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Versager

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Versager

Wie wird man zum Versager? Wird man schon als solcher

geboren? Wieso schreiben irgendwelche Leute die Gleichheit

aller Menschen in ihre Gesetze, wenn sie doch genau wissen,

dass sie es praktisch nicht umsetzen wollen? Wieso? Sind etwa doch nicht alle Leute gleich? Entscheidet schon irgendwer vor unserer Geburt zu welcher Sorte Mensch wir einmal werden oder liegt es an uns? Manche Menschen strampeln sich ihr Leben lang ab und wenn sie sich sicher wiegen, reist ein Unglück alles Erreichte fort und alle Mühen waren umsonst. Wieso haben andere Leute dafür Glück und Erfolg, auch ohne etwas dafür zu tun? Wieso?

... immer wieder dieselbe Frage: Wieso?

Linda Müller, war ein hübsches Mädchen gewesen und jetzt zu einer ganz attraktiven Frau geworden. Trotzdem plagten sie diese Gedanken. Sie war etwa 1,60 m groß, hatte braune glatte Haare, die sie zu einem unauffälligen Pferdeschwanz zusam-mengebunden trug. Sie war recht schlank und konnte auch beim möglichst objektiv kritischen Blick in den Spiegel nicht feststellen, dass sie überdurchschnittlich hässlich wäre. Genauer gesagt war sie Durchschnitt. Eine unauffällige, junge Frau, die sich klassisch kleidete und zum Ausgehen auch mal dezent schminkte. Aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Typ Frau mit dem Image eines Mauerblümchens nicht mehr gesucht war. Allerdings war sie sich auch nicht sicher, auf welche Art Frau ein normaler Mann derzeit aus war. Standen die Männer etwa alle auf diese stark geschminkten, leicht bekleideten, künstlichen Schönheiten, wie man sie aus der Werbung und den Filmen kannte? Oder musste man doch noch ganz anders sein, um einem Mann zu gefallen?

