hoch. Der Streit war laut und höchst emotional verlaufen und er hoffte inständig, dass ihre Zwillinge nichts mitbekommen hatten. Für Andre würde es sonst wieder in einer Katastrophe enden. Der Junge war viel zu ängstlich und sensibel.

Er versuchte leise über den Flur zu huschen, überschritt dabei sogar extra eine Diele, die sonst wahrscheinlich so laut geknarrt hätte, dass die Jungs aufgewacht wären. Vorsichtig drückte er die Klinke zu Andres Zimmer herunter, öffnete die Tür einen Spalt und schaute in das dunkle Zimmer.

Er schlich sich näher an das Bett heran, um seinen Sohn noch einmal zuzudecken. Nagende Gewissensbisse veranlassten ihn dazu, denn er wusste genau, wie sehr Andre die ganze Situation belastete. Er musste wenigstens zeigen, dass er immer für seinen Sohn da wahr und bei nächster Gelegenheit mit Eva sprechen, um den Streit ein für allemal beizulegen oder endgültig einen Schlussstrich zu ziehen.

Die Jungs durften nicht darunter leiden, das hatten sie nicht verdient.
 

Er streckte schon die Hände aus, um die Decke hochzuziehen, als er endlich merkte, dass das Bett vollständig leer war. Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen.

Wo war Andre? Schnell schaltete er das Licht ein und schaute sich im Zimmer um. Vielleicht war er ja auf der Toilette oder sogar bei Mark. Schlagartig wurde ihrem Vater bewusst, dass Andre dann also doch ihren Streit gehört hatte und bevor er sich versah, war er auch schon wieder über den Flur zu Marks Zimmer unterwegs.

Er hoffte inständig, dass seine Zwillinge beide schliefen und Andre aus irgendeinen anderen Grund zu seinem Bruder gegangen war. Leise öffnete er die Tür und schaute in das Zimmer.
 

Das erste was er sah, waren zwei Gestalten unter einer Decke, das zweite, was er wahrnahm, war der Kuss. Er zwinkerte ungläubig, erstarrte aber Sekunden später zu einer Salzsäule, als ihm klar wurde, was das bedeutete.

Das waren seine Jungs, seine Zwillinge, die sich da küssten! Das konnte doch gar nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein!
 

Nur am Rande bekam Andre mit, dass sich die Tür zu Marks Zimmer öffnete, achtete jedoch nicht weiter darauf. Viel lieber konzentrierte er sich auf Marks Finger, die begehrlich über seine Haut strichen und dessen Mund, der seinen gefangen hielt.

Leise seufzte er und streichelte mit seiner Hand über Marks Wange.
 

Ihr Vater begann vor Entsetzten zu schreien.

Das... das war pervers! Abartig! Eklig! Er sprang zum Bett hin und bevor es Mark oder gar Andre bemerken konnte, riss er auch schon die Decke weg. Völlig apathisch schaute er auf die halbnackten Körper, die immer noch aufeinander lagen. Instinktiv vermutete er, dass es nicht das erste Mal sein konnte, so wie die beiden sich da berührten.

Es war nicht das erste Mal, dass seine Söhne, seine Jungs sich küssten oder - wer weiß - sogar noch weiter gingen.

Allein bei dem Gedanken wurde ihm übel, aber gleichzeitig stieg auch eine bis dahin völlig unbekannte Wut in ihm auf. Blitzartig packte er Mark, der bis dahin immer noch nicht ganz verstanden hatte, was eigentlich los war, riss ihn von seinem Bruder herunter und schleuderte ihn gegen die Zimmerwand. Wutentbrannt schaute er auf Mark herunter, holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
 

Völlig erschreckt schoss Andre hoch und konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Mark von ihm heruntergerissen wurde. Gerade noch bemerkte er, wie sein Bruder gegen die Wand geschleudert wurde und ihr Vater ihm eine Ohrfeige verpasste.

Moment... Ihr Vater?!

Er stieß einen halb erschreckten, halb verzweifelten Laut aus und wollte aufspringen, doch sein Vater kam nun auf ihn zu und hielt ihn zurück.

"Was...?"
 

Sein Vater holte aus und schlug nun auch Andre ins Gesicht. Rasend vor Wut krallte er seine Finger in die Schulter seines Sohnes, weil dieser nach dem heftigen Schlag bereits zu taumeln begonnen hatte. Grob hielt er ihn somit oben, nur um noch einmal zuzuschlagen. Der nächste Schlag war noch fester als der erste und ließ sofort eine feuerrote Stelle auf Andres Wange zurück.
 

"Papa!" Verständnislos aufschluchzend hielt sich Andre seine Wange und versuchte, vor seinem Vater zurückzuweichen. Plötzlich hatte er Angst vor ihm, Angst vor seinem Vater, der ihn zuvor noch nie so geschlagen hatte.

Schnell blickte er zu Mark und sah diesen sich an die Wand abstützen. Was war nur alles so schnell passiert?

"Papa, hör auf!", schluchzte er, als er sah, wie sein Vater erneut ausholen wollte, und hielt die Arme schützend vors Gesicht. "Nicht!"
 

Aber diesmal wurde er von Mark gestoppt. Blitzartig streckte Mark seine Hand aus und umfasste das Handgelenk seines Vaters, verhinderte so einen erneuten Schlag. Er unterdrückte die aufsteigende Angst und Panik, konzentrierte sich nur auf seinen Vater, seinen Gegner.

Andre war jetzt das Wichtigste. Der Rest zählte nicht mehr! Er musste doch beschützt werden. Mark durfte nicht noch einmal zulassen, dass sein Bruder erneut geschlagen wurde.

Ihm war klar, dass nichts mehr so sein würde wie es einmal war. Egal, mit welcher Ausrede sie versuchen würden ihren Vater wieder zu beschwichtigen, es würde nicht helfen. Es war alles vorbei.
 

Marks Augen verengten sich zu Schlitzen, als er sich zwischen seinen Vater und Andre stellte. Mit seiner linken Hand drückte er den verängstigten Andre weiter hinter sich, während er immer noch das Handgelenk seines Vaters festhielt.
 

Dieser schien wie paralysiert, er versuchte sich noch nicht einmal gegen seinen Sohn zu wehren, obwohl er ihm körperlich überlegen war. Allein die Tatsache, dass Mark den Mut besaß, sich seinem eigenen Vater in den Weg zu stellen, lähmte ihn.
 

Abfällig ließ Mark das Handgelenk los, ließ seinen Vater dabei aber nicht aus den Augen. Er war vorbereitet, sich oder Andre jede Sekunde wieder verteidigen zu müssen.
 

Eine Zeit lang war nur noch das schwere Atmen ihres Vaters und Andres Schluchzen zu hören. Mark verhielt sich völlig ruhig, ihm fiel nichts mehr ein, was er hätte sagen können. Vater und Sohn standen sich schweigend gegenüber, beide beobachteten sich abfällig, schätzten sich ab.
 

Andre starrte geschockt auf die Szene, die sich vor ihm abspielte. Sein Bruder, wie er sich schützend vor ihn stellte und die Hand seines Vaters abfing.

"Papa, was...? Hör auf! Hört auf damit!"
 

Langsam löste sich der Mann wieder aus seiner Starre, fokussierte nun Andre.

"Ihr... ihr seid ja abartig... pervers, abnormal..." Vor lauter Entsetzen geriet ihr Vater sogar ins Stottern.
 

Als er die entsetzten Worte seines Vaters hörte, zuckte Andre zusammen und drängte sich instinktiv näher an seinen Bruder.

Jetzt waren sie wohl aufgeflogen, da gab es keinen Zweifel. Aber warum war es denn so schlimm?

"Warum ist es so furchtbar, dass ich ihn liebe?", fragte er leise und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er verstand es nicht. "Warum?..."

Abartig... Pervers... War es das wirklich?
 

Allein für diese Frage holte ihr Vater erneut aus und schlug Andre ins Gesicht. Mark hatte gar nicht so schnell reagieren können, denn der kräftige Mann konnte unglaublich schnell und wendig werden, wenn er wütend wurde. Außer sich vor Zorn brachte er kaum noch vollständige Sätze hervor, nahm auch nicht mehr Andres Weinen wahr. Er begann seinen Sohn anzuschreien, ungeachtet davon, dass dieser kaum noch mitbekam, was sein Vater da rief.

"Du... du kleiner Perverser! Wie kannst du so etwas fragen?! Euer Verhalten ist eklig... widerlich... abartig!! Und du fragst noch, was daran so schlimm ist?! Du treibst es mit deinem Bruder! Mit deinem Zwillingsbruder, Junge!"

Der Mann begann hastig nach Luft zu schnappen. Er musste sich zusammenreißen, um nicht noch einmal auf Andre loszugehen, stattdessen schrie er lieber nach seiner Frau.

"Mal sehen was eure Mutter dazu sagt? Eva!! Eva, komm nach oben und schau dir an, was deine perversen Kinder gemacht haben!"
 

Andre schluchzte und suchte mit seiner Hand die von Mark, umklammerte sie, als er auch schon seine Mutter die Treppen heraufstürzten hörte.
 

"Was... Was ist denn passiert?", fragte sie außer Atem. Ihre Augen waren noch gerötet vom Weinen, doch der herrische, fast schon hysterische Befehl ihres Mannes hatte sie sofort die Treppe hochgetrieben.

Was sie sah, waren ihre beiden Söhne, dicht beieinander stehend, nur in Shorts und ihr Mann, ihnen wutschnaubend und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck gegenüber.

"Was ist los?", wiederholte sie ihre Frage, da ihr Mann nur mit diesem komischen Ausdruck auf dem Gesicht auf ihre Söhne starrte.
 

"Was passiert ist?! Diese beiden..." Er zeigte abschätzig auf die Zwillinge. Seine Stimme zitterte vor Wut, "diese beiden Perversen, deine Kinder, steigen miteinander in die Kiste! Diese Schwuchteln treiben es miteinander!!"
 

Andre schluchzte unterdrückt auf und klammerte sich an seinen Bruder, blickte dann zu seiner Mutter, die ihn verständnislos anstarrte.

Das konnte doch alles nicht wahr sein! Was würde nun wohl passieren? Leugnen konnten sie ihre Beziehung zueinander ja wohl nicht mehr, das würde ihnen ihr Vater jetzt nicht mehr abkaufen.
 

Wie vor den Kopf gestoßen starrte Eva auf ihre beiden Söhne, blickte auf die verschränkten Hände.

"Wie bitte? Sag mir, dass ich dich falsch verstanden habe."

Ihre Söhne? Das konnte doch gar nicht sein! Nicht ihre kleinen Lieblinge, das würden sie doch nicht tun. Es waren doch gute Kinder!
 

"Mein Gott!! Bin ich hier eigentlich nur von Irren umgeben? Soll ich es dir auch noch buchstabieren? Diese Schwuchteln gehen miteinander ins Bett!!" Wütend begann ihr Vater auf und abzugehen, während er versuchte seine Söhne nicht anzuschauen.

"Und was gedenkst du jetzt zu tun, Supermama?"
 

Völlig geschockt riss sie die Augen auf.

"Aber... wie kommst du denn darauf?", stotterte sie verstört. "Meine Babys würden doch nicht... miteinander..."
 

"Es ist wahr." Marks ruhige Stimme zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Beschützend legte er seinen Arm um Andre und zog ihn so näher zu sich. "Mama kann da nichts für, Papa, also führ dich hier nicht so auf, nur weil du hilflos bist! Ihr werdet daran eh nichts ändern können."
 

Sein Bruder nickte zustimmend, wenn auch sehr zögerlich.

Jetzt war es eh zu spät.

"Ich liebe ihn", flüsterte er und lehnte sich an Mark.
 

Von dieser Reaktion angestachelt zog Mark seinen Bruder an sich und küsste ihn zärtlich. Belustigt nahm er daraufhin das entsetzte Aufstöhnen seiner Eltern wahr, ließ sich davon jedoch nicht stören.
 

Andre erwiderte den Kuss liebevoll. Sein Bruder war der Einzige, der ihm Halt gab in dieser Familie.
 

"Aber... meine Babys..." Ihre Mutter schluchzte verzweifelt auf und starrte entgeistert auf ihre Söhne, die sich vor ihren Augen küssten. Das durfte doch nicht wahr sein! So etwas konnten sie doch nicht zulassen! Das war doch... nicht normal!

Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte, ihre Stimme hatte sie plötzlich verlassen.
 

Ihr Mann dagegen wusste genau, was er sagen wollte und das tat er auch.

"Was geht nur in euren kranken Hirnen vor! Wie könnt ihr es wagen, euch vor unseren Augen zu... küssen!", dieses Wort spuckte er geradezu aus. "Ich werde das nicht dulden! Niemals! Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch nie wieder so nahe kommt, dass ihr euch betatschten könnt! Wir werden euch trennen, bis ihr wieder Vernunft annehmt, jawohl!! Wenn bei euch Perversen nicht schon alle Hoffnung verloren ist!"

Er machte einen Schritt nach vorne und schob die Zwillinge grob auseinander.

"Nie wieder, hört ihr?! Wir werden euch trennen, dass ihr das nie wieder tun könnt! Nie wieder!!!"
 

"Ihr könnt uns nicht trennen. Egal wie sehr ihr es auch versucht! Ihr werdet mich niemals von Andre fernhalten können!", begehrte Mark auf und drückte seinen Vater beiseite, legte die Arme wieder um seinen Bruder, drückte ihn fest an sich. "Zwillinge kann man nicht trennen, wisst ihr das nicht? Ich werde mich niemals von Andre fernhalten lassen! Nicht von dir und von niemandem sonst!"
 

Andre blickte seinen Bruder durch den Tränenschleier vor seinen Augen hindurch an, während er die bohrenden Blicke seiner Eltern im Rücken spürte.

War das ein Versprechen?

Er hoffte es...

Eins

Zerrissene Herzen
 


 

~*~ Teil 1 ~*~
 


 

3 ½ Jahre später
 


 

„Hey! Wie geht’s, wie steht’s?“, die Stimme dröhnte durch die gesamte Klasse, und jeder, der dort saß, musste sie unweigerlich hören.
 

„Alles frisch? Ah, ich sehe schon, Lia hat ’ne neue Frisur. Gut, wirklich gut! Sieht aus wie eine Palme, aber gut!“ Grinsend hopste Andre auf dem Pult herum und hielt wieder einmal Reden an sein Volk.
 

„Mann, was ist los mit euch?! Geht’s euch nicht gut? Macht mal ein bisschen Stimmung!!! Yeah!“, tanzend drehte er sich im Kreis.
 


 

„Halt die Klappe, Andre! Heute ist der erste Schultag nach den Sommerferien, da hat man nicht so gute Laune!“, kam es auch schon mürrisch aus einer der hinteren Reihen.
 


 

Doch das störte den jungen Mann überhaupt nicht, er hatte eine Rolle zu spielen. Laut schmetternd gab er wieder seine Kommentare zum Besten, was seine Schulkameraden teils belustigt und teils genervt aufnahmen.
 

6 Wochen Ruhe, aber jetzt war er wieder da!
 


 

„Komm schon, Vivi, komm rauf zu mir! Lass uns tanzen!“
 

Ein wenig dümmlich grinsend ging diese darauf ein, und schon kurz darauf tanzten sie Walzer auf dem Lehrerpult. Man stelle sich das einmal vor! Kaum jemand würde wohl glauben, dass diese Meute bereits in die elfte Klasse ging!
 


 

~*~
 


 

Okay, noch einmal tief durchatmen. Ganz ruhig bleiben, wird schon schief gehen.
 

Langsam schloss Michael seine Augen und öffnete die Tür zum Klassenzimmer. Sofort hießen ihn lautes Geschrei und ein furchtbares Chaos willkommen.
 

Unwillkürlich wich der Student leicht zurück, sah in diesem Augenblick jemanden auf dem Tisch liegen, mehrere mit Papierkügelchen werfen und, als krönender Abschluss des Ganzen, ein Pärchen auf dem Pult tanzen.
 

Das konnte doch jetzt nicht sein. Hatten ihre Eltern ihnen denn keinen Anstand beigebracht? Wo war er denn hier reingeraten? Hatte er sich vielleicht in der Tür geirrt? Er sollte sich doch heute den Geschichtsunterricht in einer Elften anschauen.
 


 

Andre tanze fröhlich mit Vivi zu der imaginären Walzermusik, wirbelte sie herum und summte irgendwelche Töne vor sich hin, die sicher alles waren, nur nicht richtig.
 

Gerade wollte er zu einer speziellen Drehung ansetzen, als plötzlich irgendetwas auf das Pult geworfen wurde und dieses zum Wackeln brachte.
 

Vivi hatte sich schon in Sicherheit gebracht, schließlich hatte auch sie ein Fünkchen Verstand.
 

Andre fing natürlich an zu straucheln und mit den Armen zu rudern, um sein Gleichgewicht wieder zu finden.
 

Warum wackelte denn plötzlich auch alles so?
 

Er hatte gerade noch Zeit, einen spitzen Schrei auszustoßen, als er auch schon endgültig den Halt verlor.
 

Dabei war das Pult doch so hoch über dem Boden!
 


 

/Denen werde ich schon noch zeigen was sich.../
 

Reflexartig öffnete Michael seine Arme, als ein schreiender Schüler auf ihn fiel. Leider war Michael so überrascht, dass er das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte und beide gingen zu Boden.
 


 

„Uff!“
 

Andre blinzelte, als er auf dem Boden, oder, wie er nach zweitem Hinsehen feststellte, auf einem großen blonden Mann, landete.
 

Was war gerade eigentlich passiert? Er versuchte, etwas Ordnung in seine verwirrten Gedanken zu bringen und merkte dabei gar nicht, wie er den anderen mit bedeppertem Blick ansah.
 


 

Unwillkürlich drückte Michael den fremden Körper an sich, bevor er überhaupt gemerkt hatte, dass er hier mit einem Schüler auf der Erde des Klassenzimmers lag. Zudem mit einem sehr süßen. Gebannt schaute er in die schokobraunen Augen und spürte den schlanken Körper auf seinem.
 

/Irgendwie sollten wir uns jetzt trennen.../
 

„Ähm, alles klar? Tut dir was weh?“
 

Unbeholfen versuchte sich Michael von der leichten Last zu befreien, obwohl er gar nicht so richtig wollte.
 


 

Erst, als Andre die dunkle Stimme hörte und merkte, wie er langsam von dem fremden Körper geschoben wurde, kam er wieder zu sich. Gerade noch bekam er die Frage mit, ob ihm etwas weh täte.
 

„Nein...“
 

Erst rutschte er auf die Knie, bevor er sich zögernd erhob. „Geht schon. Wer bist du eigentlich?“, fragte er dann, als sich endlich nicht mehr alles drehte. „Ein neuer?“
 


 

„Nein... also doch, schon.“
 

Benommen richtete Michael sich auf und reichte Andre seine Hand.
 

„Ich bin Michael. Nein, falsch. Herr Welde. Ich studiere Geschichte und Physik auf Lehramt und soll hier ein paar Erfahrungen sammeln. Schön, dich kennen zu lernen.“
 

Herzlich drückte Michael noch mal die schlappe Hand und lächelte Andre an.
 


 

Der schaute ein wenig verwirrt erst auf Michael, dann auf ihre Hände, bevor ihm wieder einfiel, wie er eigentlich hieß und wer er hier war.
 

„Aha! Sehr erfreut“, antwortete er. „Ich bin hier der King. Aber du kannst mich ruhig Andre nennen. Oh, ach nein, ich muss dich ja siezen! Tschuldigung!“
 


 

„Aha!“, Michaels Lächeln wurde breiter. „Der King also. Den hatte ich mir vorher immer anders vorgestellt. Aber in einem weißen Paillettenanzug, schmalzigen Koteletten und einem Bierbauch wirst du Elvis bestimmt zum Verwechseln ähnlich sehen.“
 


 

Andre grinste. Der Kerl war ja echt in Ordnung! Und das, wo er doch auf Lehramt studierte.
 

„Tja, das glauben alle!“ Er lehnte sich mit der Hüfte gegen das Pult. Es war schon erstaunlich, dass er trotz seiner doch recht großen 1,80m zu Michael aufschauen musste. War der doch tatsächlich noch größer als er selbst – sogar einen halben Kopf!
 

„Schmeißen Sie jetzt hier den Unterricht?“
 

Hoffnung!!! Endlich mal ein vernünftiger, menschlicher Lehrer? Gab’s denn so was überhaupt?
 


 

„In naher Zukunft leider noch nicht, aber vielleicht etwas später. Ich guck’ mir das hier erst mal ’ne Weile an“, antwortete Michael.
 

/Der scheint wirklich ganz nett zu sein. Vielleicht ein bisschen tollpatschig und größenwahnsinnig, aber durchaus ein sympathischer Kerl./
 

Unauffällig versuchte Michael, die Augenfarbe seines Gegenübers genauer zu betrachten. So hellbraune Augen hatte er noch nie gesehen. Gerade überlegte er, ob die Augen sogar ein wenig gelb waren, als ein dicklicher Mann die Tür hereinkam.
 


 

„Oh Scheiße, jetzt ist es wieder soweit“, seufzte Andre und verdrehte die Augen. „Und wieder eine grausame Stunde Geschichte bei Happi. Hey“, wandte er sich wieder an Michael. „warum setzen Sie sich nicht neben mich? Sie müssen sich doch hinten rein setzen, oder nicht?“
 

Jede Ablenkung in diesem furchtbaren Unterricht war ihm willkommen, und wenn es nur ein Student war! Nicht, dass er etwas gegen Happi gehabt hätte, aber Geschichte war einfach nicht sein Fach. So viele komplizierte Begriffe und komische Leute, über die man etwas wissen sollte, obwohl sie doch eigentlich schon längst tot waren!
 


 

Lächelnd folgte Michael dem Jungen nach hinten, als ein lauter Knall ihn zusammenfahren ließ. Der Geschichtslehrer hatte seine Bücher auf das Pult fallen lassen und winkte Andre nun zur Tafel.
 


 

„Ich hoffe, du hast dich gut vorbereitet, Andre. Da du ja zu unserem allgemeinen Bedauern deine Hausaufgabe nicht abgegeben hattest, muss ich wohl auf anderem Wege zu meiner Note gelangen. Aber erst einmal einen recht schönen, guten Morgen!“
 


 

Kaum hatte Happi die Klasse betreten, da fing das Grauen auch schon an. Na gut, hatte er seine blöden Hausaufgaben eben nicht abgeben! Na und? Musste man ihn dafür so quälen? Verdammt, dabei hatte er sich den Stoff, den sie für heute hatten lernen sollen, doch noch nicht einmal angeschaut! Und letzte Stunde aufgepasst hatte er auch nicht.
 

Er ließ sich jedoch nichts anmerken und grinste nur Michael an, der nun tatsächlich neben ihm saß. Ob er ihn wohl vor Happi beschützen könnte?
 


 

Mit einer Geste wies der blonde, rundliche Lehrer auf die vorne aufgestellte Karte:
 

„Komm bitte nach vorne, Andre, und zeig uns doch erst einmal anhand der Karte wo Athen liegt. Danach kannst du uns auch direkt den Kriegsplan des Perikles erklären.“
 

Der Lehrer setzte sich schwungvoll auf das Pult. Das würde ja eine wundervolle Stunde werden!
 


 

Andre stöhnte innerlich auf. Warum bloß er?
 

Es dauerte jedoch nicht mehr als ein paar Sekunden, bis er locker die Schultern zuckte und sich von seinem Stuhl schwang.
 

„Kein Problem!“ Breitbeinig stand er vor der Karte und grinste schief. „Wie war die Frage noch mal?“
 


 

Gequält stöhnte der Lehrer auf. Warum gerade er? Womit hatte er das verdient? Er hatte sich ein katholisches Gymnasium ausgesucht, in der Hoffnung keine unmotivierten Schüler zu unterrichten. Aber was machte dann gerade Andre hier? So war das wirklich nicht geplant gewesen.
 

Herr Happ erinnerte sich dann glücklicherweise doch noch an seinen Bildungsauftrag und begann, die Frage erneut ganz langsam zu formulieren:
 

„Zeig uns bitte erst mal, wo Athen liegt.“
 


 

„Ähm... Ja also, da würd’ ich sagen, das liegt...“, wahllos fuhr Andre mit ausgestrecktem Arm über die Karte. Als wenn er davon irgendeine Ahnung gehabt hätte!
 

„Jaaa... also ich glaub, das liegt hier!“ Er hatte sich irgendeinen Punkt herausgesucht und tippte nun triumphierend auf die Stelle.
 

„Hab ich nicht recht?“, grinste er und nickte mit dem Kopf in Happis Richtung.
 


 

„Nein, hast du leider Gottes nicht. Geh zurück und guck dir die Karte noch mal von weitem an. Ach ja, du suchst Athen, vergiss das nicht. Das hat noch nicht einmal etwas mit Geschichte zu tun!“
 


 

Andre zuckte nur die Schultern. Na dann eben nicht! Er hatte doch gleich gewusst, dass er es nicht konnte. Also setzte er sich wieder auf seinen Stuhl, schlug die Beine übereinander und starrte auf die Karte.
 

„Also...äh...“
 


 

Er hatte eindeutig den falschen Job. Ganz sicher!
 

Der Geschichtslehrer atmete tief durch. Nein, er würde nicht so früh aufgeben!
 

Zielsicher deutete er auf Athen.
 

„Also, hier liegt Athen, da sein Hafen. Du weißt sicherlich, dass Athen eine Seemacht war. Kannst du uns jetzt bitte mit dieser kleinen Hilfestellung den Kriegsplan des Perikles erklären?“
 


 

„Äh... Perikles? Wer war das noch mal?“, fragend und als würde er wirklich nachdenken, legte Andre den Kopf schief.
 


 

Irgendwie musste Michael dem Jungen doch helfen! Er konnte ihn wohl kaum so hängen lassen, vor allem weil sein Schwager, Herr Happ schon merklich rot wurde. So leise wie nur möglich versuchte er, Andre die richtige Antwort zuzuflüstern.
 

„Perikles war der Führer von Athen.“
 


 

„Ah! Jetzt hab ich’s!“, schmetterte Andre auch sofort. „Perikles war der Führer von Athen! Jetzt hab ich aber recht, was?!“
 

Happi blieb vor Staunen der Mund offen stehen und Andre zwinkerte Michael neben sich dankend zu, bevor er ein breites Grinsen aufsetzte. „Na, das hätten Sie nicht gedacht, was?“
 


 

„Nein, das hätte ich wirklich nicht gedacht, nachdem ihr für heute die Biografie von Perikles auswendig lernen solltet!“
 

/Was bildet sich dieser Junge eigentlich ein?? Eine Chance noch, nur noch eine einzige!/
 

„Kannst du mir auch sagen, was die Perserkriege mit dem Peloponnesischen Krieg zu tun hatten?“
 


 

Andre blinzelte. Mein Gott, was waren das denn für Fragen?! Konnte die denn überhaupt irgendjemand beantworten?
 

„Na ja... also da muss ich einen Augenblick nachdenken...“, fragend schielte er zu Michael, hoffend, dass dieser ihm auch bei dieser Antwort helfen würde. Denn wenn nicht, dann sah er ganz schön alt aus!
 


 

Gerade wollte Michael Andre leise die richtige Antwort zuflüstern, als er den strafenden Blick seines Schwagers vernahm. Mein Gott, der war wirklich auf hundertachtzig. Nein, unmöglich, wenn er Andre jetzt was vorsagte, würde es ihn auch nicht mehr retten. Da musste er jetzt alleine durch.
 

Kaum hörbar flüsterte er noch ein „Sorry!“.
 


 

Verdammt! Warum musste der Kerl da vorne eigentlich auch immer alles mitbekommen?
 

„Na, also ehrlich gesagt... äh... also ich denke, die Perser waren irgendwie sauer auf die Peleponnesen und dann haben die halt Krieg geführt!“, riet er einfach mal so ins Blaue hinein. Es hätte ja schließlich richtig sein können.
 

War es aber leider nicht!
 


 

Jetzt war alles aus. Die komplette Klasse begann zu lachen, selbst Herr Happ konnte sich nicht mehr zurückhalten.
 

Nur Michael fand das gar nicht so lustig. Besorgt blickte er auf den Jungen, der nun wirklich mehr einem begossenen Pudel glich als dem King. Vorsichtig stupste er ihn ein wenig an, um ihn wieder aufzuheitern, dazu schenkte er ihm ein mitleidiges Lächeln.
 


 

Ein wenig geknickt ließ Andre den Kopf hängen. So schlimm, dass alle über ihn lachen mussten, war es doch auch nicht gewesen, oder?
 

Woher sollte er denn wissen, warum die da früher Krieg geführt hatten?
 

Das einzige, was ihn ein wenig aufheiterte, ihn aber auch gleichzeitig verwunderte, war der kleine Stups von Michael. Der war wenigstens noch menschlich und lachte ihn nicht aus.
 


 

Nachdem sich Herr Happ endlich wieder gefangen hatte, beschloss er, dass er sich erst mal einen Kaffee verdient hatte. Auch egal, wenn er eigentlich noch 10 Minuten lang unterrichten sollte!
 

„Lest euch alles für die nächste Stunde gut durch, sonst endet ihr irgendwann wie Andre. Ich werde nächste Woche einen kleinen Test schreiben. Nur um sicher zu sein, dass ihr nicht alle meinen Unterricht in einem Koma ähnlichen Schlaf ertragt, wie so einige gewisse Personen in diesem Raum.“ Bei seinem letzten Satz blickte er noch einmal strafend auf Andre, wobei ihn aber sofort das Mitleid packte.
 

„Ich hätte den Test auch so geschrieben, also bringt mir Andre ja nicht um!! Er ist doch schließlich eine Bereicherung für jede Gemeinschaft. Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende.“ Mit diesen Worten erhob sich der Lehrer und wartete auf Michael, um mit ihm gemeinsam ins Lehrerzimmer zu gehen.
 


 

Bevor Michael jedoch zu seinem Schwager ging, wandte er sich noch einmal Andre zu.
 

„Tut mir wirklich leid, aber er hat mich schon so strafend angeschaut, da konnte ich dir nichts mehr vorsagen.“
 


 

Andre winkte nur ab.
 

„Schon okay. Eine Antwort hatte ich dank Ihnen ja sogar richtig“, er zuckte die Schultern. „Nicht weiter wichtig.“
 


 

Michael nickte. „Tut mir trotzdem leid. Aber ich muss jetzt los. Wir sehen uns bestimmt noch wieder. Wiedersehen!“, damit wandte er sich um und ging auf seinen Schwager zu, der schon auf ihn wartete, um im Lehrerzimmer endlich den redlich verdienten Kaffee zu genießen.
 

Zusammen verließen sie den Klassenraum.
 


 

Andre seufzte. Das war ja mal wieder eine tolle Geschichtsstunde gewesen! Er hatte sich bestimmt wieder eine fünf eingesammelt! Na toll!
 

Das einzig Gute an diesem Tag bis jetzt war, dass er Michael kennen gelernt hatte und der zumindest versucht hatte, ihm zu helfen. Das war doch immerhin etwas.
 

Er packte seinen Rucksack und stand auf. Heute war wirklich schönes Wetter, ging es ihm durch den Kopf. Sogar die Sonne schien...
 

Ihm war gar nicht bewusst, dass er einfach nur dastand und mit verträumtem Blick aus dem Fenster sah.
 


 


 


 

~Ende Teil 1~

Zwei

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Drei

~*~ Teil 3 ~*~
 


 

„Mein Gott! Manchmal glaube ich wirklich, ich habe den falschen Beruf!“ Herr Happ fuhr sich gestresst durch die kurzen blonden Haare und seufzte.
 

„Bist du dir wirklich sicher, dass du Lehrer werden willst, nachdem du das hier gesehen hast, Michael?“, skeptisch beäugte er seinen Schwager, der neben ihm herlief. Der aber grinste nur und zuckte die Schultern.
 

„Ach, ist ja auch egal. Ich bin nur ein bisschen gestresst, das ist alles. Du glaubst gar nicht, wie viele Klausuren noch auf meinem Schreibtisch darauf warten, dass ich sie korrigiere“, er schüttelte den Kopf, lächelte aber, denn trotz allem liebte er seinen Beruf. „Lass uns erst mal einen Kaffee im Lehrerzimmer trinken gehen.“
 

Er schob einen kleinen Fünftklässler vorsichtig beiseite und ging mit Michael zusammen durch den schmalen Gang, der zum Lehrerzimmer führte.
 

Schon allein bei dem Gedanken einmal ein Lehrer zu sein, lächelte Michael, doch als er sich an Andre erinnerte, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Ohne auf den Weg zu achten folgte er seinem Schwager. Der Junge hatte es ihm wirklich angetan. Schon allein diese Augen…
 

„Sag mal, ist Andre eigentlich immer so … niedlich?“
 

Irritiert blickte Christian seinen Schwager an.
 

„Wie bitte? Niedlich? Du meinst doch nicht etwa den Andre aus meinem Geschichtskurs, oder?“
 

„Doch, eigentlich meine ich genau den! Hast du eigentlich noch nicht gemerkt, wie süß er ist? Außerdem hat er einen großen Sinn für Humor. Worauf achtest du eigentlich, wenn du unterrichtest? Guckst du deine Schüler denn noch nicht mal an? Was bist du denn für ein Lehrer?“
 

Christian riss erstaunt die Augen auf und ließ sich, endlich bis zum Lehrerzimmer vorgedrungen, auf einen Stuhl fallen.
 

„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder? Der ist doch dumm wie Stroh! Und so was findest du niedlich? – Und natürlich achte ich auf meine Schüler. Aber wenn ich dir etwas sagen darf, es ist nicht die Aufgabe und auch nicht Ziel eines Lehrers, sich Schüler genau anzugucken und sie süß zu finden, mein Lieber!“
 

Er beobachtete, wie Michael sich ihm gegenüber auf einem Stuhl niederließ, und lehnte sich, auf den Tisch zwischen ihnen gestützt, vor.
 

„Oder was meinst du?“
 

Mein Gott, zum ersten Mal in einem Lehrerzimmer. Unwillkürlich schweiften Michaels Gedanken in die Vergangenheit. Wie oft hatte er doch als Schüler ganze Pausen vor dem Lehrerzimmer verbracht, um irgendetwas zu klären, oder wie oft hatte er sich an kalten Tagen gewünscht nicht draußen auf dem Hof stehen zu müssen. Und jetzt, am Ziel seiner Träume angelangt, war das Rückzugsgebiet der Lehrer nur ein kleiner verrauchter Raum. Es schien sogar so, als hätte noch nicht einmal jeder Lehrer einen eigenen Platz. Fasziniert beobachtete er ein ganzes Pulk Menschen, die sich alle um einen Kopierer drängten. War ja auch schwer in 15 Minuten 60 Kopien zu machen und auch noch einen Kaffee zu trinken.
 

Michael wandte sich wieder seinem Schwager zu.
 

„Soll ich uns nicht erst mal was zu trinken besorgen? Vielleicht entspannst du dich dann wieder ein bisschen. Er ist wirklich wahnsinnig putzig und ich glaube, man müsste nur einmal sein Interesse an Geschichte wecken. Dann wäre er bestimmt ein guter Schüler, er muss halt nur etwas motiviert werden!“
 

Christian lachte amüsiert auf, bejahte jedoch Michaels Vorschlag, etwas zu trinken zu holen. Er wartete, bis sein Schwager mit der Kaffeekanne zurückgekommen war und sich wieder ihm gegenüber gesetzt hatte, bevor er weitersprach.
 

„Wenn du ihn erst mal etwas länger kennst, wirst du selbst merken, dass dem keineswegs so ist.“
 

Er nahm Michael die Kanne aus der Hand, zog zwei unbenutzte Tassen heran, von denen immer vorsorglich welche auf dem Tisch standen, und schenkte ihnen beiden ein.
 

„Ich glaube, bei dem ist nichts mehr zu retten. Ich könnte dir Dinge über ihn erzählen... Du würdest es nicht glauben!“, bei der Erinnerung an all den Mist, den er Andre schon hatte bauen sehen, musste er unwillkürlich grinsen. „Aber du hast recht. Er hat Sinn für Humor. Zwar einen manchmal etwas seltsamen, aber er hat durchaus Talent zum Partyclown. Und immerhin schafft er es, dass sämtliche Mädels auf ihn stehen“, er warf Michael einen kurzen Blick zu. „und sogar zumindest ein Mann etwas an ihm zu finden scheint. Obwohl ich beileibe nicht wüsste, was.“
 

„Du hattest noch nie Ahnung von gutaussehenden Menschen. Guck dir meine Schwester doch mal genauer an und mach nicht immer die Augen zu, wenn du sie küsst!“ Entschlossen blickte Michael Christian an. Nein, er würde nichts auf Andre kommen lassen. Schließlich glaubte er immer an das Beste in einem Menschen und Andre hatte ganz eindeutig viel Potenzial.
 

„Vielleicht sollten wir ihn alle etwas ernster nehmen, dann würde er sich auch nicht so verhalten. Ist doch klar, wenn alle ihn wie einen Clown behandeln, warum sollte er sich dann auch ändern? Außerdem kommt kein Mensch so auf die Welt. Er hat bestimmt im Laufe der Zeit gemerkt, wie gut das ankommt.“
 

„Hey, du verteidigst ihn ja richtig! Wer hätte das gedacht! Vielleicht hast du ja recht, obwohl ich mir auch gut vorstellen könnte, dass er einfach nur dumm ist. Aber wenn du so sehr glaubst, er hätte doch was drauf und könnte sich sogar mal normal verhalten, wenn man ihn ernst nehmen würde, dann hast du ja demnächst eine Chance, genau das zu tun. Schließlich wirst du bald den Unterricht in dieser Klasse führen.“
 

Christian nippte an seinem Kaffee und beobachtete seinen Schwager.
 

„Ja, ja ich werde eine völlig neue Art des Unterrichts entdecken!“ Michael begann zu lachen und bemerkte jetzt erst eine kleine Frau, die auf ihn zukam.
 

Auch Christian bemerkte sie und hob den Kopf, um ihr grüßend zuzulächeln.
 

„Guten Morgen, Schwester Genepper! Wie geht es mit Ihrer AG voran?“, fragte er freundlich. Da die Schule ursprünglich von Nonnen gegründet worden war, unterrichteten noch immer einige an der Schule.
 

Die kleine Schwester setzte sich neben Christian und Michael und rückte erst mal ihren Stuhl ein ganzes Stück an Michael heran, so dass er sich sofort bedrängt fühlte.
 

Nein, Frauen waren absolut nicht sein Ding, aber noch schrecklicher waren kleine Nonnen, die noch irgendetwas von ihm wollten.
 

„Sie sind also der eifrige Student, der ein wenig Erfahrung für sein baldiges Lehrerdasein sammeln will?“, sie rückte ihre Brille zurecht und lehnte sich noch etwas vor, als könne sie Michael nicht genau sehen. „Herr Happ hat mir schon von Ihnen erzählt! Sie haben wohl ihn als Vorbild, was?“
 

Verdammt, warum gerade er?! Hätte Christian ihn nicht vorwarnen können? Dann hätte er sich die ganze Pause irgendwo verstecken können. Aber so war er ihr natürlich schutzlos ausgeliefert. Michael beschloss, sich von jetzt an sich immer freiwillig für die Pausenaufsicht zu melden.
 

„Äh, ja er ist mein großes Vorbild. Wer möchte nicht einmal wie mein Schwager werden? Guten Tag, ich bin Herr Welde.“ Michael schüttelte Schwester Genepper höflich die Hand und achtete dabei darauf, nicht zu doll zu drücken. Mein Gott, war die zerbrechlich, da musste man ja Angst haben.
 

„Oh, was für ein netter, junger Mann!“, Schwester Genepper lächelte entzückt. Und so kräftig. So einen jungen Mann könnte sie noch gut in ihrer AG brauchen. Mütterlich legte sie eine Hand auf seinen Arm.
 

„Sagen Sie, hätten Sie vielleicht Interesse daran, an meiner Teich-AG teilzunehmen? Es wäre doch eine gute Gelegenheit, sich mit den Schülern hier etwas vertrauter zu machen. Und es würde Ihnen sicher gefallen! Wäre das nicht nett, Herr Happ?“, wandte sie sich nun an Christian. „Sie haben ja leider keine Zeit, nicht wahr?“
 

Christian dankte Gott, dass er zu der Zeit, in der Schwester Geneppers Teich-AG stattfand, in der Stunde Unterricht geben musste.
 

„Nein, leider nicht.“
 

„Ach ja, es ist wirklich schade“, die kleine, mausähnliche Nonne schüttelte den Kopf, lächelte aber wieder, als sie sich erneut Michael zuwandte.
 

„Aber Sie hätten doch bestimmt Zeit, nicht wahr?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Was meinen Sie?“
 

Hilfesuchend wandte sich Michael an Christian. Doch dieser schien sich eher darüber lustig zu machen, als ihm helfen zu wollen, denn er versteckte sein Grinsen nicht allzu gut hinter seiner Tasse.
 

/Na warte, das wirst du mir noch büßen!/
 

Ihm blieb ja jetzt nicht mehr viel übrig. Absagen konnte er wohl kaum, sonst würde ihn für die nächsten Wochen ein schlechtes Gewissen plagen. Die Frau schien sich ja wirklich zu engagieren und so schlimm würde es wohl kaum werden. Er sah sich schon in einer Horde Fünftklässer den Teich reinigen oder irgendwelche Steine möglichst schön in eine Reihe legen. Aber was soll’s!!
 

„Ich habe zwar keine Ahnung von Gartenarbeit, aber wenn Sie es mir zeigen, werde ich schon mein Bestes geben. Wann findet es denn statt?“
 

Ein Strahlen ging über ihr kleines Gesicht und vertraulich drückte sie Michaels Arm.
 

„Oh, das ist schön! Sie werden sehen, es macht wirklich Spaß! Von Gartenarbeit müssen Sie nicht viel verstehen, das tun meine Schützlinge auch nicht, das ist gar kein Problem. Die Teich-AG trifft sich jeden Mittwoch nach der achten Stunde. Das wäre dann um drei.“
 

„Das ist ja ganz toll, zum Glück habe ich Zeit!“
 

Unauffällig versuchte sich Michael ihrer Hand zu entledigen. Wieso musste diese Frau ihn eigentlich anfassen? Er zog vorsichtig seinen Arm etwas von ihr weg, während er sie anlächelte.
 

„Was muss man denn da so tun? Und ist diese Arbeit eigentlich auch für ältere Schüler gedacht?“
 

Plötzlich machte sich in Michael die Hoffnung breit, dass Andre vielleicht in dieser AG war. Michael stellte sich ihn vor, wie er Algen aus dem Wasser fischte und musste lächeln. Auf unerklärliche Weise mochte er diesen Jungen, egal was Christian auch sagte!
 

Schwester Genepper sah Herrn Welde lächeln und war sofort hellauf begeistert.
 

„Es wird Ihnen bestimmt Freude machen, Herr Welde! Ob auch ältere Schüler dabei sind, haben Sie gefragt? Hm, lassen Sie mich nachdenken. Eher weniger, da die meisten älteren das Interesse an der schönen Natur verloren zu haben scheinen. Die meisten sind in der fünften bis siebten Klasse, einer aus der achten und... na ja, einen hätten wir noch, aber der ist nicht freiwillig da. Er ist schon in der Oberstufe und muss als Strafe in meine AG kommen. Obwohl ich mich frage, wie man so etwas schönes wie die Arbeit in der Natur als Strafe sehen kann. Na ja, aber Sie werden bestimmt viel Spaß mit uns haben!“, begeistert nickte sie mit den Kopf.
 

Sofort wurde Michael klar, dass es sich nur um einen handeln konnte. Er konnte zwar nicht genau sagen, woher er diese Eingebung hatte, aber trotzdem war er sich sicher.
 

„Ich kann es auch kaum glauben! Als Strafe? Also wer bestraft denn so seine Schüler? Na ja, vielleicht war das Vergehen gar nicht so schlimm. Wissen Sie denn, was er oder sie getan hat?“
 

Schwester Genepper legte den Kopf schief. Warum interessierte denn das den jungen Mann? Doch gab sie ihm bereitwillig Auskunft: „Oh, das weiß ich nicht genau. Ich glaube, da kamen ein paar Vergehen zusammen. Zu spät kommen, auf dem Schulhof rauchen, den Müll auf den Boden werfen. Solche Dinge, Sie verstehen?“, sie schüttelte wieder den Kopf, als wären dies einige der schlimmsten Vergehen überhaupt.
 

Konnte sie nicht einfach den Namen sagen, oder war das zuviel verlangt?! Auch egal. Michael legte endgültig fest, dass es sich um Andre handeln musste. Aber jetzt wollte er erst mal diese Frau loswerden. Die beste Möglichkeit war wohl die Flucht.
 

„Entschuldigen Sie mich bitte. Ich wollte noch etwas nach draußen gehen und ein wenig frische Luft schnappen, bevor es zur nächsten Stunde geht. Der Herbst ist ja auch wirklich einer der schönsten Jahreszeiten. So viele bunte Blätter. Wir sehen uns dann am Mittwoch.“ Freundlich nickte Michael der Schwester und Christian zu und verließ das muffige Lehrerzimmer. Endlich frei!!
 

Die kleine Nonne lächelte selig. Sie hatte wieder jemanden gefunden, der Interesse an der Natur zeigte und sich ihnen anschloss.
 

„So ein feiner, junger Mann.“ Sie wandte sich an Herrn Happ, der sich noch immer an seiner Tasse festhielt.
 

„Finden Sie nicht auch?“
 

Christian konnte nur mühsam ein Grinsen unterdrücken.
 

„Da haben sie ganz recht, Schwester Genepper.“
 

Sie lächelte noch einmal und verabschiedete sich. Schließlich musste sie ihren Kindern jetzt Biologie beibringen.
 

Christian sah die kleine Frau aus dem Raum huschen und lehnte sich zurück. Michael würde wohl ziemlich sauer auf ihn sein, da er ihn hatte hängen lassen, das war klar.
 

Aber es war gar nicht schlecht, wenn er schon gleich zu Anfang lernte, wie es an einer Schule so vor sich ging, wenn man Lehrer war.
 


 

~*~*~
 


 

Mark knöpfte sich grade die Hose zu, während sein Bruder immer noch nackt auf dem Tisch lag. Vielleicht hatte er sein Kätzchen doch ein wenig überstrapaziert.
 

Mark begann zu grinsen. Andre hielt ja wirklich gar nichts mehr aus. Er war anscheinend völlig aus der Form. Da müsste man doch Abhilfe schaffen, so ging das ja nicht.
 

Er beschloss, von jetzt an jeden Tag mit seinem Bruder zu schlafen. War schließlich auch eine Art sich fit zu halten. Man brauchte nämlich viel Ausdauer, eine gute Portion Kondition und natürlich vor allem gute Ideen, um sein Kätzchen zu befriedigen.
 

Wieder schaute Mark stolz auf seine Skulptur. Ja, sie hatte ihnen wirklich gute Dienste erwiesen. Hätte er seinen Bruder nicht befreit, läge er da jetzt noch angekettet.
 

„Hast du eigentlich noch vor dich irgendwann einmal zu erheben? Oder kannst du nur noch auf dem Bauch liegen?“
 

Andre gab nur ein murrendes Geräusch von sich und räkelte sich auf dem Tisch. Er fühlte sich angenehm erschöpft und eigentlich viel zu wohl, um aufzustehen. Am liebsten hätte er sich jetzt einfach nur an seinen Bruder gekuschelt und ein bisschen geschmust.
 

„Warum machst du so einen Stress und ziehst dich schon an?“, fragte er. „Es sind noch zehn Minuten, bis die Pause anfängt. Lass uns lieber noch was kuscheln.“
 

Wenn das jetzt keine Einladung war, dann wusste Mark es auch nicht mehr. Grinsend kam er auf seinen Bruder zu und begann ihn erneut überall zu küssen.
 

„In 10 Minuten werden wir eine Menge schaffen können. Du bekommst aber auch wirklich nie genug; aber das liebe ich ja so an dir. Du bist immer geil!!“
 

Andre zuckte zusammen. So hatte er es eigentlich nicht gemeint.
 

„Warum denkst du eigentlich immer nur an Sex?“, fragte er traurig und drehte sich weg, um Marks Berührungen zu entkommen. „Ich will doch nur noch ein bisschen mit dir kuscheln.“
 

„Na, wenn du keine Lust hast…“
 

Sofort erhob sich Mark wieder und starrte seinen Bruder böse an. Wenn er keinen Sex mehr wollte, würde er auch keinen mehr bekommen! So einfach war das!
 

„Dann geh’ ich jetzt, du hast ja anscheinend keinen Bock mehr auf mich!“ Rigoros drehte er sich um.
 

„Nein, warte!“
 

Schnell hechtete Andre vom Tisch, schnappte sich seine Hose und zog sie hastig an, um nicht nackt in der Gegend herum zu stehen. Gerade noch erwischte er seinen Bruder am Hemdsärmel, bevor dieser ihn alleine lassen würde.
 

„So habe ich das nicht gemeint.“
 

Manchmal hasste er es, wenn sein Bruder so launisch war.
 

Mark drehte sich ruckartig um und begann ihn anzuschreien. Das konnte Andre wirklich nicht mit ihm machen. Zuerst gab er sich so viel Mühe, dann hatten sie wunderbaren Sex und jetzt musste Andre alles kaputt machen!!! Wieso musste er jetzt auch so rumnörgeln?!
 

„Wie hast du es denn gemeint? Du bist doch auch sonst immer geil, du kleine Nutte. Du kannst es doch immer und überall treiben! Nur gerade jetzt nicht mehr, oder was?!“
 

Andre starrte seinen Bruder entgeistert an.
 

Er fühlte, wie bei diesen harten Worten etwas in ihm zerbrach, ohne dass er es verhindern konnte. Was hatte er denn getan, dass Mark so ausrastete? Oder hatte er sich da gerade verhört?
 

Tränen schossen ihm so heftig in die Augen, dass er sie nur mit Mühe zurückhalten konnte. Genauso, wie er Marks Stimmungsschwankungen hasste, hasste er es auch, dass er bei seinem Bruder die Kontrolle über seine Gefühle verlor.
 

„Das meinst du nicht ernst, oder? Du hältst mich für eine Nutte?“, fragte er erstickt. Mit einer Hand umklammerte er sein Hemd, das er gerade vom Tisch genommen hatte. Er hatte sich bestimmt verhört! Ganz bestimmt!
 

Mark wandte sich von seinem Bruder ab. Er musste wirklich nicht mit der Mitleidsnummer ankommen. Nein, diesmal würde es nicht funktionieren. Er überging einfach die Tränen und das Gefühl ihn in den Arm nehmen zu müssen. So weich war er schließlich nicht! Er ließ sich von niemanden verarschen, noch nicht mal von Andre. Und wenn der es versuchte, konnte er ganz schön ungemütlich werden!
 

„Alles was ich sage, meine ich ernst, du bist einfach eine kleine Nutte!“
 

Wieder zuckte Andre zusammen und die erste Träne rollte seine Wange hinunter. Er hoffte in seinem Innern noch immer, dass er sich einfach verhört hatte, oder Mark missverstand, doch dessen harter Blick war Beweis genug.
 

Noch einmal warf er einen Blick auf das geliebte Gesicht, sah in die Augen, die eben noch so warm gestrahlt hatten und jetzt auf einmal so kalt wirkten, bevor er sich umdrehte und blindlings aus dem Raum stürzte.
 

Ohne großartig nachzudenken, warf Andre sich sein Hemd über und rannte ohne Schuhe aus dem Kunstraum durch den Flur und in das Treppenhaus.
 

Nicht eine einzige Sekunde länger hätte er es dort ausgehalten. Er kannte zwar die Launen und gelegentlichen Wutanfälle seines Bruders, aber derartig hatte er sich noch nie aufgeführt. Noch nie hatte sich Andre von Mark derartig verletzt und gedemütigt gefühlt. Dabei hatte doch alles so schön angefangen!
 

Mit einem Ruck stieß er die Tür auf, die aus dem Gebäude in den Hof führte und sprang förmlich über die Treppenstufen, die von der Tür aus nach unten führten. Er wollte jetzt nur noch in sein Auto steigen, das auf dem gegenüberliegenden Hof geparkt war, und dann so schnell wie möglich die Flucht ergreifen.
 

Gerade, als er das Ende der Treppe erreicht hatte, läutete es zur großen Pause und die Schüler strömten aus den zwei großen Gebäuden auf den Hof.
 

Andre hielt nur kurz im Laufen inne, und als er die merkwürdigen, erstaunten Blicke der anderen Schüler bemerkte, rannte er schleunigst weiter. Bloß weg von hier!
 

Doch als er gerade die Hälfte des großen Schulhofes hinter sich gebracht hatte, passierte es. Seine nackten Füße verhedderten sich in der zu langen Hose, die zudem gefährlich tief auf seiner Hüfte saß, und mit einem Ruck rutschte sie seine Beine hinunter und brachte ihn zu Fall. Mit einem dumpfen Klatsch landete er mitten auf dem Schulhof zwischen all den Schülern. Neugierige Blicke blieben an der am Boden liegenden Gestalt hängen und starrten sie unweigerlich an.
 

Mit den Tränen in seinen Augen konnte Andre nur schemenhafte Gestalten ausmachen, aber allein das reichte schon, um ihn endgültig aufschluchzen zu lassen. Warum war heute alles gegen ihn? Verzweifelt vergrub er den Kopf unter seinen Armen. Aufzustehen brauchte er jetzt auch nicht mehr. Vielleicht, wenn er einfach so liegen blieb, würden ihn die anderen einfach ignorieren und er konnte in Ruhe sterben.
 

Warum ging heute auch alles schief? Warum hasste Gott ihn so sehr?
 

Ganz in seinem verzweifelten Schluchzen und Selbstmitleid gefangen, merkte er kaum, wie sich plötzlich eine warme Hand auf seine Schulter legte.
 

Doch Andre wollte kein Mitleid oder gar gehässige Späße seiner Schulkameraden. Das hätte er jetzt nicht ausgehalten! Also stellte er sich einfach ohnmächtig. Immerhin konnte es dann ja nicht mehr schlimmer werden...
 

„Andre? Ist alles in Ordnung? Geht’s dir nicht gut?“
 

Also jetzt machte Michael sich wirklich Sorgen. Was war nur mit dem Jungen passiert? Mitleidig schaute er auf die zitternde Gestalt und bemerkte die spöttigen Blicke der anderen Schüler. Er hatte zwar keine Ahnung warum Andre auf dem Boden mit heruntergelassener Hose lag, aber er wusste, dass er hier einen Menschenauflauf verhindern musste.
 

„Andre? Möchtest du nicht aufstehen?“ Vorsichtig beugte sich Michael zu ihm herunter und berührte leicht seine Schulter.
 

Andre brach nur noch mehr in Tränen aus, stellte sich aber weiterhin ohnmächtig.
 

Warum konnten sie ihn nicht einfach alleine hier sterben lassen? War das denn zuviel verlangt?
 

Michael hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Also Andre hier liegen zu lassen, kam wohl kaum in Frage, und Hilfe war nirgends in Sicht. Er überlegte fieberhaft, wie er Andre helfen konnte und bemerkte die Gruppe Mädchen, die sich bereits um sie gestellt hatte und zu kichern begann, überhaupt nicht.
 

Er müsste ihn hier erst mal wegbringen! Was hatte Christian ihn noch vorhin erzählt, es gäbe hier einen Sanitätsraum?
 

Michael beschloss ihn dorthin ins Warme zu bringen. Vorsichtig legte er Andre seine Jacke um und hob ihn an. Michael war erstaunt, wie leicht der Junge trotz seiner Größe war und schaute besorgt in sein Gesicht. Die Augen waren zusammen gekniffen und er zitterte leicht. Er drückte ihn näher an sich und trug ihn mit großen Schritten in den Sanitätsraum, wobei er darauf achtete, dass nur wenige Schüler Andres Gesicht erkennen konnten.
 

Andre fühlte, wie etwas Warmes um ihn gelegt wurde, das schwach nach männlichem Parfüm roch, und spürte, wie er plötzlich hochgehoben wurde. Noch gerade konnte er einen leisen Schreckenslaut unterdrücken, kam aber nicht umhin, einmal kurz die Augen aufzuschlagen, um zu wissen, wer ihn da durch die Gegend trug.
 

Eben noch konnte er Michaels besorgtes Gesicht erkennen, bevor er auch schon wieder die Augen fest zusammenkniff.
 

Erst jetzt merkte er, wie kalt ihm eigentlich war, und instinktiv drückte er sich näher an den jungen Studenten. Alles tat ihm weh. Seine Füße, da er ja ohne Schuhe losgelaufen war, seine Arme und seine Hüfte, weil er damit als erstes auf den Boden aufgeschlagen war, und seine Augen vom Weinen.
 

Doch am meisten schmerzte sein Herz. Warum war Mark so hart, so gemein zu ihm gewesen?
 

Er hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und kurz darauf spürte er, wie er vorsichtig auf etwas Länglichem abgelegt wurde, bevor eine warme Hand kurz über sein Gesicht strich. Doch die Augen öffnete er trotzdem nicht.
 

Michael hatte wirklich keine Ahnung, was er nun zu tun hatte. Es war zwar offensichtlich, dass Andre die Ohnmacht nur vortäuschte, da er immer wieder leicht mit seinen Augen flatterte, aber dennoch machte er sich Sorgen. Wieso um alles in der Welt hatte Andre eigentlich keine Schuhe an? Und warum muss er eine Ohnmacht vortäuschen? Etwa nur damit er nicht mit ihm reden brauchte?
 

Am besten sollte er Andre jetzt wohl im Moment in Ruhe lassen. Wenn er jemanden zum Reden brauchte, wäre er schließlich für ihn da.
 

Michael schaute sich im Raum um und wie es sich für einen gut ausgerüsteten Sanitätsraum so gehört, fand er auch sofort eine Decke. Vorsichtig legte er sie über die zitternde Gestalt und zog sich einen Stuhl heran. Er begann ziellos über Andres Haare und Gesicht zu streicheln, während er sich auszumalen begann, was alles mit dem Jungen passiert sein könnte. Auf jeden Fall sollte Michael ihn wissen lassen, dass er ihm helfen würde, egal was los war!
 

„Wenn du mit mir sprechen möchtest, bleibe ich gern bei dir. Wenn nicht, versuch mir einfach irgendwie Bescheid zu geben. OK?“
 

Andre hörte Michael nach etwas suchen und spürte kurz darauf, wie eine Wolldecke über ihm ausgebreitet wurde. Dann fuhr wieder die warme Hand über sein Gesicht und durch seine Haare. Michaels Stimme klang warm und mitfühlend, doch die Berührungen erinnerten ihn an Mark und wieder sah er dessen ärgerliches Gesicht vor sich und hörte die harten Worte.
 

Ohne dass er es verhindern konnte, stahl sich eine Träne aus seinen Augenwinkeln, die er jedoch hastig wieder wegwischte. Er konnte dem jungen Studenten nicht seine Tränen zeigen! Schell rollte er sich auf die Seite, drehte das Gesicht zur Wand, bis er seine Gefühle wieder einigermaßen im Griff hatte.
 

Schließlich niemand durfte hinter die Maske sehen!
 

In diesem Augenblick wurde Michael klar, dass wirklich etwas Schlimmes mit Andre passiert sein musste. Was machte dem lustigen, aufgedrehten Jungen nur solchen Kummer?
 

Michael begann sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. Er war einfach überfordert und hatte überhaupt keine Idee, was zu tun war. Vielleicht sollte er Christian rufen, der wüsste bestimmt, wie er mit der Situation umgehen sollte. Doch sobald dieser Gedanke gekommen war, verwarf er ihn auch schon wieder. Der hätte bestimmt überhaupt kein Verständnis, nicht nach diesem Gespräch im Lehrerzimmer.
 

Hilflos strichelte Michael über Andres Rücken und wünschte sich gleichzeitig, dass er nicht weinen würde. Das Gefühl nichts für ihn tun zu können, machte Michael wütend. Wenn irgendjemand daran Schuld war, dann gnade ihm Gott! Er zwang sich, Ruhe zu bewahren und zu lächeln.
 

„Nichts kann so schlimm sein, dass du es mir nicht sagen kannst. Versuch es doch mal. Oft hilft das wirklich!“
 

Andre verkrampfte sich. Schon so oft hatte er sich einmal jemandem zum Reden gewünscht, doch er konnte es einfach nicht über sich bringen, Michael die Wahrheit zu sagen. Er kannte ihn doch auch gar nicht!
 

Er wischte sich schnell die letzten Tränen von den Wangen, bevor er sich aufsetzte und zu Michael umdrehte. Ausdruckslos starrte er ihn an. Das war die einzige Maske, die ihm im Moment gelingen wollte. Aber alles war besser als die Wahrheit.
 

„Es ist alles in Ordnung“, sagte er betont ruhig. Am liebsten wäre er einfach aus dem Raum geflüchtet.
 

Also das konnte er ja seiner Oma erzählen, aber nicht ihm! Stand etwa groß auf seiner Stirn: Du kannst mich zu jeder Zeit verarschen!?
 

Entschlossen packte Michael Andre an den Schultern und schaute ihm eindringlich in die Augen.
 

„Wenn du nicht mit mir reden möchtest, ist das ja schön und gut! Ich kann dich verstehen, wir kennen uns ja kaum. Ich könnte mich auch keinem wildfremden Menschen anvertrauen. Aber trotzdem musst du mich nicht anlügen oder mir was vorspielen!“
 

Nur kurz blinzelte Andre überrascht, bevor er sich wieder hinter seiner Maske versteckte. Nichts konnte er besser als das, nichts hatte er so oft trainiert.
 

„Lassen Sie mich los“, sagte er nur. „Es geht Sie gar nichts an.“
 

Traurig blickte Michael Andre an. Er fühlte, dass er so bei dem Jungen nicht weiterkam und hoffte nur, dass Andre wenigstens jemand anderen auf der Welt zum Reden hatte.
 

„Sprich bitte wenigstens mit deinen Eltern oder Freunden. Vielleicht hast du ja auch eine gute Beziehung zu deinem Zwillingsbruder, Christian hat mir von ihm erzählt. Red bitte mit irgendjemanden über dein Problem, ich glaube, du brauchst wirklich Hilfe. Immerhin lagst du mit heruntergelassener Hose weinend auf dem Hof!“
 

Ärgerlich blitzte Andre Michael an.
 

Einerseits war der so lieb und mitfühlend, dass er ihm am liebsten alles erzählt hätte, doch andererseits brachte er es nicht über sich. Michael würde ihn nie verstehen. Er konnte es einfach nicht.
 

„Was geht Sie mein Zwillingsbruder an?!“, fauchte er härter, als er es eigentlich wollte, aber allein bei der Erwähnung von Mark zog sich alles in ihm zusammen. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Einfach nur weg von hier, aus dieser Schule, weg von Michael und von Mark...
 

„Jetzt reg dich mal nicht so auf! Ich wollte dir nur helfen, nicht mehr und nicht weniger! Wenn du mit mir nicht reden möchtest, bitte. Es ist alleine deine Entscheidung. Ich habe zwar das Gefühl, dass du jemanden zum Reden wirklich nötig hast, aber auf meine Meinung legst du anscheinend keinen Wert. Ich kann dir nur anbieten, dass ich keiner Menschenseele davon erzähle, aber es ist deine Sache! Wenn du eine andere Ansprechperson hast, dann geh doch zu ihr! Nur spiel dann nicht auch wieder den Blödmann, wenn man dir nur helfen will!“
 

Wütend stand Michael auf und ging zum Fenster. Nach einem Moment, in dem er sich wieder etwas beruhigt hatte, tat es ihm aber auch schon wieder Leid. Wieso war er jetzt so ausgerastet? Dem Jungen ging es schlecht und er hatte nichts Besseres zu tun, als ihn anzuschreien. Unwillkürlich drehte er sich wieder zu Andre und schaute ihn entschuldigend an.
 

„Sagen Sie nichts“, kam Andre Michael zuvor, als er dessen Blick sah und merkte, dass dieser etwas sagen wollte. Mit dessen Wut kam er besser zurecht, als mit dem mitfühlenden, sanften Blick, den Michael ihm jetzt schenkte.
 

Wenn der junge Student wütend auf ihn war, musste er sich immerhin nicht ganz so große Schuldgefühle machen.
 

„Wenn ich das Bedürfnis habe, mit jemandem zu reden, dann tue ich das auch, glauben Sie mir. – Ach, und es ist als Lehrer nicht unbedingt geschickt, einem Schüler vorzuwerfen, er wäre ein Blödmann“, er wusste es war gemein, aber er sagte es trotzdem und grinste fies. „Nur ein kleiner Tipp.“
 

Langsam bemerkte er den Kopfschmerz, der sich in seinem Kopf von links nach recht zog und die Übelkeit, die in ihm hochstieg.
 

Irgendwann war selbst bei Michael Schluss. Und dieses irgendwann war soeben erreicht worden. Gerade wollte Michael richtig loslegen und ihm mal die Meinung sagen, als er in die traurigen Augen von Andre schaute. Nein, das konnte er jetzt unmöglich machen. Michael drehte sich wieder abrupt dem Fenster zu und wartete, bis seine Wut verraucht war. Es musste schließlich einen Grund für Andres Verhalten geben, sonst wäre er nicht so verletzt.
 

Michael entschied sich, einen letzten Versuch zu starten. Langsam drehte er sich wieder um und ging auf Andre zu, dabei versuchte er genau zu erkennen, was in Andre vor sich ging. Da man seine Gefühle nicht aus seinem Verhalten schließen konnte, konzentrierte sich Michael nur auf seine Augen. Für einen Bruchteile einer Sekunde glaubte er in ihnen Trauer und Verzweiflung erkennen zu können.
 

Michael kämpfte gegen das Gefühl an, Andre einfach in seine Arme zu schließen und ihn zu trösten. Ruhig setzte er sich neben ihn auf die Liege und schaute ihn an.
 

„Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber du kannst jederzeit mit mir sprechen. Weißt du, ich würde dir gerne helfen. Und kein Wort wird jemals über meine Lippen kommen. Versprochen!“ Bei seinem letzten Wort lächelte er Andre an und reichte ihm die Hand.
 

Andre starrte auf die dargebotene Hand. Michael war wirklich unheimlich lieb, und er machte den Eindruck, als wolle er ihm wirklich helfen.
 

„Ich...“, nur mit Mühe gelang es ihm, seine Maske aufrechtzuerhalten. Wer konnte da schon abweisend sein, wenn Michael einen mit so lieben Augen anschaute?
 

„Ich will nicht darüber reden“, sagte er leise und senkte den Kopf; Michaels Hand ergriff er nicht. „Ich will nur nach Hause...“
 

Enttäuscht zog Michael wieder seine Hand zurück. Für einen kleinen Augenblick hatte er wirklich geglaubt, dass Andre ihm wenigstens ein bisschen vertraute. Aber leider falsch gedacht. Na ja, wenigstens hatte er seine Maske abgelegt und zeigte seine verletzliche Seite. War ja schon mal ein Anfang.
 

„Soll ich dich vielleicht nach Hause fahren? Ich glaube es wäre wirklich besser, wenn du heute nicht mehr fährst. Ich kann dich ja morgen vor der Schule abholen, dann lässt du halt dein Auto hier über Nacht stehen.“
 

„Nein danke... ich...“
 

Andre schreckte auf, als es plötzlich an der Tür klopfte und Herr Happ den Raum betrat. Sofort versteifte er sich.
 

„Habe ich mir doch gedacht, dass ich euch hier finde“, auch Christians Stimme verriet Besorgnis, als er Andre auf der Liege sitzen sah, obwohl eine Augenbraue skeptisch in die Höhe wanderte, als er seinen Schwager mit Andre so eng aneinander sitzen sah.
 

„Alles in Ordnung, Andre?“
 

Andre nickte nur schnell und setzte wieder sein übliches Grinsen auf, auch wenn sein Kopfschmerz an Intensität gewaltig zunahm und das Gefühl der Übelkeit weiter stieg.
 

„Sie wissen doch, Unkraut vergeht nicht!“
 

Christian schien sich mit dieser Antwort zu begnügen, denn er wandte sich nun an seinen Schwager.
 

„Ich glaube, ich muss mal mit dir reden, Michael“, sagte er vorsichtig und warf Andre einen Seitenblick zu.
 

Das war ja jetzt wirklich ein toller Zeitpunkt! Hätte er nicht fünf Minuten später kommen können? Michael warf seinem Schwager einen Blick zu, der so viel heißen sollte, wie: Komm am besten nie mehr wieder.
 

Doch da Christian natürlich nicht ging, wandte er sich wieder Andre zu.
 

„Soll ich dich wirklich nicht nach Hause bringen? Es wäre wirklich kein Problem!“
 

Dabei überhörte er das Grunzen seines Schwagers, in diesem Augenblick zählte nur Andre.
 

Dieser bemerkte sehr wohl die Spannung, die zwischen den beiden entstanden war, und beeilte sich, zu verneinen. Das war seine Chance zur Flucht!
 

Schnell entledigte er sich der Decke und sprang auf.
 