Unsicher betrachtete sie sich in einem Minni, eleganten Stöckelschuhen und einer dünnen, weit ausgeschnittenen Bluse. Sie versuchte, sich dementsprechend zu schminken. Dann erschrak sie vor ihrem Aussehen und warf die noch so gut wie ungetragenen Sachen aus Wut in den Müll. Langsam aber sicher zweifelte sie an sich. Sie war immerhin schon 23 und noch nie hatte ein Mann auch nur andeutungsweise mit ihr geflirtet. Wie sollte sie auch einen Mann kennen lernen? Sie ging ja ohnehin fast nie aus, weil das allein deprimierend war! Mit Freundinnen konnte sie auch nicht mehr weggehen, weil die alle längst feste Beziehungen, teilweise sogar mit Kindern, hatten. Vor ein paar Tagen war sie allein im Kino gewesen. Sie hatte sich hinterher so elend gefühlt, dass sie sofort nach Hause gefahren war und sich an ihren Kühlschrank verzogen hatte. Die Frustfresserei sah man ihr zum Glück noch nicht an... Obwohl es ja eigentlich auch egal war, da sie ohnehin keiner ansah! Wenn sie durch die Stadt ging, kam sie sich oft merkwürdig transparent vor. Nie blieb der Blick von irgendwem an ihr hängen. Eine ganze Zeit hatte sie ihre Arbeit über das Alleinsein hinweg getröstet! Sie hatte in einer Bäckerei gearbeitet. Doch vor ein paar Wochen hatte ihr Chef ihr gekündigt und stattdessen eine andere hübschere Frau mit knallig farbigen Haaren, auffälligen Sachen und fürchterlich viel Schminke eingestellt. Linda hätte wetten können, dass selbst die Brötchen nach Parfüm schmeckten, wenn diese Frau sie nur ansah. Aber seitdem war der Laden besser denn je besucht und das machte Linda erst recht fertig! Sie hatte ihren Job geliebt. Vielleicht war diese Frau attraktiver, aber dafür war sie unfreundlich und bewegte sich auf ihren viel zu hohen Schuhen furchtbar ungeschickt. Seit sie keinen Job mehr hatte, fiel Linda alles was in ihrem Leben schief lief auf. Und es schien eigentlich alles schief zu laufen! Jetzt hatte sie Geldsorgen und bald würde sie sich das ganze Frustessen nicht mehr leisten können. Bestimmt würde sie in eine Psychiatrie müssen oder sie würde obdachlos werden und betteln gehen. Oder sollte sie gleich zu ihren Eltern zurück gehen? Mit 23? War das eine Alternative? Verzweifelt stopfte sie noch mehr ungesunde Sachen in sich hinein. Ihr war schlecht und am liebsten hätte sie alles wieder ausgekotzt, aber Bulimie wollte sie nicht auch noch bekommen und so hockte sie sich deprimiert vor den Fernseher, zog die Beine an und umschlag sie mit den Armen, während in der virtuellen Fernsehwelt perfekte Menschen all ihre Probleme spielerisch lösten. Vor Verzweiflung fing sie an zu schluchzen, während sie sich eine neue Packung Käse aufmachte. Sie musste wirklich einen fürchterlichen Anblick bieten, wie sie da völlig in Tränen aufgelöst vor dem Kühlschrank auf dem Fußboden hockte, aber zum Glück gab es in ihrer Wohnung keine Spiegel mehr, seit sie beschlossen hatte, dass sie hässlich war und sich nicht mehr sehen wollte. Die meisten Tage verbrachte sie mit der Suche nach einer neuen Arbeit. Sie war fieberhaft dabei, bewarb sich wo immer eine Anzeige aufgegeben worden war und ging von Geschäft zu Geschäft und fragte, ob sie noch Arbeit hätten. Aber überall wurde ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Abends fraß sie aus Frust, dann tat es ihr wieder leid, und sie heulte die halbe Nacht. Sie war wirklich kurz davor, sich einfach aufzugeben. Sie war ein Versager! Niemand wollte sie haben, keiner wollte sie einstellen und Freunde hatte sie auch keine mehr, hatte sie wohl nie gehabt. Denn man merkt ja erst, wenn es einem schlecht geht, ob man Freunde hat oder nicht. Wenn sie sich jetzt aus dem Fenster oder vom Dach stürzen würde, bekäme das wahrscheinlich auch keiner weiter mit und stören würde es sicher auch maximal ihre Katze, die dann kein Futter mehr bekommen würde! Aber so schnell wollte sie sich einfach nicht aufgeben. Immer wieder murmelte sie: "Alle Menschen sind gleich! Ich kann genau so arbeiten wie andere!" wie eine Beschwörungs-formel vor sich hin. Am Schluss war sie so verzweifelt, dass sie den Minni und die Bluse wieder aus dem Müll holte, wusch und am nächsten Tag wirklich so aufgeputzt wie nie zuvor aus dem Haus ging. Anfangs fühlte sie sich so unsicher, dass sie am liebsten wieder umgekehrt wäre, dann brach auch noch der Absatz von ihrem