„Nein danke, es geht schon. Tut mir Leid, aber ich muss los! Wiedersehen!“, sagte er hastig, bevor er auch schon aus der Tür heraus war.
 


 


 


 

~Ende Teil 3~

Vier

~*~ Teil 4 ~*~
 

Super, das war jetzt wirklich perfekt gelaufen!! Wütend schaute Michael seinen Schwager an.

„Hättest du nicht einfach wieder rausgehen können? Ist das eigentlich zu viel verlangt? Musst du überall deine Nase reinstecken? Du hast ja wohl gemerkt das du unerwünscht warst, oder? Du allein bist schuld, dass er weg ist!“

Er wusste, es hätte keinen Sinn gehabt, Andre hinterher zu laufen.
 

Christian sah ihn überrascht an.

„Hey, reg dich wieder ab! Warum bist du so wütend auf mich? Ich habe dich eben gesehen, wie du Andre in den Sanitätsraum getragen hast“, er betonte das Wort getragen. „Ich wollte nachschauen, ob alles in Ordnung ist, mehr nicht.“
 

„Nachschauen, ob alles in Ordnung ist? Glaubst du, ich komme mit Andre nicht klar? Ich halte ihn wenigstens nicht für einen Idioten! Ich versuche ihn zu verstehen, was man von dir ja nicht behaupten kann!“

Michael verschränkte die Arme vor seiner Brust und schaute auf den Boden. Wenn er sich nicht langsam wieder einbekommen würde, würde er Christian wirklich noch den Hals umdrehen.

Langsam atmete er ein und aus und versuchte sich so zu beruhigen. Er war aber auch wirklich kurz davor gewesen, ein bisschen zu Andre vorzudringen…

„Du hättest zumindest wieder rausgehen können!“
 

„Schrei mich nicht so an. Warum hätte ich wieder rausgehen sollen? Damit du dich weiter an ihn ranmachen kannst, oder was?!“, sagte Christian hitzig, doch dann tat es ihm sofort wieder leid. Michaels Gesicht nach zu urteilen, hatte er ihn damit wirklich verletzt. „Tut mir leid, das war nicht fair!“, er fuhr sich durch die Haare und warf Michael einen entschuldigenden Blick zu. „Das hätte ich nicht sagen dürfen. Entschuldige. Aber so wie du da mit ihm gesessen hast... und eben so von ihm erzählt hast, da... Ach, ich weiß auch nicht!“
 

Plötzlich wurde sich Michael schlagartig seiner Gefühle zu Andre bewusst. Man konnte zwar nicht von Liebe sprechen, aber er musste zugeben, dass er sich von diesen Jungen angezogen fühlte. Diese traurigen Augen und diese Art faszinierten ihn einfach. Er würde ihm so gerne helfen und ihn besser kennen lernen.

Bei dem Gedanken, dass dies erst sein erster Tag auf dieser Schule war, musste er unwillkürlich grinsen. Sich zu verlieben ging eben immer wahnsinnig schnell.

Wieder etwas beruhigt sah er seinen Schwager auch schon wieder freundlicher an.

„Wäre das denn so schlimm? Ich meine, wenn ich mich an ihn heranmachen würde?“
 

Verblüfft starrte Christian ihn an.
 

„Das meinst du nicht ernst, oder? Ich meine, ein Schüler, das ist schon schlimm genug, aber Andre?! Was findest du bloß an ihm?“
 

„Ich kann’s dir nicht richtig erklären. Ich glaube einfach, dass hinter dieser Maske ein ganz anderer Junge steckt. Ich hab’ mich einfach in ihn verguckt. Komm, wir fahren nach Hause. Auf der Fahrt kannst du mich ja weiter nerven.“

Fröhlich sprang Michael von der Liege herunter. Es tat ihm gut, seine Gedanken und Gefühle klar auszudrücken, auch wenn ihn sein Schwager jetzt mit heruntergeklappter Kinnlade anstarrte.
 

Christian nickte nur und schweigend begaben sie sich zu Michaels Auto. Für Christian war es unheimlich praktisch, dass sein Schwager mit dem Auto von Düsseldorf zur Schule kam und er nur einen Block entfernt wohnte. So nahm Michael ihn von jetzt an mit hin und zurück; und das war allemal besser als K-Bahn zu fahren!

Christian schnallte sich an und wartete, bis Michael vom Schulhof gefahren war, ehe er ihr Gespräch erneut aufnahm.

„Sag mal, habe ich das wirklich richtig verstanden? Du hast dich in Andre verliebt? Nimm es mir nicht übel, ich finde es ja gut, dass du dich endlich mal wieder verliebst, aber so schnell? Darf ich dich daran erinnern, dass du ihn erst seit heute morgen kennst?“
 

Michael beschleunigte seinen Wagen, um die Ampel noch zu bekommen und lenkte ihn jetzt auf die Autobahn. Er liebte es schnell zu fahren und überholte erst einmal einen kleinen Ford. Nachdem er sich nicht mehr so konzentrieren musste, begann er wieder zu sprechen.

„Das weiß ich auch. Aber wo die Liebe hinfällt…“ Er lächelte seinen Schwager an und begann wieder ein Überholungsmanöver zu starten.

„Ich kann es schließlich auch nicht beeinflussen. Es ist einfach so passiert, ganz plötzlich. Ich hab nur in diese traurigen Augen gesehen und… Ach, was red’ ich da?! Andre ist bestimmt nicht schwul.“
 

Christian schüttelte nur den Kopf.

„Du bist verrückt“, murmelte er dann.

„Aber was bringt dich auf die Idee, dass hinter Andres Idiotie ein völlig anderer Mensch steckt? Mal ganz abgesehen davon, dass ich auch nicht glaube, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt.“
 

„Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Er wirkte so traurig. Du hättest ihm nur einmal richtig in die Augen schauen müssen und du wüsstest, was ich meine…“

Michael wollte nun wirklich nicht mehr die Geschichte von heute Mittag aufwärmen, er hoffte einfach, dass auch Christian es vergessen würde.

Außerdem konnte er sich Andres Verhalten selber nicht erklären. Wäre Christian nur nicht gerade zu diesem Zeitpunkt hereingekommen…
 

„Richtig in die Augen schauen...“, wieder schüttelte Christian den Kopf.

„Mein Gott, du bist auch ein hoffnungsloser Träumer, Michael. Egel in wem, du findest in jedem Menschen etwas Gutes, nicht wahr?“
 

„Man muss jedem eine Chance geben und vor allem als Lehrer hast du diese Pflicht. Du kannst Andre nicht in eine Schublade stecken und ihn als doof abstempeln. Er ist nicht so, ich glaube er hat einfach ein großes Problem…“ Michael musste sich auf die Straße konzentrieren, damit seine Gedanken nicht auch noch während des Fahrens abschweiften.

Er würde Andre so gerne helfen, aber dafür musste er doch wissen, was ihn bedrückte. Außerdem konnte er sich das, was heute morgen mit Andre passiert war, nicht erklären.

Aus welchem Grund liegt man mit heruntergelassener Hose weinend auf dem Hof? Michael musste einfach mehr über ihn erfahren. Vielleicht wusste Christian ja etwas näheres, schließlich hatte er Andre schon seit Jahren in seinem Unterricht.

„Du, Christian? Erzähl mir doch mal was von Andre. Er war doch nicht schon immer so, oder?“
 

Christian legte die Hände zusammen.

„Tja, da fragst du mich was. So lange kenne ich ihn nun auch noch nicht, aber ich glaube, er war schon immer so – sagen wir es mal freundlich – aktiv. Sehr aktiv und auch nie besonders helle, jedenfalls habe ich diese Erfahrung gemacht!“, fügte er schnell hinzu. „Manchmal kommt er mir vor wie ein kleines Kind, und dann wieder wie ein Aufreißer, oder Macho wenn du so willst. Erst letztens hat er seiner Spanischlehrerin eine rote Rose geschenkt und seine Physiklehrerin gefragt, ob sie ihn nicht heiraten wolle.

Kannst du dir vorstellen, dass wir bis vor kurzem zwei von dieser Sorte bei uns auf der Schule hatten? Sogar in der gleichen Klasse?“, er schlug die Finger leicht gegeneinander. „Ich bin schon froh, dass Mark weg ist, aber Andre scheint seitdem noch viel aufgedrehter zu sein. Er neigte schon immer zu Extremen, aber seit sein Zwillingsbruder weg ist, scheint es noch extremer geworden zu sein“, er lachte bei diesem Wortspiel belustigt auf.
 

„Wieso ist sein Bruder denn weg?“

Michael glaubte zwar nicht mit Christians Hilfe Andres Geheimnis herauszufinden, aber fragen konnte man ja mal.
 

„Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß, dass seine Eltern geschieden sind und jetzt Andre bei seiner Mutter und sein Bruder bei seinem Vater wohnt, aber genaues weiß ich nicht. Vielleicht war Mark die Schule hier zu schwer und er hat deshalb gewechselt. Keine Ahnung.“
 

Entrüstet schüttelte Michael den Kopf. Nein, er würde niemals so grausam sein und seine Kinder trennen, egal wie viel Streit er mit seinem Partner auch hätte. Und dann auch noch Zwillinge, die wie man ja wusste, immer besonders aneinander hingen.

Er versuchte nachzuvollziehen, wie einsam sich Andre in dieser Zeit gefühlt haben musste.

Etwas schneller als eigentlich erlaubt fuhr er auf die Ausfahrt nach Düsseldorf. Wenn er einmal diese Eltern zu Gesicht bekommen würde, dann… Michael schüttelte seinen Kopf. Was hatte er schon mit den Problemen anderer zu tun? Er sollte sich nicht überall einmischen, aber trotzdem.

„Wer trennt eigentlich Zwillingsbrüder? Das ist doch wirklich pervers!“

Christian zuckte die Schultern.

„Ich finde es auch ziemlich hart. Und ich glaube, Andre hat daran wirklich zu knabbern. Er tut zwar so, als würde es ihm nichts ausmachen, aber ich glaube, er vermisst seinen Bruder. Dieses eine Mal muss ich dir im Bezug auf Andre also recht geben.“
 

Schnell huschte Michael über die schon tieforange Ampel und steuerte zu Christians Wohnung. War ja auch wirklich ein toller Service, viel besser als mit der K-Bahn zu fahren.

„Ich finde du könntest mir ruhig auch ein bisschen für meine Dienste geben, schließlich sparst du jetzt dein Geld für ein Ticket und ich könnte es wirklich gut gebrauchen. Betrachte mich doch mal als deinen persönlichen Chauffeur, der würde es schließlich nicht umsonst machen. Du könntest dich ja zum Beispiel ein wenig im Lehrerzimmer umhören, was die alles so über Andre sagen. Das würde deinen Schwager wirklich sehr glücklich machen und glückliche Schwager sind auch gute Fahrer.“
 

Christian lachte nur. Das war typisch für Michael!

„Ich werde darüber nachdenken!“

Michael hielt an und er stieg aus dem Wagen.

„Willst du nicht noch mit raufkommen?“, fragte Christian und stützte sich mit einem Arm am Autodach ab.

„Denk über mein Angebot nach!! Ist doch wirklich schön, so bis vor die Haustür gefahren zu werden, oder?“ Michael grinste seinen Schwager an, während er begann sich ein Stück Schokolade aufzumachen. Das hatte er sich nach diesen Tag aber redlich verdient.

„Bestell Maria und dem Baby noch viele Grüße. Ich tu mir heute nicht mehr ihre Stimmungsschwankungen an, davon hatte ich schon zu viele. Aber trotzdem wünsche ich dem werdendem Vater viel Vergnügen.“
 

Christian grinste nur. Er wurde endlich Vater, da konnte er die Launen seiner Frau in der Schwangerschaft auch mal ganz gut aushalten; es waren ja nur neun Monate.

„Mach ich“, versprach er. „Wir sehen uns dann morgen!“

Michael nickte und Christian schlug die Tür zu. Zum Abschied winkte er noch einmal kurz und wartete, bis Michael um die Ecke verschwunden war, bevor er sich langsam auf den Weg in seine Wohnung machte.
 

~*~*~
 

Müde schloss Andre die Haustür auf.

Schon wieder so ein beschissener Tag in der Schule. Den Tag nach dem Fiasko mit seinem Bruder, das war gestern gewesen, hatte er erst mal geschwänzt, um sich wieder zu erholen. Heute war er hingegangen, weil er nicht zu viele unentschuldigte Fehlstunden auf seinem Zeugnis haben wollte, aber der Tag war genauso beschissen gewesen wie alle anderen. Mark war ihm jedoch nicht über den Weg gelaufen und er war nicht sicher, ob er froh oder enttäuscht darüber sein sollte.

Achtlos warf er seine Jacke auf den Boden und schloss hinter sich die Tür wieder.

„Hallo Mama!“, rief er, da er wusste, seine Mutter war in der Küche. „Bin wieder da!“
 

Andres Mutter kam aus ihrer Küche und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, bevor sie auf ihren Sohn zu kam und ihn küsste. Sie spürte sofort, dass wieder irgendetwas mit ihm los war, aber sie hatte nicht mehr die Kraft über seine Probleme zu sprechen. Nicht mehr seitdem…

Insgeheim hoffte sie, dass nun alles besser würde, vielleicht könnte sie die schrecklichen Bilder vergessen und ihn wieder als ihren Sohn ansehen. Sie wollte es ja wirklich, aber es war so schwer…

„Essen ist fertig, aber wasch dir vorher noch die Hände.“

Die kleine Frau drehte sich auf dem Absatz um und ging zum Küchentisch. Es würde zwar hart für ihn werden, aber vielleicht könnte man so die Familie noch retten.

Sie war glücklich über Marks Entscheidung und konnte nur hoffen, dass Andre es positiv aufnehmen würde. Vielleicht könnte er ja seine Fehler einsehen. Sie atmete noch einmal tief durch. Es würde wieder ein schwieriges Gespräch werden.

Was hatte sie nur falsch gemacht?
 

Andre nickte und wusch sich artig die Hände, bevor er sich zu ihr an den Tisch setzte.

Die Küche war ein kleiner, aber gemütlicher Raum. An der linken Wand befanden sich Kühlschrank, Herd und Spüle, sowie die Schränke. Auf der rechten Seite war eine kleine Essnische, bestehend aus einer Eckback, zwei Stühlen und einem Eichenholztisch mit einer dunkelblauen Tischdecke, passend zur Weihnachtszeit. Licht spendete eine altmodische Hängeleuchte, an der seine Mutter so hing, weil sie ursprünglich Andres Oma gehört hatte.

„Und, was gibt es heute zu essen? Gibt’s sonst noch was neues?“, fragte Andre dann, stützte die Ellbogen Auf den Tisch und legte seinen Kopf auf seine verschränkten Hände.
 

„Mark hat eine Freundin! Und ich halte das für ausgesprochen gut!“, platzte sie heraus.

Sie konnte sich einfach nicht zurückhalten und so war ihr Plan zunichte gemacht. Eigentlich hatte sie vorgehabt es ihm schonend beizubringen. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, so schneller es ging, so schneller wäre dieser böse Spuk vorbei.

„Mark liebt dich nicht, er hat dich nie geliebt, oder wenn, dann nur brüderlich. Sieh das doch endlich ein. Er hat jetzt eine Freundin und alles wird wieder normal werden. Es war alles nur eine Phase, ihr wart in der Pubertät und wusstet nicht wohin mit eurer Sexualität… Aber alles wird wieder gut werden. Ich verspreche es dir!“
 

Zuerst verwirrt und dann geschockt sah Andre seine Mutter an und riss die Augen auf. Er hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit!

„Wie bitte?! Sag das noch mal!“
 

„Er hat eine Freundin!! So ist es richtig und es wird das Beste für alle sein!“

Um ihrer Aussage den nötigen Ausdruck zu verleihen, schlug sie einmal kräftig auf die Tischplatte.

„Diese Perversion ist ab sofort zu Ende!“
 

Andre zuckte zusammen.

„Er... er hat eine Freundin?“

Aber wie konnte das sein? Erst vorgestern hatte Mark doch mit ihm... im Kunstraum...

Er verkrampfte sich, als er das Gesicht seiner Mutter sah.

/Sie lügt!/, dachte er. Seiner Mutter war außer sich gewesen, als sie von dem intimen Verhältnis ihrer Söhne erfahren hatte und seither versuchte sie alles, um ihre Söhne zu therapieren. Sie wollte ihn bestimmt wieder nur umstimmen.

Doch ein Restzweifel blieb.
 

Schnell löffelte sie ihrem Sohn ein paar Kartoffeln und Fleisch auf seinem Teller und nahm sich selbst etwas, während sie verzweifelt versuchte ihn nicht anzuschauen. Sie konnte nicht mehr in dieses traurige und verzweifelte Gesicht schauen.

„Wie oft soll ich es dir noch sagen! Er hat eine Freundin, und sogar eine sehr hübsche. Ich glaube, sie heißt Karen und geht auf deine Schule. Sei doch glücklich, dass alles vorbei ist!“
 

„Karen? Das kann nicht, die war doch letztens noch mit... Du lügst!“, brauste er auf. „Und wie kannst du nur von mir verlangen, ich solle jetzt glücklich sein?!“ Ohne dass er es verhindern konnte, traten ihm Tränen in die Augen. Warum verstand ihn nur niemand? „Du verstehst überhaupt nicht, wie ich fühle und du willst es auch gar nicht! Ich liebe ihn, verdammt noch mal! Und daran hast und wirst du auch nichts ändern können!“

Er stand so unvermittelt auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte.

„Ich glaube dir nicht! Du lügst!“, damit drehte er sich um und stürzte auf den Flur, um sich seine Jacke wieder anzuziehen. Wütend riss er die Haustür auf. Er würde sich persönlich davon überzeugen, ob seine Mutter die Wahrheit sprach oder nicht. Er würde Mark zur Rede stellen, und zwar jetzt. Entschlossen trat er aus der Tür und stürmte auf sein Auto zu.
 

Die kleine Frau rannte ihrem Sohn hinterher und versuchte ihn zurückzuhalten. Sie kannte ihn, er würde sofort zu seinem Bruder fahren und sich selbst davon überzeugen wollen. Damit würde er alles nur noch schlimmer machen! Sie konnte ihn gerade noch am Ärmel seiner Jacke packen, bevor er sich in sein Auto setzten konnte. Wütend starrte sie ihn an und schüttelte immer wieder mit ihrem Kopf. Wieso musste er sie alle unglücklich machen?

Hysterisch begann sie Andre anzuschreien, weil ihr nichts besseres einfiel. Sie kam anders überhaupt nicht mehr an ihren Sohn heran.

„Liegt dir eigentlich gar nichts an deiner Familie? Hasst du mich so sehr, dass du uns ins Unglück stürzen möchtest? Was habe ich nur fasch gemacht?“

Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann zu schluchzen.
 

Andre riss sich los, doch auch ihm tat es weh, seine Mutter so zu sehen. Hatte er sie wirklich so unglücklich gemacht? Aber er konnte doch nichts dafür, dass er Mark liebte, und das nicht nur auf eine brüderliche Art.

Ohne noch etwas zu sagen, stieg er ins Auto, ließ seine Mutter allein zurück. Sie konnte das nicht begreifen. Sie konnte nicht verstehen, wie er fühlte.

Er blinzelte die Tränen fort und startete den Wagen.
 

Sie versuchte noch die Türe des Wagens aufzureißen, aber da fuhr ihr Sohn bereits an. Mit der Wut der Verzweiflung trat sie einmal kräftig gegen den Wagen und traf den Kotflügel.

Er konnte doch jetzt nicht fahren! Warum sah er nicht endlich ein, dass es pervers war seinen eigenen Bruder zu lieben? Doch sie konnte nichts mehr tun, außer zuzuschauen, wie ihr Sohn sich und die Familie ins Unglück stürzte. Unwillkürlich begann sie dem davonfahrenden Wagen hinterher zu brüllen.

„Bleib hier! Bitte, bitte!“

Ihr Geschrei verwandelte sich schlagartig in Weinen. Sie hatte gar nichts mehr auf dieser Welt!
 

Andre sah nicht mehr zurück, sondern konzentrierte sich nur noch auf die Straße und die bevorstehende Konfrontation mit seinem Bruder.
 

Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich angekommen war. Andre zögerte kurz, als er in seinem Auto vor dem Haus saß, in dem sein Bruder mit seinem Vater lebte.

Was war, wenn Mark wirklich mit dieser Karen... Er wollte gar nicht daran denken! Entschlossen stieg er aus seinem Auto, schloss ab und trat vor die Haustür.

Nur kurz zitterte seine Hand über der Klingel, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte und sie herunter drückte. Er konnte die helle Glocke hören und hielt gespannt den Atem an. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen? Hoffentlich würde ihn sein Vater nicht einfach wieder wegschicken. Denn obwohl er nicht hysterisch wie seine Mutter reagiert hatte, war auch er zutiefst dagegen, dass seine Söhne regelmäßigen Kontakt hatten.

/Bitte lass sie lügen!/, dachte er noch flehend, als sich die Tür vor ihm öffnete.
 

Mit kalten Augen betrachtete er Andre. Er hatte schon lange aufgehört von ihm als seinen Sohn zu denken. Mit einer entschlossenen Geste öffnete er die Türe weit und ließ Andre herein.

„Du bist spät dran, ich hätte eigentlich schon vorher mit dir gerechnet. Sie sind oben.“

Er hatte schließlich dafür gesorgt, dass seine Ex-Frau es wusste, damit sie Andre informieren konnte.

Mit einem abwertenden Blick betrachtete er ihn. Andre war immer noch der gleiche verträumte Perverse. Glaubte er denn tatsächlich, er könnte immer mit seinem Bruder vereint sein?

„Alles hat einmal sein Ende. Schau es dir an und verschwinde wieder!“
 

Andre sagte nichts, starrte seinen Vater nur an, bis er überhaupt realisierte, was der gerade gesagt hatte.

‚Sie sind oben. Alles hat einmal sein Ende.’

Er riss die Augen auf und stürzte an seinem Vater vorbei die Treppe hinauf, die zu Marks Zimmer führte. Seinen Vater würdigte er keines Blickes mehr.

Drei Stufen auf einmal nehmend hechtete er die Treppe hinauf und machte nicht einmal vor Marks Tür halt. Mit Schwung riss er sie einfach auf, ohne angeklopft zu haben und glaubte im selben Moment, sein Herz würde stehen bleiben.

„Nein!“, keuchte er entsetzt.

Da lag sein Bruder, mit entblößtem Oberkörper auf einem blonden, hübschen Mädchen, deren Bluse geöffnet war und deren Haare sich aus einer Hochsteckfrisur gelöst hatten. Und gerade war sie dabei, Mark leidenschaftlich zu küssen.

Andre fühlte einen so gewaltigen Stich in seinem Herzen, dass er den Schrei, der sich in seiner Kehle formte, nicht zurückdrängen konnte.
 

Erschrocken blickte Mark zur Tür und erkannte seinen Bruder. Andre standen die Tränen in den Augen und er gab als Ganzes ein ziemlich trauriges Bild ab.

Sofort war Karen vergessen; sie war ja sowieso nur für zwischendurch gut. Mark richtete sich auf und blickte ihn an.

„Lässt du dich auch noch mal hier blicken, Kätzchen. Hast mich wohl vermisst, was?“
 

Andre krallte seine Hand um die Türklinke.

Es musste ein Traum sein! Genau, ein ganz schrecklicher Alptraum!

Doch leider war es keiner. Seine Mutter hatte nicht gelogen.

Sein Bruder und... Karen.

Wie konnte er ihm das nur antun? Und Mark tat noch nicht einmal so, als täte es ihm leid. Er merkte, wie eine Träne seine Wange hinunter lief, doch er machte sich gar nicht erst die Mühe, sie wegzuwischen.

„Du... Arschloch...“, flüsterte er leise, starrte Mark dabei an.
 

Scheiße, er war wirklich sauer!! Verdammt!! Zuerst einmal musste Mark die kleine Schlampe loswerden, bevor er sein Kätzchen wieder beruhigen konnte.

War ja klar, alles blieb wie immer an ihm hängen. Er wechselte die Schule, klaute die Schlüssel für den Kunstraum und nahm auch noch in Kauf erwischt zu werden. Das alles nur für sein Kätzchen!! Und dann wollte Andre ihn am Ende noch nicht einmal mehr.

Nur um sich ein bisschen abzuregen nahm er sich die Schlampe und dann musste Andre ihn so traurig angucken. Das war echt nicht fair. Mark hatte doch nichts Schlimmes gemacht!

Er wollte doch einfach nur sein Kätchen, und was er wollte, das würde er auch bekommen!!

„Verpiss dich, Karen, und das sofort!“

Mark schaute Karen mit einen todesverheißenden Blick an und schubste sie aus dem Bett, während er sich wieder sein Hemd überstreifte. Für die hatte er jetzt nun wirklich keinen Kopf!
 

Andre schenkte Karen nur wenig Beachtung und hört nur am Rande, wie sie erst ungläubig dreinschaute und dann immer wütender begann Mark zu beschimpfen und zu verfluchen. Mit einem sehr undamenhaften Schnauben raffte sie schließlich ihre Bluse zusammen und rauschte, als sie sah, dass Mark es ernst meinte, an ihm vorbei aus der Tür. Den hasserfüllten Blick, den sie Andre zuwarf, bemerkte er nicht einmal.

Er konnte nur Mark anstarren.

/Wie konnte er nur.../

Als er sah, wie Mark einen Schritt auf ihn zutrat, wich er sofort zurück und konnte nicht verhindern, dass er aufschluchzte.
 

Langsam streckte Mark die Hand nach seinem Bruder aus und zog ihn einfach an sich. Er achtete nicht weiter darauf, dass Andre sich wehrte und schloss ihn in seine Arme.

Wie er es doch liebte, wenn sich sein kleines Kätzchen zu einer ausgewachsenen Wildkatze verwandelte.

Er blickte ihn an und begann die Tränen wegzuküssen. Trotzdem hasste er es, wenn Andre weinte.

Andre schaffte es doch tatsächlich, dass sich Mark schuldig fühlte, obwohl er nichts Unrechtes getan hatte. Schließlich war da gar nichts mit dieser Schlampe! Sie war halt nur zu seiner Unterhaltung da.

„Du wolltest mich nicht mehr!! Da hab ich mir eben jemanden zu meinem Zeitvertreib gesucht. Jetzt mach hier keine Szene!!“
 

Sofort versteifte sich Andre.

„Keine Szene?“, kreischte er fast schon hysterisch und trommelte mit geballten Fäusten gegen Marks Brust. „Du bist so ein Arsch! Wie kannst du nur...“
 

Mark fing die Hände seines Bruders auf und schaute ihn belustigt an. Spielerisch kam er mit seinem Gesicht näher an Andre heran und biss ihn zärtlich in die Nase. Er wollte, dass sein Bruder sofort aufhörte zu weinen. Das konnte doch keiner ertragen. Außerdem hasste er es mit Andre Streit zu haben.

Sie hatten schon so wenig Zeit, die sie miteinander verbringen konnten, wahrscheinlich würde jede Sekunde ihr Vater zur Tür reinkommen und Andre rausschmeißen.

„Jetzt mal ganz ruhig. Es ist ja alles in Ordnung, Kätzchen. Ich schließe erst mal die Tür ab, damit Papa nicht reinkommt.“
 

Andre schluchzte nur noch. Warum lief denn nur alles schief?

„Warum tust du das?“, flüsterte er heiser und unter Schluchzern; natürlich meinte er nicht das Türabschließen.
 

„Warum ich das tue? Ich brauchte nur einen kleinen Zeitvertreib. Nicht mehr und nicht weniger! Aber du musst mir eins glauben. Ich liebe dich!“

Mit diesen Worten zog er ihn an sich und küsste ihn zärtlich.
 

Andre hatte nicht die Kraft sich gegen den Kuss zu wehren, also ließ er sich darin fallen.

Wie gerne wollte er ihm glauben!

„Kleiner Zeitvertreib?“, fragte er und ließ sich kraftlos in Marks Arme sinken. „Warum tust du mir weh? Du weißt, dass ich dich liebe und dass ich dich will!“
 

Mark drückte ihn fester an sich und wollte ihn nicht mehr gehen lassen.

„Ich verspreche dir, dass es nicht mehr vorkommt. Ehrlich, ganz ehrlich. Weißt du, ich war so sauer und fühlte mich irgendwie einsam.“
 

„Und warum bist du dann nicht zu mir gekommen?“

Irgendwie wehrte sich etwas in seinem Innern dagegen, Mark zu glauben.

„Warum brauchtest du in den zwei Tagen schon eine Neue? - Außerdem hätte ich ja wohl mehr Grund als du gehabt, sauer auf dich zu sein! Nachdem du mir solche Sachen an den Kopf geworfen hast“, er wandte unversöhnlich den Kopf ab und versuchte sich von Mark zu lösen, doch dieser gab ihn nicht frei.

„Lass mich los! Ich kann nicht denken, wenn du mir so nah bist!“, unwillig schüttelte er den Kopf und versuchte erneut, Mark von sich zu schieben.
 

Aber ein Mark ließ sich natürlich nicht so einfach loswerden! Mit einer schnellen Handbewegung beförderte er Andre auf sein Bett und legte sich über ihn.

Warum musste er eigentlich so ein Theater machen?

Karen war weg und sie beide waren allein. Also, wo war das Problem? Mark hatte die berühmten drei Worte gesagt, also sollte sein Bruder doch zufrieden sein! Er hatte es sogar ehrlich und aufrichtig gemeint!! Andre müsste doch eigentlich einen Kniefall machen. Aber nein, dass wäre ja zu einfach. Andre wollte wohl mal wieder erobert werden. Zärtlich begann Mark ihn zu küssen und fuhr langsam mit einer Hand unter das Oberteil seines Bruders.
 

Erschrocken japste Andre nach Luft, als er aufs Bett geworfen wurde und spürte auch schon sofort die flinke Zunge seines Bruder, die sich zwischen seine Lippen schob.

Doch dieses Mal würde er nicht klein bei geben!

Entschlossen presste er die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg.

„Lass das! Nicht jetzt!“, fauchte er und starrte Mark trotzig an.
 

„Nein? Bist du dir sicher, Kätzchen?!“

Mark streichelte sanft über die Wange seines Bruders und zwang ihn so, ihm in die Augen zu sehen. Er presste sich immer fester an Andre und zeigte ihm so deutlich seine Absichten. Er fuhr unwillkürlich durch die braunen Haare und wollte ihn gerade küssen, als er Andres wütenden Blick wahrnahm, der ihn dazu veranlasste, sich ein Stück zurückzuziehen.

„Was erwartest du jetzt eigentlich von mir? Soll ich dir ein Liebesgedicht schreiben? Oder soll ich mich für meine furchtbar schlechten Taten entschuldigen? Also, ich dachte immer, aus diesem Alter wären wir raus!“
 

Andre verengte die Augen zu Schlitzen.

„Das sage ich doch gar nicht! Aber mit Sex lassen sich auch nicht alle Probleme aus der Welt schaffen!“
 

Mark setze sich auf und starrte seinen Bruder einen Augenblick lang an.

„Gut, dann lass uns mal reden!“
 

Andre blinzelte überrascht.

„Wirklich?“

Sonst ließ sich Mark doch auch nicht so schnell überzeugen.

Seltsam, was war nur heute los mit ihm?
 

Vorsichtig streichelte Mark über den warmen Bauch seines Bruders und zog seine Beine an sich heran. Was dachte Andre eigentlich von ihm? Hatte er nicht schon bewiesen wie sehr er ihn liebte? Reichte das immer noch nicht?

„Was erwartest du eigentlich von mir? Ich verstehe einfach nicht, was ich noch machen soll, damit du glücklich bist! Denkst du, ich kann noch nicht einmal mit dir sprechen? Glaubst du eigentlich, dass ich dich nicht verstehe?“
 

Sofort schüttelte Andre den Kopf.

„Nein, so meinte ich das nicht“, sagte er. „Du bist der einzige, der mich wenigstens ansatzweise versteht, aber...“, er stockte kurz. „Aber wenn du mich wirklich glücklich machen willst, warum machst du dann mit Karen rum? Warum wolltest du mit ihr schlafen, wenn du mich doch liebst, wie du es gesagt hast?“
 

„Mein Gott, ich lass mich eben nur nicht von dir verarschen. Außerdem war da gar nichts bei!! Sie bedeutet mir nichts!“

Mark sprang auf und begann unruhig im Zimmer auf und abzugehen. Warum musste eigentlich alles zwischen ihnen so kompliziert sein? Dabei hatten sie doch schon soviel zusammen durchgestanden, da war doch so was eine Lappalie!

„Weißt du eigentlich, was ich alles für dich riskiere? Oder glaubst du Papa hasst nur dich? Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es ist mit ihm zusammenzuwohnen? Aber das vergisst du natürlich zu gern, ist ja auch einfach. Soweit kannst du nicht denken. Das wird dann völlig nebensächlich. Das einzige, was für dich zählt ist, ob ich jetzt mit ihr rummache oder nicht.“
 

„Das ist nicht wahr! Ich habe genauso große Probleme mit Mama; für mich ist das auch nicht einfach! – Und natürlich ist es für mich wichtig, ob du mit ihr rummachst oder nicht!“
 

„Wie oft soll ich dir das eigentlich noch sagen? Sie bedeutet mir rein gar nichts. Wir haben schon so viel durchgestanden. Meinst du, ich schmeiße alles weg? Wenn es mir doch nicht ernst mit dir wäre, würde ich wohl kaum Himmel und Hölle in Bewegung setzen, nur damit ich bei dir sein kann. Kannst du mir nicht einfach vertrauen? Ich liebe dich!“

Erschöpft ließ sich Mark auf seinen Schreibtischsuhl fallen und schloss kurz die Augen. Er hatte doch auch nur diesen einen Menschen auf der Welt!

„Können wir mit diesem Gespräch nicht Schluss machen? Noch ein Liebesgeständnis bekommst du nämlich nicht mehr!“
 

Andre schluckte. Nur ganz selten ließ Mark einmal eine Schwäche anmerken, auch wenn sie von noch so kurzer Dauer war. Er musste es einfach ernst meinen.

Noch einmal warf er Mark einen kurzen Blick zu, bevor er ebenfalls aufstand und sich langsam auf ihn zu bewegte. Ein warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich rittlings auf den Schoß seines Bruders fallen ließ und ihm die Hände um den Nacken legte.

„Ich verzeihe dir“, sagte er leise. „wenn du versprichst, dass du es nie wieder tun wirst. Denn teilen will ich dich ganz bestimmt mit niemandem!“

Er beugte sich vor und streifte kurz Marks Lippen mit seinen.

„Ich liebe dich auch!“
 

Mark versteckte sein Gesicht in Andres Halsbeuge und atmete einmal tief durch. Er musste sich wieder unter Kontrolle bringen, sonst würde sein Kätzchen irgendwann noch mal denken, er könnte ihm auf der Nase herumtanzen.

Vorsichtig legte er die Arme um seinen Bruder und zog ihn so noch näher zu sich. Wer war schon Karen?

Spielerisch fuhr er mit seinen Fingerspitzen über Andres Rücken und begann, jeden einzelnen Wirbel zu zählen. Dieses Mal verspürte er nicht den Drang, seinen Bruder einfach nur ins Bett zu ziehen. Mark genoss einfach nur die Geborgenheit und das Vertrauen zwischen ihnen, während er sich noch fester an ihn drückte. Diesmal war Andre wirklich sauer gewesen und kurz davor, sich von ihm zu trennen. Aber Mark würde ihn bestimmt niemals gehen lassen und alles, was sich jemals zwischen sie stellen würde, auslöschen.
 

Andre schmiegte sich glücklich an Mark und schloss die Augen. Ja, er hatte ihm verziehen, und er glaubte ihm. Sie gehörten einfach zusammen.

Liebevoll hauchte er ihm einen Kuss auf die Wange und kicherte als Mark sich mit dem Fuß abstieß, und sie zusammen auf dem Schreibtischstuhl durch das Zimmer rollten.
 

Dann jedoch hörten sie ein lautes Poltern aus Richtung Tür und Mark blickte erschrocken auf. Irgendjemand war doch da draußen.

Unwillkürlich drückte er Andre noch fester an sich, als ihn auch schon ein aufgebrachter Schrei zusammenfahren ließ. Immer wieder sah er, wie die Türklinke hinuntergedrückt wurde und hörte das laute Schnauben seines Vaters sogar durch die Tür.
 

„Macht sofort die Tür auf, ihr kleinen Bastarde! Oder ich komme rein!“
 

„Verdammt“, Andre zuckte zusammen. „An den hatte ich gar nicht mehr gedacht.“

Hilfesuchend blickte er Mark ins Gesicht. „Was machen wir jetzt? Wenn er-“, er stockte und keuchte erschrocken auf, als die Tür nachgab und aus den Angeln brach und ihr Vater sich wutschnaubend vor ihnen aufbaute.
 

Sofort versteifte sich Mark, schob Andre schnell von seinem Schoß und stand auf. Hasserfüllt blickte er seinen Vater an, während er sich langsam vor seinen Bruder stellte. Noch einmal streichelte er zärtlich über Andres Bauch, bevor er die Hände zu Fäusten ballte, bereit, sie beide zu verteidigen, sollte ihr Vater wirklich handgreiflich werden.
 

„Du!“

Ihr Vater trat einen Schritt vor und packte Mark drohend am Hemdkragen.

„Ich dachte, du hättest endlich eine Freundin und wärst auf dem Wege der Besserung!“, er schnaubte und zog Mark näher zu sich heran. „Und dann sehe ich das hier! Ich habe mich schon gefragt, warum das nette Mädchen so wutentbrannt aus dem Haus gestürzt ist! Jetzt weiß ich ja warum! – Und du“, er zeigte mit dem Finger der freien Hand auf Andre. „Verschwinde sofort aus meinem Haus, du Perverser!“
 

Blitzartig riss Mark sich los und stellte sich erneut vor seinen Bruder. Solange er noch einen Funken Leben in sich hatte, würde niemand, absolut niemand seinem Bruder auch nur ein Haar krümmen dürfen. Nicht einmal sein Vater. Niemand rührte sein Kätzchen an!

Er wollte gerade auf seinen Vater losgehen, als er merkte, dass Andre ihn zurückhielt.
 

„Nicht! Warte!“ Andre packte seinen Bruder am Arm. „Ich will keinen Ärger, ich werde gehen.“

Er wollte nicht, dass Mark sich noch mehr mit seinem Vater zerstritt, oder dass sie noch aufeinander losgingen. Er hatte es ja schon schwer mit seiner Mutter, aber ihr Vater war noch schlimmer, wenn er einmal wütend war.

Wenn Mark ihn wirklich so sehr liebte, wie er ihn, würden sie es auch so schaffen, ohne eine Prügelei mit ihrem Vater. Hauptsache, sie hatten sich!

Schnell trat er vor und drückte Mark einen Kuss auf die Lippen, bevor ihr Vater reagieren konnte und hoffte, dass diese Geste Mark ein wenig beruhigen würde.

„Er ist es nicht wert“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Lass ihn, er kann gegen uns nichts ausrichten, solange wir zusammen halten. Wir sehen uns morgen. Ich liebe dich!“

Kurz strich er Mark beruhigend über die Wange, bevor er aus der Tür huschte, zu flink für seinen Vater, als dass der ihn hätte festhalten können. Er beachtete ihn gar nicht mehr. Er hatte sich wieder mit Mark vertragen, da konnte selbst sein Vater seine Freude nicht trüben!
 

Verdammt! Mark fluchte innerlich. Warum war Andre jetzt abgehauen? Ihnen konnte es doch wirklich egal sein, was ihr Vater von ihnen dachte! Er hasste sie ja sowieso, ein bisschen mehr oder weniger Ablehnung war eh egal, das machte den Braten nicht fett!

Provozierend kam Mark auf seinen Vater zu, dessen Gesicht immer noch wutverzerrt war.

„Verschwinde aus meinem Zimmer, bevor ich mich vergesse!“ Mit diesem Worten setzte er sich langsam wieder auf seinen Schreibtischstuhl und fokussierte seinen Vater, der nach kurzem Zögern jetzt ruhiger das Zimmer verließ.
 

Gegen diese undankbare Brut war er machtlos.
 


 

~Ende Teil 4~

Fünf

~*~ Teil 5 ~*~
 

Ein paar Tage später schlenderte Andre über den Schulhof, in Richtung Nonnengarten, wo sich der Teich befand und so auch logischerweise die Teich-AG. Ja, die Schule hatte einen eigenen kleinen Garten, um den sich die Schwestern zusammen mit dem Hausmeister kümmerten. Vor allem Schwester Genepper liebte diesen Garten, und verbrachte jede freie Minute in ihm. Was Andre nicht gerade von sich behaupten konnte; er hasste die AG und ihre Schuldirektorin, ebenfalls eine Schwester, die ihn dazu verdonnert hatte, daran teilzunehmen. Was interessierte es ihn, ob die Fische einen neue Pumpe brauchten, damit das Wasser nicht zufror und sie nicht erstickten?
 

Das einzig Gute daran war, dass Mark in dieser Stunde ebenfalls noch Unterricht hatte, und sie dann zusammen die Schule verlassen konnten, ohne dass ihnen jemand einen Vorwurf hätte machen können.
 

Andre lächelte bei dem Gedanken an Mark. Obwohl es trotz Versöhnung noch immer ein wenig schmerzte, dass sein Bruder mit diesem Mädchen rumgemacht hatte, war Andre ihm nicht mehr böse. Mark liebte ihn, sonst würde er wirklich nicht so vieles auf sich nehmen, nur um mit ihm zusammen sein zu können, wie er gesagt hatte.
 


 

Schon von weitem sah Andre die kleinen Fünftklässler um den Teich schwirren und grinste. Es waren natürlich schon alle da, aber er kam schließlich aus Prinzip immer zu spät. Er setzte einen Fuß auf den Rasen und hob lässig eine Hand zum Gruß, als er die kleine Nonne entdeckte, die kaum größer war als ihre Schüler.
 

„Tag, Schwester Genepper!“
 


 

Sie jedoch hob mahnend den Zeigefinger.
 

„Du bist schon wieder zu spät, Andre“, rügte sie, doch Angesprochener zuckte nur die Schultern.
 


 

„Ich dachte, dann wären sie schon fertig und ich müsste nicht mehr helfen!“, antwortete er grinsend und drehte sich nach rechts, um seinen Rucksack an den großen Baum zu lehnen.
 

Als er Michael dort stehen sah, hielt er irritiert inne und wunderte sich, warum sich plötzlich so ein merkwürdiges Gefühl in seinem Bauch ausbreitete.
 

Michael schien ihn gespürt zu haben, denn er wandte sich in seine Richtung und Andre sah, wie sich ein Lächeln auf dessen Gesicht ausbreitete.
 

„Hi! Was machen Sie denn hier?“, fragte er, noch immer verwundert und warf seinen Rucksack auf den Boden. „Sagen Sie jetzt nicht, Sie nehmen freiwillig an dieser AG teil!“, skeptisch zog er eine Augenbraue hoch.
 


 

Wirklich toll! Hilflos stand Michael in mitten einer Horde Fünftklässer und wünschte sich, endlich nein sagen zu lernen. Wieder einmal ein guter Vorsatz für das neue Jahr.
 

Er überlegte gerade, wie er am besten unbemerkt fliehen konnte, als er Andre kommen sah. Na, da hatte Michael mit seiner Überlegung wohl recht gehabt. Welcher Elftklässer wäre auch sonst zur Teich-AG verdonnert worden?
 

Lächelnd kam er auf Andre zu und schaute sich um, ob Schwester Genepper irgendwo in Sichtweite war. Er wollte hier wirklich keine heulende Nonne haben, die tief enttäuscht von ihm wäre.
 

„Also wirklich freiwillig bin ich nicht hier, die Nonne ist nämlich wie eine lästige Zecke. Ich konnte einfach nicht nein sagen! Aber ich freue mich, dass ich zumindest nicht ganz allein den Teich umgraben muss.“
 


 

Andre lachte. „Hab ich’s mir doch gedacht! Ich bin auch nicht ganz freiwillig hier“, er schaute sich um, als er Schwester Genepper rufen hörte.
 

„Na, dann wollen wir mal!“, er krempelte seine Ärmel etwas hoch, zwinkerte Michael kurz zu und mischte sich unter die Horde Fünftklässler.
 


 

Fasziniert beobachtete Michael, wie gut Andre mit den Kleinen umgehen konnte. Er schien wirklich beliebt zu sein. Ein dickliches, rothaariges Mädchen bat Andre sogar um ein Autogramm. Michael war zwar klar, dass Andre hier auf der Schule der absolute Frauenschwarm war, aber ein Autogramm?
 

Andre hingegen schien das jeden Tag zu machen und fragte das Mädchen sogar, ob sie auch noch ein Foto machen wolle. Michael schüttete leicht den Kopf und nahm die Veränderung wahr, die Andre gerade durchmachte. Es erinnerte rein gar nichts mehr an den weinenden Jungen im Sanitätsraum, jetzt war Andre eher wieder der King.
 


 

Andre setzte sich gekonnte in Pose und schwafelte irgendein dummes Zeug, während er mit seinen Armen jedes einzelne Wort noch einmal pantomimisch darstellte. Michael hörte die Mädchen lachen, als Andre sich auf einen kleinen Hügel stellte und irgendetwas von einer preisgekrönten Flugrolle erzählte. Die Fünftklässer begannen zu applaudieren, während er Anlauf nahm und einen wirklichen grazilen Purzelbaum auf dem Rasen machte. Grinsend sprang Andre wieder auf und verbeugte sich.
 


 

„Das hast du wirklich großartig gemacht. Wie viele Jahre musstest du denn dafür üben?“
 

Lächelnd klopfte Michael Andre auf den Rücken und schaute ihn gespielt bewundernd an.
 

„Du bist ein herausragender Sportler. Die ganze Schule, nein ganz Deutschland, ist stolz auf dich. Die Olympischenspiele 2004 sind dir sicher!“
 


 

Andre grinste breit.
 

„Ja!“, sagte er gedehnt. „Keiner ist so gut wie ich!“
 

Doch kurz darauf verdrehte er schon wieder die Augen, als erneut Schwester Geneppers Stimme zur Arbeit antrieb.
 


 

„Andre? Komm doch mal bitte her und trag den Sack Kieselsteine an den Teich, ja? Bitte sei doch so gut.“
 


 

Andre quittierte das mit einem ergebenen Seufzen.
 

Doch auch die kleine Nonne konnte seine gute Stimmung im Moment nicht trüben. Er verstand sich super mit Michael und hatte sogar mal Spaß an der Teich-AG. Und das wollte etwas heißen!
 

„Bei ihrem Teich kennt sie echt kein Pardon!“
 


 

„Na, da hast du wohl recht! Kann ich dir dabei helfen? Ich fühle mich hier nämlich nutzlos.“
 


 

„Klar! Wenn Sie wollen?“
 

Etwas überrascht, dass der junge Student hier wirklich helfen wollte, wo er doch gar nicht so ganz freiwillig hier war, ging Andre neben Michael her.
 

„Warum haben Sie sich eigentlich diese Schule hier ausgesucht?“, fragte er dann. „Sind Sie hier aus der Gegend?“
 


 

Michael war froh mal ein paar Minuten mit Andre allein sein zu können. Er wollte einfach herausfinden, wie Andre wirklich war! Er blieb vor dem Sack mit Kieselsteinen stehen und schaute Andre direkt in die Augen.
 

„Ich hoffe, dass es dir besser geht und dass du das Problem irgendwie aus dem Weg geräumt hast.“ Michael ging nicht auf Andres Frage ein, das könnten sie auch bereden, wenn die anderen dabei waren.
 


 

Andre runzelte die Stirn, als Michael schon wieder darauf zu sprechen kam. Er hatte wirklich gehofft, dass dieser es vergessen hätte. Er wollte jetzt wie auch vor ein paar Tagen nicht mit Michael darüber reden, also zuckte er nur wieder die Schultern und zeigte auf den Sack voll Kieselsteine, um vom Thema abzulenken und nicht mehr in Michaels Augen sehen zu müssen. Er hatte das Gefühl, als würden sie genau in ihn hineinsehen können, und das gefiel ihm überhaupt nicht.
 

„Fassen Sie an der Seite an, dann nehme ich die andere“, bestimmte er und bückte sich, um den Sack anzuheben.
 


 

Also so leicht würde er ihn nicht loswerden können.
 

Michael machte keine Anstalten den Sack zu nehmen, sondern schaute Andre immer noch stumm an. Betroffen stellte er fest, dass ihm Andre überhaupt nicht zu vertrauen schien. Dabei wollte er ihm doch nur helfen.
 

Michael spürte, dass Andre nicht mehr so verzweifelt wie damals im Sanitätsraum war. Trotzdem schien es, als würden ihm immer noch ganze Felsbrocken auf dem Herz liegen. Er hatte so eine traurige Art, die er durch seine dümmlichen Scherze zu verstecken versuchte.
 

Unbewusst trat Michael einen Schritt auf ihn zu.
 


 

„Hey, was ist? Ich dachte…“
 

Andre blickte hoch und stockte, als er merkte, dass Michael nun ganz nah bei ihm stand. Wieder überkam ihn dieses komische Gefühl, von dem er nicht wusste, was es war, und ob es gut oder schlecht war. Er schluckte.
 

„Ist irgendwas?“, fragte er unsicher und richtete sich zögernd wieder auf. „Ihnen ist der Sack doch nicht zu schwer, oder?“, versuchte er zu scherzen, doch irgendwie gelang es ihm nicht wirklich.
 


 

Plötzlich verspürte Michael den Drang, Andre einfach nur in seine Arme zu schließen und sämtliche Probleme verjagen zu wollen. Er wollte nicht mehr länger in diese traurigen Augen schauen! Er wollte ihm helfen!
 

Michael konnte sich nicht mehr länger zusammenreißen. Er sah immer wieder die Bilder, wie Andre so völlig schutzlos auf der Liege lag. Wieder trat er einen Schritt vor, während er Andre tief in die Augen schaute.
 

Jetzt oder nie!
 

Er legte eine Hand in seinen Nacken und beugte sich langsam zu Andre nach unten. Mit einer Hand streichelte er über dessen Rücken, während er ihn einfach an sich zog und ganz vorsichtig seine Lippen auf Andres legte.
 

Michael spürte seine Überraschung, aber ihm schien es zu gefallen, jedenfalls wehrte er sich nicht. Dadurch angespornt wurde Michael etwas selbstbewusster und vertiefte den Kuss.
 


 

Völlig entgeistert starrte Andre Michael an, während er dessen warme Lippen auf seinen spürte. Er war viel zu überrascht, um sich zu wehren.
 

Warum hatte er es nicht kommen sehen? Alles war so schnell gegangen, dass er nicht einmal die Gelegenheit dazu gehabt hatte, den Kuss abzuwehren.
 

Er war erstaunt, wie warm Michaels Lippen waren und wie gut sie auf seine passten. Er hatte immer gedacht, niemand könne so gut küssen wie Mark, aber er musste sein Urteil revidieren.
 

Wieder war da dieses Gefühl, aber diesmal war es alles andere als unangenehm und ehe er sich versah, hatten sich seine Lider schon flatternd gesenkt und er eine Hand zaghaft auf Michaels Brust gelegt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Beine fühlten sich plötzlich so gummiartig an…
 


 

~*~
 


 

Gelangweilt starrte Mark aus dem Fenster und bedauerte sein hartes Schicksal. Geschichte bei Happi! Konnte es eigentlich etwas Schrecklicheres geben?
 

Auf seiner alten Schule hatten sie eine richtig labile, kleine Lehrerin gehabt, der die gesamte Klasse auf der Nase herumtanzte. Da fand wenigstens kein Geschichtsunterricht statt.
 

Aber was tat man nicht schon alles für sein kleines Kätzchen!
 

Mark streckte sich auf seinen Stuhl aus und dachte wieder einmal an den Abend, an dem Andre ihn mit Karen erwischt hatte. Er war glücklich, dass es nicht zum absoluten Streit gekommen war und sie sich wieder vertragen hatten. Was sollte er nur ohne sein Kätzchen anfangen?
 

Mark schaute auf seine Uhr. Gleich müsste doch die Teich-AG anfangen, dann könnte er seinen Bruder wenigstens von weitem anschauen und es würde nicht mehr so langweilig sein.
 

Ah, da war er ja schon! Fasziniert beobachtete er, wie Andre von einem Pulk Kinder umzingelt wurde und schon wieder schauspielerte. Mark musste sich zusammenreißen,
 

um nicht laut aufzulachen, als sein Bruder einen Purzelbaum schlug. Er hatte eindeutig zu viel Energie.
 


 

Gerade stellte sich Mark vor, womit er Andre heute überraschen könnte, als ihm ein großer, blonder Typ auffiel.
 

Was gaffte der sein Kätzchen eigentlich so an?? Wütend ballte Mark seine Hände zu Fäusten. Der sollte ihm mal über den Weg laufen!
 

Er sah, wie der blonde Kerl sich mit Andre unterhielt und sogar mit ihm zu lachen schien. Missmutig bemerkte er, wie sich die beiden etwas abseits von den anderen bewegten und vor einem Sack stehen blieben.
 

Wenn das so weiterging, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als dem Blonden einzutrichtern, dass er gefälligst die Finger von seinem Kätzchen zu lassen hatte. Er würde ihn so fertig machen. Zuerst richtig auf die…
 


 

Entsetzt sprang Mark auf. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein!
 

Sein Kätzchen ließ sich von diesem Affen küssen?!
 

Aber auch, als er noch einmal blinzelte, verschwand das Bild vor seinen Augen nicht!
 

Das konnte er unmöglich zulassen. Andre gehörte ihm ganz allein!
 

Mit einem lauten Aufschrei rannte Mark zum Fenster und achtete nicht auf die entsetzten Blicke seiner Mitschüler. Er überhörte den Befehl von Christian sich wieder hinzusetzten und öffnete das Fenster.
 

Wie konnte Andre nur so etwas machen? Ihm so eine Szene mit Karen machen und dann selber…
 

Blind vor Wut sprang Mark zuerst auf das Fensterbrett und dann aus dem Fenster. Es war zwar nur das Erdgeschoss, aber in diesem Augenblick hätte es für ihn auch die dritte Etage sein können. Er musste sofort dazwischen gehen und dieses Arschloch auslöschen.
 

Zielbewusst rannte er auf Andre und Michael zu. Er würde sie fertig machen!
 


 

„Mark!“, Christian wollte Mark gerade noch einmal zurechtweisen, doch auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben, als er sah, wie dieser aus dem Fenster sprang.
 

„Mein Gott, Mark!“
 

Er hechtete zum Fenster und sah seinen Schüler, wie dieser auf den Nonnengarten zu rannte. Schnell ließ Christian seinen Blick dorthin schweifen und erstarrte.
 

„Du liebe Güte…“, flüsterte er, als er dort Michael sah, der Andre gerade küsste. Das würde Ärger geben.
 

„Mark!“, rief er noch einmal aus dem Fenster, doch Gerufener blieb natürlich nicht stehen.
 

„Bleibt in der Klasse, Kinder, und rührt euch nicht von der Stelle!“, wies er seine Klasse an, bevor er selbst aus dem Raum stürmte – er jedoch nahm die Tür.
 

Er musste unbedingt verhindern, dass die ganze Sache eskalierte!
 


 

Mark wurde immer schneller, je näher er den beiden kam. Andre schien wirklich glücklich zu sein… Dieser Gedanke machte ihn rasend vor Wut. Er hatte nicht das Recht in den Armen eines Anderen zu liegen. Andre gehörte ihm!
 

Mark sah und hörte nichts mehr. Sein einziger Gedanke war: Rache!
 

Er hatte alles für seinen Bruder getan. Und dann so was! Das würde er ihm nie verzeihen!
 

Mit einer unglaublichen Kraft schleuderte er Michael zu sich herum und trennte ihn so von Andre. Dieser Kerl würde nicht mehr lange auf dieser Welt sein!
 


 

Gerade noch versunken in Michaels Kuss, spürte Andre, wie Michael plötzlich von ihm weggerissen wurde, und schwankte, da dieser ihn nicht mehr festhielt.
 

Erschrocken riss er die Augen auf und sah als erstes Marks wutverzerrtes Gesicht.
 

Oh Scheiße!
 


 

Was war das denn jetzt? Michael spürte eine Hand, die sich in seine Schulter krallte und sah plötzlich in Andres Gesicht. Aber das konnte doch jetzt nicht Andre sein. Nein, das war bestimmt der Zwillingsbruder. Was war hier eigentlich los?
 

Michael versuchte sich von Mark loszureißen, doch das war leichter gedacht als getan. Dessen Wut verlieh ihm eine unglaubliche Kraft. Plötzlich sah Michael auch schon eine Faust auf sich zukommen.
 

Er hatte gerade noch die Zeit seine Augen zu schließen, als er auch schon zu Boden ging. Gequält hielt sich Michael die Nase fest. Warum musste das ausgerechnet ihm passieren? Hätte es nicht einfach jemand anderen treffen können?
 


 

Gerade wollte Michael in Selbstmitleid verfallen, als er plötzlich bemerkte, dass Mark zum Tritt ansetzte. Er würde doch jetzt nicht einen Wehrlosen….
 

Doch, er würde! Michael stöhnte vor Schmerzen auf und konnte sich glücklicherweise vor dem zweiten Tritt noch in Sicherheit bringen. Jetzt war ganz eindeutig der Fall einer gerechten Selbstverteidigung aufgetreten. So sehr Michael auch Gewalt verabscheute, er musste diesen Irren irgendwie zur Ruhe bringen.
 


 

Andre keuchte erschrocken auf, als er sah, wie Marks Faust in Michaels Gesicht landete und der zu Boden ging. Erst, als er Marks Tritt realisierte, konnte er sich aus seiner Erstarrung lösen.
 

„Mark, nein!“, schrie er entsetzt und warf sich zwischen seinen Bruder und Michael, der sich gerade aufzurappeln versuchte.
 


 

Andres Getue machte Mark noch wütender. Er schaute ihn mit einem todesverheißendem Blick an. Mark musste sich zusammenreißen um nicht auch noch auf ihn loszugehen.
 

Unwillkürlich begann er zu lachen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
 

Er hatte ihn fertig gemacht. Sein Leben zerstört und ihm sein Herz rausgerissen.
 

Erschöpft blickte er seinen Bruder an. Für ihn hatte er seine Familie aufgeben, sein Leben verändert. Es war doch wirklich urkomisch. Wie konnte er nur so irre sein?
 

„Ich finde es ja richtig süß, wie du dich für deinen Lover einsetzt. Wie lange geht das schon? Du wolltest dir einfach nur zwei Kerle freihalten, die es dir besorgen, was? Ja so bist du halt. Das hätte ich eigentlich früher merken müssen, anstatt alles für dich aufzugeben. Das hast du doch gar nicht verdient! Du bist einfach nur ein Stück Dreck!“
 


 

Andre zuckte zurück, als hätte Mark ihn geschlagen.
 

„Das ist nicht wahr, das weißt du!“, er versuchte, Mark am Arm zu fassen, doch der schlug seine Hand beiseite. „Er ist nicht mein Lover! Ich… Er… Es ist halt irgendwie so passiert… ich… Mark, bitte!“, flehte er mit Tränen in den Augen.
 

Wie hatte das nur passieren können? Wieder war alles so schnell gegangen…
 


 

Erneut lachte Mark auf. Er war wirklich kurz davor den Verstand zu verlieren. Selbst das hatte Andre ihm genommen.
 

Mark ließ sich einfach auf den Boden fallen. Er nahm nicht mehr wahr, dass dieser Kerl ihn wie bescheuert angaffte, er bemerkte auch Christian nicht, der langsam aber sicher näher kam. Mark starrte nur auf sein Kätzchen. Unweigerlich stiegen ihm die Tränen in die Augen, aber das war jetzt auch egal! Seine Wut war verraucht und zurück blieb nur noch eine Leere.
 

Er würde ihn nie mehr küssen, nie wieder in seinen Armen halten. Andre hatte ihn einfach nur benutzt! „Also die Heulnummer brauchst du jetzt auch nicht mehr zu versuchen. Es ist alles zwecklos. Es ist aus, Kätzchen!“
 

Marks Blick richtete den Blick irgendwo in die Ferne. Er wollte ihn am liebsten nie mehr wieder sehen. Er wollte einfach nur noch weg. Weg von dieser Familie und weg von Andre.
 


 

Fassungslos nahm Andre die Veränderung an seinem Bruder wahr. So fertig hatte er ihn noch nie erlebt. Und es war seine Schuld!
 

„Mark!“, er schluchzte den Namen mehr, als dass er ihn rief.
 

Es konnte doch jetzt nicht alles aus sein! Michael hatte ihn doch nur kurz geküsst…
 

Ohne nachzudenken, ließ er sich vor Mark auf die Knie fallen und warf sich ihm an den Hals.
 

„Nein! Bitte, verlass mich nicht! Er hat mich nur ganz kurz geküsst! Wirklich! Verlass mich nicht! Ich liebe dich doch!“, schluchzte er heiser, dass nur Mark seine Worte verstehen konnte.
 


 

Mark wollte sich einfach nur in Luft auflösen. Er wollte nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Und vor allem wollte er Andres Wärme nicht mehr spüren, so quälend vertraut.
 

Schwach wandte sich Mark wieder aus den Armen seines Bruders und stand langsam auf.
 

Erschöpft lächelte er Andre an.
 

„Es ist schon traurig, dass du es noch nicht einmal laut sagen kannst, oder? Ist es so schwer zu sagen, dass du mich liebst? Es ist doch eh nur eine Lüge! Aber selbst eine Lüge dürfen die anderen nicht hören, was? Aber ich kann es sagen. Ich habe dich nämlich wirklich GELIEBT!“
 

Die letzten Worte schrie Mark über den angrenzenden Schulhof und den kompletten Nonnengarten. Ihm war egal, dass alle ihre Tätigkeiten beiseite legten und ihn anstarrten. Selbst Herr Happ vergaß seinem Schwager ein Taschentuch zu reichen und schaute die beiden nur fassungslos an.
 


 

Vor lauter Tränen konnte Andre kaum noch etwas sehen und sah Mark nur noch verschwommen, als er ihn von unten aus anschaute.
 

„Nein… NEIN!“, schrie nun auch er. „Das ist nicht wahr!“
 

Schwankend stand auch er auf und stellte sich vor seinen Bruder.
 

„Warum machst du jetzt alles kaputt, Mark? Ich habe dir doch gesagt, dass er mich nur kurz geküsst hat und es mir nichts bedeutet hat! Warum wirfst du deswegen gleich alles weg?! Was war denn mit Karen?!“
 

Mittlerweile waren ihm die neugierigen Blicke der anderen auch egal, er bemerkte sie nicht einmal mehr.
 


 

Mark konnte nur noch flüstern und schaute Andre noch nicht einmal mehr ins Gesicht.
 

„Ich habe gar nichts kaputt gemacht! Das warst ja wohl du. Du ganz allein! Es hat doch alles keinen Sinn mehr. Ich sollte mich wohl doch besser an Karen halten. Weißt du, sie hat mich gefragt ob ich mit ihr in den Wintersport fahren möchte. Ich glaube, ich werde das Angebot annehmen. Lass uns einfach Schluss machen. Ich habe keinen Bock mehr auf diese Scheiße.“
 

Mark schaute sein Kätzchen noch einmal traurig an und trat einen Schritt auf ihn zu. Ein letztes Mal beugte er sich zu seinem Bruder, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und küsste ihn zärtlich. Danach drehte er sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort.
 


 

Wie erstarrt stand Andre da, fühlte noch die tränenfeuchten Lippen seines Bruders.
 

„MARK!“, schrie er ihm hinterher, wusste aber gleichzeitig, dass es keinen Sinn hatte, genau wie es keinen Sinn gemacht hätte, ihm hinterher zu laufen. Mark war weg und er würde nicht mehr zu ihm zurückkommen…
 

Und das alles nur, weil Michael ihn geküsst hatte!
 


 

In verzweifelter Wut wirbelte Andre herum und stapfte auf ihn zu, der von Herrn Happ gestützt wurde, gab ihm eine schallende Ohrfeige.
 

„Das ist alles Ihre Schuld!“, fauchte er wütend, obwohl er noch immer von Schluchzern geschüttelte wurde und ihm die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen liefen.
 

Er musste seine aufgestauten Gefühle einfach irgendwo rauslassen, sonst würde er verrückt werden.
 

Mark hatte so endgültig geklungen. Dabei konnte er ohne ihn doch nicht leben!
 

Nicht einmal ihre Eltern hatten sie trennen können, aber ein Kuss konnte alles zerstören? Ein einziger Kuss, mit dem er auch noch überrascht worden war? Das konnte doch nicht wahr sein!
 

Alles war vorbei…
 

Vorbei!
 

Aus!
 

Schluss!!
 

Weinend sank er kraftlos zusammen und schlang die Arme um seinen Körper.

Sechs

~*~ Teil 6 ~*~
 

Christian starrte Mark nur fassungslos hinterher und zuckte erschreckt zusammen, als der Kopf seines Schwagers unter der Ohrfeige zur Seite ruckte. Einen Arm hatte er um Michaels Taille gelegt, um ihn zu stützen, mit der anderen hielt er ihn an der Schulter zurück, damit er nicht dazwischen ging.
 

Er hatte das Gefühl, sich in einem schlechten Film zu befinden. In einem furchtbar schlechten Film!
 

Er hatte die Worte zwischen den Zwillingsbrüdern genau gehört und war sprachlos. So etwas hatte er noch nie gesehen. Auch hatte er Andre und Mark noch nie so erlebt. So verzweifelt, so wütend. So viel Schmerz hatte er in den Gesichtern lesen können, wie er es sich niemals zwischen zwei Menschen hätte vorstellen können. Und dann dieser letzte Kuss…
 

Als er Andre in sich zusammensinken sah, entfuhr ihm ein gekeuchtes „Mein Gott!“.
 

War das der Grund gewesen, warum man die Zwillinge getrennt hatte?
 


 

Alles war still, kein Wort war zu hören, keiner traute sich etwas zu sagen. Einzig Andres Schluchzer zerrissen die unangenehme Stille.
 


 

Entsetzt starrte Michael auf die zusammengesunkene Gestalt, die auf dem Boden saß und leise wimmerte. Es konnte doch unmöglich sein, dass Andre mit seinem Bruder…
 

Verwirrt strich Michael sich über seine gerötete Wange und blickte hilfesuchend zu Christian.
 

Der murmelte jedoch nur etwas, das sich verdächtig nach „Ach du Scheiße!“ anhörte und war somit überhaupt keine Hilfe.
 


 

Langsam kam Michael auf Andre zu, bückte sich zu ihm herunter und streichelte ihm beruhigend über den Rücken. Irgendwie musste er ihn doch trösten, wo es doch seine eigene Schuld war! Er hätte Andre ihn schließlich fragen können, ob er ihn hätte küssen dürfen und ihn nicht einfach so überrumpeln sollen. Die Verantwortung für diese Katastrophe lag bei ihm. Wie konnte er Andre nur so unglücklich machen?
 

Unwillkürlich zog er Andre einfach in seine Arme, ignorierte dabei seine eigenen Schmerzen und störte sich auch nicht daran, dass Andre sich wehrte. Er drückte ihn nur noch fester an sich und murmelte ihm ein „Entschuldige“ ins Ohr.
 


 

Andre spürte, wie ihn jemand umarmte und versuchte sofort sich loszureißen. Er wollte niemanden sehen und erst recht von niemandem berührt werden.
 

Als die Arme sich jedoch nur noch fester um ihn schlossen, riss er die Augen auf und erkannte sofort, wer ihn da festhielt.
 

Nicht jetzt! Nicht er! Nicht Michael!
 

Blind vor Tränen stieß er den jungen Studenten grob vor die Brust und versuchte so, ihn loszuwerden. Gerade seine Berührung konnte er jetzt nicht ertragen.
 


 

„Sch… Komm her. Alles wird wieder gut.“ Michael ließ sich nicht wegstoßen, sondern strich nur weiter beruhigend über Andres Rücken. Er würde alles tun, nur damit Andre wieder aufhörte zu weinen. Wie hatte er nur so egoistisch sein können?
 

Vorsichtig hob er Andres Kinn an, damit er ihm in die Augen sehen konnte. Er hoffte, ihn so wieder in die Realität zurückholen zu können.
 

„Pass auf, Andre. Ich werde mit deinem Bruder sprechen. Ich werde ihm erklären, dass alles meine Schuld gewesen ist. Dein Bruder wird schon einsehen, dass du daran keine Schuld trägst. Er wird dir verzeihen. Bestimmt!“
 


 

Andre weinte nur noch mehr und schüttelte heftig den Kopf.
 

„Nein, niemals… Er wird… nie mehr…“, er verstummte und brach den Blickkontakt. Er konnte Michael jetzt nicht in die Augen schauen.
 

Er sah noch immer Michaels traurige Augen vor sich und schluchzte trocken. Alle waren unglücklich, und das alles wegen ihm. Warum hatte Michael ihn gerade heute küssen müssen? Und warum musste Mark gerade zu dieser Zeit aus dem Fenster schauen und sie sehen?
 

Er ballte die Hände zu Fäusten.
 