Schuh und es begann zu regnen, so dass man durch die dünne Bluse jetzt alles sehen konnte. Linda war wirklich am Ende. Selbst das Wetter schien sich gegen sie verschworen zu haben. Was sollte sie denn noch machen? Sie konnte sich überwinden, sie konnte all ihren Mut zusammennehmen, die Zähne zusammenbeißen und doch schien sie niemand wahrzunehmen. Sie ging in irgend eine kleine Kneipe, setzte sich an die Bar und bestellte sich einen Schnaps nach dem anderen. Irgendwann kam dann ein Mann auf sie zu. Er war ganz ulkig, weil er so verschwommen war und sich so komisch drehte... gar nicht so wie die anderen Leute. Linda begann zu lachen, dann wurde sie wieder deprimiert, denn der Mann schien sie auch nicht zu sehen und sie trank weiter. Was dann passiert war, konnte sie hinterher nicht mehr sagen. Als sie aufwachte, drohte ihr Kopf zu platzen wie eine Wasserbombe und ihr war fürchterlich übel. Es dauerte eine Weile bis sie feststellte, dass sie gar nicht wusste, wo sie sich befand. Sie stand auf und lief, wie sie war, in Unterwäsche, durch die fremde Wohnung. Im Wohnzimmer saß ein Mann am Tisch und blätterte in einer Zeitung. Linda hatte immer noch nicht so ganz realisiert, dass sie halbnackt war und fragte ihn, wo die Tür wäre. Der Mann sah nicht auf und sagte es ihr. Schwankend schaffte sie es tatsächlich bis ins Treppenhaus, bis ein zweiter ihr auch unbekannter Mann auftauchte und sie zurück in die Wohnung zog. Er war aus dem Bad gesprintet, um zu verhindern, dass sie so weg ging, hatte sein Hemd noch nicht zugeknöpft und eine Zahnbürste im Mund. Linda fiel trotz ihrer Kopfschmerzen auf, das er ein schönes Gesicht hatte und sie versuchte zu lächeln, was aber eher eine merkwürdige Grimasse wurde. Der junge Mann lachte: "Zum ersten mal richtig betrunken gewesen, hä?", Linda wurde rot und stotterte etwas undeutliches. Aber der Mann lächelte noch immer, reichte ihr wie zur Begrüßung die Hand und sagte: "Is doch nicht weiter schlimm! Ich bin Michael und du solltest dir jetzt etwas anziehen, damit du dich nicht erkältest! Außerdem ist es nicht ratsam, halbnackt vor alleinstehenden Männern zu posieren!" Das machte Linda erst auf ihre äußere Verfassung aufmerksam. Sie quiekte erschrocken auf und wurde nun so rot wie eine überreife Tomate. Micha grinste und gab ihr ein paar Sachen von sich, mit der Begründung: "Deine Sachen sind noch nass und meine sind viel zu groß, aber mit einem Gürtel wird die Hose schon halten!" Wenig später saß Linda in Michas Sachen, die ihr wirklich viel zu groß waren, in der Küche. Micha hatte ihr Kaffee eingeschenkt und plauderte munter drauf los, während der zweite Mann, der Klaus hieß, immer noch in seiner Zeitung blätterte und dann verkündete, dass er los müsse. Linda blieb allein mit Micha in der Wohnung. Der erzählte, dass er sie mit zu sich genommen hatte, weil sie so betrunken war. Ihr war das natürlich fürchterlich peinlich und sie entschuldigte sich mehrfach. Doch Micha schien das lustig zu finden und winkte ab. Dann fragte er: "Musst du nicht auch langsam auf Arbeit?" und das war ein Fehler. Binnen weniger Sekunden schossen Linda die Tränen in die Augen und er wusste gar nicht, was er dagegen machen sollte. Schluchzend erzählte sie ihm, wieso sie überhaupt in diesem Aufzug in der Bar gelandet war und wieso sie so viel getrunken hatte. Micha hörte ihr die ganze Zeit zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen. Dann nahm er sie tröstend in den Arm. "He, nicht mehr weinen!", sagte er beruhigend: "Die Bar gehört meinem Kumpel Klaus, deshalb haben wir dich nach Feierabend auch mitgenommen! Wenn du bissel freundlicher guckst, könnte ich mir vorstellen, dass er dich als Bedienung anstellt!" Verwundert sah Linda ihren neuen Bekannten an und überlegte: Vielleicht wird man ja doch nicht als Versager geboren! Lernt man so Leute kennen? Ist man nur ein Versager, wenn man sich als Versager fühlt oder macht die Gesellschaft einen zum Versager? Egal. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie wollte überhaupt nichts weiter, als für immer in dieser sonnendurchfluteten Küche zu sitzen, Kaffee zu trinken und Michael anzusehen, denn dabei vergaß sie alles andere und konnte daran glauben, dass es immer einen Lichtblick für die Zukunft gibt...



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