„Warum?…“, flüsterte er leise und schloss erschöpft die brennenden Augen.
 


 

Michael legte Andre beruhigend seine warme Hand auf die Wange. Er versuchte sich seine Schmerzen nicht anmerken lassen, weil er glaubte, dass Andre nur noch verwirrter werden würde. Tapfer lächelte er ihn an und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. Am besten sollte er Andre hier erst mal weg bringen.
 

So langsam gewöhnte sich Michael daran, Andre aus peinlichen Situation zu retten. Nur diesmal war es seine Schuld…
 

„Lass uns hier verschwinden. Aber diesmal trag ich dich nicht!“ Okay, der Spruch war zwar doof, aber irgendwie musste er Andre doch wieder aufheitern. Schief lächelte Michael ihn an, stand auf und reichte ihm die Hand, damit sich Andre an ihm hochziehen konnte.
 


 

Andre, der seine Umwelt noch immer gänzlich ausgeblendet hatte, starrte die dargebotene Hand an. Michaels Absichten, ihn mit seinem Spruch zum Lachen zu bringen, waren vergeblich. Aber sein Lächeln… das tat irgendwie gut…
 

Zögernd ergriff Andre die Hand und zog sich hoch, ließ die Hand dann aber so abrupt los, als hätte er sich verbrannt.
 

Seine Beine fühlten sich an, als hätte er sie mindestens ein Jahr lang nicht mehr benutzt und in seinem Kopf drehte sich alles, aber irgendwie schaffte er es trotzdem aufrecht stehen zu bleiben.
 

Ohne den Blick vom Boden zu heben, setzte er sich langsam in Bewegung, um seinen Rucksack zu holen. Weder beachtete er Michael weiter, noch sah er die anderen Umstehenden an.
 

Endlich am Baum angelangt, griff er müde seinen Rucksack und wandte sich zum Gehen. Sie waren ihm doch alle egal. Sollten sie doch denken, was sie wollten.
 


 

Michael hatte keine Zeit sich um seinen lädierten Brustkorb zu kümmern, erst mal war jetzt Andre wichtig.
 

Michael schaute seinen Schwager an und signalisierte ihm, dass er Andre jetzt nach Hause bringen würde.
 

Der schien davon gar nicht begeistert zu sein, aber das war nebensächlich. Es würde viel schwieriger werden Schwester Genepper zu entkommen. Die war gerade wieder zu neuem Leben erwacht, nachdem dieses Schauspiel beendet war und beschäftigte sich mit den Kindern. Die Kleinen sollten schließlich keine bleibenden Schäden davon tragen.
 

Jede Nacht von einem randalierenden Mark träumen zu müssen, wäre auch bestimmt nicht schön.
 


 

Hoffentlich hatten sie, und auch Schwester Genepper, nicht genau verstanden, was zwischen Andre und seinem Bruder gelaufen war. In Michael bereitete sich die vage Hoffnung aus, dass er und Andre vielleicht unerkannt verschwinden könnten. Er müsste sich dann halt für morgen irgendetwas ausdenken, wenn er die Nonne im Lehrerzimmer treffen würde. Oder noch besser, Christian könnte das erledigen.
 

Er blickte seinen Schwager an und formte mit den Lippen ein „Bitte“.
 


 

Herr Happ verstand sofort und war natürlich auch von dieser Idee gar nicht begeistert. Er schüttelte wild mit dem Kopf und stand kurz davor, ein lautes ‚Nein’ über den Hof zu schreien. Doch Michael störte sich nicht daran, sondern flüsterte nur leise „Danke“ und wandte sich wieder an Andre. Wenn sie schnell wären, würde sein Plan, Schwester Genepper zu entkommen, funktionieren.
 


 

Andre bekam die nonverbale Kommunikation zwischen den beiden Schwägern gar nicht mit.
 

Er hielt sich nur krampfhaft an seinem Rucksack fest und versuchte, die wiederaufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
 

Er konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem er so unglücklich gewesen war wie jetzt. Natürlich, Mark und er hatten oft Streit gehabt, auch oft heftigen, aber noch nie hatte Mark so endgültig geklungen. Und noch nie hatte Andre so ein schlechtes Gefühl bei ihren Auseinandersetzungen gehabt.
 

Er spürte tief in seinem Innern, dass sie sich nicht einfach so wieder vertragen würden wie die letzten Male. Eher hatte er die Befürchtung, dass sie es niemals wieder tun würden.
 

Selten hatte er sich so elend gefühlt wie jetzt.
 


 

Aus dem rechten Blickwinkel beobachtete Michael noch die kleine Nonne, als er auch schon mit schnellen Schritten auf Andre zukam. Er konnte einfach nicht anders, als ihm seinen Arm über die Schulter zu legen und Andre so einfach mit sich zu ziehen. Sorgenvoll betrachtete er ihn. Die Augen waren blutrot und hoben sich so von dem weißen Gesicht ab.
 

Noch im Gehen kramte Michael in seiner Hosentasche herum und fand schließlich eine zerdätschten Schokoriegel. In Schokolade waren schließlich viele Glückshormone enthalten. Lächelnd hielt Michael Andre den Riegel unter die Nase, vielleicht würde ihn das ja ein wenig aufheitern.
 

„Ich futtere immer Schokolade, wenn ich Probleme hab. Das hilft wirklich. Du wirst schon sehen, er wird dir verzeihen. Hundertprozentig!“, lächelte er verlegen. Er wusste nicht, was er besseres in diesem Moment hätte sagen können.
 


 

Andre sah den Schokoriegel und schlagartig wurde ihm schlecht.
 

Schnell schob er Michaels Hand beiseite und entwand sich seinem Griff. Etwas zu essen konnte er jetzt wirklich nicht sehen.
 

Zwar konnte er sich Michaels Griff entwinden, das Übelkeitsgefühl jedoch nicht vertreiben. Das Gesicht verziehend presste er eine Hand auf seinen Bauch, bevor er ins Schulgebäude eilte und auf die Toilette hechtete. Er schaffte es noch gerade, bevor er sich über die Kloschüssel gebeugt übergab.
 

Alles lief schief heute! Einfach alles!
 


 

Verdammt! Wie konnte man nur am laufenden Band so viele Fehler machen? Anstatt ihm zu helfen, verschlimmerte Michael die Situation nur noch.
 

Scheiße! So schnell es sein strapazierter Oberkörper überhaupt noch mitmachte, folgte er Andre auf die Toilette.
 

Langsam näherte er sich ihm, bevor er sich überlegte, dass der sicherlich nicht gestört werden wollte. Schließlich war es doch sehr privat sich zu übergeben. Er blieb vor dem WC stehen und versuchte, Andres Würgegeräusche zu überhören, indem er einfach wahllos irgendeine Melodie summte.
 


 

Betreten schaute sich Michael die dreckigen Fensterscheiben an und wartete darauf, dass Andre ihm um Hilfe bat. Nachdem er bereits die zweite Strophe anstimmte wurde ihm erst bewusst, dass er die ganze Zeit ‚White Christmas’ gesummt hatte.
 

Mein Gott, hoffentlich hatte Andre das jetzt nicht gehört. Er würde ihn doch für total bescheuert halten! Michael verstummte schlagartig und wurde stattdessen etwas rötlich. Verlegen schüttelte er leicht den Kopf und klopfte an die Tür. Nein, Andre hatte sicherlich nichts gehört.
 

„Geht’s dir gut? Brauchst du Hilfe? Vielleicht ein Glas Wasser?“
 


 

Andre hatte wirklich nichts mitbekommen, er konzentrierte sich vielmehr darauf, nicht mit dem Kopf ins Becken zu fallen. Er fühlte sich so elend!
 

Michaels Fragen überhörte er einfach. Er wartete einfach, dass sein Magen sich nicht mehr drehte, bevor er die Spülung betätigte. Kurz lehnte er die Stirn gegen die kühlen Kacheln und atmete tief durch.
 

Als er glaubte, sein Magen würde nun endlich Ruhe geben, stand er vorsichtig auf. Hoffend, dass Michael in der Zwischenzeit schon gegangen war, da er nichts mehr von dem jungen Studenten gehört hatte, öffnete er die Tür und musste gegen das Schwindelgefühl ankämpfen, das auf seinem abgesackten Kreislauf zu verdanken hatte. Kurz konnte er einen Blick in Michaels Gesicht werfen, der anscheinend doch noch nicht gegangen war, bevor er sich kurzzeitig an den Türrahmen lehnen und die Augen schließen musste, um nicht umzukippen.
 

Alles drehte sich…
 


 

Schnell kam Michael auf Andre zu, um ihn zu stützen. Wie konnte ein Mensch nur so weiß sein? Das beste wäre wohl, wenn sich Andre erst mal setzen würde.
 

Vorsichtig dirigierte ihn Michael auf den Boden und ließ ihn sich gegen die Wand anlehnen. Der Boden war zwar dreckig, aber immer noch besser als umzukippen.
 

Sehr langsam kniete sich Michael vor Andre.
 

Michael wusste nicht worüber er mit ihm sprechen sollte, nach dieser Aktion brauchte er auch wohl eher Ruhe als ein Gespräch. Also bevorzugte Michael zu schweigen, legte stattdessen seine Hand auf Andres Arm, um ihn wieder etwas zu beruhigen.
 

Doch als er merkte, dass dieser zurückschreckte, nahm er blitzartig seine Hand zurück. War wohl doch nicht so eine gute Idee gewesen. Schnell murmelte er irgendeine Entschuldigung.
 


 

Betreten schaute Michael auf seine Füße. Am liebsten wäre er jetzt an einem anderen Ort. Irgendwo wo diese scheiß Rippen nicht mehr so wehtun würden und er nicht immer so peinliche Dinge tat. Aber Andre brachte ihn immer so völlig aus dem Konzept, dass er ihn am liebsten ständig berühren wollte.
 

Wie konnte dieser Mark nur so eklig zu ihm sein? Schließlich trug Andre keine Schuld an dem Kuss. Wie konnte man so grausam zu dem Menschen sein, den man angeblich liebt?!
 


 

Andre war froh als er endlich saß, sagte aber immer noch nichts.
 

Die Hand auf seinem Arm hatte er nicht ertragen können, aber Michaels Fürsorge fand er wirklich nett.
 

Er atmete einmal tief durch und sagte dann, jedoch matt und mit geschlossenen Augen: „Ich will jetzt nach Hause. Wenn Sie mir hoch helfen, schaffe ich es bestimmt zum Auto.“
 

Er schluckte, als wieder die Übelkeit hochstieg, doch er drängte das Gefühl gewaltsam zurück.
 

Er fühlte sich so leer…
 


 

Michael stand auf und reichte Andre seine Hand. Wieso musste eigentlich alles so scheiße laufen? Hätte er sich nicht einmal in einen Jungen verlieben können, der ihn auch mochte?
 

Nein, stattdessen suchte er sich einen aus, der in seinen eigenen Bruder verliebt war. Was fehlte ihm eigentlich im Gegensatz zu Mark? Die Kunst andere Menschen verletzten zu können, oder was?
 

In diesem Moment fühlte Michael wie Trauer in ihm aufstieg und ein Gefühl der Resignation, das er nicht verhindern konnte, machte sich in ihm breit. Ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er niemals eine echte Chance bei Andre haben würde, oder jemals gehabt hatte. Man würde ihn niemals von seinem Bruder trennen können.
 

Er würde auf keinen Fall gegen den Zwilling ankommen können und wollte es auch gar nicht. Vielleicht war es so am besten, die beiden konnten wahrscheinlich nicht ohne einander, zumindest nach dem zu urteilen, was er da gerade gesehen und gehört hatte.
 


 

Wer sich noch nicht einmal davon abbringen ließ, mit seinem eigenen Bruder zu schlafen, der würde auch alles andere aus dem Weg schaffen, das ihrer Liebe im Weg stehen würde. Michael konnte sich zwar nicht erklären, warum Andres Bruder dann so ein Theater gemacht hatte, aber er war sich sicher, dass sich die beiden wieder zusammenraufen würden.
 

Enttäuscht blickte er an Andre vorbei und versuchte sich damit abzufinden, dass Andre jemanden anderen liebte. Wäre ja auch zu schön gewesen!
 

Plötzlich verspürte Michael das Gefühl Andre loszuwerden zu müssen, wenn auch nur für kurze Zeit. Er wollte einfach nicht länger in diese Augen schauen.
 

„Komm mit. Ich fahr dich nach Hause.“ Damit drehte er sich rum und rannte fast die Treppe herunter.
 


 

Andre konnte ihm nur verwirrt hinterher schauen. Was war denn jetzt losgewesen?
 

Doch er hatte keine Lust, sich in diesem Augenblick darüber Gedanken zu machen.
 

Bedächtig machte er sich auf den Weg und folgte Michael. Eigentlich wollte er lieber allein sein, aber Autozufahren traute er sich in seinem Zustand nun auch wieder nicht und da Michael sich ja angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren…
 

Würde er morgen, falls er dann überhaupt zur Schule gehen würde, eben mit der Bahn zur Schule fahren müssen.
 

Erschöpft trat er auf die Beifahrerseite von dem Auto, neben dem Michael stand und wartete, dass dieser aufschloss.
 

„Danke, dass Sie mich mitnehmen.“
 


 

„Ist doch Ehrensache. Wo wohnst du denn?“
 

Michael stieg ein und wartete bis Andre auch saß. Er sah immer noch sehr blass aus und schien als Ganzes nicht völlig auf dem Damm zu sein. Erneut zog sich Michaels Herz zusammen. Er würde ihn niemals absichtlich so verletzten.
 

Michael fuhr vom Parkplatz und reihte sich in den Verkehr ein.
 


 

Andre nannte ihm seine Adresse und schloss dann erschöpft die Augen. Immerhin weinte er nicht mehr, das war doch schon ein Anfang. Aber dafür fühlte er jetzt eine quälende Leere in sich, als würde etwas Wichtiges in seinem Innern fehlen.
 

Den Kopf an das Polster lehnend ließ er seine Gedanken einfach schweifen, versuchte nur, nicht an seinen Bruder zu denken.
 

Ob ihre Eltern jetzt wohl glücklich waren, wo sich ihre Söhne doch nun endlich entzweit hatten? Sein Herz zog sich bei diesem Gedanken zusammen.
 


 

Da Andre zu schlafen schien, stellte Michael das Radio nicht an. Er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, was sich als großes Problem herausstellte.
 

Warum musste Andre auch so süß aussehen, wenn er schlief? Es schien, als würde die ganze Anspannung von ihm abgefallen sein. Er wirkte zwar unglaublich erschöpft, aber trotzdem nicht mehr so verbissen.
 

Irgendwie musste er sich ablenken. So begann Michael wieder ganz leise zu summen. Ihm konnte jetzt schließlich auch egal sein, ob Andre ihn für bescheuert hielt oder nicht. Versunken in seine Weihnachtsmelodie überlegte er sich, was er dieses Jahr wohl alles verschenken würde. Besonders Christian stellte da ein großes Problem dar. Er hatte ihm doch schon letztes Jahr ein Buch geschenkt.
 


 

Als der Wagen hielt, schreckte Andre auf. Er schien doch wirklich eingeschlafen zu sein. Kurz blinzelte er, um sich zu orientieren und bemerkte, dass sie schon bei ihm zu Hause angekommen waren.
 

Er drehte den Kopf und schaute zu Michael, der ihn zu betrachten schien und brachte ein verwirrtes „Danke“ heraus. Dann öffnete er die Tür, griff seinen Rucksack und stieg aus. Um nicht wieder zu schwanken, stützte er sich auf dem Dach des Autos ab und wartete, bis das Schwindelgefühl wieder abgeklungen war, bevor er sich noch einmal hinabbeugte.
 

„Danke noch mal, dass Sie mich gefahren haben… ich…“
 


 

„Warte, Andre!“ So konnte Michael ihn unmöglich gehen lassen, so traurig und fertig. Wenn er es jetzt nicht klärte, würde er heute Nacht sicher nicht einschlafen können.
 

Er machte noch einmal eine Pause, bevor er leise zu reden begann.
 

„Es tut mir leid, was passiert ist. Du musst mir glauben. Es war wirklich nicht meine Absicht, dass du solche Schwierigkeiten bekommst.“
 

Michael schaute aus dem Fenster und wurde leicht rötlich. Die ganze Situation war unglaublich blöd. Er im Auto und Andre, einer Ohnmacht nahe, draußen. Vielleicht sollte er es besser ein anderes Mal ansprechen, wenn die Atmosphäre besser wäre.
 


 

Nein, Michael kannte sich. Wenn er es jetzt nicht sagen würde, würde er es ewig herausschieben.
 

Er atmete tief durch, blickte wieder in Andres Richtung, doch konnte er ihm nicht direkt in die Augen schauen.
 

„Ich hab dich geküsst, weil ich mich in dich ver… Nein, du bist süß. Ich konnte dich nicht so leiden sehen. Ich weiß nicht, wie dir dein Bruder so was antun kann. Aber ich glaube, ihr werdet euch wieder vertragen. Außerdem, ich verspreche dir, dass ich dir nie wieder zu nah komme. Es ist nur so, es ist so wahnsinnig schwer Abstand von dir zu halten.“
 


 

„Also ich…“, ungläubig starrte Andre Michael an. Er hatte ihn geküsst, weil er süß war und es schwer war, von ihm Abstand zu halten?!
 

Er hatte genau gehört, dass Michael gestockt hatte und eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, aber was?
 

„Sie finden mich süß?“, fragte er deshalb. Und warum hatte Michael so viel Verständnis? Das hätte er nicht erwartet. Die Nonne und die kleinen Kinder hatten zwar auch alles mitbekommen, aber denen könnte er immer noch etwas von einer Theaterprobe oder sonst etwas erzählen, aber Michael? Der hatte alles zwischen ihm und Mark genau mitbekommen und verstanden. Und dann unterstützte er ihn auch noch?
 

Und nur, weil er ihn süß fand?
 


 

Meine Güte, hatte Andre jetzt wirklich nicht verstanden, was Michael ihm eigentlich hatte sagen wollen?
 

Na ja, Michael konnte es ihm eigentlich nicht verübeln, seine Gefühle waren ja auch wirklich unrealistisch und total bescheuert. Aber er musste es einfach sagen und zwar so, dass Andre es auch wirklich verstand.
 

Langsam stieg er aus dem Auto und kam zu Andre herüber. Er konnte ihm schließlich unmöglich ein Liebesgeständnis auf fünf Meter Entfernung machen.
 

Michael spürte wie sein Herz pochte und fühlte den Schmerz in seinem Oberkörper noch intensiver. Er wollte es jetzt so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich dann selbst bemitleiden, einfach nach Hause fahren, ein Schmerzmittel nehmen und sich in die Wanne legen.
 

Aber vorher musste er da noch durch! Am besten kurz und schmerzlos.
 

„Ich hab’ mich in dich verliebt!“
 


 

Andres einzige Reaktion bestand aus einem Blinzeln.
 

Das konnte doch jetzt nicht wahr sein, oder?!
 

„Würden Sie das bitte wiederholen?“, fragte er nur und war überrascht, dass seine Stimme nur ein wenig zitterte.
 

Er musste sich einfach verhört haben!
 


 

Klar, jetzt auch noch zweimal.
 

Michael atmete tief durch, damit er seine Gedanken Andre nicht einfach ins Gesicht schrie. Er wusste ja eigentlich auch, dass es keine Absicht war. Es war nur so schwer. Aber wenn Andre es halt noch mal hören wollte, dann bitte.
 

„Ich habe mich in dich verliebt.“
 


 

Andre schluckte.
 

Das hatte ihm ja gerade noch gefehlt! Also damit konnte er jetzt wirklich nicht umgehen!
 

Musste Michael ihm das ausgerechnet jetzt offenbaren?
 

„Oh Gott“, entfleuchte es ihm, bevor er es verhindern konnte.
 

Nicht das jetzt auch noch!
 

Er hatte jetzt keine Kraft sich damit auseinander zu setzen. Nicht nach dem, was alles heute passiert war. Nicht nachdem Mark…
 

„Tut mir Leid!“
 

Flucht war zwar nicht die feinste Art, aber die sicherste und im Moment die einfachste für ihn. „Ich… Es tut mir wirklich Leid… Ich muss jetzt. Wiedersehen!“
 

So schnell es ihm möglich war, drehte er sich um, kramte seinen Schlüssel aus der Tasche und stürzte ins Haus. Die Tür warf er stürmisch hinter sich ins Schloss und lehnte sich dann zitternd gegen die geschlossene Tür.
 

Das war jetzt gerade nicht passiert, oder?!
 


 

Verdammt! Michael schluckte und ihm wurde schlagartig übel. Hätte er es doch nie gesagt! Wieso muss er auch so ein verblödeter Idiot sein? Hatte er etwa erwartet, dass Andre ihm an den Hals sprang?
 


 

Trotzdem atmete Michael einmal tief durch, um die aufsteigende Trauer zu bekämpfen. Schon das Schlagen der Tür hörte sich so an, als käme es von einem anderen Planeten. Michael war die ganze Situation schrecklich peinlich. Andre würde ihn doch nie mehr richtig anschauen können, ohne an das hier zu denken!
 

Er hätte es niemals sagen dürfen. Nicht jetzt, nachdem Andres Bruder gerade mit ihm Schluss gemacht hatte.
 

Scheiße! Michael schluckte erneut, doch diesmal half es nicht. Er wischte sich die Tränen schnell mit seinem Ärmel ab und starrte auf die geschlossene Tür.
 

War er eigentlich so schrecklich? Musste man denn wirklich vor ihm weglaufen?
 

Ruckartig drehte er sich um und stieg in sein Auto. Er wollte einfach nur nach Hause und das so schnell wie möglich.
 


 

Andre sah Michael nach, wie er sich wieder in sein Auto setzte und davonfuhr. Hatte er sich das nur eingebildet, oder hatte Michael sich über die Augen gewischt? Er hatte doch wegen ihm keine Tränen vergossen, oder doch?
 

Rucksack und Jacke ließ er einfach fallen, wo er gerade stand und schlurfte dann in die Küche.
 


 

Wie immer, wenn er von der Schule kam, stand dort seine Mutter am Herd und rührte in irgendetwas.
 

„Hallo“, murmelte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
 

Seine Gedanken schwirrten wie wild durch seinen Kopf. In den letzten anderthalb Stunden war so viel passiert, dass er es kaum begreifen konnte.
 

Doch trotzdem stellte er, jedoch mehr unbewusst, seine Standartfrage:
 

„Was gibt’s zu essen?“
 


 

„Gemüsesuppe“, antwortete seine Mutter leicht abwesend.
 

Dieses Mal würde es ein für allemal ein Ende haben! Heute war ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Diese Hölle war jetzt endlich vorbei.
 

Betont langsam drehte sie sich zu ihrem Sohn herum. Er müsste es doch auch einmal einsehen.
 

Lächelnd nahm sie Andres und ihren Teller und setzte sich zu ihm an den Tisch.
 

Mein Gott, der Junge sah so traurig und niedergeschlagen aus, richtig krank! Sofort überkamen sie wieder Schuldgefühle. Wie konnte sie sich nur so freuen, wenn ihr kleines Baby so unglücklich war?
 

Trotzdem, es war das Beste für die Familie. Mark würde mit Karen glücklich werden und Andre würde auch noch jemand anderen finden.
 

„Schatz, wir werden dieses Jahr nicht zusammen Weihnachten feiern können. Ich schenke Mark nämlich einen Skiurlaub mit Karen. Aber ich glaube, es wird das Beste sein. Ein bisschen Abstand wird euch gut tun.“ Sie nickte zuversichtlich.
 


 

Andre verkrampfte sich, nahm aber trotzdem tapfer den Löffel und begann, lustlos in seinem Essen herumzurühren. Immer wieder schlich sich Marks Bild vor seine Augen.
 

„Du musst mir nicht sagen, was gut für mich ist. Das kann ich schon ganz gut selbst entscheiden!“
 


 

„Ach, Andre. Bist du denn nicht auch froh, dass dieser Horror jetzt endlich vorbei ist?“
 


 

„Ach sei doch still!“, knurrte er. „Du hast echt von nichts eine Ahnung! Du verstehst gar nichts!“
 


 

„Schatz, beruhige dich wieder. Komm, wir essen schön und dann legst du dich am besten ins Bett. Du siehst ganz krank aus“, sie legte ihrem Sohn versöhnlich eine Hand auf den Arm, doch er zog ihn sofort zurück. „Du wirst sehen, alles wird wieder gut. Jetzt, wo Mark vernünftig geworden ist, können wie alle wieder glücklich werden. Du musst dich erst mit dem Gedanken auseinandersetzen, das verstehe ich, aber dann wirst du sehen, dass es das Beste für alle ist. Auch für dich.“
 

Andre wandte nur den Kopf ab. Mit seiner Mutter konnte er eh nicht darüber reden. Sie verstand nicht diese Leere, die seit seinem Streit mit Mark in seinem Innern herrschte. Dieses Stechen in seiner Brust, in seinem Herzen…
 

Er aß keinen einzigen Bissen, ihm wäre nur wieder schlecht geworden. Als dann seine Mutter endlich aufgegessen hatte, erhob er sich schnell. Bloß weg hier und endlich allein sein!
 

„Ich geh’ nach oben.“ Damit flüchtete er aus der Küche und ließ seine Mutter niedergeschlagen zurück.
 


 

Was sollte sie denn noch tun, damit alles wieder in Ordnung kam?

Sieben

~*~ Teil 7 ~*~
 

Michael fuhr schnell auf den großen Parkplatz und schaute sich hastig nach einem
 

Platz für sein Auto um. Seit zwei Wochen graute es ihm vor diesem Tag. Er hatte seine Abfahrt so lange wie möglich hinaus geschoben, weil er Andre einfach nicht sehen wollte und jetzt war er natürlich zu spät.
 

Erneut spielte Michael mit dem Gedanken, einfach wieder zu drehen und nach Hause zu fahren. Er konnte Andre nicht in die Augen schauen, nicht nach seinem Liebesgeständnis. Wie sollte er sich denn jetzt verhalten?
 

Sollte er ihn ignorieren oder so tun als wäre nichts gewesen? Andererseits war er es den Kindern schuldig. Michael konnte sie schließlich nicht alleine lassen. Sie hatten sich doch so auf den Ausflug zum See gefreut und mit nur einer Aufsichtsperson konnte die Exkursion nicht stattfinden.
 

Er parkte sein Auto und stieg aus. Wenigstens hatte Christian bereits mit Schwester Genepper gesprochen, so müsste er sich nicht noch ihren dummen Fragen stellen.
 


 

Michael zog sich seine Jacke an und folgte einfach nur den Stimmen. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte er, dass Andre zu Hause geblieben wäre, aber dann sah er bereits den Jungen, der wegen seiner Größe aus der Gruppe herausragte.
 

Michael atmete einmal tief durch, bevor er freundlich grüßte und sich zu den anderen gesellte. Er fragte die kleine Schwester nach dem Ablauf des Ausfluges, während er versuchte nicht zu Andre herüber zustarren. Noch mal würde er sich keinesfalls blamieren!
 

Michael beschloss weiterhin freundlich zu Andre zu sein, aber doch auf Abstand. Er würde einfach vergessen, was passiert war. Es gab schließlich noch sehr viele andere Jungen auf dieser Welt, die ihn auch mögen würden. Auf einen Kerl, der in seinen eigenen Bruder verliebt war, konnte Michael wirklich verzichten.
 


 

Andre alberte mit den kleinen Fünftklässlern herum, lachte mit ihnen und fühlte sich furchtbar elend. Am liebsten wäre er einfach zu Hause geblieben, aber er hatte ja diese blöde Verpflichtung, die man ihm auferlegt hatte!
 

Aber er wollte sich seine Trauer nicht anmerken lassen. Lieber spielte er wieder den Fröhlich Heiteren.
 

Er wollte gerade einen kleinen Jungen erschrecken, als er Michael erblickte und erstarrte.
 

Gott, der hatte ihm gerade noch gefehlt! Wie sollte er sich ihm gegenüber denn jetzt verhalten?
 

Am besten gar nicht! Er würde sich einfach von Michael fernhalten, so gut es ging, das müsste doch eigentlich möglich sein, bei so einem großen Teich. Schnell drehte er sich weg, um auch ja nicht dem Blick des Studenten zu begegnen.
 


 

Das konnte ja wirklich heiter werden!
 

Michael zog sich einen Schokoriegel aus der Jackentasche und trottete langsam der Gruppe hinterher. Er versuchte so weit es eben möglich war Abstand von Andre zu halten.
 

Wieso musste er sich auch ausgerechnet in ihn verlieben? Und jetzt konnte ihn Andre noch nicht einmal anschauen. Hoffentlich würde dieser Ausflug schnell vorbei sein. Michael stopfte sich den Schokoriegel in den Mund und steckte danach sofort wieder die Hände in die Taschen. Nach dem heißem Sommer war es doch wieder erstaunlich kalt geworden.
 


 

Die Teich-AG näherte sich dem See, der bereits zugefroren war. Schwester Genepper stellte sich auf einen kleinen Hügel und gab Michael das Zeichen die Gruppe zu zählen. Es war ja auch so wahnsinnig gefährlich, vom Parkplatz bis zum See zu gehen. Auf diesen berühmten 200 Meter waren ja auch schon so viele Kinder verloren gegangen!
 


 

Trotzdem begann Michael die Gruppe zu zählen, während er versuchte die piepsige Stimme der Nonne zu überhören.
 

Schwester Genepper warnte die Kinder, bloß nicht das Eis zu betreten, da sie ja nicht sicher sein konnten, ob das gefrorene Wasser sie auch tragen würde, also stabil genug war. Dabei gestikulierte sie wild durch die Gegend, um den Fünfern die Gefahr zu verdeutlichen.
 

Michael schüttelte nur mit den Kopf und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Welcher Zehnjährige war schon so bekloppt und würde auf das Eis rennen? Schließlich waren es Kinder, keine Primaten!
 


 

Andre hörte der kleinen Nonne nur mit halbem Ohr zu.
 

Es war kalt, er fühlte sich schlecht und er wollte nach Hause. Wäre er nicht schon volljährig gewesen, hätte er ja vielleicht noch wegen Kindesmisshandlung klagen können, aber so?
 

Neben ihm spielte ein kleines Mädchen mit einer roten Wollmütze, aus der die langen blonden Zöpfe hervorlugten mit einem Flummi und schien so fröhlich und glücklich, bei diesem sprichwörtlichem Sauwetter am Teich zu stehen und der Nonne zuzuhören, dass Andre sich gleich wünschte, auch noch einmal so jung und verspielt zu sein.
 

Als er so jung gewesen war, hatte er auch noch nicht solche Probleme gehabt, wie er sie jetzt hatte. In dem Alter hatte er immer viel mit seinem Zwillingsbruder gespielt und oft Nachbarn, Verwandte oder Lehrer geärgert, in dem sie die Rollen getauscht hatten.
 


 

Sofort, als Andre an seinen Bruder dachte, spürte er wieder diesen Kloß im Hals. Es gab wirklich Tage, da hasste er sein Leben!
 


 

Hastig ging Schwester Genepper voraus und erklärte die einzelnen biologischen Vorgänge am See. Michael konnte sich zwar kaum vorstellen, was es Interessantes an einem zugefrorenen See gab, aber die Nonne redete wie ein Wasserfall. Sie beugte sich sogar hinunter und begann in der Erde zu graben. Begeistert schauten die Kinder auf ihre Lehrerin, die jetzt triumphierend eine Wurzel hochhielt.
 

Nur Andre schien überhaupt keine Interesse zu haben. Missmutig starrte er auf den See hinaus und schien nichts mehr von seiner Außenwelt wahrzunehmen. Michael spürte wieder das Gefühl Andre wieder aufzuheitern, aber er riss sich schnell wieder zusammen. Also das hatte ihn in der Vergangenheit wirklich schon genug Probleme gemacht.
 


 

Die nächsten Stunden waren die reinste Hölle.
 

Steine umdrehen hier, Pflanzen untersuchen dort und Beschaffenheit des Bodens überprüfen an anderer Stelle. Immer wieder brachte Andre die Kleinen durch ein paar Albernheiten zum Lachen, obwohl ihm selbst eher zum Heulen zumute war. Warum hasste Gott ihn so?
 

Besonders das kleine Mädchen mit den Zöpfen schien einen Narren an ihm gefressen zu haben, sie hing wie eine Klette an ihm. Allerdings mochte Andre sie auch nicht fortschicken und vergraulen. Sie war so süß in ihrer Naivität und Andre hatte einfach etwas übrig für Kinder. Wie sie ihn mit großen braunen Augen anstarrte und ihn fragte, ob in dem See im Winter auch wirklich noch Fische lebten oder ihn aufgeregt anstupste, wenn sie einen Maulwurfhügel gefunden hatte, brachte er es einfach nicht über sich.
 

Immer spielte sie mit ihrem rosafarbenen Flummi, den sie, wie sie ihm stolz erzählt hatte, von ihrem älteren Bruder geschenkt bekommen hatte.
 


 

Gerade war Andre dabei, einem Jungen zu helfen, eine Erdprobe zu entnehmen, als er hörte, wie die Kleine einen spitzen Schrei ausstieß und anfing zu weinen.
 

Sofort war er bei ihr und ging vor ihr in die Hocke, um ihr in das vor Kälte gerötete Gesicht zu blicken.
 

„Hey, was ist denn los?“
 


 

Sie schluchzte nur herzzerreißend und zeigte auf den zugefrorenen See.
 

„Mein Flummi!“
 

Dicke Tränen kullerten über das Gesicht.
 


 

„Dein Flummi ist in den Teich gefallen?“, fragte er und wischte ihr die Tränen fort.
 


 

Doch sie schüttelte den Kopf.
 

„Nein, er liegt auf dem Teich! Da!“, sie zeigte mit dem Finger auf die Stelle und nun sah auch Andre den rosafarbenen Punkt auf dem Eis.
 


 

„Keine Sorge, sei nicht traurig, ich hole ihn dir wieder!“
 

Das Mädchen starrte ihn mit großen, feuchten Augen an, doch Andre zwinkerte nur und drehte sich um, um den Flummi zu holen.
 

Der lag zwar auf dem Eis, aber das war ja gefroren und würde ihn bestimmt halten. Außerdem lag der Flummi nicht ganz soweit vom Ufer entfernt.
 


 

Mutig trat Andre also vorsichtig auf das Eis, um die Haltbarkeit zu testen. Es tat sich nichts, das Eis blieb fest. Also ging er immer weiter vorsichtig vom Ufer weg in Richtung Flummi. Gleich hatte er es geschafft. Jetzt musste er sich nur noch bücken und…
 

Ein leises Knirschen ließ ihn alarmiert innehalten und bevor er noch nachdenken konnte, brach das Eis plötzlich unter seinen Füßen mit einem lauten Knarren auseinander und er stürzte in das eiskalte Nass.
 

Es blieb ihm gerade noch Zeit für einen erschreckten Schrei, bevor alles schwarz wurde und er nur noch Eiseskälte um sich herum spürte.
 


 

Innerhalb von Sekunden war die Hölle los.
 

Die Kinder begannen zu schreien und selbst die Nonne rannte völlig kopflos durch die Gegend. Michael verstand erst gar nicht, was überhaupt passiert war, aber da sah er auch schon Andre, der im Wasser herumstrampelte. Michael wandte sich fragend an Schwester Genepper, aber es schien als benötigte sie selber Hilfe, geschweige denn, dass sie Andre helfen konnte.
 

Na wunderbar, dann musste er sich wohl was ausdenken. Vorsichtig näherte sich Michael dem Eis, während er sich nach einem langem Stock umsah. Irgendwie musste er Andre rausbekommen!
 

Besorgt blickte er zu ihm. Wie lange würde Andre es da wohl aushalten können? Er hielt sich bereits am Eis fest und schaute hilfesuchend zu Michael. Seine Lippen färbten sich blau und Michael konnte selbst aus dieser Entfernung wahrnehmen, wie sehr Andre zitterte. Er musste ihn jetzt sofort rausziehen!
 


 

Michael betrat vorsichtig das Eis, während im bewusst wurde, dass er am besten auf dem Bauch zu Andre robben sollte. Kurz blickte er Andre in die Augen und lächelte ihn an. Er musste Andre auf jeden Fall wach halten und so begann er laut mit ihm zu sprechen.
 

„Keine Angst. Ich hol dich da raus. Ich bin in einer Sekunde bei dir! Strample am besten nicht mehr und bleib ruhig. Gleich bist du wieder draußen!“
 

Michael umfasste einen dicken Ast, brach ihn ab und legte sich langsam auf das Eis. Vorsichtig robbte er die kurze Strecke zu Andre und hielt ihm seinen Stock hin.
 

„Halt dich einfach nur fest. Ich zieh dich dann raus. Keine Angst!“
 


 

Andre hatte Mühe, sich überhaupt auf etwas zu konzentrieren. Das kalte Wasser stach wie tausend Nadeln in seinen Körper und lähmte ihn, so dass er sich kaum über Wasser halten konnte. Er hatte versucht, sich wieder herauszuziehen, aber die Eisschicht war so dünn an der Stellte, an der er eingebrochen war, dass sie immer wieder abbrach und keinen Halt bot.
 

Langsam verschwamm die Sicht vor seinen Augen und auch seine Lungen brannten höllisch, als würde er nicht genug Luft bekommen.
 

Ein paar Mal griff er nach dem Stock, bis er ihn endlich zu fassen bekam. Jetzt bloß nicht loslassen, egal wie wenig er seinen Körper nur noch spürte!
 


 

Michael spürte, dass Andre seine Kraft verlor. Wenn er jetzt auch noch bewusstlos werden würde, wäre alles zu Ende.
 

„Andre?! Komm red mit mir, Kleiner! Ich werde dich jetzt da raus ziehen. Du musst dich nur festhalten. OK? Das schaffst du bestimmt! Komm schon, nicht aufgeben!“
 

Michael begann langsam wieder rückwärts zu kriechen und versuchte möglichst ohne einen großen Ruck Andre aus dem Wasser zu ziehen. Würde er jetzt zu kräftig ziehen, könnte sich Andre nicht mehr festhalten. So versuchte er langsam, aber kontinuierlich, ihn aus dem Wasser zu ziehen.
 


 

Michaels Stimme drang nur als Dröhnen an Andres Ohren.
 

Verzweifelt klammerte er sich an den Stock in seinen Händen. Er spürte seine Hände vor Kälte schon gar nicht mehr, aber trotzdem schaffte er es irgendwie sich festzuhalten.
 

Nur nicht aufgeben!
 


 

Michael zog weiter und bevor er sich versah, war Andres Oberkörper bereits aus dem Wasser. Michael warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu und robbte wieder zu ihm. Für das letzte Stück reichte er Andre die Hand und zog ihn so aus dem Wasser ans Ufer.
 


 

Keinen Moment zu spät wurde Andre aus dem Eiswasser gezogen, denn sofort, als er draußen war, fielen ihm erschöpft die Augenlider zu.
 

Gerade noch konnte er die eine zur Faust geballte Hand öffnen und dem Mädchen, das jetzt noch heftiger schluchzend besorgt an seine Seite geeilt war, den Flummi zeigen, der zum Vorschein kam.
 

„Ich habe doch gesagt, ich hole ihn dir wieder“, krächzte er mit zitternden Lippen, bevor ihn ein Hustenkrampf schüttelte und er Wasser spuckte.
 


 

Michael lächelte Andre erleichtert an und strich ihm unwillkürlich über die kalte Wange. Zum Glück hatte er ihn noch retten können. Was wäre nur gewesen, wenn er heute nicht dabei gewesen wäre? Nicht auszudenken!
 

Aber was sollte er jetzt tun? Am besten erst mal warm halten.
 

Schnell zog er seine Jacke aus und wollte gerade Andres Jacke aufknöpfen, als er erschrocken innehielt. Fragend schaute er ihn an und Michael konnte nicht vermeiden, dass er sich seine Wangen leicht rötlich färbten. Als er aber in das weiße Gesicht mit den blauen Lippen sah, merkte er erst, wie lächerlich das ganze doch war. Er würde ihm doch nur die Jacke ausziehen, damit Andre nicht erfror.
 

Schnell entledigte er ihm dem nassen Kleidungsstück und legte ihm seine um. Das beste wäre jetzt wohl ein heißes Bad.
 

„Komm, ich bringe dich zu mir. Das ist nah und in meinem Auto habe ich eine Decke. Glaubst du, dass du das Stück bis dahin alleine schaffst?“ Michael stand auf und reichte Andre seine Hand.
 


 

Andre blinzelte angestrengt und versuchte seine Augen dazu zu überreden, nicht alles doppelt zu zeigen. Tapfer ergriff er Michaels Hand und ließ sich hochziehen. Seine Lungen brannten wie Feuer und er zitterte am ganzen Körper.
 

Ob Blut in den Adern wohl auch gefrieren konnte? Er fühlte sich, als hätte er Eiswasser in den Adern.
 

Hustend schwankte er und lehnte sich erschöpft gegen Michael, der vor ihm stand.
 

Es war so kalt!
 


 

Vorsichtig legte Michael seine Arme um den kalten Körper und hob ihn einfach hoch. Andre konnte jetzt unmöglich laufen. Michael wunderte sich, dass kein Protestgeschrei kam, schob das aber auf die Kälte zurück. Er verabschiedete sich knapp von Schwester Genepper, aber die schien das sowieso nicht mehr zu realisieren. Michael hoffte, dass sie es trotzdem schaffen würde die Kinder sicher nach Hause zu bringen. Aber darum konnte er sich nicht auch noch kümmern, am wichtigsten war jetzt Andre.
 

Er legte vorsichtig eine Hand in seinen Nacken und machte sich schnell auf den Weg zum Wagen.
 

„Gleich wird dir wieder warm. Versprochen! Ich dreh die Heizung ganz nach oben und wickle dich in eine Decke ein. Und dann geht’s in eine heiße Wanne. Nur noch ein paar Sekunden.“
 


 

Andre spürte kaum noch etwas. Sein Körper war ganz starr vor Kälte. Dass Michael ihn trug, war ihm in diesem Augenblick nur recht, er konnte keinen einzigen Schritt mehr gehen ohne so heftig zu zittern und zu husten, dass er sofort wieder umfiel.
 

Ohne es zu merken schmiegte er sich unbewusst enger an Michaels warmen Körper. Ihm war so kalt! Michaels Vorschlag hörte sich gut an, eine Decke, eine hochgedrehte Heizung und eine heiße Wanne.
 

Hektisch schlugen seine Zähne aufeinander, so sehr er auch versuchte seinen Kiefer zusammenzupressen.
 


 

Michael sah bereits sein Auto und beschleunigte seine Schritte. Er drückte Andre an sich, sodass ihm auch schon ganz kalt wurde. Das eisige Wasser durchnässte bereits sein eigenes Oberteil. Besorgt blickte er auf Andre und sah direkt auf die zugekniffenen Augen. Er musste Andre so schnell wie möglich aus den kalten Klamotten schälen.
 

Die hundert Meter bis zum Wagen schienen Michael wie eine Ewigkeit vorzukommen.
 

Hastig suchte er nach seinem Autoschlüssel und schloss die Tür auf. Er setzte Andre in den Wagen und kniete sich vor ihn. Die nassen Klamotten mussten sofort aus.
 


 

Sofort als der warme Körper sich von ihm entfernte und er abgesetzt wurde, schlug Andre die Augen auf und zitterte wieder stärker. Frierend schlang er seine Arme um sich selbst, doch Michael zog sie ihm wieder auseinander und zog ihm auch wieder seine Jacke von den Schultern, die Andre jedoch festhielt.
 

Wenn Michael jetzt auch noch die Jacke wegnehmen würde, würde er bestimmt erfrieren!
 


 

„Ich werde dir nur die kalten Sachen ausziehen. Keine Panik, Kleiner. Danach bekommst du eine Decke.“
 

Michel streichelte Andre über die nasse Wange und begann ihn weiter auszuziehen. Er zögerte kurz als er an Andres Hose angelangt war, machte dann aber einfach den Knopf auf.
 


 

Andre warf ihm einen verwirrten Blick zu, ließ Michael ihn aber trotzdem bis auf die Shorts ausziehen. Als ein Windstoß kam, gab er ein Wimmern von sich und schlang wieder die Arme um sich, und war froh, dass Michael kurz darauf eine dicke Wolldecke um seine Schultern legte.
 

„Und… jetzt?“, stotterte er mit zitternden Lippen.
 

Wollte Michael ihn wirklich mit zu sich nach Hause nehmen?
 


 

„Na, jetzt geht’s in die heiße Wanne. Oder was willst du sonst?“
 

Michael ging um den Wagen und setzte sich. Fragend blickte er Andre an, während er die Heizung hochdrehte.
 

„Möchtest du nicht zu mir? Es ist nicht weit weg und ich werde dir bestimmt nicht zu nah kommen.“
 


 

Andre zuckte nur die Schultern.
 

„Egal, Hauptsache warm!“
 

Er kuschelte sich tiefer in die Decke und hielt seine vor Kälte blauen Finger an die Lüftung, aus der die warme Luft strömte.
 

Michael war jetzt wohl seine kleinste Sorge. Darüber konnte er sich sorgen, wenn er es schaffte, nicht zu erfrieren.
 


 

Michael fuhr um die Ecke und ordnete sich in den Verkehr ein. Plötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl. Andre, nackt in seiner Wanne? Das konnte nur Probleme geben. Aber was blieb ihm schon anderes übrig?
 

So etwas kommt halt raus, wenn man Abstand nehmen möchte…
 

Er nahm Andres Zittern wahr und fuhr schneller. Seine Probleme waren doch jetzt völlig nebensächlich.
 


 

Fröstelnd rollte Andre sich zusammen und versuchte sich warme Gedanken zu machen. Die Lüftung pustete ihm inzwischen heiße Luft ins Gesicht, und doch war ihm noch immer fürchterlich kalt. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie das eiskalte Wasser ihn eben verschluckt hatte und er machtlos gewesen war gegen das Urelement.
 

Wenn Michael ihn nicht gerettet hätte, dann…
 

„Danke“, sagte er leise und drehte den Kopf in Michaels Richtung, der den Blick auf die Straße gerichtet hatte. „Ohne Sie wäre ich bestimmt ertrunken…“
 

Wenn er es recht bedachte, rettete ihn der junge Student in letzter Zeit öfter aus prekären Situationen; und er hatte ihm bis jetzt nie gedankt. Und jetzt nahm er ihn sogar mit zu sich nach Hause!
 

„Danke… für alles.“
 


 

Verwundert schaute Michael zu Andre. Was war denn jetzt in ihn gefahren? Na ja, war ja doch irgendwie nett, zumindest wurde hier seine Hilfe noch gewürdigt. Zwar ein bisschen spät, aber schließlich besser als nie.
 

„War doch Ehrensache. Ich würde es sogar wieder machen, obwohl du zu mir so…“
 

Schnell blickte Michael wieder auf die Straße. Verdammt! Hastig versuchte er vom Thema wieder abzulenken. Also zu so einer Art von Diskussion hatte er jetzt wirklich keinen Nerv.
 

„Wir sind gleich da. Es ist nicht mehr weit. Guck mal, da hinten das rote Backsteinhaus. Gleich wird dir wieder wärmer.“
 


 

Andre nickte nur und wartete, bis Michael geparkt und den Motor abgeschaltet hatte. Unwillig blickte er nach draußen.
 

„Muss ich da jetzt wieder raus?“, fragte er. Allein bei dem Gedanken daran, wieder in diese Kälte hinaus zu müssen, zog sich bei ihm alles zusammen.
 

Konnte er denn nicht einfach hier im warmen Auto bleiben? Alles war besser, als wieder da raus zu gehen!
 

Fester schlang er die Decke um seine Schultern und warf Michael einen flehenden Blick zu.
 

„Zu kalt!…“
 


 

„Komm schon. Danach wird es auch besser. Ich mach dir auch eine heiße Schokolade. Oder möchtest du wieder getragen werden? Also so langsam bekomm ich doch Rückenschmerzen davon. So leicht bist du schließlich auch nicht!“
 

Michael grinste Andre an und stieg aus dem Wagen.
 

„Ich schließ schon mal die Tür auf und du musst dann nur noch rein gehen. Wenn du dich beeilst, wird es schon nicht so schrecklich werden.“
 


 

Ein Grummeln seitens Andre begleitete seine Antwort.
 

Der hatte ja gut reden, er war ja nicht in den See gefallen!
 

Nur sehr widerwillig öffnete Andre die Tür und zuckte sogleich zusammen, als der kalte Wind ihn streifte. So schnell er konnte, hüpfte er aus dem Wagen, schlug die Tür zu und eilte Michael hinterher. Immerhin konnte er schon wieder einigermaßen auf eigenen Beinen stehen, das war doch schon mal was!
 

Den Kopf in der Decke vergraben, achtete er leider nur auf den Boden vor sich, dass er, als er gerade durch die Wohnungstür gehuscht war, direkt in Michael hineinlief, der im Flur stand.
 


 

Unweigerlich fing Michael Andre auf. Wieso musste er jetzt auch in ihn reinlaufen? Michael begann zu lachen. Hatten wir das Ganze nicht schon mal?, dachte er und schmunzelte.
 

„Du kannst auch nie aus deinen Fehlern lernen, was? Es ist ja auch so wahnsinnig schwer einen Fuß vor den anderen zu setzten. Na ja, tanzen auf einem Pult stelle ich mir da schon schwieriger vor, aber dass du noch nicht mal gehen kannst? Wer hätte das gedacht?“ Michael schüttelte ungläubig mit dem Kopf, ließ Andre, nachdem er sich versichert hatte, dass dieser auch allein stehen konnte, los und verschwand im Badezimmer.
 


 

Ein leichter Rotschimmer zeigte sich auf Andres Wangen. Was konnte er denn dafür, dass Michael da gestanden hatte?
 

„Ich kann wohl gehen!“, murmelte er und raffte die Decke wieder enger. Er war sich allerdings nicht sicher, ob Michael ihn gehört hatte.
 


 

Michael wählte ein Erkältungsbad, glaubte aber nicht, dass dieser Unsinn Andre wirklich vor einer Erkältung bewahren würde. Aber da musste er wohl durch. Michael stellte das Wasser heiß und legte ein Handtuch über die Heizung. Also, wenn ein warmes Handtuch kein Luxus war…
 

„Die Wanne ist gleich voll. Du kannst dich ja schon mal ausziehen. Ich geh dir dann in der Zwischenzeit einen heißen Kakao machen“, damit verließ er das Bad wieder und ging an Andre vorbei in die Küche.
 


 

Skeptisch betrat Andre das Badezimmer und sah sich um. Eigentlich ganz hübsch eingerichtet, eine Dusche, eine Toilette, ein Waschbecken, alles in weiß. Auf dem Boden lag eine flauschige Badematte in hellem beige und auch die Schränke wiesen die gleiche Farbe auf.
 

Neugierig betrachtete Andre die Ablage über dem Waschbecken genauer und warf auch einen Blick in den Spiegelschrank.
 

Huch, was war denn das? Dort standen verschiedene Lippenstifte ordentlich aufgereiht und auch Schönheitsartikel wie Rouge oder Lidschatten. Ob Michael hier wohl zusammen mit seiner Freundin wohnte? Er hatte gedacht, er sei schwul…
 


 

Doch dann schüttelte er den Kopf. Konnte ihm ja auch egal sein. Oder?…
 

Schnell schloss er den Schrank wieder und begann sich auszuziehen. Na gut, viel hatte er ja nicht mehr an, eigentlich nur die Decke und seine Shorts, und das war schnell auf den Boden geworfen.
 

Vorsichtig ließ er sich in die heiße Wanne gleiten und atmete die aufsteigenden Aromen ein. Seufzend legte er den Kopf zurück und schloss die Augen.
 

So schön warm! Er würde bestimmt die nächsten Stunden hier drin verbringen! Keine zehn Pferde würden ihn jetzt hier herausholen können.
 


 

Verdammt! Wo war den jetzt dieses blöde Kakaopulver? Verzweifelt kramte Michael im Küchenschrank und räumte ihn Stück für Stück aus. Irgendwo musste es doch sein.
 

Da, ganz hinten in der Ecke hatte es sich versteckt! Michael nahm das Pulver heraus und betrachtete das Verfallsdatum. Zum Glück war es noch nicht abgelaufen.
 

Michael setzte die Milch auf und ging wieder zum Bad. Vielleicht brauchte Andre noch irgendetwas. Michael klopfte an die Tür und kam sich gleichzeitig blöd vor, in seiner eigenen Wohnung anklopfen zu müssen.
 

„Darf ich reinkommen?“
 


 

„Von mir aus.“
 

Andre war viel zu faul und fühlte sich im Moment viel zu wohl, um die Augen zu öffnen oder sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, deshalb hörte er nur, wie Michael die Tür öffnete und reinkam.
 


 

„Brauchst du noch was? Also die Milch ist gleich fertig, dann bekommst du erst mal was Heißes zu trinken.“
 

Michel starrte unweigerlich auf Andres Körpermitte. Er musste einfach! Da konnte sich schließlich kein Mann zurückhalten. So verwerflich war das ja auch nicht.
 

Zu Michaels Bedauern war das Ganze Wasser jedoch mit Schaum bedeckt und so konnte er noch nicht einmal einen Blick auf Andre werfen.
 

Abrupt drehte Michael sich wieder weg und schob seine rötliche Geschichtsfarbe auf die heiße Temperatur im Bad. Zum Glück hatte Andre die Augen geschlossen und sah völlig entspannt aus. Die Lippen färbten sich langsam wieder in ein dunkleres rot zurück und auch auf Andres Wangen lag in leichter Rotschimmer. Der Junge sah plötzlich wieder lebendig aus.
 

Michael setzte sich auf die Toilette und schaute Andre an. Er war immer noch wahnsinnig süß.
 

„Dir ist mittlerweile wärmer, was? Ich glaub, es geht dir besser. Du siehst auch schon wieder richtig nied… äh, gesund aus.“
 


 

Andre lächelte mit geschlossenen Augen.
 

Dieses Mal hatte er genau verstanden, was Michael eigentlich hatte sagen wollen. Er stand wohl immer noch auf ihn. Wenigstens einer, der ihn mochte.
 

Über die Sache mit Mark war er immer noch nicht hinüber weg, obwohl es schon einige Tage her war. In der letzten Zeit war soviel Beschissenes geschehen, er konnte noch nicht einmal mehr zählen, was alles schief gegangen war.
 

Da tat es gut, wenn einem jemand Komplimente machte. Und eigentlich…
 

Andre rief sich Michaels Bild vor Augen.
 

… sah der junge Student gar nicht mal schlecht aus.
 

Und ansonsten war er eigentlich auch ganz in Ordnung. Er war intelligent, witzig, einfühlsam und hatte ihn schon einige Male gerettet. Was wollte man eigentlich mehr?
 

Wenn er dazu im Gegensatz Mark betrachtete… der hatte nicht halb so viele gute Eigenschaften; doch trotzdem liebte er ihn.
 

Aber wenn Michael an ihm interessiert war… Was war verwerfliches daran, wenn er dessen Zuneigung genoss?
 

„Ich fühle mich auch viel besser dank Ihrer Fürsorge.“
 


 

„Äh… war doch ganz normal. Ich meine, das hätte doch jeder gemacht. Also nein, nicht jeder hätte dich in solche Schwierigkeiten gebracht. Ich wollte mich dafür noch mal entschuldigen. Es tut mir wirklich Leid. Ich hätte dich fragen müssen wegen dem Kuss. Und jetzt bin ich Schuld, dass du noch trauriger bist als sonst schon. Ich wollte dich wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen. Also ich kann ja keinen zwingen mich zu mögen. Obwohl das natürlich schon blöd ist, dass du mit deinem Bruder zusammen bist. Also…“
 

Verdammt was redete er da eigentlich für einen Scheiß?! Er hatte sich bereits bis auf die Knochen blamiert. Ein zweites Mal sollte es doch nicht mehr vorkommen.
 

Aber nein, er musste sich da ja wieder reinreden. Jetzt galt es wohl nur noch zu retten, was zu retten war.
 

„Also ich meine natürlich, dass es sicherlich wahnsinnig schwer ist in seinen eigenen Bruder verliebt zu sein. Wenn ich mich jetzt in Lina verlieben würde. Für seine Gefühle kann man ja nichts, aber das würde alles kaputtmachen. Ich würde es nicht aushalten, wenn ich meine Familie zerstören würde. Wie kann man es eigentlich so weit kommen lassen? Ich meine, kann man denn nicht gegen seine Gefühle ankämpfen? Das fällt bei so einem Kerl bestimmt nicht schwer. Der ist doch wahnsinnig!….. Tschuldigung.“
 

Michael biss sich auf die Lippen. Der letzte Satz hätte jetzt wirklich nicht sein müssen. Er wollte doch gar keinen Streit mit Andre.
 

„Tut mir Leid. Ich weiß gar nicht, was ich hier eigentlich von mir gebe!“

Acht

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Neun

~*~ Teil 9 ~*~
 

Zuhause angekommen ließ sich Andre erschöpft auf sein Bett fallen. Am liebsten wäre er einfach eingeschlafen und nie mehr aufgewacht, dann hätte er keine Probleme mehr, sich mit Michael und Mark auseinander zu setzen.
 

Was war nur los mit ihm? Warum hatte er nur mit Michael geschlafen? Um sich an Mark zu rächen und ihm eins auszuwischen? Oder um zu vergessen?
 

Doch seltsamerweise bereute er es nicht. Er sollte, aber er tat es nicht. Michael war so fürsorglich, so zärtlich zu ihm gewesen. Bei ihm hatte er sich wirklich geborgen gefühlt und hatte nicht wie sonst bei Mark fürchten müssen, ihn mit schon einem Wort auf die Palme zu treiben.
 


 

Des ewigen Nachdenkens müde holte er sich eine Schlaftablette aus dem Schrank seiner Mutter, spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter und legte sich ins Bett.
 

Als er endlich einschlief, hatte er Michaels Bild vor Augen.
 


 

~*~
 


 

Die nächsten Tage waren für Andre die reinste Hölle. Obwohl die Weihnachtsferien schon begonnen hatten, fühlte er sich kein bisschen in Weihnachtsstimmung. Seine Mutter und er gingen sich aus dem Weg und jedes Mal, trafen sie sich doch, warf sie ihm mal verzweifelte, mal hoffnungslose und mal hasserfüllte Blicke zu. Andre hielt es kaum noch aus.
 

War er denn so ein schlechter Sohn? Er verstand seine Mutter einfach nicht.
 

Es gab sogar Tage, an denen wünschte er sich, Weihnachten wäre schon vorbei und die Schule hätte wieder begonnen. Dort herrschte wenigstens nicht so eine gefrorene Atmosphäre wie in der Antarktis.
 

Zusätzlich machte ihm die Sache mit Mark zu schaffen. Noch nie hatte einer ihrer Streite so lange gedauert und Andre machte sich langsam Sorgen, ob sie sich jemals wieder vertragen würden.
 

Er hätte gerne Mark auf seinem Handy angerufen, doch er traute sich nicht. Und außerdem war da ja noch Michael, mit dem er seit seiner Flucht auch nicht mehr gesprochen hatte. Ob er wohl sehr enttäuscht und traurig wegen ihm war?
 


 

Die Tage bis Heiligabend bekam Andre auch noch irgendwie herum, meist den ganzen Tag mit Kopfhörern und lauter Musik in seinem Zimmer verschanzt, doch an Heiligabend hielt er es einfach nicht mehr aus.
 

Er musste einfach Marks Stimme hören und wissen, ob er ihm jemals verzeihen konnte. Der Gedanke, Mark mit Karen zusammen im Wintersport zu wissen, machte ihn rasend. Er musste einfach mit seinem Bruder sprechen und ihm zumindest ein schönes Weihnachtsfest wünschen.
 


 

Kurz entschlossen kramte Andre sein Handy hervor und tippte Marks Nummer ein. Er kannte sie in und auswendig. Wenn Mark erst gar nicht mit ihm sprechen wollte, hatte er ja immer noch die Chance, nicht an sein Handy zu gehen, denn Andre rief mit Absicht von seinem Handy aus an, damit sein Bruder auf dem Display sehen konnte, wer ihn sprechen wollte.
 


 

Tut… Tut…
 

Mit klopfenden Herzen hielt Andre den Hörer in der Hand.
 


 

„Hi! Wie geht’s dir, Kätzchen?“, meldete sich sein Bruder nach einiger Zeit.
 


 

„Hi“, sagte Andre nur. Irgendwie waren plötzlich alle überlegten Sätze wie weggeblasen.
 

„Mir geht’s gut…“
 

Gut, das stimmte keinesfalls, aber diese Standartphrase war ihm so herausgerutscht.
 


 

„Freut mich. Und ich dachte schon, es geht dir so dreckig wie mir.“
 


 

Andre zuckte zusammen. Ungewollt erschien plötzlich Michaels Bild vor Augen, das jedoch rasch verrauchte. „Bist du nicht glücklich mit…“, er schluckte, „Karen?…“
 


 

„Bist du denn glücklich mit diesem Würstchen?“, konterte Mark sofort.
 


 

„Würstchen?… Du meinst Michael?“
 


 

„Michael? Hübscher Name. Wie der Erzengel, was?! Ist er denn wenigstens nett zu meinem Kätzchen?“
 


 

„Hm“, wich Andre aus und wechselte das Handy in die andere Hand. Mark klang zwar weiterhin aggressiv, aber längst nicht mehr so hasserfüllt wie bei ihrem Streit.
 

Das wollte er nicht zerstören, vielleicht hatten sie ja wirklich noch eine Chance sich zu versöhnen. Er würde ihm jedenfalls auf keinen Fall von der Nacht mit Michael erzählen. Gott bewahre!
 

„Was machst du gerade? Liegt viel Schnee bei euch?“ Bloß schnell das Thema wechseln!
 


 

„Schnee? Du hast mich angerufen, um mit mir über das Wetter zu reden? Na ja, wie du meinst. Also, bei uns liegt überhaupt kein Schnee. Wir sind die ganze Zeit nur im Zimmer und hoffen, dass es aufhört zu regnen. Hier ist alles nur grau in grau.
 

Außerdem nervt mich Karen. Die Arme musste sogar heute gestern Nacht auf dem Flur schlafen, weil ich leider vergessen hatte den Schlüssel stecken zu lassen und ihre Schreie nicht gehört habe. Ist es nicht tragisch?“
 


 

Das sah ihm ja so ähnlich!
 

„Hättest du mich auch auf dem Flur stehen lassen?“, Andre tastete sich einmal vorsichtig heran. Was mit Karen geschah oder schon passiert war, interessierte ihn nicht im geringsten.
 


 

„Meinst du vor oder nach unserem Streit, Kätzchen?“
 


 

„Nach dem Streit.“ Ohne es zu merken hielt er gespannt die Luft an.
 


 

„Ich würde dich niemals auf dem kaltem Flur schlafen lassen, Bruderherz!“
 


 

Bruderherz? Wann hatte Mark ihn schon so genannt? So… ja fast schon abwertend…
 

„Na dann bin ich ja beruhigt“, murmelte er.
 


 

Eine kurze Pause entstand.
 


 

„Wieso hast du das eigentlich gemacht? Wieso hast du alles zerstört?“, fragte Mark dann plötzlich.
 


 

„Ich habe nicht alles zerstört!“, wehrte Andre ab. „Gut, ich habe vielleicht den Fehler gemacht, mich von Michael küssen zu lassen und ihn nicht wegzustoßen, aber ansonsten warst du es, der erst eine Szene und dann Schluss gemacht hat! Ich gebe ja zu, dass ich nicht ganz unschuldig bin, aber ich habe nicht alles zerstört. An diesem ganzen Schlamassel bist du genauso schuld wie ich. Du hast mir ja nicht einmal zugehört, als ich dir alles erklären wollte!“, sprudelte es aus ihm heraus.
 


 

„Komm, red dich nicht raus, Kätzchen. Das hat sowieso keinen Zweck. Ich kenne dich genau. Du hast dich ganz einfach in diesen Kerl verliebt.“
 


 

„Nein!“, begehrte Andre heftig auf. „Das ist nicht wahr!“ Doch im gleichen Moment plagten ihn die Schuldgefühle. Mark erzählte er nicht die ganze Wahrheit und Michael verleugnete er dabei auch noch. Aber es war ja die Wahrheit, dass er nicht in ihn verliebt war.
 

„Ich liebe doch nur dich!“
 


 

„Wie süß. So was Romantisches habe ich doch schon lange nicht mehr gehört. Aber warte, doch, heute morgen hat es mir doch noch Karen ins Ohr geflüstert, nachdem wir uns wieder vertragen hatten. Versöhnungssex ist doch immer noch der Beste, was, Kätzchen?“
 


 

Andre versteifte sich und seine Finger krampften sich in das Kissen in seinen Händen. Allein der Gedanke an Mark und Karen ließ ihm übel werden.
 

„Du willst dich überhaupt nicht mehr mit mir versöhnen, oder?“, krampfhaft versuchte er die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und seine Stimme nicht weinerlich klingen zu lassen. „Ich wollte dir doch nur schöne Weihnachten wünschen und mich mit dir aussprechen. Aber du musst mir ja unbedingt wehtun! Wenn du kein Interesse hast, dich wieder mit mir zu vertragen… dann kann ich ja auch wieder auflegen“, die letzten Wörter flüsterte er fast nur noch.
 


 

„Mein Gott, mach dich doch nicht lächerlich! Meinst du, ich hätte überhaupt abgenommen, wenn ich immer noch so sauer auf dich wäre? Ich habe mich schließlich schon etwas abgeregt.“
 


 

„Warum sagst du dann solche Sachen zu mir? Du weißt genau, wie sehr du mich damit triffst…“
 


 

„Und du weißt genau, wie sehr du mich mit diesem Kuss fertig gemacht hast! Ich kann das immer noch nicht verstehen… Aber ich fick halt mit der Schlampe und du machst mit diesem Würstchen rum. Jetzt hast du doch, was du möchtest, oder?“
 


 

Jetzt konnte Andre das aufsteigende Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Schnell wischte er sich die Tränen von den Wangen. Warum weinte er jetzt schon wieder wegen ihm? Hatte er das nicht schon zur Genüge getan?
 

„Dann wünsche ich dir noch viel Spaß mit ihr!“, sagte er sarkastisch, was allerdings durch die Schluchzer eher weinerlich klang. „Mach’s gut…“
 

Gerade wollte er auflegen, als ihn Marks Stimme erneut zurückhielt.
 


 

„Warte, Süßer! Leg nicht auf. Ich bin doch froh, deine Stimme zu hören. Komm, red noch was mit mir und hör auf zu weinen. Du weißt doch, dass mich das jedes Mal so schwach macht… Ich möchte nicht, dass du weinst. Nicht noch mehr, okay? Ich habe ein bisschen überreagiert, das ist mir jetzt auch klar. Trotzdem, es hat irgendwie weh getan. Ich habe einfach Angst, dich zu verlieren. Es wäre schließlich viel einfacher für dich mit diesem Würstchen.“
 


 

„Aber ich liebe dich, nicht ihn! Das einzige, was ich will, ist, dass du wieder bei mir bist. Einfach nur wir zwei, ohne Karen und Michael… Ich vermisse dich!“
 


 

„Ich dich auch. Du fehlst mir. Aber beim nächsten Mal raste ich wirklich aus, dann passiert was. Also, lass es bitte nicht so weit kommen. Ich werde es nämlich nicht zulassen, dass sich dieser Kleine zwischen uns drängt. Das hat bisher noch niemand geschafft und dafür werde ich auch in Zukunft sorgen. Der soll dich noch nicht mal mehr anschauen… sonst bring ich den um. Und das ist mein voller Ernst. Ich überlege mir schon seit Tagen, wie ich es am besten anstelle. Glaub mir, es gibt da sehr effektive Mittel!“
 


 

„Mark, hör auf damit!“ Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Andres Gesicht. „Ich will nichts von ihm.“ Lügner, schrie die Stimme in seinem Kopf, doch er verdrängte sie. Gut, er hatte mit Michael geschlafen, aber das hieß ja trotzdem nicht, dass er etwas von ihm wollte. Oder?…
 

Nein, ganz bestimmt nicht! Entschieden schüttelte er den Kopf und war froh, dass Mark seinen inneren Kampf nicht sehen konnte.
 

„Es wird nicht noch mal passieren. Es war ein Kuss, nicht mehr.“ Schon wieder eine Lüge! Andre schluckte. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück…
 


 

„Nicht mehr? Es schien mir, als hätte sich dieser Wurm in dich verknallt. Aber der hat ja sowieso keine Ahnung. Als wüsste der, wie es ist zu lieben! Der müsste sich doch nur mal mit unserem Vater auseinander setzten. Der wäre innerhalb von Sekunden über alle Berge verschwunden! Der weiß ja gar nicht, wie viel man da auf sich nehmen muss… -
 

Wie ist es zuhause? Hat es Ärger mit dieser… Wie heißt die gleich noch mal? Ich meine die Öko-Tussi. Hat die Stress gemacht? Und wie hat eigentlich der Kerl reagiert, nachdem ich weg war?“
 


 

So viele Fragen.
 

„Zu Hause?“, Andre dachte an die kalte Atmosphäre, die forschenden Blicke seiner Mutter, jedes Mal wenn sie ihn sah, die gedrückte Stimmung. „Es geht nicht besonders weihnachtlich zu, ehrlich gesagt. Ich habe Stress mit Mama, aber das ist ja nichts Neues…“ Nur, dass es dieses Mal noch schlimmer war als sonst, aber das sagte er nicht. „Schwester Genepper hat keinen Ärger gemacht. Jedenfalls weiß ich nichts davon. Auf dem Ausflug zum See hat sie jedenfalls nichts mehr dazu gesagt.“
 

Mit Absicht schnitt er das Thema Michael nicht an und hoffte, Mark würde schon wieder vergessen haben, was er gefragt hatte.
 


 

Aber das hatte er natürlich nicht.
 

„Und dieser Kerl? Hat der dich noch weiter genervt? Also, wenn ich den von dir fernhalten soll, wäre das wirklich kein Problem. Diese halbe Portion schaff ich mit links! Er war kein Problem.“
 


 

Unhörbar seufzte Andre auf.
 

„Können wir dieses Thema nicht ruhen lassen? Er hat mich noch nach Hause gefahren, das war dann aber auch schon alles.“ Immerhin war es ein Teil der Wahrheit…
 

Und er hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen deshalb!
 


 

„Er hat dich nach Hause gefahren? Warum lässt du dich eigentlich immer weiter auf diesen Kerl ein? Ich hätte ihn so fertig machen müssen, dass er niemals mehr hinter einem Steuer hätte sitzen können. Das nächste mal werde ich meine Chance nutzen. Darauf kannst du Gift nehmen!“
 


 

„Mark!“, wies Andre seinen Bruder sanft zurecht. „Hör bitte auf damit, okay?“
 


 

„Solange du dich ja nicht mehr auf den einlässt, ist es ja in Ordnung. Ich hätte dich nicht über Weihnachten alleine lassen dürfen. Nicht so. Nicht bei denen. Meinst du, dass du das aushältst, Kätzchen?“
 


 

Schnell schob er wieder die Schuldgefühle beiseite und war froh, endlich das Thema wechseln zu können.
 

„Hm. Wenn es zu schlimm wird, dann denke ich einfach an dich und dann geht es mir besser.“
 


 

„Bist du dir sicher? Du kannst ruhig offen zu mir sein. Ich bin nicht mehr sauer auf dich. Ich glaube nicht, dass du das alles so toll aushältst. Also nur die Gedanken an mich werden dir wohl kaum helfen!“
 


 

„Es ist wirklich nicht besonders angenehm hier. Aber du weißt ja nicht, welche Wirkung die Gedanken an dich auf mich haben!“, sagte er lächelnd.
 


 

„Du kannst mich so traurig machen und dann wieder so glücklich. Weißt du eigentlich, wie viel Macht du über mich hast, Kätzchen? Ich war wirklich fertig, aber jetzt… Ich freue mich schon auf dich!“
 


 

Hatte er da gerade Schritte gehört?
 

Es konnte eigentlich nicht sein, schließlich war seine Mutter einkaufen gefahren. Ach, es war bestimmt nichts gewesen!
 

„Ich war auch fertig, glaub mir. Aber ich freue mich auch wahnsinnig. Ich vermisse dich ja so!“ Andre machte eine kurze Pause, da er wieder etwas gehört hatte, aber es blieb ruhig.
 


 

„Weißt du, ich habe nur so ein Theater gemacht, weil du mir so wichtig bist. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich anfangen würde. Du bist alles, was ich habe. Ich habe schon alles aufgegeben, aber ich würde noch sehr viel mehr geben, damit du bei mir bleibst. Ich bin verrückt nach dir. Eigentlich unvorstellbar. Wer ist schon so süchtig nach seinem eigenem Bruder?
 

Aber ich würde alles noch einmal genauso machen. Na ja, die Aktion im Garten würde ich weglassen. Aber sonst gar nichts. Weißt du, um dich drehen sich all meine Gedanken. Ich kann überhaupt nicht anders. Selbst wenn ich wollte, ich käme nicht von dir los. Du besitzt die größte Macht über mich. Du machst mich glücklich. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie sehr ich dich liebe, Kätzchen?“
 


 

Gerührt blinzelte Andre die Tränen fort. War er wirklich so wichtig für seinen Bruder?
 

„Und ich liebe dich, Mark. Mehr als du dir vorstellen kannst…“
 

Erneut hörte er ein Geräusch, dieses Mal näher und drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl herum.
 

Vor Schreck wäre ihm beinahe der Telefonhörer aus der Hand gefallen. In der Tür stand seine Mutter, schneeweiß im Gesicht, die Augen weit aufgerissen und starrte ihn an.
 

Oh Schreck! Hatte sie jetzt gehört, was er gesagt hatte? Ihrem Gesicht nach zu urteilen schon!
 

Verdammt!!
 


 

„Kätzchen? Ist alles in Ordnung bei dir? Oder bist du nach dieser wundervollen Liebeserklärung in Ohnmacht gefallen?“
 


 

Andre hörte gar nicht mehr, dass Mark noch etwas sagte.
 

„Ich muss Schluss machen!“, flüsterte er schnell in den Hörer. „Wiedersehen.“ Er achtete nicht mehr darauf, ob Mark noch etwas sagte, sondern drückte auf den roten Knopf und beendete so die Verbindung. Seine Mutter ließ er dabei nicht aus den Augen.
 

Blitzschnell ging er im Geiste alle Ausreden durch, doch keine war passend genug. Wenn er doch nur wüsste, was seine Mutter gehört hatte?
 

Die ganze Weihnachtszeit über hatten sie sich angeschwiegen und waren sich aus dem Weg gegangen und da war schon die Stimmung schlimm gewesen. Jetzt war sie unerträglich. Der Schmerz und auch das Abstoßen in dem Blick seiner Mutter ließen ihn nervös schlucken.
 


 

Nein! Sie würde sich das nicht länger bieten lassen! Sie hatte genug gehört, um zu wissen, wem ihr Sohn da diese Liebeserklärung gemacht hatte. Völlig paralysiert ging sie auf ihren Sohn los, holte ihn aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Stumm sah sie Andre an und bemerkte, wie sich seine Wange rötlich färbte. Sie konnte ihn nicht länger ertragen. Es war jetzt einfach alles vorbei. Sie hatte einmal zwei Kinder in die Welt gesetzt und nun hatte sie keins mehr. Sie konnte Andre nicht mehr länger aushalten, oder sie würde selber daran zu Grunde gehen. Leise und völlig resigniert zeigte sie auf die Tür.
 

„Verschwinde. Ich will dich nie mehr wieder sehen. Du bist für mich gestorben. Ihr habt die gesamte Familie zerstört. Weißt du, ich habe mich zusammengerissen die ganze Zeit, weil ich mir immer eingeredet habe, dass eine Mutter zu ihren Kindern halten muss. Ich dachte, alles würde wieder gut werden und dass wir irgendwann wieder vernünftig miteinander umgehen könnten, aber jetzt sehe ich ein, dass es keinen Zweck hat. Ich bin am Ende, die gesamte Zeit hoffte ich, aber nun ist es vorbei. Du bist nicht länger mein Sohn. Ich möchte dich nicht mehr wieder sehen. Ich habe dafür einfach keine Kraft mehr! Pack deine Sachen und verschwinde. Und wag es ja nicht, hier irgendwann noch einmal aufzutauchen!“
 


 

Völlig entgeistert starrte Andre seine Mutter an.
 

„Wie bitte?“
 

Hatte sie ihm wirklich gerade die Tür gewiesen?!
 


 

Die Frau zog sich einen Stuhl heran und schlug die Hände vor das Gesicht. Sie hatte ihren Sohn geopfert um selber aus diesem Albtraum ausbrechen zu können.
 

„Du hast mich schon richtig verstanden. Verschwinde. Ich gebe dir fünf Minuten und dann bist du hier raus.“
 


 

„Das ist nicht dein Ernst, oder?!“, fragte er panisch. „Du kannst mich doch nicht einfach rauswerfen?!“
 


 

„Oh doch, das kann ich und ich werde es auch tun!“
 


 

„Aber Mama!“
 


 

„Nein, verschwinde! Und eins noch: Nenn mich nicht länger Mama. Du bist nicht mehr mein Sohn!“
 


 

„Aber…“
 

Das konnte doch nicht wahr sein! Und das gerade an Weihnachen!
 

„Bist du sicher, dass ich alles zerstört habe?“, fragte er erstickt. Wie konnte ihn seine Mutter an Weihnachten aus dem Haus werfen? Seine eigene Mutter! Wo sollte er denn hin?
 

„Oder bist du jetzt diejenige, die alles zerstört? Was ist schlimm daran, dass ich meinen Bruder liebe?! Alle Geschwister lieben sich, nur dass unsere Liebe etwas stärker ist! Das ändert nichts daran, dass wir eine Familie sind! Ob du mich rauswirfst oder nicht, ob du willst oder nicht, du bist und bleibst meine Mutter!“
 


 

„Verschwinde, bevor ich mich noch mal vergesse! Du wirst zwar für immer mein leiblicher Sohn sein, aber aus meinem Herzen habe ich dich schon längst ausgeschlossen. Ich habe dir genügend Chancen gegeben und du hast sie alle achtlos weggeworfen.
 

Du hast dich jetzt endgültig für deinen Bruder entschieden, Andre, und er sich anscheinend für dich. Es gibt kein Zurück mehr. Du bist nicht mehr mein Kind. Ich halte es einfach nicht noch länger aus. Ihr habt aus mir schon eine unglückliche Frau gemacht, aber noch länger werde ich es nicht zulassen. Es ist Schluss. Verschwinde!“
 


 

Andres Mutter stand auf und ging an ihm vorbei in sein Zimmer. Dort begann sie still eine Reisetasche aus dem Schrank zu nehmen und verstaute die wichtigsten Kleidungsstücke. Mit gekonnten Handgriffen packte sie immer wieder in den Schrank und die Kleidung danach in die Tasche.
 

„Wenn du noch was brauchst, dann beeil dich. Du wirst keine Sekunde länger mehr bleiben, als du eigentlich musst.“ Ein nächster Pullover wanderte in die Tasche.
 

„Aber warte, ein letztes Geschenk werde ich dir noch machen, was soll ich auch schon sonst damit anfangen…“
 

Damit verschwand die Frau aus dem Zimmer.
 


 

Andre blickte ihr nur fassungslos hinterher. Passierte das hier gerade wirklich?
 

Was hatte er nur falsch gemacht, dass alles in seinem Leben schief lief?! Hatte er eine Sache, die gut lief, bahnte sich auch schon sofort die nächste Katastrophe an.
 

Vorsichtig fuhr er mit der Hand über seine brennende Wange. Seine Mutter hatte ihn zuvor noch nie geschlagen, nicht solange er sich erinnern konnte, und dieses Wissen schmerzte.
 

Sie hatte wohl doch mehr gehört, als gut für sie war.
 


 

Wie in Trance begann Andre seine Tasche zu packen und die wichtigsten Dinge einzuräumen. Ein dumpfer Schmerz pochte in seiner Brust, doch er brachte es nicht über sich zu weinen.
 

Warum verstand bloß keiner, was Mark und ihn verband?!
 

Nur Michael hatte ihn nicht verachtet deswegen, obwohl er es wusste. Er hatte ihn in den Arm genommen.
 


 

Michael…
 

Ob er wohl zu ihm könnte?
 

Ansonsten fiel ihm keiner ein, zu dem er hätte gehen können. Zu seinem Vater? Nein, der hätte ihn nicht einmal bis ins Haus gelassen. Und ansonsten? Es gab niemanden, der ihn an Heiligabend aufnehmen würde. Ausgerechnet an Weihnachten, dem Fest der Liebe und der Familie.
 

Trocken schluchzte er auf und ließ sich auf sein Bett sinken. Und Mark war so weit weg…
 


 

„Steh da sofort wieder auf!“ Die kleine Frau betrat erneut das Zimmer und zischte mehr als dass sie sprach. Was hatte sie da nur in die Welt gesetzt? Ihr größter Wunsch war doch immer nur eine glückliche Familie gewesen.
 

„Hier. Das ist das letzte, was ich meinem Kind noch schenken werde!“ Die Frau schien mehr zu sich selber zu sprechen als zu Andre, trotzdem reichte sie ihm knapp ein Päckchen. Sie hatte es am Abend zuvor liebevoll eingepackt und noch an ein schönes Weihnachtsfest geglaubt. Und jetzt? Sie hatte nichts mehr auf der Welt.
 


 

Einen Augenblick zögerte sie, ob sie das Richtige tat, doch dann schüttelte sie den Kopf. Noch länger konnte sie diesen Perversen einfach nicht ertragen.
 

„Nimm die Tasche und verschwinde. Dein Weihnachtsgeschenk kannst du ja irgendwo auf der Straße aufmachen. Aber… Auch wenn du es mir jetzt sicherlich nicht glaubst, ich wünsche dir das Beste. Wirklich. Nur ich kann und will deine perverse Spielchen einfach nicht mehr ertragen müssen…“
 

Langsam setzte sie sich auf Andres Bett. Tat sie hier wirklich das Richtige? Nagende Zweifel bahnten sich ihren Weg, doch trotzdem musste sie jetzt stark sein. Sie durfte nicht nachdenken. Starr schaute sie sich in Andres Zimmer um. Wenn sie sich vorstellte, dass ihre Söhne in diesem Bett… Abrupt stand sie wieder auf.
 

„Raus hier!“
 


 

Ehe er sich versah, stand Andre auch schon, die Reisetasche in der einen, das kleine Päckchen in der anderen Hand, vor der Tür in der Winterkälte, mitten an Heiligabend. Ob er selbst gegangen war, oder seine Mutter ihn geschoben hatte, konnte er nicht einmal mehr sagen.
 

Wie konnte ihn seine Mutter nur aus dem Haus werfen? War er denn so ein hassenswerter Mensch? Nur weil er seinen Bruder liebte?
 

Wo sollte er denn jetzt hin?
 

Verzweiflung und Trauer schnürten ihm die Kehle zu. Warum war er dazu verbannt, nicht einmal ein paar glückliche Minuten zu verbringen? Gerade jetzt, wo er sich doch mit Mark ausgesprochen hatte…
 

„Und wo soll ich jetzt hin?“, rief er gegen die verschlossene Tür. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
 

Der einzige, der ihm einfiel, war Michael. Aber konnte er denn an diesem Tag einfach so bei ihm hereinschneien? An Heiligabend?
 

Doch wo sollte er sonst hin?
 


 

Ohne es überhaupt wirklich realisiert zu haben, saß er schon im Auto und hatte den Weg zu Michaels Wohnung eingeschlagen. Wenn Michael ihn nicht wenigstens für heute aufnahm, wusste er wirklich nicht wohin. Er betete, dass der junge Student zu Hause war, denn wer wusste schon, ob er nicht Weihnachten bei der Familie verbrachte? Vielleicht bei seinen Eltern?
 

In kurzer Zeit war er in Düsseldorf und hielt vor Michaels Wohnung. Schnell war er aus dem Auto gehechtet und drückte auf den Klingelknopf, bevor er sich nicht mehr traute. Wohin sollte er denn sonst?! Mark war so weit weg und ansonsten hatte er niemanden… Nicht einmal Freunde, zu denen er konnte, das waren alles nur oberflächliche Bekanntschaften und hätten ihm wahrscheinlich die Tür wieder vor der Nase zugeschlagen.
 

Frierend schlang er die Arme um seinen Körper. Nicht mal eine Jacke hatte er mitgenommen, daran hatte er gar nicht gedacht. Überhaupt fiel ihm das Denken im Moment unheimlich schwer.
 

Alles schien irgendwie so unwirklich…

Zehn

~*~ Teil 10 ~*~
 

Mein Gott! Wer klingelte eigentlich Heiligabend? Christian schaute unbewusst auf die Uhr. Saß man zu dieser Zeit nicht im Kreise der Familie und feierte, anstatt andere Leute zu ärgern?
 

Er sah zu Michael herüber, der sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Warum stand der Gastgeber eigentlich nicht auf? Na ja, wenn es ja sonst keiner machte…
 

Christian erhob sich und ging zu Tür. Und das so kurz vor der Bescherung. Verdammt! Also egal wer da draußen stand, er würde ihn hundertprozentig abwimmeln. Christian öffnete die Tür und wollte sie sogleich wieder schließen.
 

Was wollte der denn hier?
 


 

Andre stolperte verwirrt einen Schritt zurück, als ihm Herr Happ die Tür öffnete.
 

Was machte der denn hier?
 


 

Christian musste kurz seine Gedanken ordnen, doch trotzdem kam er zu keiner Lösung. Warum stand Andre Heiligabend bei Michael vor der Tür? Wollte er etwa seinen Geschichtslehrer terrorisieren?
 

Aber vielleicht hatte Michael ihn ja eingeladen, so als Überraschungsgast, obwohl das doch eher unwahrscheinlich war. Aber vielleicht waren die beiden ja doch irgendwie zusammengekommen, aber hätte Michael ihm dann nicht davon erzählt?
 

„Guten Abend, Andre. Äh… willst du nicht reinkommen? Es ist doch bestimmt kalt draußen.“
 


 

Andre hatte ganz vergessen, wie kalt ihm war.
 

Benommen nickte er nur und trat ein.
 

Innen schlug ihm ein Geruch von etwas Gebratenem und der unverwechselbare Geruch von frischgebackenen Keksen entgegen. Er schluckte. War er jetzt mitten in eine Weihnachtsfeier geplatzt?
 

Er konnte auch nur immer alles falsch machen!
 

Aus dem Wohnzimmer hörte er ein paar Stimmen, und fröhliches Gelächter drang zu ihnen herüber. Ja, so sollte man Weihnachten verbringen. Nicht wie er, ohne Zuhause und ohne Familie.
 

„Ich glaube, ich störe wohl…“ Er musste an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Keiner wollte ihn! Nirgendwo konnte er hin! „Ich gehe dann wohl doch lieber wieder…“
 


 

„Nein, warte! Was ist los, Andre? Was machst du hier? Es ist doch irgendwas passiert.“
 

Christian stand mitten in der Diele und betrachtete Andres Reisetasche. Wollte er hier einziehen oder war er auf der Durchreise? Plötzlich fielen Christian wieder Michaels Worte ein, dass er sich seine Schüler nie genauer ansah. Er zwang sich, Andre in die Augen zu schauen und bemerkte sofort die Trauer, die in ihnen lag.
 

Mein Gott! War der Junge etwa von Zuhause rausgeflogen?
 

„Andre? Geht’s dir gut?“
 


 

Andre biss sich auf die Lippe.
 

„Ich… wollte zu Michael. Ich meine, Herrn Welde… also ich… aber ich glaube, ich störe nur“, er trat einen Schritt zurück. Warum war auch Herr Happ bei Michael zu Hause?
 


 

„Nein, bleib hier. Also einen Platz haben wir bestimmt noch frei. Komm doch rein. Die anderen werden sich bestimmt freuen. Du kannst die Tasche ja hier erst mal stehen lassen.“
 

Christian zeigte mit einer Geste in das Wohnzimmer. Er würde Andre bestimmt nicht Heiligabend draußen stehen lassen.
 

„Kopf hoch, es ist Weihnachten.“
 


 

Verwirrt blickte Andre ihm ins Gesicht. Warum war er so nett zu ihm? Weil heute Heiligabend war?
 

Wieder hörte er die Stimmen, eindeutig Frauenstimmen und fröhliches Lachen. Wen hatte Harr Happ bloß mit den anderen gemeint?
 

„Ich kann wirklich hier bleiben? Ich meine, ich… will wirklich nicht stören.“ Trotzdem ließ er langsam die Tasche sinken.
 

Was musste Herr Happ wohl in diesem Moment von ihm denken?
 


 

„Nein, es ist wirklich kein Problem. Versprich mir nur, dass du Lina nicht den Kopf verdrehst und Michael auch noch ansprechbar bleibt. Okay?“
 


 

Unter anderen Umständen hätte Andre vielleicht gegrinst und einen lockeren Spruch abgelassen, doch dieses Mal fragte er nur verwirrt: „Lina?“
 


 

„Sie ist die kleine Schwester von Michael und meiner Frau. Aber ich stelle sie dir erst mal vor. Komm mit.“
 

Christian führte Andre in den kleinen, aber gemütlichen Raum. Augenblicklich verstummte das Gespräch und alle schauten gespannt zur Tür.
 


 

Frau? Schwester?
 

Andre versuchte gerade, die Zusammenhänge herzustellen, als er auch schon ins Wohnzimmer geschoben wurde.
 

Auf dem breiten Sofa sah er Michael neben einer jungen Frau sitzen, die in seinem eigenen Alter zu sein schien und unverkennbare Ähnlichkeit mit Michael hatte. War das die kleine Schwester? Rechts neben den Sofa stand ein großer, gemütlicher Sessel, in dem eine schwangere Frau saß. Herr Happs Frau? Anders als Michael und seine kleine Schwester hatte sie dunklere Haare, aber auch ihr sah man an, dass sie mit den beiden anderen verwandt war.
 

Alle sahen sie ihn forschend an. Was sollten sie auch denken, wenn er an Heiligabend mitten in ihre Feier platzte?
 

Andre fühlte sich furchtbar unwohl.
 


 

Andre? Was machte der denn hier? Abrupt stand Michael auf und ging zu Andre herüber. Nein, er sah gar nicht glücklich aus! Hatte es wieder Ärger gegeben und das an Weihnachten? Beruhigend legte Michael Andre seine Hand auf die Schulter.
 

„Hallo. Geht’s dir gut?!“
 


 

„Na ja…“, sagte Andre zögerlich. Vor den anderen wollte er Michael nicht erzählen, warum er hergekommen war. „Ich… wollte mit dir sprechen“, sagte er leise an Michael gewand, den anderen schenkte er ein zaghaftes Lächeln. „Hallo“, grüßte er in die Runde.
 

Das junge Mädchen begann zu lächeln, die schwangere Frau schaute noch immer verwirrt drein.
 


 

Andre sah gar nicht gut aus. Schon wieder so traurig… Schützend legte Michael ihm seinen Arm um die Schultern. Er konnte Andre einfach nicht leiden sehen. Am besten würden sie jetzt ganz schnell verschwinden, bevor hier Andre noch in Tränen ausbrechen würde. Er sah wirklich richtig fertig aus!
 

„Also, das ist Lina, meine kleine Schwester und das ist Maria, meine große Schwester und Christians Frau.“
 

Michael wandte sich an seine Schwestern, die Andre lächelnd begrüßten. Aber er hatte genau gesehen, wie Lina Andre zugezwinkert hatte. Michael unterdrückte die Eifersucht und tröstete sich damit, dass Andre hundertprozentig schwul war. Außerdem hatte Lina doch auch einen Freund…
 

„Das ist Andre… äh, mein… Freund. Ich habe ihn in der Schule kennen gelernt und er…. äh kann ganz wunderbar kochen. Ja genau, kochen. Er wird mir jetzt in der Küche helfen.“
 

Michael lächelte schief. Etwas besseres war ihm halt auf die Schnelle nicht eingefallen.
 


 

Andre lächelte tapfer weiter, warf Michael aber einen verwirrten Seitenblick zu. Er und gut kochen? Das war wohl ein Gerücht.
 

Trotzdem war er froh, als Michael ihn mit sich in die Küche zog und sie endlich allein waren. Jetzt musste er seine Maske nicht mehr aufrecht halten.
 


 

Michael zog einen Küchenstuhl heran und platzierte Andre erst einmal darauf, bevor der Junge hier noch umkippte.
 

„Was ist passiert? Und sag mir ja die Wahrheit, denn so langsam habe ich keine Lust mehr auf deine Spielchen.“
 


 

Betreten senkte Andre den Blick.
 

„Ich will dich ja gar nicht anlügen…“ Er verschränkte die Finger ineinander. Am besten mit der Tür ins Haus fallen, sagte er sich. „Ich bin zu Hause rausgeflogen.“ Er hob den Blick und begegnete Michaels erstauntem Gesicht. „Und jetzt weiß ich nicht wohin…“
 


 

Langsam kam Michael auf Andre zu und kniete sich vor ihn. Wer war eigentlich so skrupellos und schmiss sein eigenes Kind Weihnachten vor die Tür? Michael schaute Andre betreten an und schloss ihn einfach fest in seine Arme. Er streichelte über Andres Nacken und seinen Rücken, während er darauf wartete, dass Andre jede Sekunde zu weinen begann. Also er würde das nicht so einfach wegstecken…
 

„Mach dir keine Sorgen. Du bleibst jetzt einfach bei uns. Ich kümmere mich um dich. Du wirst schon sehen, alles wird sich wieder einrenken.“
 


 

Er wollte nicht weinen, wie ein kleines Kind. Nein, er würde es nicht tun! Er würde nicht Michaels Weihnachten ruinieren!…
 

Und doch begann Andre hemmungslos zu schluchzen und klammerte sich an Michael, als wäre er seine letzte Rettung. Es tat so weh! Er liebte doch seine Mutter! Und jetzt war er ganz allein, nicht einmal Mark war bei ihm.
 


 

Michael fühlte sich so hilflos. Was sollte er denn jetzt tun? Er umarmte Andre einfach noch fester und murmelte beruhigende Worte in sein Ohr. Michael spürte bereits die Tränen auf seiner Schulter. Verdammt!
 

„Ist ja in Ordnung, Kleiner. Du wirst dich bestimmt wieder mit deinen Eltern vertragen. So schlimm kann es nicht sein. Erst mal bleibst du bei mir und dann sehen wir weiter. Mach dir keine Sorgen, ich bin für dich da. Aber hör bitte auf zu weinen. Wir kriegen das schon wieder hin. Versprochen.“
 


 

Aber Andre dachte gar nicht daran, Michael loszulassen. Fest krallte er die Hände in dessen Hemd. Es tat so gut, von jemandem gehalten zu werden…
 

„Sie will mich nie mehr wieder sehen!“
 


 

„Das ist doch Unsinn. Es war bestimmt nur im Streit, du wirst sehen. Wenn deine Mutter darüber nachdenkt, vertragt ihr euch bestimmt wieder. Kopf hoch, Andre! Wir werden jetzt erst mal schön Weihnachten feiern und dann bleibst du bei uns. So schlimm wird es bestimmt nicht werden.“
 

Michael lächelte Andre an und wischte ihm die Tränen weg.
 


 

Andre schüttelte den Kopf, beruhigte sich aber langsam wieder.
 

Es fühlte sich so gut an in Michaels Armen gehalten werden. So sicher, so geborgen… beschützt…
 

„Halt mich einfach noch was fest, okay?“
 


 

Michael hatte sowieso nicht vorgehabt, Andre wieder loszulassen. Er würde ihn so einfach nicht mehr gehen lassen. Sanft wiegte er ihn in seine Armen und wartete darauf, dass Andre aufhörte zu weinen.
 


 

Andre schloss die Augen und atmete Michaels Geruch ein. Wie kam es nur, dass er sich bei ihm sofort wieder besser fühlte?
 

Erst nach einiger Zeit fühlte er sich wieder soweit, dass sich seine Finger aus Michaels Hemd lösten und er sich zurückzog, dass er ihm in die Augen sehen konnte.
 

Es ging ihm tatsächlich besser.
 

„Danke.“ Spontan hauchte er ihm einen federleichten Kuss auf die Lippen.
 


 

Schlagartig wurde Michael rot. Sie hatten zwar eine gemeinsame Nacht verbracht, aber dass Andre ihn noch mal küssen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Michael unterdrückte den Drang, Andre erneut zu küssen, streichelte ihm noch einmal über die Wange und stand auf.
 

„Also Herr Chefkoch, unsere werten Gäste erwarten zum Fest der Liebe ein hervorragendes Menü. Was schlagen Sie vor?“
 


 

Michael schaffte es, Andre zumindest ein kleines Lächeln zu entlocken. Er blinzelte die restlichen Tränen fort und fuhr sich mit der Hand über die Wangen, um auch dort die Tränenspuren zu beseitigen.
 

„Ich will dich ja nicht enttäuschen“, sagte er dann, „aber ich habe nicht die leiseste Ahnung vom Kochen.“
 


 

Jetzt konnte sich Michael wirklich nicht mehr zurückhalten. Er war ja so niedlich. Schnell trat er wieder an ihn heran, hob sein Kinn leicht an und küsste Andre. Er hatte ihn ja so vermisst.
 

Widerwillig löste er sich wieder von ihm, aber nicht, bevor er ihn noch einmal leicht auf die Nasenspitze geküsst hatte. Die verfressene Meute forderte ja schließlich ihr Essen. Eigentlich schade, Michael könnte sich jetzt wirklich etwas Besseres vorstellen als Kochen. Trotzdem, solange Andre bei ihm blieb war, war selbst das egal.
 

„Na, und wie kamen sie dann an Ihren hervorragendem Ruf? Ich hörte, Sie wären einer der besten Köche auf der ganzen Welt. Sie haben Ihren guten Ruf ja wohl nicht nur wegen Ihren wunderschönen schokobraunen Augen, oder?“
 


 

Andre lächelte zaghaft und wurde leicht rot um die Nase.
 

Warum, zum Teufel, wurde er rot?!
 

Und warum hatte ihm Michaels Kuss wieder so gefallen? Er hatte nicht nur gut getan, sondern es war wirklich angenehm gewesen. Michael hatte so weiche Lippen…
 

Erschüttert über diese Gedanken schüttelte er den Kopf und stand auf.
 

„Da hast du wohl etwas falsches gehört, denn ich kann wirklich überhaupt nicht kochen. Ich würde bestimmt alle vergiften!“
 


 

Michael holte einen Topf aus dem Schrank, während er mit der anderen Hand versuchte das Radio in der Küche einzuschalten. Hier müsste doch endlich mal Weihnachtsstimmung aufkommen. Nach längerem hin und her schaffte er es endlich, das Radio anzumachen und vom schrecklichen Techno auf besinnliche Weihnachtsmusik zu schalten. Er blickte wieder zu Andre, der etwas nutzlos in der Küche herumstand. Aber das würde sich gleich ändern.
 

„Du kannst doch Kartoffeln schälen, oder? Hol sie doch mal aus der Abstellkammer und leg los. Mal sehn, was du alles so drauf hast. So schlimm kann es ja gar nicht sein.“
 

Michael zwinkerte Andre an und begann fröhlich Jingle Bells mitzusingen.
 


 

Gehorsam holte Andre die Kartoffeln, und nachdem er ein Messer gefunden hatte, begann er, sie zu schälen.
 

„Feiert ihr immer zusammen Weihnachten? Ich meine Herr Happ und du. Und deine Schwestern. Ich will wirklich nicht stören, verstehst du?“ Die geschälten Kartoffeln wanderten in den dafür daneben stehenden Topf. „Ich will eure Familienfeier nicht stören, nur weil ich keine eigene habe, mit der ich feiern kann.“
 


 

Michael hörte auf zu singen und schaute zu Andre herüber. Er sah wieder so traurig aus… Michael trat zu ihm und umarmte ihn von hinten. Zärtlich pustete er ihm in den Nacken und küsste dann leicht sein Ohr.
 

„Du störst nicht, Schatz. Mach dir nicht so viele Sorgen. Es wird bestimmt ein schönes Fest. Außerdem bin ich froh, dass du bei mir bist.“
 


 

Bei dem Wort ‚Schatz’ versteifte sich Andre. Er war doch nicht Michaels Schatz.
 

Schon wieder bahnten sich Schuldgefühle an, doch er schob sie beiseite. Michael war es bestimmt nur so herausgerutscht, weil er ihn trösten wollte. Das war sicher schon alles.
 

„Danke“, sagte er. „Ich wüsste sonst wirklich nicht, wo ich hin sollte…“
 


 

„Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Wir werden das schon irgendwie zusammen schaffen. Du bleibst einfach hier. Das ist kein Problem. Und dann werden wir weitersehen. Ich helfe dir.“
 

Michael streichelte sanft über Andres Bauch und küsste ihn in den Nacken. Er war ja so glücklich, dass Andre jetzt bei ihm war.
 


 

Zitternd nahm Andre die Hand von seinem Bauch. Er wollte jetzt nicht so berührt werden. Langsam drehte den Kopf und warf Michael ein entschuldigendes Lächeln zu. Diese Zärtlichkeiten konnte er nicht genießen in diesem Augenblick und zurückgeben erst recht nicht. Er hätte sich nur wieder Vorwürfe gemacht.
 

„Dann lass uns mal was schönes kochen“, sagte er und wand sich aus der Umarmung. „Was willst du denn machen?“
 


 

Michael wandte sich enttäuscht von Andre ab, lächelte aber kurze Zeit später wieder. Er würde Andre einfach ein bisschen Zeit geben, außerdem war es schon schön genug, dass Andre überhaupt hier war.
 

„Es gibt natürlich eine Festtagsgans. Ist doch klar, oder? Was sollte man Weihnachten auch anderes essen? Bist du gleich mal mit den Kartoffeln fertig?“
 


 

„Ja, fehlen nur noch zwei. Einen Moment noch.“
 

Er war froh, dass Michael ihm nicht böse war und ihn zu verstehen schien.
 

War es falsch, sich in Michaels Nähe so wohl zu fühlen, obwohl er sich mit Mark wieder vertragen hatte? Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fühlte er sich zu Michael hingezogen. Nicht nur körperlich, sondern vor allem geistig. Michael schien zu fühlen, wenn es ihm schlecht ging und wusste immer genau, was er sagen musste, um ihn aufzuheitern. Er verachtete ihn nicht wegen der Liebe zu seinem Bruder, sondern war für ihn da, wenn er ihn brauchte. Sogar am Weihnachtsabend nahm er ihn bei sich auf.
 

Und Michael war in ihn verliebt… Jedenfalls hatte er das gesagt.
 

Andre wusste nicht genau, wie er mit Michaels Gefühlen für ihn umgehen sollte. Er wollte ihn nicht ausnutzen, aber genauso fühlte er sich, und das war genau der Grund, warum er sich solche Vorwürfe machte und Schuldgefühle hatte.
 


 

Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als Lina, die jüngere Schwester von Michael in die Küche stürmte. Jetzt, wo sie neben ihm stand, bemerkte Andre, dass sie gut einen halben Kopf kleiner als er selbst war. Sie war schlank, aber nicht zu dünn und ihr frecher Kurzhaarschnitt betonte das feingeschnittene Gesicht. Aufgeweckte blaue Augen, die haargenau die gleiche Farbe hatten wie die ihres Bruders, leuchteten in ihrem Gesicht und sie grinste über das ganze Gesicht.
 


 

Lina beobachtete das junge Glück. Was lief denn da zwischen den beiden? Und vor allem, warum hatte Michael nichts von Andre erzählt? Aber das konnte man ja ganz schnell austesten. Lina sah sich im Raum um und ihre Augen fielen unweigerlich auf einen Mistelzweig über der Wohnzimmertür. Kurz entschlossen riss sie ihn ab, den konnte man schließlich später immer noch wieder dran machen. Michael würde ausrasten.
 

Fröhlich sprang sie in die Küche, stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt den Mistelzweig über Andre und sich. Verführerisch blickte sie den verwunderten Andre an und beobachtete aus dem Augenwinkel Michaels Reaktion. Übertrieben gespielt schaute sie nach oben und rückte noch ein Stück näher an Andre heran.
 

„Du liebe Güte! Wer hätte das gedacht? Ein Mistelzweig! Und wir stehen drunter. Was für eine Überraschung! Na, dann wollen wir mal.“
 

Provozierend schaute sie zu Andre nach oben und küsste ihn schnell auf den Mund, bevor er sich wehren konnte.
 


 

Andre wusste kaum was er machen sollte. Und Michael? Der wurde wie geplant rot. Bingo, er war verliebt. Lina grinste über beide Ohren.
 


 

Andre war viel zu überrascht, um etwas zu sagen. Erst hatte er das Mädchen noch grinsen sehen, dann auch schon ihre Lippen auf seinen gespürt. Nur kurz, kaum ein richtiger Kuss, aber doch war es einer gewesen. Zumindest irgendwie.
 

Aber warum, um Himmels Willen, hatte sie das getan?
 


 

Lina blickte in Michaels Gesicht und begann zu lachen.
 

„Nicht böse sein, Brüderchen!“, brachte sie lachend hervor. „Aber er ist ja auch wirklich zum Anbeißen, was?“ Spielerisch kniff sie Andre in die Wange, der sie nur weiterhin verdattert anstarrte.
 


 

Michael begann wild mit seinen Händen zu flattern und stürmte auf die beiden zu. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein.
 

„Lina, bist du wahnsinnig?! Du kannst doch Andre nicht so einfach überfallen. Er will doch gar nichts von dir. Du musst hier jetzt nicht noch nerven!“
 

Verdattert starrte Michael auf Lina, die es gar nicht interessierte, was er da von sich gab. Also, das war doch echt die Höhe! Sie hatte doch selber einen Freund!
 

Ohne großartig nachzudenken packte er Andre und küsste ihn selber. Aber nicht wie Lina, sondern lang und intensiv. Kurzzeitig verlor sich Michael in dem Kuss und verschwendete keine Gedanken mehr an seine Schwester, die jetzt selber verblüfft neben ihnen stand. Triumphierend hielt Michael Andre im Arm und schaute sie belustigt an.
 

„Das ist meiner! Und ich glaube kaum, dass er auf kleine Mädchen wie dich steht.“
 


 

Andre stolperte von einem ins andere. Er hatte nicht einmal Zeit nachzudenken oder zu genießen, obwohl er gar nicht wusste, ob er es überhaupt wollte.
 

Erst von Lina, dann von Michael geküsst zu werden brachte ihn ganz durcheinander. Was war denn los hier?
 

Er kam gar nicht so schnell mit seinen Gedanken hinterher. Und hatte er da richtig gehört? Hatte Michael gesagt, er wäre seiner? Und befand er sich tatsächlich wieder in seiner Umarmung?
 

„Ich…“, er musste sich räuspern, um überhaupt etwas herauszubekommen. „Ähm… Ich glaube, wir sollten das Essen fertig zubereiten“, sagte er schnell und wand sich aus Michaels Armen, um sich hastig wieder seinen Kartoffeln zuzuwenden.
 

Warum klopfte bloß sein Herz jetzt so schnell?
 


 

Lina begann zu kichern und trat erneut auf Andre zu.
 

„Na, Kleiner. Liebe muss ja wirklich schön sein! Du bist ja richtig schüchtern, ist ja süß!“
 

Sie kniff Andre in den Po und schnappte sich noch einen Keks, der einsam und verlassen auf der Küchenablage gelegen hatte.
 

„Also, wenn es dir hier mit meinem Bruderherz zu langweilig wird, dann weißt du ja wo ich bin.“ Belustigt nahm sie das entsetzte „Lina!“ von Michael wahr und verließ die Küche.
 


 

Die restliche Zeit des Kochens verlief ruhig und ohne weitere Zwischenfälle. Andre hatte beschlossen, nicht mehr nachzudenken und zu grübeln, sondern den Abend zu genießen. Wo Michael und seine Familie ihn doch schon so freundlich aufgenommen hatten, wollte er es auch genießen.
 


 

Das gemeinsame Essen im Esszimmer verlief entspannt und ausgelassen. Es gelang Andre sogar, sich zu entspannen, obwohl er nicht genau wusste, wie er Herrn Happ begegnen sollte und versuchte, ihm so gut wie möglich auszuweichen. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass sein Geschichtslehrer Michaels Schwager war. Aber so wie er mit seiner schwangeren Frau umging, konnte man fast schon neidisch werden, so verliebt wie die beiden wirkten – allein diese kleinen Gesten der Zuneigung.
 


 

Lina war gut aufgelegt und machte ein paar Witze, über die selbst Andre lächeln musste. Er fühlte sich wirklich wohl. Hier waren alle so… glücklich.
 

Als Nachtisch gab es Vanilleeis mit heißen Kirschen, die Michael noch schnell erhitzt hatte, und dann waren alle auch schon satt.
 


 

Auf Marias Vorschlag hin setzten sie sich schließlich alle zusammen ins Wohnzimmer, da dort die Sitzgelegenheiten gemütlicher waren. Maria nahm wieder auf dem Sessel Platz, Christian setzte sich daneben auf die Lehne und legte ihr einen Arm um die Schultern.
 

Michael, Lina und er saßen zusammen auf der Couch.

Elf

~*~ Teil 11 ~*~
 

Frustriert beobachte Michael seine Schwester, die jede Gelegenheit ausnutzte, mit Andre zu flirten. Natürlich war ihm klar, dass sie ihn nur aufziehen wollte. Aber trotzdem…

Andre war den ganzen Abend erstaunlich ruhig gewesen, aber er hatte nicht unglücklich gewirkt. Anfangs hatte Michael angenommen, Andre würde wieder in Tränen ausbrechen, aber er hielt sich erstaunlich gut. Ruhig und zufrieden.
 

Das Fest lief unweigerlich auf die Bescherung hinaus, sodass Michael sich bereits den ganzen Abend überlegt hatte, was er Andre schenken könnte. An so einem Tag von zu Hause rauszufliegen und dann auch noch ohne Geschenk… Also das wusste Michael zu verhindern.

Er beschloss, Andre seinen Schal zu schenken. Vielleicht war es ja nicht sonderlich romantisch, aber warm und nützlich. Michael würde auf jeden Fall noch eine Schleife drum binden, schließlich war es doch an Weihnachten das Schönste auszupacken.
 

Andre genoss die feierliche Atmosphäre, die trotzdem ausgelassen und fröhlich war. Sogar Linas Flirtversuche nahm er mit einem Lächeln oder sogar mit einem Augenzwinkern entgegen. Er fühlte sich wirklich wohl, auch wenn die Trauer sich nicht gänzlich aus seinen Gedanken verbannen ließ.

Erst, als Herr Happ aufstand und die Bescherung ankündigte, dachte er wieder an das Geschenk, das seine Mutter ihm so lieblos mitgegeben hatte und sofort wurde die gute Stimmung wieder gedämpft.

Er wusste nicht einmal, ob er es überhaupt aufmachen wollte.
 

Christian verschwand in die Diele und kam lächelnd mit einen Arm voller Geschenke zurück. Es schien als hätte er das ganze Jahr nur auf diesen einen Augenblick gewartet. Schnell stellte er wieder die Weihnachtsmusik an, die Lina schon vor einer Stunde genervt ausgeschaltet hatte. Er schaute sich seine gesamte Familie glücklich an und begann völlig unkontrolliert die Geschenke für jeden einzelnen herauszusuchen.

Christian war erleichtert, dass er noch eine Dose selbstgebackener Kekse dabei hatte. Eigentlich hatte er sie ja zu Hause eingesteckt um sie nachher selber zu essen, aber so hatte er wenigstens eine Kleinigkeit für Andre.

Zuerst wandte er sich an Lina und gab ihr ein kleines, mit rotem Weihnachtspapier eingepacktes Päckchen. Hoffentlich gefiel es ihr. Christian war glücklich, dass seine Frau die Weihnachtsgeschenke eingepackt hatte, sonst würde er sich jetzt bestimmt ganz lächerlich machen.
 

Für Michael hatte sie ein Buch und eine Hose, da er ja immer so praktisch veranlagt war. Also, für Christian war es ja gar nichts, eine Hose und das zu Weihnachten. Aber Michael schien sich zu freuen, da hatte Maria ja wohl wieder Recht gehabt. Er wünschte Andre ein schönes Fest und überreichte ihm die Keksdose. So was ist doch viel praktischer als blöde Klamotten. Christian konnte nur hoffen, dass sein Schüler sich im Laufe des Abends erbarmen würde und ihm auch mal probieren ließ. Schließlich hatte Maria stundenlang gebacken.

Für seine Frau hatte er was ganz besonders. Der Geschichtslehrer grinste wie ein Honigkuchenpferd, als er auf seine Frau zu kam und ihr eine sehr kleine Schatulle reichte. Sie würde sich bestimmt freuen.
 

Maria lächelte und packte gespannt ihr Geschenk aus. Sofort begannen ihre Augen zu leuchten und sie fiel ihrem Mann um den Hals.

Neugierig linste Andre in die kleine Schachtel und sah dort eine silberne Halskette glitzern. Kein Wunder, dass sie sich so freute. Aber auch er freute sich über die Kekse, die Herr Happ ihm geschenkt hatte. Bestimmt waren sie eigentlich für jemand anderes gedacht gewesen, da ja keiner gewusst hatte, dass er auftauchen würde, und deshalb freute er sich um so mehr.
 

Lina bekam eine CD von ihrer Lieblingsgruppe von Christian und seiner Frau und ein paar Ohrringe von ihrem Bruder. Sie lächelte selig und Andre freute sich mit. Alle waren so glücklich!
 

Michael schlich sich aus dem Zimmer, um sein Geschenk zu holen. Angekommen in seinem Schlafzimmer schlug ihm Kälte entgegen. Verdammt! Er hatte schon wieder vergessen, das Fenster zu zumachen. Michael trat zum Fenster und schaute noch einmal kurz hinaus, bevor er es schloss. Natürlich schneite es nicht, aber wer erwartete das auch mitten in Düsseldorf?

Aber der Abend verlief auch schon so wunderbar. Seine Familie und Andre waren hier, was könnte es schon schöneres geben? Michael schob seine Schranktür auf und holte seinen Schal. Vielleicht würde er Andre ja ein bisschen aufheitern. Schnell faltete er ihn noch mal und band eine Schleife herum, bevor er wieder ins Wohnzimmer ging.

Andre saß neben Lina auf dem Sofa und schaute zufrieden drein. Das war doch mehr, als man eigentlich erwarten durfte. Schnell kam er auf Andre zu und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. So weich und warm…

Michael übergab ihm den Schal und freute sich gleichzeitig, dass auch Andre lächelte.

„Fröhliche Weihnachten. Ich hoffe, du kannst damit was anfangen.“
 

Völlig perplex nahm Andre den Schal entgegen.

„Ein Geschenk? Für mich?“, fragte er und wunderte sich, warum ihm plötzlich die Tränen in die Augen stiegen. Sofort wickelte er sich den Schal um den Hals und roch sofort Michaels Geruch. Der Schal war warm und weich… und er roch nach Michael.

„Danke!“ Ungestüm fiel Andre Michael um den Hals und drückte sich an ihn.
 

Michael stand kurz davor Andre einfach nicht mehr loszulassen. Er schien so zerbrechlich und so unglaublich niedlich. Michael streichelte Andre kurz über die Wange und küsste ihn erneut.

„Schön, dass du hier bist.“
 

Andre genoss den Kuss und Michaels Hände um seine Hüften, doch sie waren nicht allein. Noch einmal schniefend löste er sich von ihm. Linas wissendes Grinsen traf ihn und er senkte schnell den Kopf. Irgendwie schienen seine Gefühle Achterbahn zu fahren…

Den Schal behielt er jedoch an und vergrub seine Nase darin.

An der Hand zog er Michael zu sich zurück aufs Sofa und lehnte den Kopf an seine Schulter. Schuldgefühle hin oder her, diesen Augenblick wollte er genießen!
 

Michael freute sich, dass Andre langsam auftaute. Glücklich legte er seine Hand in die von Andre und fuhr sachte mit seinen Fingerkuppen über Andres Fingerspitzen. Am liebsten würde er so ewig sitzen bleiben.
 

Für den Rest des Abends saßen sie zusammengekuschelt auf dem Sofa. Lina hatte keine Chance mehr mit Andre zu flirten, denn Michael hatte ihn ganz für sich eingenommen. Andre schien völlig losgelöst zu sein und hatte seine Probleme für kurze Zeit vergessen. Doch sobald er wieder drohte in Traurigkeit zu verfallen, konnte Michael einfach nicht widerstehen Andre zu küssen. Ihm schien es schließlich zu gefallen.

Zum Glück hatte sich Michael schon vor Jahren geoutet und so ernteten sie keine komischen Blicke. Alles war perfekt.
 

Nach richtig mitleidigen Blicken von Christian erbarmte sich Andre sogar und bat ihm ein paar Kekse an, die er sofort dankend annahm.

Nach dieser Stärkung musste Christian mit seiner hochschwangeren Frau auf White Christmas tanzen, aber natürlich ganz langsam. Lina hatte sich schon vor Stunden auf ihr Zimmer verzogen um mit ihrem Theo zu telefonieren. Es war ja auch so grausam, Liebende an Weihnachten zu trennen. Aber ab morgen würde Lina ja so wieso zu ihrem Freund fahren, da musste schließlich alles geplant werden.
 

Nach der wilden Tanzeinlage machte Maria ihrem Mann unmissverständlich deutlich, dass sie jetzt müde sei. Und wie es sich für brave Brüder und Ehemänner gehörte, stürmten Michael und Christian auf die Garderobe zu, um ihren Mantel zu holen. Maria konnte wirklich unangenehm werden, wenn sie warten musste, außerdem hatte sich diese Eigenschaft in der Schwangerschaft noch verstärkt. Wenn etwas nicht nach ihrer Willen lief, konnte es ganz plötzlich zu unangekündigten Weinkrämpfen kommen.

Christian half ihr in den Mantel und wünschte sich gleichzeitig, dass das Baby bald kommen würde.
 

Andre war gleichzeitig froh darüber, dass die beiden gingen, aber auch nicht. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, wenn er plötzlich mit Michael allein war. Sicher würde er eine Erklärung verlangen, aber er wusste nicht, was er sagen sollte, ohne Michael dabei zu verletzen.

Unsicher schaute er daher auf, als Michael wieder zurückkam, die Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Was sollte er nur tun? Er wollte Michael nicht wehtun, aber würde er ihm die Wahrheit erzählen, täte er bestimmt genau das. Zaghaft lächelte er zurück.
 

Michael freute sich über die ungewohnte Ruhe und ließ sich auf sein Sofa fallen. Besorgt betrachtete er Andre, der irgendwie ängstlich und müde aussah. Er legte seinen Kopf schief und steckte sich noch ein Keks in den Mund.

„Alles klar? Bist du müde?“
 

„Ja, irgendwie schon“, antwortete er und wich Michaels Blick aus. Was sollte er machen, wenn Michael heute oder morgen noch woanders hin musste? Wo sollte er denn dann bloß hin? Eigentlich konnte er noch nicht mal erwarten, heute hier übernachten zu können.

„Du, Michael?“, fragte er deswegen.
 

„Ja, du weißt doch wo Bad und Schlafzimmer sind, oder? Brauchst du sonst noch irgendwas?“

Michael stand auf und begann den Tisch abräumen. Plötzlich fiel ihm ein, dass Andre vielleicht gar nicht mit ihm in einem Bett schlafen wollte. Verdammt! Warum hatte er daran nicht schon früher gedacht!

„Also, ich kann auch auf dem Sofa schlafen, wenn dir das lieber ist. Es ist wirklich gar kein Problem.“
 

„Ich kann wirklich hier übernachten? Ich will dir nicht zur Last fallen. Du kannst schließlich nichts dafür, dass meine Mutter mich rausgeworfen hat…“
 

Michael stellte die Teller wieder ab und ging zu Andre herüber.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir helfe. Ich lass dich nicht allein. Möchtest du, dass ich auf der Couch schlafe, oder hast du nichts dagegen, dass ich neben dir liege? Ich werde mich auch zusammenreißen.“
 

„Ich…“, Andre wusste nicht, was er wollte. Seine Gefühle fuhren wieder Achterbahn. Doch schließlich setzte sich der Pragmat in ihm durch. Allein war es kalt, schließlich war es Winter, also war es viel praktischer, wenn sie in einem Bett schliefen. Genau!

„Ich komme mit zu dir in dein Bett, wenn das für dich okay ist. Dann musst du hier auch nicht mehr alles herrichten.“

Er sah Michael jedoch nicht an. Was war nur los mit ihm?…

Andre seufzte und vergrub wieder die Nase in seinem neuen Schal.
 

„Keine Panik. Ich werde dir schon nicht zu nahe kommen. Geh doch schon mal ins Bett. Du siehst müde aus. Ich räume das hier nur noch eben weg.“

Michael küsste Andre auf die Wange, drehte sich um und ging in die Küche.
 

Andre schloss kurz die Augen. Ja, er fühlte sich wirklich müde. Und erschöpft. Heute war so viel passiert…

Aber er konnte Michael auch nicht die ganze Arbeit allein machen lassen. Wenn er schon bei ihm übernachtete, dann musste er sich wenigstens nützlich machen!

Er nahm die leeren Gläser und Teller vom Tisch und trug sie in die Küche, in die Michael zuvor gegangen war.

„Ich helfe dir. Das ist das mindeste, was ich tun kann.“
 

„Das musst du wirklich nicht. Geh doch ins Bett. Du bist auch schon ganz blass.“

Michael räumte die Gläser und Teller in die Spülmaschine. Es würde ihm verdammt schwer fallen, von Andre heute Nacht Abstand zu halten, aber er hatte es schließlich versprochen.

Plötzlich stellte sich Michael die Frage, warum Andre eigentlich zu Hause rausgeflogen war. Und wieso war er gerade zu ihm gekommen?

Michael war den ganzen Abend nur damit beschäftigt gewesen, Andre wieder zum Lachen zu bringen und überhaupt glücklich zu sein, dass Andre bei ihm war. Aber was jetzt wirklich zwischen ihnen war, konnte Michael nicht sagen. Also, er war in Andre verliebt, aber was fühlte der?

Trotzdem wollte er ihn nicht unter Druck setzten. Michael wusste schließlich, dass es dazu führen konnte, dass Andre wieder Hals über Kopf floh. Sich aus brenzligen Situationen einfach zu verziehen, war wohl eine seiner Spezialitäten.

„Was ist eigentlich bei dir passiert? Warum hat dich deine Mutter vor die Tür gesetzt? Aber… wenn du nicht darüber reden willst, ist das auch in Ordnung. Geh am besten ins Bett. Ich komme auch gleich.“
 

Genau diese Frage hatte Andre befürchtet. Andererseits hatte Michael ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert war, oder nicht?

„Ich…“, druckste er herum. „Alles in allem ist es eine lange Geschichte. Ich würde sie dir lieber ein anderes Mal erzählen…“
 

„Weißt du eigentlich, wie geheimnisvoll du bist? Ich habe keine Ahnung, wo ich bei dir dran bin. Weißt du eigentlich selber, was du willst?“
 

Andre schluckte.

Was konnte er dafür, wenn er so hin und her gerissen war?

„Ich bin nicht geheimnisvoll“, wehrte er leise ab. Ob er wusste, was er wollte?

„Ich habe eigentlich immer gedacht, ich wüsste was ich will, aber… jetzt bin ich mir auf einmal nicht mehr sicher…“ Er senkte den Blick.
 

„Ist schon gut. Ich will dich nicht unter Druck setzen. Das würde eh nur wieder zu unüberlegten Handlungen deinerseits führen. Oder würdest du dich wieder ohnmächtig stellen?“

Michael hörte auf das Geschirr einzuräumen und küsste Andre flüchtig.

„Gute Nacht. Geh am besten einfach schon ins Bett.“
 

Andre nickte und ließ die Schultern hängen.

„Tut mir Leid“, sagte er, wandte sich um und ging seine Tasche holen, um sich zu waschen und umzuziehen.
 

~*~
 

Leise schloss Michael die Tür und trat in sein Schlafzimmer. Er hatte noch anderthalb Stunden aufgeräumt. Hätte ihm nicht wenigsten Lina helfen können? Aber nein, stattdessen musste er sich in regelmäßigen Abständen irgendwelche Liebesgeständnisse anhören. Wie lang konnte ein einziger Mensch eigentlich telefonieren?
 

Versonnen betrachtete Michael den schlafenden Andre. Er sah richtig hilfebedürftig aus. Schnell kroch er ins Bett und zog die Decke über sich und Andre. Der seufzte leise auf und kuschelte sich an ihn.

Vorsichtig zog Michael ihn einfach an sich und legte seinen Arm um den Körper. Er spürte die warme Haut und bereute, sich nicht doch auf das Sofa gelegt zu haben. Wie konnte man auch Andre widerstehen? Trotzdem, er hatte es ihm versprochen.

Michael hauchte einen Kuss auf Andres Lippen und schloss die Augen.
 

Als Andre aufwachte, fühlte er ein Gewicht auf seinem Bauch und blinzelte vorsichtig hinunter. Ein Arm war um seine Hüfte geschlungen. Michaels Arm.

Warmer Atem streifte gleichmäßig seine Wange und Andre blickte auf, nur um Michaels Gesicht direkt vor seinem zu bemerken.

Sogar im Schlaf sah er ein wenig zerstreut aus. Ohne dass Andre etwas dagegen tun konnte, hatte sich seine Hand schon selbstständig gemacht und dem jungen Studenten eine verirrte blonde Haarsträhne aus der Stirn geschoben.

Wann war er neben Mark schon einmal so aufgewacht? Eigentlich nie. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Mark ihn morgens jemals so sicher, so beschützend in seinen Armen gehalten hatte. Höchstens, wenn er etwas von ihm wollte.
 

Andre seufzte und schob alle Gedanken aus seinem Kopf, kuschelte sich lieber noch etwas in Michaels starke Arme. Der gleiche Geruch, der auch von seinem neuen Schal ausging, hüllte ihn ein.

Ob er Michael wohl eine Freude machen könnte, wenn er Frühstück für ihn machte? Wenigstens als kleines Dankeschön. Er lächelte bei diesem Gedanken und schob den Arm behutsam von seiner Hüfte.

Genau, er würde Frühstück machen!

Ganz leise, um Michael auch ja nicht zu wecken, stand er vorsichtig auf. Als er noch einen letzten Blick auf den Schlafenden warf, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Michael sah wirklich ganz süß aus, wenn er schlief.

Mit diesem Gedanken schlich er aus dem Schlafzimmer in die Küche.
 

„Morgen Schöner, na, war es gestern gut mit Michael?“

Lina blickte von ihrer Zeitschrift auf reckte sich kurz. Wunderbar, dann konnte Andre ja Frühstück für sie machen. Sie grinste und zeigte auf den Kühlschrank, bevor sie wieder zu lesen begann.

„Da ist alles drin. Du schaffst es doch sicherlich, für deinen Schatz ein Frühstück zu zaubern, oder?“
 

Etwas irritiert blieb Andre mitten in der Küche stehen und wurde dann schlagartig rot.

„Er ist nicht mein Schatz“, murmelte er und steckte schnell den Kopf in den Kühlschrank.

Verdammt, warum fiel ihm denn jetzt kein lockerer Spruch ein?!

Das lag bestimmt nur daran, dass es noch so früh am Morgen war. Ganz bestimmt!

Er atmete noch einmal tief durch, bevor er sich wieder gefangen hatte. Nun drehte er sich mit einem breiten Grinsen um, wieder ganz der alte Andre.

„Und ob Michael gut ist im Bett oder nicht, dürfte dich doch wohl nichts angehen, oder? Allerdings…“, er zwinkerte ihr kurz zu, „kann ich mich nicht beklagen.“
 

„Du verbringst Weihnachten mit uns, schläfst in seinem Bett und euer Sex ist gut, und trotzdem ist er nicht dein Schatz? Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“

Fragend schaute Lina ihn an. „Was läuft denn dann zwischen euch?“
 

„Das“, er ging auf sie zu und tippte ihr mit dem Zeigefinger leicht auf die Nase. „ist nichts, was kleine Mädchen interessieren müsste!“
 

„Kleine Mädchen? Dass ich nicht lache! Ich bin wohl kaum jünger als du. Aber was läuft denn da zwischen euch? Du hast anscheinend selber keine Ahnung und musst dann mit so bescheuerten Ausreden kommen. Aber so was zieht bei mir nicht.“

Lina stand auf und tippte nur ihrerseits Andre auf die Nase.

„Wehe, du tust ihm weh. Dann kann ich nämlich gefährlich werden! Er hat keine Spielchen verdient.“
 

Andre schluckte plötzlich. Das wusste er doch selber.

„Ich will deinem Bruder nicht wehtun.“ Das zumindest stimmte ja. Dass es sich wahrscheinlich nicht vermeiden ließ, war eine andere Sache. Aber absichtlich tat er es bestimmt nicht.

Er seufzte lautlos und wandte sich ab.

„Ich bin mir über meine Gefühle einfach noch nicht ganz im Klaren, das ist alles, was ich dir jetzt dazu sagen werde.“ Er öffnete wieder den Kühlschrank und nahm eine Flasche Saft heraus. „Was möchtest du essen?“
 

„Du bist dir über deine Gefühle nicht im Klaren, hast aber gleichzeitig Sex mit ihm? So was könnte ganz schnell in die Hose gehen! Weiß er darüber Bescheid?“

Lina ignorierte einfach Andres Versuche, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Also, so ging das ja wirklich nicht! Andre spielte anscheinend nur mit Michael.

„Heißt das, dass du ihn nur ausnutzt?“
 

„Ach, Lina!“

Verdammt, sie hatte wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen!

Andre stellte die Saftflasche ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sein Gesicht versteckte er in seinen Händen. Was war nur los mit ihm? Er liebte doch Mark. Oder?

Warum fühlte er sich dann bei Michael so wohl? Warum hatte er mit ihm geschlafen und hatte es so genossen?

„Ich mag ihn.“ Das entsprach durchaus der Wahrheit. Aber war da mehr?
 

„Na, wenn du ihn magst, möchtest du ihm ja auch nicht weh tun. Dann tu es auch nicht. Er ist doch jetzt schon in dich verliebt, oder hast du das etwa noch nicht mitbekommen? Und wenn er verliebt ist, dann richtig. Er stürzt sich da immer rein. So nach dem Motto: ganz oder gar nicht. Du solltest dich entscheiden.“
 

Toll, jetzt hatte er ein noch schlechteres Gewissen!

„Ich… Lass uns erst mal Frühstück machen“, wich er aus und stand hektisch auf.

Was sollte er denn tun? Er konnte doch auch nichts dafür, dass Michael sich in ihn verliebt hatte, oder?
 

Diesmal ließ Lina sich auf das Ablenkungsmanöver ein. Andre schien wirklich fertig zu sein und außerdem ging es sie ja eigentlich nichts an. Lina hatte Andre gewarnt und das sollte reichen. Mehr konnte sie nicht machen. Michael wusste schon was er tat… hoffte sie zumindest.

„Ich habe keine Lust Frühstück zu machen, aber du kannst das ja heute übernehmen. Michael wird sich bestimmt freuen. Ich werde dir auch gute Ratschläge geben, ganz bestimmt.“

Lina lächelte Andre wieder versöhnlich an. So früh am Morgen sollte man sich nicht über Beziehungsprobleme unterhalten. Außerdem schien Andre ja wirklich nett zu sein.

„Mach den Kühlschrank auf und hol die Milch raus, unten im Schrank steht das Kakaopulver. Michaels heiß geliebte Schwester liebt nämlich Kakao, und was sie glücklich macht, macht auch ihren Bruder glücklich.“
 

Dankbar über den geglückten Themenwechsel grinste Andre sie wieder an.

„Aha!“ Er stand auf und holte aus besagtem Schrank das Kakaopulver heraus. „Dann will ich euch zwei mal glücklich machen, was?“

Jetzt wieder besser gelaunt, tanzte Andre durch die Küche und bereitete das Frühstück vor. Milch, aus der fix Kakao wurde, Butter, Marmelade, Käse, ein paar Eier, all das war schnell auf den Tisch gebracht.
 

Doch trotzdem blieb ein schaler Geschmack im Mund.

Michael… Er wollte ihm nicht wehtun.

Andre schüttelte den Kopf. Nein, jetzt würde er nicht über seine Gefühle nachdenken. Diesen Tag wollte er einmal genießen. Ohne Gewissensbisse, ohne Schuldgefühle. Was war verwerflich daran, wenn er einfach einen Tag genießen wollte?

„Ich glaube, jetzt ist alles fertig. Was meinst du?“
 

„Wunderbar. Du hast bestanden. Wir behalten dich. Und weil du es so gut gemacht hast, darfst du jetzt jeden morgen Frühstück machen.“

Lina räkelte sich und legte die Beine auf einen gegenüberliegenden Stuhl. Was für ein Service. Schade, dass Andre wohl nicht ewig bei ihnen bleiben würde. Aber wer weiß…

„Willst du unser Dornröschen nicht mal wecken, oder sollen wir uns allein drüber hermachen? Wäre zwar auch nicht schlecht, aber ich muss mich noch von ihm verabschieden. Bald seid ihr mich nämlich los. Ich muss um zwölf die Bahn kriegen und dann heißt es schöne Weihnachten…“ Lina grinste geistesabwesend und schaute versonnen auf Andre. Ihr Lächeln wurde noch breiter.

„Er sieht tausendmal besser aus als du, aber mach dir nichts draus. Niemand ist perfekt. Na ja, außer einer natürlich…“
 

Andre grinste. Lina war ihm wirklich sympathisch.

„Du fährst zu deinem Freund?“
 

Lina nickte. Es würde ganz toll werden! Ohne Michael und Christian, außerdem hatten sie Silvester sturmfreie Bude. Was konnte es schon besseres geben?

„Ich komme irgendwann nach Neujahr nach Hause. Mal sehen, wie viel ich bei Michael rausschlagen kann. Er möchte ja, dass ich direkt nach Silvester komme, aber da hat er sich vertan. Ich möchte erst ganz am Ende der Ferien wiederkommen. Schließlich sollte man doch jede Sekunde nutzen. Aber du wirst dich bestimmt gut um ihn kümmern… Weck ihn doch erst mal. Sonst bin ich schon weg, bevor er überhaupt seine Augen aufgemacht hat.“
 

Bei so viel Enthusiasmus musste Andre lächeln.

„Gut, ich geh ihn wecken.“

Kurz warf er noch einen Blick auf den gedeckten Tisch, ob auch nichts fehlte, und ging dann wieder zurück ins Schlafzimmer. Ganz leise öffnete er die Tür und schlüpfte hinein, ging zum Bett und setzte sich an Michaels Seite auf die Bettkante.

Der lag nun auf dem Rücken und hatte die Bettdecke von sich gestrampelt, sodass sie um seine Hüften hing. Andre konnte nicht widerstehen und streckte einen Finger aus, um leicht über die weiche Haut zu streicheln.

Was war es nur, das ihn so zu Michael hinzog?

Er beugte sich vor und strich kurz mit seinen Lippen über Michaels, ließ seine Hand kleine Kreise ziehen.

„Aufwachen, Schlafmütze“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Frühstück ist fertig.“

Zwölf

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Dreizehn

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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  ReinaDoreen
2007-09-27T12:28:00+00:00 27.09.2007 14:28
Ich habe dien FF gerade erste entdeckt. Mark und Andre haben es nicht einfach.
Ich denke schon das beide sich jeder auf seine Art lieben.
Mark ist aber der dominate Teil in der Beziehung. Das er ausgerechnet da aus dem
Fenser sehen muss als Michael Andre küsst. Die Reaktion darauf ist nicht nur für Andre
grausam, ich denke auch Mark macht sich da was vor.
Andre scheint ja nicht ganz abgeneigt von Michael zu sein, jedoch weiß er für sich das sein
große Liebe nur Mark ist. Micheal wird nur mehr oder weniger benutzt, damit Andre nicht alleine ist.
Ob Mark und Andre es schaffen werden - werden sie für ihre Beziehung kämpfen???
Zur Zeit sieht es eher nicht danach aus.
Reni
Schicke mir doch bitte eine ENS wenn du ein neues Kapitel eingestellt hast.

Von:  Yoi-chan-00X
2007-09-27T05:50:40+00:00 27.09.2007 07:50
Hi
deine FF ist richtig spannend
lad aber lieber nicht gleich drei kappi´s auf einmal.
(einzelnt ist schöner und noch spannender)
und eins noch was du in der FF unbedingt ändern muss !!!!
Michael hat nicht´s bei Andre zu suchen *schrei*
mach ihn weg !!!
mach doch mit dem was du willst aber weg von Andre!!!
Mark ich will Mark an seiner seite T.T *schnif*
der soll ja nicht mit diesem Mädel in den Urlaub....._:>.<:_
Mach was dagegen !!
Lg
cucu
Yaoi_chan_00X ....<:3)~
Von:  Egnirys
2006-08-08T17:52:58+00:00 08.08.2006 19:52
heyho~! ^-^
ich hab zerrissene herzen schon bei jadekaisers gelesen und hab dir dort glaub ich gar kein kommi geschrieben...
hm~...nein, denk nicht!
ich muss sagen: <3~
ich finde deine story echt genial!*-*
*fan bin*
Von:  Luma_
2006-07-07T23:47:55+00:00 08.07.2006 01:47
Finde ich voll cool, dass ihr "ZH" nun auch hier rausbringt. Hab's schon gelesen und immer wieder gern. Werde mal sehen. ob sich ein bisschen Werbung für euch machen lässt.
Eins noch, was ich damals vergass zu erwähnen: Ich finde, am Schluß geht alles so schnell. Ihr habt immer alles so ausführlich geschieldert, aber der Epilog war dann doch ein bisschen rupig. Man hätte schon noch gern etwas genauer gewusst, wie sich da so einige Sachen abgespielt haben.
Aber wie gesagt, abgesehen davon finde ich eure Story echt total geil und super kreativ was ihr da geschaffen habt. Noch mal ein dickes Lob an dieser Stelle.
Wünsche euch noch viele schöne Kommis!^^


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